Das verschwundene Mädchen - Anna Green - E-Book

Das verschwundene Mädchen E-Book

Anna Green

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Beschreibung

An einem Sonntag-Morgen war ich im Polizeibureau, als eine anständig aussehende Frau mittleren Alters mit aufgeregter Miene zu uns eintrat. Ich ging auf sie zu und fragte, wen sie suche. Einen Detektiv, erwiderte sie, sich ängstlich unter den Anwesenden umschauend. Letzte Nacht ist ein Mädchen aus unserem Hause verschwunden – die Sache darf nicht öffentlich bekannt werden, aber – sie stockte, die innere Erregung schien ihr den Atem zu benehmen – jemand soll kommen, um sie aufzusuchen, fügte sie eindringlich hinzu. Ein Mädchen – was für ein Mädchen? Und welches Haus meinen Sie, wenn Sie sagen: unser Haus?

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Anna Green

 Das verschwundene Mädchen

 9783961505951

Erstes Kapitel.

Es gibt sehr merkwürdige Beispiele von plötzlichem Verschwinden; ich selbst habe mit mehreren solchen Fällen zu tun gehabt. Den einen möchte ich Ihnen wohl erzählen, wenn Sie mir versprechen, nicht nach den wirklichen Namen der beteiligten Personen zu forschen, denn die Sache soll geheim gehalten werden.

Der junge Q., welcher so sprach, galt unter der ganzen Polizeimannschaft als der klügste und fähigste Detektiv, natürlich Herrn Gryce [*] ausgenommen.

Die Neugierde von uns Kameraden ward daher durch seine Äußerung in hohem Grade erregt. Wir gaben bereitwillig das geforderte Versprechen und rückten näher um den Ofen zusammen, die seltene Mußestunde zu genießen. In dem befriedigenden Bewußtsein, daß bei seiner Geschichte auch mancherlei zu berichten war, was ihm selbst zur Ehre gereichte, lehnte er sich in den Stuhl zurück und begann:

An einem Sonntag-Morgen war ich im Polizeibureau, als eine anständig aussehende Frau mittleren Alters mit aufgeregter Miene zu uns eintrat. Ich ging auf sie zu und fragte, wen sie suche.

Einen Detektiv, erwiderte sie, sich ängstlich unter den Anwesenden umschauend. Letzte Nacht ist ein Mädchen aus unserem Hause verschwunden – die Sache darf nicht öffentlich bekannt werden, aber – sie stockte, die innere Erregung schien ihr den Atem zu benehmen – jemand soll kommen, um sie aufzusuchen, fügte sie eindringlich hinzu.

Ein Mädchen – was für ein Mädchen? Und welches Haus meinen Sie, wenn Sie sagen: unser Haus?

Sie warf mir einen forschenden Blick zu: Sie sind noch sehr jung; ist nicht ein Mann hier, der mehr Erfahrung hat, damit ich mich an den wenden könnte?

Ich zuckte die Achseln und rief Herrn Gryce herbei, der ihr sogleich Vertrauen einzuflößen schien. Sie zog ihn beiseite und flüsterte ihm einige mir unverständliche Worte zu. Anfänglich hörte er sie gleichmütig an, plötzlich machte er jedoch eine Bewegung, welche, das wußte ich, bei ihm ein Zeichen von Erstaunen und Interesse war, obgleich in seinen Mienen – aber Sie kennen ja Gryces Gesicht. Ich wollte eben meiner Wege gehen, überzeugt, daß er den Fall selbst übernehmen werde, als der Inspektor eintrat.

Wo ist Gryce? fragte er, ich muß ihn sprechen. Gryce, der dies hörte, eilte sofort herzu. Als er an mir vorbeikam, flüsterte er: Wählen Sie sich einen Gehilfen, begleiten Sie die Frau, nehmen Sie alles in Augenschein und schicken Sie nach mir, wenn Sie mich brauchen; ich bleibe noch zwei Stunden hier.

Die Aufforderung kam mir nicht ungelegen. Nachdem ich Harris gesagt hatte, sich bereitzuhalten, näherte ich mich abermals der Frau. Woher kommen Sie? fragte ich, sogleich werde ich mit Ihnen gehen, um die Sache zu untersuchen.

Schickt er Sie? fragte sie auf Gryce deutend, der eifrig mit dem Inspektor sprach.

Ich nickte, und sie ging mir voran, dem Ausgang zu. Ich wohne in Nr. – in der zweiten Avenue, Herrn Blakes Haus, flüsterte sie. Der Name, den sie genannt hatte, war so allgemein bekannt, daß ich Gryces plötzliches Interesse jetzt leicht begriff. Ein Mädchen – sie war als Näherin bei uns – ist letzte Nacht unter Umständen verschwunden, die höchst beunruhigend sind. Sie wurde aus ihrem Zimmer geraubt, ja, wiederholte sie heftig, den ungläubigen Ausdruck in meinen Mienen gewahrend, geraubt, gewaltsam entführt; nun und nimmermehr ist sie aus freien Stücken gegangen – und sie muß gefunden werden, sollte es mich auch den letzten Dollar der kleinen Barschaft kosten, die ich mir zusammengespart habe für meine alten Tage.

Sie war so von Eifer erfüllt, ihre Worte klangen so dringend, so ungestüm, daß ich natürlicherweise fragte, ob das Mädchen, dessen Verschwinden sie so heftig bewegte, nahe mit ihr verwandt sei.

Nein, entgegnete sie, meinem Blick geflissentlich ausweichend, meine Verwandte ist sie nicht, aber eine sehr liebe Freundin von mir – eine Schutzbefohlene. Ich – ich – sie muß durchaus aufgefunden werden.

Wir waren jetzt auf der Straße.

Es darf nichts davon verlauten, flüsterte sie und ergriff meinen Arm. Ich habe es ihm gesagt – sie deutete nach dem Gebäude zurück, welches wir eben verlassen hatten – und er hat mir versprochen, es geheimzuhalten. Nicht wahr, es wird möglich sein?

Ich werde Ihnen das besser sagen können, wenn ich erst von den Tatsachen unterrichtet bin. Wie heißt das Mädchen und weshalb vermuten Sie, daß sie nicht aus freiem Antrieb ganz einfach zur Tür hinausgegangen ist?

Alles, alles spricht dagegen. Erstens war sie nicht die Person dazu – und dann die Unordnung in ihrem Zimmer; – sie sind alle zum Fenster hinausgestiegen und durch die Seitenpforte nach der ... Straße entkommen, rief sie plötzlich.

Sie? Wen meinen Sie denn damit?

Nun, die Leute, welche sie fortgeschleppt haben.

Ich vermochte meine Zweifel nicht zu verbergen. Gryce hätte das vielleicht gekonnt, aber ich bin nicht Gryce.

Sie glauben mir nicht, sagte sie, daß man sie geraubt hat?

Wenigstens nicht in dem Sinne, wie Sie es meinen.

Sie deutete wieder nach dem Polizeigebäude zurück. Er schien es gar nicht zu bezweifeln.

Ich lachte. Haben Sie ihm mitgeteilt, auf welche Weise nach Ihrer Ansicht die Entführung bewerkstelligt worden ist?

Ja, und er sagte darauf: »Höchst wahrscheinlich!« Er hat auch recht, denn ich selbst habe ja die Männer in ihrem Zimmer reden hören.

Männer – in ihrem Zimmer – wann?

Es mag wohl halb ein Uhr vorbei gewesen sein. Ich schlief schon, und das Geflüster weckte mich auf.

Warten Sie, sagte ich, wo ist denn des Mädchens Zimmer und wo das Ihrige?

Ihres ist das Hinterzimmer und meines das. Vorderzimmer im dritten Stock.

Wer sind Sie selbst? Welche Stellung haben Sie bei Herrn Blake?

Ich bin die Haushälterin.

Herr Blake war nämlich Junggeselle.

Und Sie wurden letzte Nacht durch das Flüstern von Stimmen geweckt, die aus dem Zimmer jenes Mädchens zu kommen schienen?

Ja, zuerst glaubte ich, es seien die Leute im Nebenhause – wir hören sie oft, wenn sie lauter als gewöhnlich sind – aber bald war ich sicher, daß das Geräusch aus ihrem Zimmer kam. – Sie ist ein braves Mädchen, unterbrach sie sich, mir einen strengen Blick zuwerfend, als fürchte sie eine wegwerfende Äußerung von mir, ein braveres gibt es nicht in der ganzen Stadt; hoffentlich untersteht sich niemand Anspielungen zu machen, sonst –

Ich besänftigte sie, so gut es ging. Wir nehmen als erwiesen an, daß sie treu ist wie Gold, sagte ich; nur weiter!

Wo war ich denn? fuhr sie fort, sich mit bebender Hand über die Stirne fahrend. Richtig, ich vernahm Stimmen, erschrak und eilte nach ihrer Türe. Die Räuber werden wohl das Geräusch gehört haben, das ich dabei machte. Alles war totenstill, als ich hinkam. Ich wartete einen Augenblick, dann drückte ich auf die Klinke und rief ihren Namen; sie gab keine Antwort, und ich rief wieder. Nun kam sie an die Türe, aber sie schloß nicht auf. »Was gibt es?« fragte sie. »Mir war, als hörte ich hier drinnen Stimmen«, erwiderte ich, »und die Angst hat mich hergetrieben.« »Es wird wohl nebenan gewesen sein«, gab sie zur Antwort. Ich entschuldigte mich wegen der Störung und ging in mein Zimmer zurück. Es blieb nun auch alles still; aber als wir am Morgen bei ihr eindrangen und sie nicht fanden, nur das geöffnete Fenster und alle Anzeichen des stattgefundenen Kampfes, da wußte ich, daß ich mich nicht geirrt hatte. Als ich an ihrer Türe stand, waren wirklich Männer bei ihr im Zimmer, die sie mit fortgeschleppt haben.

Diesmal konnte ich nicht an mich halten.

Glauben Sie denn, daß die Räuber das Mädchen zum Fenster hinausgeworfen haben? fragte ich.

Das nicht, aber es wird ein Anbau am Hause gemacht; die Männer können die Leiter benützt haben, die bis zum dritten Stock führt, um sie herunterzuschaffen.

Wirklich – sie scheint doch kein ganz willenloses Opfer gewesen zu sein.

Die Frau blieb stehen und hielt meinen Arm wie mit eisernem Griff umfaßt.

Ich sage Ihnen, daß ich die Wahrheit spreche, keuchte sie. Die Einbrecher, oder was sie sein mögen, haben sie fortgeschleppt. Sie ist nicht freiwillig gegangen. Todesqual hat sie ausgestanden, es war für sie ein entsetzliches Unheil, das ihr noch das Leben kosten wird, wenn sie nicht bereits tot ist. Sie wissen nicht, wovon Sie reden, Sie haben sie nie gesehen. –

War sie hübsch? fragte ich, zufrieden, daß die Frau jetzt wieder vorwartseilte, denn schon fingen die Vorübergehenden an, sich nach uns umzusehen. Die Frage schien sie förmlich zu beunruhigen.

Was soll ich darauf sagen? murmelte sie; manche mögen sie nicht für hübsch halten, in meinen Augen war sie es immer; es kam darauf an, wie man sie ansah.

Ihr Ton klang seltsam, sie schien mit sich nicht im reinen und sah starr zu Boden. Dies sonderbare Wesen erregte meinen Argwohn, und ich beschloß, ein wachsames Auge auf sie zu haben.

Wie kommt es, fragte ich, sie scharf anblickend, daß die Behörden durch Sie von dem Verschwinden des Mädchens in Kenntnis gesetzt worden sind? Weiß denn Herr Blake nichts davon?

In ihrem Benehmen ging eine merkliche Veränderung vor. Ich habe es ihm beim Frühstück mitgeteilt, erwiderte sie, aber Herr Blake kümmert sich nicht viel um seine Dienerschaft; er überläßt mir alle häuslichen Angelegenheiten.

So weiß er gar nicht, daß Sie die Polizei geholt haben?

Nein, und ich bitte Sie auch, es ihm zu verschweigen. Er mischt sich nie in solche Dinge, und braucht es nicht zu wissen. Ich werde Sie durch die Hintertür einlassen.

Wie nahm denn Herr Blake heute morgen Ihre Mitteilung auf, daß dies Mädchen – wie heißt sie eigentlich?

Emilie.

Daß diese Emilie in der Nacht verschwunden ist?

Sehr ruhig. Er saß beim Frühstück, in seine Zeitung vertieft, sah mich zerstreut an, zog die Stirne in Falten und sagte mir, ich möge die Dienstboten-Angelegenheiten besorgen, ohne ihn damit zu behelligen. Da sah ich denn, daß sich nichts weiter tun ließ und schwieg. Herr Blake ist kein Mann, den man zum zweitenmal stören darf.

Das glaubte ich ihr gern nach dem, was man in der Öffentlichkeit von seinem verschlossenen, zurückhaltenden Wesen wußte.

Wir waren jetzt nur noch wenige Häuser von dem altertümlichen Gebäude entfernt, welches jener Abkömmling der Neuyorker vornehmen Welt bewohnte. Ich ließ daher meinen Begleiter in dem nächsten Torweg warten. Auf ein verabredetes Zeichen sollte er Herrn Gryce herbeiholen, im Fall ich seine Hilfe brauchte. Dann fragte ich die Frau, deren Unruhe jetzt bei jedem Schritt wuchs, wie sie mich in das Haus zu bringen gedächte, ohne daß Herr Blake darum wisse.

Sie brauchen mir nur die Hintertreppe hinaus zu folgen, versetzte sie; er wird nichts bemerken und jedenfalls keine Fragen stellen.

Jetzt standen wir an der Seitenpforte; sie nahm einen Schlüssel aus der Tasche, schloß auf und wir traten in das Wohnhaus ein.

Zweites Kapitel.

Frau Daniels, so hieß die Haushälterin, führte mich sofort nach dem Hinterzimmer im dritten Stock. Als wir durch die Gänge und Vorsäle kamen, fiel mir die reiche Verzierung an den altertümlichen Wänden und schweren Freskodecken auf. Mein Beruf hatte mich wohl schon in manches vornehme Haus geführt, aber über eine solche Schwelle war ich doch noch nie geschritten. Törichte Empfindsamkeit ist mir fremd; trotzdem überkam mich eine förmliche Scheu, in dieser aristokratischen Behausung polizeiliche Untersuchungen anzustellen.

Kaum hatte ich jedoch das Zimmer des vermißten Mädchens betreten, so schwand jede andere Rücksicht vor meinem Forschungstrieb, meinem Ehrgeiz. Beim ersten Blick erkannte ich, daß es sich hier nicht um alltägliche Vorgänge handle, daß das Verschwinden des Mädchens von rätselhaften Umständen begleitet war. Ich will die Tatsachen in der Reihenfolge berichten, in welcher sie sich mir aufdrängten.

Die ganze Ausstattung des Zimmers paßte nicht für eine gewöhnliche Näherin. Zwar schienen die Möbel einfach im Vergleich zu dem Reichtum des übrigen Hauses, aber doch waren in dem geräumigen Gemach Luxusgegenstände genug vorhanden, um Frau Daniels Angaben über den Stand des Mädchens als sehr fragwürdig erscheinen zu lassen.

Die Haushälterin bemerkte meinen verwunderten Blick und war gleich mit einer Erklärung bei der Hand. Von jeher ist dieses Zimmer zur Näharbeit benutzt worden, sagte sie. Als Emilie kam, glaubte ich, es sei besser, hier ein Bett hineinzustellen, als sie eine Treppe höher schlafen zu lassen. Sie war ein sehr sauberes Mädchen und hat nichts in Unordnung gebracht.

Ich blickte mich um und sah die Schreibmappe auf dem Tischchen in der Mitte des Zimmers, die Vase mit den halbverwelkten Rosen auf dem Kaminsims, Shakespeares Werke und Macaulays Geschichte auf dem Eckbrett zu meiner Rechten; ich hatte dabei meine eigenen Gedanken, sagte aber nichts. Als ich nun noch genauere Umschau hielt, ward mir dreierlei klar: erstens, das Bett des Mädchens war in der letzten Nacht unberührt geblieben; zweitens, eine Art Kampf oder Überrumpelung mußte stattgefunden haben, denn eine der Gardinen war gewaltsam zerrissen, als habe sich eine Hand daran festgeklammert, und ein Stuhl lag umgeworfen mit abgebrochenem Bein am Boden; drittens, der Ausgang – wie seltsam dies auch erscheinen mag – war offenbar durch das Fenster genommen worden. Haben Sie die Türe heute früh verschlossen gefunden? fragte ich.

Ja, aber eine Nebentüre führt von meinem Zimmer in das ihrige; es stand nur ein Stuhl davor, welchen wir leicht fortschieben konnten.

Ich trat an das Fenster und sah hinaus. Für einen Mann war es selbst bei dunkler Nacht nicht allzuschwierig, von hier aus die Straße zu erreichen, denn das Dach des Neubaus lag fast auf gleicher Höhe mit dem Fenster.

Nun, rief sie gespannt, kann man sie nicht hier hinunter getragen haben?

Es sind wohl schon gefährlichere Wagnisse ausgeführt worden, versetzte ich und schickte mich an, auf das Dach hinauszusteigen. Da fiel mir ein, Frau Daniels zu fragen, ob von den Kleidern des Mädchens etwas vermißt werde.

Sie stürzte sogleich nach den Schränken und von da zur Kommode, an der sie die Schublade hastig aufzog. Nein, es fehlt nur ihr Hut und Mantel und – sie hielt verwirrt inne.

Und was? drängte ich.

Nichts, erwiderte sie, rasch die Kommode schließend, nur einige Kleinigkeiten.

Kleinigkeiten – wiederholte ich; vielleicht ihre Schmucksachen? Wenn sie sich mit dergleichen aufgehalten hat, kann sie doch nicht sehr gegen ihren Willen fortgegangen sein.

Ich machte aus meiner Verstimmung kein Hehl und stand im Begriff, das Zimmer zu verlassen. Der unentschlossene Ausdruck in Frau Daniels Gesicht hielt mich jedoch zurück.

Ich begreife es nicht, murmelte sie, ihre Hand gegen die Stirn pressend, das geht über mein Verständnis. Aber, fuhr sie aus innerster Überzeugung fort, glauben Sie mir, der Fall ist ernst – das Mädchen muß gefunden werden.

Ich beschloß zu ergründen, was dies Muß zu bedeuten habe, welches sie mit so ungewöhnlichem Nachdruck betonte. Wenn das Mädchen aus eigenem Antrieb fortgegangen ist, wie verschiedene Umstände anzudeuten scheinen, sagte ich, weshalb dringen Sie nur so eifrig darauf, daß man ihr folgen soll, um sie zurückzuholen, zumal Sie gar nicht mit ihr verwandt sind, wie Sie sagen?

Genügt es nicht, wenn ich verspreche, alle Kosten zu tragen, welche die Nachforschungen verursachen werden? rief sie aufgeregt. Ich liebe das Mädchen und bin überzeugt, daß man schändliche Mittel angewendet hat, um sie zu entführen. Alles was ich besitze, stelle ich denen zur Verfügung, welche sie zurückbringen.

Aber Herr Blake wäre doch derjenige, welcher sich der Sache zuerst annehmen müßte.

Ich habe Ihnen schon gesagt, daß Herr Blake sich sehr wenig um seine Dienerschaft kümmert. Sie war bleich geworden, während sie diese Worte sprach.

Ich blickte mich nochmals im Zimmer um. Wie lange sind Sie schon in diesem Hause? fragte ich.

Bei Lebzeiten von Herrn Blakes Vater war ich bereits hier. Er starb vor einem Jahr.

Und seitdem sind Sie bei dem Sohn geblieben?

Jawohl.

Wann ist denn jene Emilie hier in Dienst getreten?

Vor etwa elf Monaten – sie ist aber keine gewöhnliche Dienerin, kein gewöhnliches Mädchen.

Wieso? War sie ungewöhnlich klug, sein gebildet oder hübsch?

Ich kann es nicht recht beschreiben. Gebildet war sie, ja, aber nicht wie eine vornehme Dame. Doch wußte sie mancherlei, wovon wir andern keine Ahnung hatten. Sie las gern und – ach Herr, fragen Sie lieber die Mädchen danach; ich weiß nie, was ich antworten soll, wenn man mich ins Verhör nimmt.

Ich betrachtete mir die schon bejahrte Frau noch genauer als zuvor. War sie wirklich eine so harmlose, unbedeutende Person, wie es den Anschein hatte, oder lag noch ein tieferer Grund hinter ihrem vielen Zaudern und Zagen?

Wie find Sie zu dem Mädchen gekommen? fragte ich. Wo hat sie gelebt, bevor sie bei Ihnen eintrat?

Das kann ich nicht sagen; ich habe sie nie über ihre Person befragt. Sie bat mich um Arbeit, und da sie mir gefiel, nahm ich sie ohne besondere Empfehlung.

Und Sie waren mit ihr zufrieden?

Außerordentlich.

Ist sie viel ausgegangen? Hat sie Besuche erhalten?

Sie schüttelte den Kopf. Nein, niemals.

Ich drängte sie nun nicht weiter mit Fragen, sondern stieg, ohne noch ein Wort zu verlieren, auf das Dach des Anbaus hinaus.

Dabei überlegte ich, ob es wohl erforderlich wäre, nach Herrn Gryce zu schicken. Bis jetzt lag kein Beweis vor, daß dem Mädchen ein Unglück zugestoßen sei. War sie aber einfach, mit oder ohne Beistand eines Geliebten, auf- und davongegangen, so hatte die Sache keine so außerordentliche Wichtigkeit, daß man deswegen die ganze Polizeimannschaft in Bewegung setzen mußte. Indessen mit Gryce war nicht zu spassen. Er hatte gesagt, man solle ihn holen, wenn er gebraucht werde, und ein etwas verwickeltes Ansehen hatte die Sache ja immerhin. Ich war noch unentschlossen, als ich den Rand des Daches erreichte.

Der Abstieg war steil, aber einmal unten, konnte man mit Leichtigkeit aus dem Hof entkommen. Für einen Mann war leine Gefahr dabei – aber wie sollte eine Frau das Unternehmen wagen?

Mit diesen Gedanken beschäftigt ging ich nachdenklich zurück – da stutzte ich plötzlich. Was ich dort auf dem Dache gewahrte, konnte nichts anderes sein als ein Tropfen geronnenes Blut; mehr nach dem Fenster hin sah ich noch einen, dann einen dritten und vierten. Selbst auf dem Fenstersims befand sich ein roter Fleck. Ich sprang ins Zimmer und suchte auf dem Teppich nach weiteren Spuren. In dem verwirrten Muster von rot und braun ließ sich nichts leicht unterscheiden, und ich mußte mich tief hinunterbücken.

Was suchen Sie denn? rief Frau Daniels.

Ich deutete auf den Fleck am Fensterbrett.

Blut! rief sie, erschrocken nähertretend; ihre Lippen waren bleich, ihre Glieder bebten. Man hat sie umgebracht, und er wird niemals – Sie stockte, und ich sah zu ihr auf.

Glauben Sie, daß es ihr Blut ist? flüsterte sie schaudernd.

Das läßt sich kaum anders annehmen, erwiderte ich auf eine Stelle deutend, wo ich jetzt eine Menge roter Tropfen entdeckt hatte, welche über die Rosen im Teppichmuster gespritzt waren und so feurig glühten wie diese.

Das ist weit schlimmer, als ich fürchtete, stöhnte sie. Was wollen Sie tun? Was kann geschehen?

Ich werde nach einem zweiten Detektiv schicken, versetzte ich und trat an das Fenster, um Harris das Zeichen zu geben, damit er Gryce herbeihole.

Nach dem, welchen ich im Bureau sah? fragte sie.

Ich verbeugte mich bejahend.

O, das freut mich, rief sie sichtlich erleichtert, dann wird gewiß gleich etwas geschehen.

Für mein Selbstgefühl war das etwas kränkend; doch unterdrückte ich meinen Unwillen und benützte die Zeit zu weiteren Beobachtungen. In der offenen Schreibmappe fanden sich weder Briefe noch andere Schriften, nur einige Bogen Papier, daneben Feder, Tinte und dergleichen. Bürste und Haarnadeln lagen auf der Kommode verstreut, als sei das Mädchen beim Ordnen ihres Haares überrascht worden; nirgends aber bemerkte ich die vorrätige Näharbeit, welche sich in einem Zimmer anzuhäufen pflegt, das ausschließlich zum Flicken und Schneidern benützt wird. Alle diese Ermittelungen konnten uns jedoch nur wenig helfen, wenn es sich um einen wirklich schwierigen Fall handelte, das wußte ich recht gut.

Glücklicherweise gewann die Sache durch Gryces Ankunft bald ein besseres Aussehen.

Ich selbst ließ ihn durch die Hintertüre herein, und es dauerte keine Minute, so konnte er alles, was ich bisher ausgekundschaftet, an den Fingern herzählen. Er eilte in das Zimmer hinauf, blieb jedoch nicht lange oben.

Wie sah denn das Mädchen aus? fragte er, mit lebhaftem Interesse auf Frau Daniels zueilend, die sich, während dies alles vor sich ging, in eine Nische des unteren Hausflurs zurückgezogen hatte. Beschreiben Sie sie mir einmal – Haar, Augen, Gesichtsfarbe – kurz ihre ganze Erscheinung.

Ich – ich – weiß nicht, ob ich das kann, stammelte sie und wurde sehr rot. Ich habe so wenig Beobachtungsgabe; es ist besser, ich rufe eins der Mädchen. Sie war schon fort, ehe wir Zeit hatten, Einspruch zu erheben.

Hm, brummte Gryce nachdenklich, während er eine Vase vom Eckbrett nahm und hineinschaute.

Ich enthielt mich jeder Äußerung.

Frau Daniels kam mit einem Stubenmädchen von einnehmendem Äußern zurück.

Hier ist Fanny, sagte sie, die Ihnen die gewünschte Auskunft über Emilie geben kann. Ich habe ihr mitgeteilt, fuhr sie mit großer Ruhe fort, Herrn Gryce einen bedeutsamen Blick zuwerfend, daß Sie Ihre Nichte suchen, die sich vor einiger Zeit heimlich von Ihrer Familie entfernt hat, um irgendwo in Dienst zu treten.