Das Vogelhaus - Eva Meijer - E-Book

Das Vogelhaus E-Book

Eva Meijer

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Beschreibung

Len Howard (1894-1973) verbrachte die zweite Hälfte ihres Lebens in einem kleinen, abgelegenen Haus in Südengland. Sie veröffentlichte äußerst erfolgreiche Bücher über die Vögel, die sie in ihrer Umgebung beobachtete, galt als Pionierin auf dem Gebiet der Tierforschung. Die Grundlage ihrer Studien war das Vertrauen, das sie zu den scheuen Tieren aufbaute, sie erforschte ihren Gesang, ihren Charakter, ihre Eigenarten und Gewohnheiten in der Natur. Und tatsächlich wurde ihr Cottage ein echtes „Vogelhaus“, in dem die Meisen und Drosseln ein- und ausflogen – wenn es Len Howard denn gelang, unerwünschte Besucher fernzuhalten.

Warum hat jemand lieber Vögel um sich als Menschen? Was können wir aus den Geschichten der Vögel lernen? Wie trifft man im Leben wichtige Entscheidungen? Die faszinierende Lebensgeschichte der zu Unrecht vergessenen Vogelkundlerin inspirierten Eva Meijer zu einem besonderen Roman über Mensch und Natur, der uns dazu zwingt, herkömmliche Vorstellungen in Frage zu stellen.

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Zum Buch

Len Howard (1894–1973) verbrachte die zweite Hälfte ihres Lebens in einem kleinen, abgelegenen Haus in Südengland. Sie veröffentlichte äußerst erfolgreiche Bücher über die Vögel, die sie in ihrer Umgebung beobachtete, galt als Pionierin auf dem Gebiet der Tierforschung. Die Grundlage ihrer Studien war das Vertrauen, das sie zu den scheuen Tieren aufbaute, sie erforschte ihren Gesang, ihren Charakter, ihre Eigenarten und Gewohnheiten in der Natur. Und tatsächlich wurde ihr Cottage ein echtes »Vogelhaus«, in dem die Meisen und Drosseln ein- und ausflogen – wenn es Len Howard denn gelang, unerwünschte Besucher fernzuhalten.

Warum hat jemand lieber Vögel um sich als Menschen? Was können wir aus den Geschichten der Vögel lernen? Wie trifft man im Leben wichtige Entscheidungen? Die faszinierende Lebensgeschichte der zu Unrecht vergessenen Vogelkundlerin inspirierte Eva Meijer zu einem besonderen Roman über Mensch und Natur, der uns dazu zwingt, herkömmliche Vorstellungen in Frage zu stellen.

Zur Autorin

Eva Meijer, geboren 1980 in Hoorn, Niederlande, ist Philosophin, Schriftstellerin, Singer-Songwriter und bildende Künstlerin. Sie hat Romane, Kurzgeschichten, Gedichte und essayistische Bücher veröffentlicht und promovierte zu einem Thema über die Sprachen der Tiere. Ihr Roman »Das Vogelhaus« gewann den Leserpreis des BNG-Literaturpreises und wurde für den Libris- und den ECI-Literaturpreis nominiert. Eva Meijer lehrt an der Universität von Amsterdam und an der Dutch Research School of Philosophy (OZSW).

Zur Übersetzerin

Hanni Ehlers, geboren 1954 in Ostholstein, studierte Niederländisch, Englisch und Spanisch am Institut für Übersetzen und Dolmetschen der Universität Heidelberg und ist die Übersetzerin von u. a. Anna Enquist, Joke van Leeuwen, Connie Palmen und Leon de Winter.

Eva Meijer

Das Vogelhaus

Aus dem Niederländischenvon Hanni Ehlers

Prolog

• 1965 •

Jakob kommt eilig hereingeflogen, ruft mich und fliegt gleich wieder nach draußen. So ein hektisches Gehabe sieht ihm gar nicht ähnlich, und es ist auch nicht seine Art, sich so weit vom Nest zu entfernen, wo die Jungen schon aus dem Ei geschlüpft sind. Normalerweise kommt er vormittags ein paarmal zum Futtertisch und bleibt dann in der Nähe des Nistkastens an der Birke – er ist ein besonnener Vogel, groß für eine Kohlmeise, ein guter Vater.

Ich folge ihm und höre, noch ehe ich am Gartenzaun bin, die Maschinen. In meinen Holzschuhen, Ungetümen, die ich in der Eile fast verliere, renne ich los – es wird doch wohl nicht, nicht diese Hecke, nicht jetzt im Frühjahr! Ein gedrungener Mann ist mit einer Motorsäge zugange, sie ist so laut, dass er mich nicht hört. Ich zwänge mich zwischen Maschine und Hecke. Der Lärm übertönt alles, wogt über mich hinweg, dringt durch mich hindurch.

Der Mann erschrickt, als er mich plötzlich vor sich sieht, macht das Ding aus, hebt seinen Gehörschutz an. »Was ist?«

»Sie können diese Hecke jetzt nicht beschneiden. Sie ist voller Nester. Die meisten Jungen sind schon aus dem Ei geschlüpft.« Meine Stimme ist höher als sonst, mir ist, als drücke mir jemand die Kehle ab.

»Da müssen Sie sich an die Gemeinde wenden.« Er macht seine Maschine wieder an.

Nein. Zweige bohren sich in meinen Rücken. Ich bewege mich mit dem Mann mit nach links, nach rechts.

»Weg da.«

»Wenn Sie die Hecke beschneiden wollen, müssen Sie erst mich aus dem Weg räumen.«

Er seufzt. »Dann fange ich eben auf der anderen Seite an.« Er hält seine Säge im Anschlag, aber eher als Puffer denn als Waffe.

Dort sind die Singdrosseln mit ihrer hübsch gesprenkelten Brust. Ich schüttele den Kopf. »Auf keinen Fall.«

»Ich mache nur meine Arbeit.«

»Wie ist die Telefonnummer von Ihrem Chef?«

Er nennt einen Namen und die Nummer der Rathauszentrale. Ich warte, bis er den Weg hinunter verschwunden ist. Er geht jetzt bestimmt zu einer anderen Hecke.

Rundherum fiept es – die Altvögel sind nirgends zu sehen, der Nachwuchs gibt Laut. Die Eltern werden wiederkommen, sind hoffentlich nicht zu sehr erschreckt worden. Ich haste zum Haus zurück, Schweiß rinnt mir den Rücken herab, ich nehme mir nicht die Zeit, meine Strickjacke auszuziehen.

»Könnte ich Mr Everitt sprechen? Es ist dringend.«

Während ich warte, setzt sich Terra zu mir. Sie spürt es immer, wenn etwas nicht stimmt. Vögel sind viel empfindsamer als unsereins. Ich schnaufe noch ein bisschen.

»Mr Everitt, schön, dass ich Sie am Apparat habe. Len Howard hier, aus Ditchling. Ich musste heute Morgen zu meinem Schrecken feststellen, dass einer von Ihren Männern dabei war, die Hecke an meinem Grundstück zu beschneiden. Jetzt, in der Brutzeit! Ich studiere hier die Vögel. Meine Forschungen werden gestört.«

Mr Everitt erklärt mir, ich müsse einen schriftlichen Antrag auf Unterbrechung des Heckenschnitts einreichen, damit der Gemeinderat darüber beschließen könne. Er selbst könne das nicht entscheiden. Ich danke ihm freundlich und bitte um die Zusage, dass man die Arbeit bis dahin ruhen lassen werde.

»Ich tue, was ich kann«, sagt er. »In der Regel hört man auf mich.« Er hustet wie ein Raucher.

Ich weiß zwar, dass mir die Kohlmeisen sofort Bescheid geben werden, falls man der Hecke wieder zu Leibe rücken sollte, aber ich bleibe dennoch den ganzen Tag unruhig. Mal hört sich der Wind wie eine Motorsäge an, mal ein entfernter Wagen. Jakob bleibt genauso unruhig. So kenne ich ihn gar nicht. Es könnte auch an seinem Alter liegen – er ist schon mindestens sechs.

Ich setze einen Brief auf. Sie müssen auf mich hören.

*

Am nächsten Morgen gehe ich beizeiten ins Dorf. Es ist der erste richtig warme Tag des Jahres, die Luft lastet auf mir, drückt mich auf den Weg nieder, als sei mein Körper zu schwer und werde immer schwerer. Früher brauchte ich zehn Minuten, wenn ich zügig ausschritt, jetzt bin ich fast zwanzig Minuten unterwegs. Beim Lebensmittelladen klopfe ich an die Scheibe. Es ist noch nicht neun Uhr. »Theo?« Ich klopfe noch einmal, sehe seinen strubbligen weißen Schopf hinter dem Ladentisch. Er richtet sich auf und hebt die Hand, zum Gruß oder um mir zu signalisieren, dass ich mich noch einen Moment gedulden soll.

Gepolter, das Geräusch von Metall auf Metall.

»Gwendolen. Was führt dich so früh hierher?« Sein Gesicht ist noch vom Schlaf gezeichnet, von spinnwebfeinen Linien durchzogen.

Ich erzähle, dass man die Hecke an meinem Grundstück beschneiden will, und gebe ihm meinen Brief zu lesen. »Würdest du auch unterschreiben?«

Er setzt seine Brille auf, liest andächtig, sucht dann in drei Schubladen nach einem Stift. »Gestern hat Linda mich im Laden vertreten. Jetzt liegt alles irgendwo anders. Ich konnte auch schon den Schlüssel für die Ladentür nicht finden. Sie hatte Esther dabei.«

»Wie macht sich Esther?«

»Sie kommt nächstes Jahr in die Schule.« Er schaut mich über seine Brille hinweg an, sichtlich stolz.

»Ist sie denn schon sechs?« Ich sehe ihre Mutter Linda, Theos erste Tochter, selbst noch als kleines Mädchen vor mir. Sehr eigenwillig, Augen wie Tore zu einer anderen Welt. Die Augen hat sie immer noch, nun mit dickem schwarzem Kajal umrandet.

»Nächsten Monat. Du kannst den Brief auch hierlassen. Dann lege ich ihn allen, die vorbeikommen, zur Unterschrift vor.«

»Gute Idee.« Wir verabreden, dass ich später noch einmal hereinschaue. Ich danke ihm, nehme meine Einkaufstasche und mache die Runde durchs Dorf. Der Bäcker gibt mir ein Brot vom Vortag mit. Der Fleischer hat Speckschwarten für mich aufbewahrt. Vom Gemüsehändler bekomme ich eine Tüte alte Äpfel. Ich wollte eigentlich auch noch zur Baumschule in Brighton, aber bei der Hitze beschließe ich, mir die steilen Straßen lieber zu ersparen. Jakob begrüßt mich schon auf der Zufahrt zum Haus, und ich sehe das Rotkehlchenpaar, das voriges Jahr in meinem Garten genistet hat. Vielleicht ist es in diesem Jahr bei der Nachbarin, was nicht sehr klug wäre, denn deren Katze ist die größte und schrecklichste Vogelfängerin, die ich kenne. Noch schlimmer als die kleine schwarze, die sie davor hatte. Zudem ist die Nachbarin selbst neugierig und schaut in alle Nistkästen hinein, wodurch die Katzen genau wissen, wo sich die Nester befinden. Ich habe ihr schon dreimal gesagt, dass sie für die Tragödien verantwortlich ist, die darauf folgen.

Im Vorgarten sonnen sich Kohlmeisen, die Flügel aufgefächert. Jakob und Monokel II sitzen, von der Wärme eingelullt, brüderlich nebeneinander, als zankten sie sonst nicht den ganzen Tag herum. Terra hat es sich mitten auf dem Weg gemütlich gemacht, genau dort, wo ich immer entlanglaufe. Der älteste Sohn von Jakob sitzt auf einem niedrigen, breiten Zweig. Er ist ein wenig langsamer als die anderen und bedient sich gern an meinem Futtertisch. Drinnen lasse ich mich in den grünen Rollsessel fallen. Ich muss ja später den ganzen Weg noch einmal machen. Drops landet auf meinem Haar, fliegt aber, von Putzi verfolgt, gleich wieder auf. Es ist ein Spiel, das sich die Jungvögel jedes Jahr aufs Neue ausdenken. Sie fliegen drei Runden vom Schrank zu meinem Kopf, zum Tisch, zum Schrank, und dann zum Fenster hinaus – quirlig und ganz und gar im Hier und Jetzt.

*

Jakob alarmiert mich vom oberen Ende des Gartenwegs aus. Schon bevor ich es höre, weiß ich, dass sie wieder angefangen haben. Seit ich den Brief von der Gemeinde erhielt – leider, unmöglich, individuelle Interessen, Planung – und schriftlich Einspruch erhob, habe ich das Grundstück fast zwei Wochen lang nicht verlassen. Gestern dann wurde mir mitgeteilt, dass der Bürgermeister meine Einwände nun doch berücksichtigen wolle, und ich dachte, die Gefahr sei vorüber. Ich laufe, so schnell ich kann, lahmend wie ein alter Gaul, sie sind jetzt zu dritt. Jakob fliegt wie ein Irrer hin und her, ebenso die anderen Kohlmeisen, die Rotkehlchen und das Sperlingspaar.

»Da sind Nester«, rufe ich, und das Herz schlägt mir bis zum Hals. Es ist schon geschehen, bis auf die Amseln, die vielleicht gerade flügge waren, die Rotkehlchen waren mit Sicherheit noch zu klein.

Ein junger Mann mit halblangen roten Haaren und rundem, von Sommersprossen übersätem Gesicht nimmt seinen Gehörschutz ab. »Was sagen Sie?«

»Sie haben alle Vogelküken getötet.« Ich speie die Worte aus, dass die Spucke sprüht.

Er schaut zur Hecke, die Augen Schlitze gegen die Sonne, stockt kurz, ist sich unschlüssig. »Tut mir leid.«

»Da, sehen Sie.« Jakob ruft und jammert, die Sperlinge tschilpen, rufen die anderen. Die Amseln geben weinerliche Laute von sich, die ich nicht von ihnen kenne.

Der junge Mann blickt zu den Drosseln und den Rotkehlchen und den Meisen, die über die Hecke hin und her fliegen, zum Feld und wieder zurück, über die Köpfe seiner Kollegen hinweg zu mir. Seine blauen Augen bewölken sich. Er unterbricht die beiden anderen Männer, zeigt auf die Sperlinge schräg vor ihm. Sie halten inne – ich höre die Vögel umso lauter. Sie rufen und rufen, wie bei einem Überfall von Elstern, aber ohne Ende.

Ich bleibe draußen, bis die Männer nicht mehr zu sehen sind. Alle Vögel haben die Hecke verlassen, nur Jakob bleibt zurück. Ich rufe, locke ihn mit einer Nuss. Er kommt nicht zu mir.

Ich gehe die Hecke ab, suche nach Nestern, nach verbliebenen Nestlingen, aber ich sehe keinen mehr, nur Federchen zwischen den abgesägten Zweigen und Blättern. An der Ecke finde ich ein aus dem Nest gefallenes Küken, einen Spatz, frisch befiedert – ich hebe das kleine braune Etwas vorsichtig hoch, weiß schon, dass es nicht gut aussieht. Das Tierchen zittert, wird dann ganz still, viel stiller als von Leben erfüllte Stille. Mit der anderen Hand scharre ich eine kleine Kuhle unter der Hecke, lege den Kleinen sanft hinein und schließe die Erde über ihm.

Die Stille wickelt sich um mich herum und begleitet mich nach Hause, wo die Kohlmeisen nervöser als sonst umherfliegen. Ich fülle den Futtertisch für sie, früher als üblich, vielleicht lenkt sie das ab – Nüsse, Brot, ein paar Stückchen Birne, nichts Fettes in der Brutzeit.

Das Grün des späten Frühjahrs ist immer noch überwältigend – eine funkelnde Pracht. Ich setze mich vor dem Haus auf einen der alten Gartenstühle, meine Hüftgelenke scheinen sich vom Körper lösen zu wollen. Ich verfluche diesen alten Leib.

Terra landet auf meiner Schulter. Ihre Krallen bohren sich in den Stoff meiner Bluse. Sie ist anhänglich, schläft aber nie drinnen. Sie hat ihr Nest in dem hohen Apfelbaum gebaut, Gott sei Dank nicht in der Hecke. Die Schnittarbeiten haben sie unbeeindruckt gelassen – sie hat schon genug erlebt, um zu wissen, dass es nicht lohnt, sich aufzuregen. Mit dem Schnabel tippt sie mir auf die Schulter, ganz leicht, als wollte sie mich an etwas erinnern.

Sternchen 1

Der Behaviorismus, welcher der Verhaltensforschung heute als wichtigste Philosophie zugrunde gelegt wird, geht davon aus, dass wissenschaftlich korrekte Daten nur in einer Situation gewonnen werden können, die frei von anderen Reizen ist und wo Reaktionen in reproduzierbaren Experimenten gemessen werden können. Der Kopf von Lebewesen, unter anderem vom Menschen, wird als Black Box betrachtet, das heißt, zu dem, was sich darin abspielt, hätten wir keinen Zugang. Verhaltensbeschreibungen haben bei dieser Auffassung von wissenschaftlichen Untersuchungen wenig Relevanz, weil sie nicht objektiv messbar seien. Darwins Arbeiten zur Kognition bei Tieren werden zum Beispiel als unwissenschaftlich eingestuft, da sie zum größten Teil auf Anekdoten basieren. Der Behaviorismus berücksichtigt freilich kaum, dass sich viele Tiere in Gefangenschaft anders verhalten als in Freiheit. Die meisten Vögel sind von Natur aus scheu, ja haben oft sogar Angst vor Menschen, und wenn sie in Laboren gehalten werden, dürfte das ihr Verhalten und somit die Untersuchungsergebnisse beeinflussen. Darüber hinaus dürften Untersuchungen von messbaren Reaktionen, die davon ausgehen, dass die Gedanken und Gefühle von Tieren nicht erforschbar seien, Resultate liefern, die genau diese These bestätigen. Betrachtet man jemanden als Maschine, wird sich das in den Untersuchungsfragen widerspiegeln und damit den Rahmen abstecken, in dem das Untersuchungsobjekt – ich schreibe hier bewusst Objekt – antworten kann. Diese sogenannte objektive Methode des Studiums von Tieren ist also genauso voreingenommen wie andere Methoden.

Es ist nun schon mehr als zehn Jahre her, dass ich in das Cottage im Westen von Sussex zog, das ich das Vogelhaus getauft habe. Es liegt am Rande eines Wäldchens und nahe eines Naturschutzgebiets, in dem unzählige Vögel und andere Tiere leben – Ringeltauben und Kuckucke, Füchse und Dachse, Feldmäuse und Maulwürfe, Bussarde und Waldkäuze, Zilpzalpe und Tafelenten. In den Bäumen und Sträuchern rund um das Haus wohnten bereits zahlreiche Kleinvögel wie Amseln, Kohlmeisen, Rotkehlchen und Sperlinge. Ich stellte auf dem kleinen Platz an der Vorderseite des Hauses einen Futtertisch für sie auf, den ich um sieben Uhr morgens und um fünf Uhr nachmittags mit allerlei Leckerbissen füllte. Ich installierte eine Vogeltränke und hängte einige Nistkästen auf, am Haus, an der alten Eiche und am Apfelbaum. Es dauerte nicht lange, bis die ersten neugierigen Meisen vorbeischauten. Sie wurden sogleich von Sperlingen verjagt, die jedes Gebiet dominieren, wenn man sie lässt. Die Sperlinge hatten aber größere Angst vor mir als die Meisen, und da ich oft auf der Bank im Garten saß, um die Vögel zu beobachten, bekamen alle die Chance, von dem Futter zu fressen und die Veränderungen im Haus zu inspizieren.

Ich zog im Februar 1938 ein. Da waren die meisten Vögel schon dabei, sich einen Nistplatz beziehungsweise den geeigneten Partner zu suchen. Sie waren also eher miteinander beschäftigt, als dass sie mir Aufmerksamkeit geschenkt hätten. Das änderte sich im Laufe des März. Eine der Kohlmeisen, Billy, ein älteres Männchen mit selbstbewusster Haltung und lauter Stimme, war frecher als die übrigen. Er flog jeden Morgen als Erster zum Futtertisch und kam jeden Mittag zur Vogeltränke, um ausgiebig zu baden. An einem warmen Apriltag flog er durch das geöffnete Fenster ins Haus, drehte eine Runde im Wohnzimmer und flog rasch wieder zum Fenster hinaus. Am nächsten Tag wiederholte sich das. Kohlmeisen lernen unter anderem dadurch, dass sie sich etwas voneinander abschauen, und so kam nicht lange danach Billys Gefährtin Grünchen – den Namen gab ich ihr, weil ihr Gefieder einen ungewöhnlich schönen Grünschimmer hatte – mit ihm zusammen herein. Von da an ließ ich immer das Oberlicht offen, damit sie nach Belieben ein und aus fliegen konnten. Das war der Beginn einer besonderen Wohnsituation, die bis zum heutigen Tag andauert und mich vieles gelehrt hat.

• 1900 •

Schau mal, Lennie.« Papa hält etwas in den Händen. Ich renne zu ihm hin.

»Eine kleine Meise?«

»Eine Blaumeise. Aus dem Nest gefallen, ich hab sie unter einer der Buchen bei der Mädchenschule gefunden. Oder eigentlich hat Peter sie gefunden.« Peter wedelt mit dem Schwanz, als er seinen Namen hört. »Nimm du sie mal eben, dann hole ich einen Karton.«

Die Federchen – so etwas Weiches habe ich noch nie gefühlt. Ich wölbe die Hände zu einer Schüssel, einem Nest, und hebe sie an meine Lippen, gebe dem kleinen Vogel einen vorsichtigen Kuss. Wie weich! Und wie blau das Köpfchen! Das Kleine bewegt sich, schüttelt sich kurz, ich erschrecke, halte die Hände aber fest zusammen.

»Setz es mal hier rein. Ganz vorsichtig.« Papa hat einen Karton aus seinem Arbeitszimmer geholt, auf dem Boden liegt ein alter Schal.

Ich lasse die Hände als Schüssel in den Karton hinab, bis ich den Boden fühle, und öffne sie dann, ganz langsam.

»Gut so. Und jetzt holen wir was zu essen.« Mein Vater nimmt mich an der Hand. Olive und Kings und Duds sind in der Schule, mich lässt Mama noch nicht, und nun habe ich Glück. Nun habe ich endlich mal Glück. »Flor?« Papa steckt den Kopf in Mamas Zimmer. »Ich gehe mit Lennie kurz Tatar für die kleine Meise holen.«

»Nenn das Kind doch bitte Gwendolen. Musst du nicht arbeiten?« Die Stimme meiner Mutter klingt heller als in den letzten Tagen. Vielleicht hat sie keine Kopfschmerzen mehr.

Papa winkt ab.

»Gwendolen, komm mal her.« Widerwillig betrete ich das dunkle Zimmer. Es riecht nach Schlaf und irgendetwas anderem, etwas Altem. Meine Mutter zupft mein Kleid zurecht und drückt mich dann an sich. Sie ist es, die so riecht. Als sie mich loslässt, laufe ich schnell zu meinem Vater, der draußen auf mich wartet.

Ich hüpfe die breite Straße entlang, so langsam, dass ich genau neben ihm bleibe. »Wo gehen wir hin?«

»Zuerst zum Fleischer und dann zu Mr Volt.«

Ich hüpfe immer höher, das kann ich wirklich gut. Meine Füße kommen im selben Takt auf wie die von Papa. Pa-dam, pa-dam, die Hufe von einem halben Pferd.

Beim Fleischer muss Peter draußen warten. Er setzt sich, er kennt das schon. Ich kraule kurz sein weißes Beffchen und laufe dann schnell hinter Papa her nach drinnen.

»Ein wenig Tatar, bitte. Es ist für eine Meise, es braucht also nicht viel zu sein.« Der dicke James arbeitet nicht immer in der Fleischerei, nur wenn Mr Johnson selbst nicht da ist. Er ist ziemlich langsam und gibt uns auch keine Scheibe Wurst.

»Vielen Dank. Bekomme ich auch noch eine Scheibe Wurst?«

Der dicke James zuckt die Achseln und wendet sich ab, um die Wurst zu schneiden. Mein Vater zwinkert mir zu. Draußen teilt er die Scheibe Wurst in zwei Hälften, eine für Peter, die andere für mich.

Bei Mr Volt gibt es alles Mögliche zu kaufen. Sein eines Auge hängt etwas weiter herunter als das andere und steht auch ein bisschen vor. Duds sagt, er habe mal eine so heftige Ohrfeige bekommen, dass es ihm aus dem Kopf geschossen sei und nicht mehr zurückwollte, und Olive sagt, er sei auf dem Auge blind, aber er schaut mich immer an, als könne er mich sehr wohl mit beiden Augen sehen, als könne er sogar mehr sehen, Sachen, die andere Leute nicht sehen.

»Guten Tag, Mr Howard, guten Tag, junge Dame. Womit kann ich dienen?«

»Etwas Vogelfutter bitte, für eine kleine Blaumeise.«

»Universalfutter. Wie viel?« Er nimmt eine Blechdose vom obersten Regalbrett und greift zu einer Papiertüte.

»Bis die Kleine wieder fliegen kann.«

Der ganze Laden ist voller Blechdosen, und in der Ecke steht ein Skelett. Ich gehe hin, befühle die Knochen und zucke zurück, als es sich bewegt.

»Ja, ja, pass nur auf«, sagt Mr Volt. »Manchmal fährt plötzlich der Geist in ihn hinein.«

»Was bin ich Ihnen schuldig?«, fragt mein Vater.

»Ach, eine so kleine Portion lässt sich gar nicht berechnen. Und du, junge Dame?«

Ich komme zum Ladentisch.

»Eine Spinne oder einen Käfer?«

»Käfer.«

Aus einem der großen Gläser unter dem Ladentisch nimmt er etwas zu naschen für mich heraus, es ist grün und rot und hat die Gestalt eines Käfers.

»Danke schön.« Ich mache eine kleine Verbeugung, wie ich es mit Olive geübt habe.

»Artig, junge Dame.«

Peter läuft auf dem Nachhauseweg vor uns her. Die Näscherei ist weich und sehr süß. Ich nehme sie aus dem Mund, um zu sehen, ob sie ihre Gestalt bewahrt hat. Der Käfer ist zu einem Klecks geworden. Klecksy der Kleckskäfer.

Tessa öffnet die Tür genau in dem Moment, als wir davorstehen. Ich renne an ihr vorbei durch den großen Flur ins Wohnzimmer, wo der Karton mit der Blaumeise auf dem Tisch steht.

»Sie lebt noch.«

»Schön. Dann wollen wir uns jetzt mal um sie kümmern. Wie spät ist es?«

Ich laufe zur Uhr auf der Fensterbank. »Drei Uhr.«

»Genau drei Uhr?«

»Ziemlich genau. Eine, nein, zwei Minuten nach drei.«

»Ja, das ist ziemlich genau. Hör gut zu: Wir müssen das Vögelchen einmal die Stunde füttern.« Er formt etwas Tatar zu einem Kügelchen und schiebt es der Meise mit dem kleinen Finger tief in den Schnabel. Das Vögelchen schluckt. Ich jauchze leise.

»Nachher vermische ich das Tatar mit dem Vogelfutter und etwas Wasser zu einem feinen Brei. Und dann wird immer schön gefüttert. Wenn die Kleine morgen noch lebt, darfst du es auch versuchen.« Er gibt der Blaumeise noch ein Kügelchen und noch eines, bis sie nicht mehr mag. Mein Vater hat schlanke und geschickte Hände. Ich schaue ihm ganz genau zu, damit ich es morgen auch kann.

»Frag Cookie mal, ob sie ein Stövchen für uns hat, mir scheint, der Kleinen hier ist ein bisschen kalt.«

»Darf ich sie auch mal in die Hand nehmen?«

Mein Vater schüttelt den Kopf. Ich renne in die Küche.

»Cookie, Cookie, wir haben eine kleine Meise. Hast du vielleicht ein Stövchen für uns? Ihr ist kalt.« Ich springe vom linken auf den rechten Fuß und vom rechten auf den linken.

»Sachte, sachte, Kind.« Cookie erhebt sich ächzend. »Nicht so laut, deiner Mutter ist nicht wohl. Komm.« Ich folge ihr die schmale, steile Treppe in den Keller hinunter, schrittweise, die Hand an der kühlen Wand.

»Wenn sie morgen noch lebt, darf ich sie füttern.«

Cookie macht hm, hm und zieht ein Stövchen aus dem offenen Schrank an der hinteren Wand. Ich nehme es ihr ab. »Und vorsichtig gehen, ja«, ruft sie mir nach. Ich bin schon fast wieder oben.

Sternchen 2

Im Garten des Vogelhauses und ringsherum wohnten unzählige Meisen, Amseln, Sperlinge und Rotkehlchen. Es gab auch ständige Besucher wie Dohlen, Krähen, Eichelhäher, Stare, Finken und Spechte. Manche Vögel, wie etwa die Schwalben, kehrten jedes Jahr wieder, andere schauten nur dann und wann einmal vorbei. Es gab Brutvögel, die ihr ganzes Leben lang blieben, andere kamen für eine Saison oder für ein paar Jahre. Vögel fast aller Arten haben sich auch einmal im Haus umgesehen, wenn ich die Krähenvögel auch nach Möglichkeit draußen gehalten habe. Sie stören die kleineren Vögel und plündern deren Nester. Zu Kohlmeisen habe ich die engste Beziehung aufgebaut. Kohlmeisen sind wohl die klügsten aller Vögel hier und zudem sehr neugierig, also ideale Forschungspartner.

Billy und Grünchen fremdelten bei ihren ersten Besuchen noch ein wenig, doch schon bald blieben sie immer länger im Haus, zumal als der Herbst in einen Winter mit wochenlangem Schnee überging. Andere Kohlmeisen machten es ihnen nach, und in jenem Dezember suchten sich bereits die ersten Schlafplätze im Haus. Ihre Wahl war nicht immer glücklich – sie bauten Nester zwischen Gardinenstange und Zimmerdecke oder im Rahmen der Schiebetür, so dass ich diese nicht mehr schließen konnte, und deshalb hängte ich da und dort Kästen auf – ausgediente Kartonverpackungen und Holzkistchen. Die Vögel begriffen immer schnell, wozu das dienen sollte, und schon bald hatten sich einige Kohlmeisen ihr eigenes Heim erobert. Im Haus gab es weniger Revierstreitigkeiten als draußen, vielleicht weil sie anerkannten, dass das hier mein Territorium war. In der Brutzeit suchten sie sich übrigens immer draußen ihren Platz, bis heute hat nie eine Meise im Haus gebrütet. Wahrscheinlich haben sie hier doch zu wenig Privatsphäre.

Die Kohlmeisen lernten mich kennen, und auch wenn meine Gegenwart ihr Verhalten manchmal beeinflusste (sie erschraken zum Beispiel, wenn ich mich zu abrupt erhob, und bevor ich das Haus betrat, rief ich sicherheitshalber immer »Nüsschen«, damit sie wussten, dass ich mich näherte), lebten sie ihr Leben größtenteils wie gewohnt weiter. Das erlaubte es mir, nicht nur ihr Verhalten, sondern auch ihre Beziehungen untereinander aus nächster Nähe zu studieren. So wurden mir bestimmt vierzig Kohlmeisen gut vertraut, die alle ihre jeweils eigenen Vorlieben und Wünsche hatten. Die Vögel selbst lehrten mich, dass individuelle Intelligenz für ihr Verhalten und ihre Entscheidungen eine weit größere Rolle spielte als biologische Neigungen oder das, was Wissenschaftler »Instinkt« nennen. Damit ich die Vögel auf diese Weise studieren konnte, war es wichtig, andere Menschen weitestmöglich fernzuhalten – Vögel reagieren auf die geringste Störung oder Änderung der Stimmlage, und selbst Besucher, die sich alle Mühe gaben, keinen Lärm zu machen, verhielten sich oft so, dass die Vögel schnellstens das Weite suchten. Wenn Vögel aber erst einmal erschreckt worden sind, dauert es ein Weilchen, bis sie wieder zurückkommen – in der Regel mindestens einen halben Tag.

In der Interaktion mit den Kohlmeisen kam ich mir oft plump und schwerfällig vor. Kohlmeisen können besser hören als Menschen, und ihr Sehen ist umfassender. Die Augen sitzen bei ihnen seitlich am Kopf, und sie sehen sowohl einäugig als auch beidäugig, ihr Gesichtsfeld ist sehr groß. Auch ist ihr Wahrnehmungsvermögen schärfer als das des Menschen. Sie sind nicht nur viel sensibler für Störungen in ihrem Lebensraum, sondern haben auch Antennen für Wetterumschläge, für die Farbe von Früchten, vor allem von Beeren, und die Bewegungen anderer Tiere. Es gibt natürlich auch eine Menge Übereinstimmungen. Wie wir Menschen haben sie feste Angewohnheiten und Rituale, zum Beispiel was das Essen und Schlafen betrifft. Meistens schlafen etwa sechs, sieben Kohlmeisen in den Kästen bei mir im Haus. Manche kommen nur herein, wenn es draußen wirklich kalt ist, andere schlafen den größten Teil des Jahres in einem Karton auf der Leiste unter der Schlafzimmerdecke.

Vögel haben genau wie wir vielfältige Möglichkeiten der Kommunikation miteinander – durch Rufe und Gesang, ihre Körperhaltung, die Geräusche, die sie mit ihren Flügeln machen, Blickkontakt, Berührungen, Bewegungen, Tänze. Dementsprechend reich und vielgestaltig wurde schon bald die Interaktion zwischen den Kohlmeisen und mir. Ich sprach sie regelmäßig an. Sie wussten oft schon durch den Ton meiner Stimme intuitiv, was ich bezweckte, und lernten nach einer Weile die Bedeutung der von mir benutzten Wörter kennen. Sie begriffen die Gebärden, die ich machte, und wir traten in Blickkontakt. Auch setzten sich manche Vögel gern zu mir und auf mich. Vögel sehen mich immer eher als ich sie. Wenn ich ihnen das Gesicht zuwende, sind sie mir bereits zugewandt – sie sehen mich nicht nur früher, weil ihre Augen seitlich vom Gesicht sitzen, sie bewegen sich auch schneller. Anfangs hatte ich das Gefühl, sie könnten mich besser verstehen als ich sie, doch mit der Zeit konnte ich sie genauso gut lesen wie sie mich. Einige Individuen verstand ich natürlich besser als andere, wie das bei Menschen untereinander ja auch der Fall ist. Ein paar Vögel waren ganz speziell: Glatzköpfchen, das Kohlmeisenmännchen, das in seinen letzten Lebenstagen so zutraulich war, dass es eigentlich den ganzen Tag bei mir auf dem Schoß saß. Krummschwänzchen, ein beherztes und sehr intelligentes Weibchen, das mich in die Kohlmeisensprache einführte. Und natürlich Sternchen, die klügste Kohlmeise, die ich je kennenlernen durfte, und die, zu der ich die engste Beziehung entwickelte.

•1911 •

Mir ist, als hätte jemand ein Türchen in meinem Herzen aufgestoßen, so dass die Wärme hereinströmen kann. Ein Türchen oder ein Fenster. Ich renne zu Olive, hinten in den Garten, durch das Sommergras, das weiche Gras, alles ist so grün.

»Ist Papa schon da?«

Ich schüttle den Kopf. »Hast du schon gerochen, wie die Rosen duften? Guck mal, sie sind ganz auf.« Ich greife zu einer Rose im Spalier hinter ihr und biege sie zu ihr hin.

Sie nickt und streckt sich erschöpft. »Würdest du mir bitte etwas zu trinken holen? Ich war den ganzen Tag auf den Beinen.« Sie musste mit meiner Mutter zusammen Kleider kaufen.

Ich gehe ins Haus zurück, langsamer jetzt, setze einen Fuß vor den anderen. Meine Mutter hält mich im Wintergarten auf. »Bist du bereit für den Auftritt, Gwen? Dein Vater ist in spätestens einer halben Stunde hier. Er wird ein paar neue Gedichte vorlesen, danach liest Paul einen kleinen Zyklus, und dann könntest du vielleicht diese Bach-Suite spielen, ja?«

Ich zucke die Achseln.

»Gwendolen.« Sie sieht mich streng an.

»Ja, Mama.« Ich gehe in die Küche, wo ich Tessa um ein Glas Champagner bitte. »Für meine Schwester.«

»Wie geht es den Vögelchen?«

»Die kleine Kohlmeise hat es nicht geschafft. Die Elster hab ich gestern rausgesetzt, ich glaube, die ist über den Berg.«

»Du bist eine Liebe. Das habe ich gerade zu Cookie gesagt.«

Ich winke ihr und gehe mit dem Glas Champagner nach draußen. Paul lehnt mit dem Rücken am Türrahmen, seine Locken kringeln sich an der Wand, er hält das Gesicht in die tiefstehende späte Sonne. Als ich an ihm vorbeigehe, wendet er sich mir zu. Ich erschrecke, werde rot, tue so, als sähe ich ihn nicht.

»Gwendolen?«

Ich schaue mich um.

»Meinst du, das ist ratsam, wenn du nachher spielen musst?«

»Das ist für Olive.« Ich klammere die Finger um das Glas – bloß nicht zu fest, dann zerspringt es womöglich noch, aber ich darf es auch nicht fallen lassen.

»Ich weiß. War nur ein Scherz.«

Ich erröte noch tiefer.

»Ich freue mich schon.«

Ich nicke und gehe schnell weiter, der Champagner perlt über den Glasrand auf meine Finger. Ich hätte etwas über seine Gedichte sagen sollen, dass mein Vater sie mir zu lesen gegeben hat, dass sie leben, fliegen, mich bewegt haben.

»Danke.« Olive hat den Sonnenschirm aufgespannt, obwohl sie im Schatten sitzt. »Fangt ihr schon an?«

»Papa ist in einer halben Stunde da.«

Aus dem Augenwinkel sehe ich Paul kleiner werden, ein schwarzes Figürchen im Anzug, ein Männchen auf einer Hochzeitstorte. Meine Cousine Margie redet von der Ehe, als bedeute sie Gefangenschaft.

»Spielst du die Cellosuite von Bach?«

Ich nicke und gehe im Kopf die Noten durch.

»Ist Sargent auch da?«

»Er wollte kommen.« Ich hoffe, dass er kommt – Sargent leitet ein Orchester in London, und er hat mich schon eine ganze Weile nicht mehr spielen gehört. Ich bin besser geworden, ich habe in den letzten Monaten wirklich viel geübt. Charles, die Krähe, die Papa aufgezogen hat, landet im Efeu. Er hüpft auf meine ausgestreckte Hand und gleich wieder zurück auf einen Ast. Er mag diesen Trubel nicht. Er fliegt davon und kackt unterwegs auf das Glas von Mr Wayne von der Musikschule in Tywyn, der das erst sieht, als er einen Schluck trinkt.

»Dieser Schmutzfink.« Olive verzieht angewidert das Gesicht.

Voriges Mal, als Sargent hier war, hat er sich ziemlich auffällig um Margie bemüht. Sie ist zweiundzwanzig und studiert an der Kunstakademie, und sie wohnt diesen Sommer bei uns, weil ihre Eltern auf Reisen sind. Margie flirtet mit jedem, und die Leute fallen darauf herein, weil sie so unschuldig wirkt. Sargent dachte schon, er hätte sie erobert, bis Margie am späten Abend furchtbar zu gähnen anfing, sich entschuldigte und nach oben verschwand – von der Treppe aus hat sie ihm noch kurz zugewinkt.

Olive nimmt das Schälchen Nüsse vom Tisch und stellt es auf ihre Stuhlkante. Sie sucht sich die leckersten Nüsse heraus und steckt sie sich nacheinander in den Mund.

Tessa kommt uns holen. Drinnen ist es warm und voll, Leiber, die zu wenig Platz lassen, Worte, die andere kaum oder gar nicht erreichen. Worte, die von Konventionen zeugen und wenig bedeuten. Die Leute kommen von weit her zu diesen Salons, mein Vater ist der Einzige in Westwales, der regelmäßig so etwas veranstaltet. Sargent drückt mir die Hand, viel zu lange. Die rote Nelke in seinem Knopfloch gerät in Bewegung, als er mit Nachdruck ausatmet. Vielleicht hat er etwas Falsches gegessen.

Meine Mutter steht neben dem Flügel. »Seien Sie alle herzlich willkommen.« An solchen Abenden spricht sie anders als sonst, affektierter.

Ich sehe den blonden Dickschädel von meinem Bruder Dudley auf der anderen Seite und gehe möglichst unauffällig zu ihm hinüber.

»Ich warte.« Meine Mutter zieht die Augenbrauen hoch. Es wird gelacht. Dudley rückt einen Stuhl weiter, um mir Platz zu machen.

Paul sitzt schräg hinter mir. Ich werde mir meines Rückens in dem altroséfarbenen Kleid bewusst, das meine Mutter für mich herausgesucht hat, zu damenhaft und zu eng. Meine Mutter nennt zuerst seinen Namen und dann meinen, als gehörten wir zusammen und folgten logisch aufeinander.

Newman beginnt mit dem zweiten Gedicht aus Footsteps of Proserpine, über Liebe und Amseln. Viele Gedichte aus diesem Band hat er für meine Mutter geschrieben. Ich unterdrücke ein Gähnen und bewege die Finger, um sie ein wenig anzuwärmen. Tadadadadadada. Er liest noch zwei weitere Gedichte aus dem ersten Band, dann ein langes über die Stadt, die sich so sehr verändert hat, und eines über die Schlacht um Troja, aus dem griechischen Zyklus. Seine Gedichte sind allesamt zu lang und enthalten zu viele Adjektive. Bevor er Dichter wurde, war er Buchhalter.

Kingsley, mein ältester Bruder, kommt keuchend hereingestürzt und lässt sich so laut auf einen Stuhl in der hintersten Reihe plumpsen, dass sich alle umdrehen. Er hat noch seine Sportsachen an, ich kann ihn von meinem Platz aus riechen. Als ich mich zu ihm umdrehe, schneidet er eine Grimasse.

Die Stimme meines Vaters wird höher, eine kleine Pause noch, dann endet er triumphierend. Während Beifall geklatscht wird, kommt Paul nach vorn, ich schaue auf seine Füße, dann kurz in sein Gesicht, das die Sonne eingefangen hat, unsere Blicke treffen sich für einen Moment, er spricht schon. Ich höre kaum, was er sagt, ich kenne die Worte. Es ist im Nu vorbei.

Meine Mutter kündigt mich an, ich stimme. Meine Finger vibrieren. Und dann spiele ich: eine Frage, eine Antwort, eine Frage.

*

Als alle weg sind, gehe ich nach unten. Ich stelle mich dorthin, wo er gestanden hat, zwei Meter von mir entfernt, vielleicht zweieinhalb. Ich sehe mich dasitzen, zur Seite schauen, den Kopf drehen. Und wieder brennen meine Wangen. Durch das Fenster sehe ich meinen Vater im Garten ein Glas Champagner einschenken. Er reicht es meiner Mutter. Das Haus atmet fühlbar auf, durch die Fenster, die aufgeklappt sind, während das letzte Tageslicht schwindet.

Als ich zu Ende gespielt hatte, kam Paul zu mir. Er fragte, ob ich mit der Musik weitermachen wolle. Ich zuckte die Achseln. »Vielleicht.«

»Dann musst du nach London gehen.«

»Ich weiß.«

»Ich habe Bekannte dort, ich kann dir helfen, ein Zimmer zu finden.«

Ich nickte und dankte ihm. »Entschuldige, aber ich muss zu meiner Mutter.« Zu meiner Mutter! Ich bin bald achtzehn.

»Natürlich.« Er nickte und ging, ich schnappte nach Luft, atmete ein, aus. Draußen roch es nach Gras und Feuer, nach Parfüm. Vielleicht kam er mir nach, und wenn nicht, würde ich ihn bestimmt noch sprechen. Erwartungen heften sich aneinander, bilden größere Erwartungen; etwas Unbedeutendes fügt sich zur Hoffnung, und noch etwas, und dann ist es schon schwer, das auszublenden, dann ist es schon schwer, sich nicht umworben zu wähnen, sondern zu unterscheiden zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte. Jedenfalls bis er weg ist. Vielleicht dauert es Wochen, ehe ich ihn wiedersehe. Ich hätte etwas Kluges oder Witziges sagen müssen. Die Sonne in meiner Brust verzieht sich und hinterlässt ein Fragezeichen, eine Sehnsuchtsspur. Ich hätte mich einfach kurz mit ihm unterhalten können. Er sagt das doch nicht von ungefähr, das mit dem Zimmer und den Bekannten, er hat das Gedicht von der Frau, die immer auf der Suche ist, vorgelesen.

Mein Vater winkt mir, ich gehe nach draußen.

»Schön gespielt, Schatz.« Er hickst, legt den Arm um mich und zieht mich an sich. Wind trägt den Geruch vom Meer mit sich, nicht das Salz.

Meine Mutter trinkt ihr Glas in einem großen Zug leer.

Ich entwinde mich der Umarmung. »Ich möchte gern aufs Konservatorium.«

»Dafür bist du noch viel zu jung, Liebling.« Mein Vater lächelt begütigend.

»Dann müsstest du auch ganz nach London«, sagt meine Mutter. »Mein kleines Mädchen. Ich weiß nicht, ob du dem gewachsen bist.« Sie legt die Hand auf meine Wange, zwickt mich kurz.

»Natürlich bin ich dem gewachsen.«

Sie schweigt. Mein Vater starrt in den dunklen Garten hinein.

»Natürlich bin ich dem gewachsen«, sage ich lauter. »Ich bin kein Kind mehr.«

Mein Vater legt die Hand auf meine Schulter, ich schüttle sie ab. Im Haus hinterlassen meine Schuhe Erde und Gras.

Auf der Treppe begegne ich meiner Schwester, sie hat einen Teller mit einem Sandwich in der Hand. »Schön, nicht, diese Gedichte von Paul.«

»Ich glaube, ich liebe ihn«, sage ich.

»Du bist verliebt, das ist etwas ganz anderes.« Sie sieht mich streng an. »Du solltest Gefühle nicht durcheinanderbringen.« Und ihrer Meinung nach sollte man sich auch besser nicht von ihnen in seinem Handeln leiten lassen.

Ich stoße einen tiefen Seufzer aus.

»Tu nicht so romantisch.« Sie folgt mir in mein Zimmer, setzt sich aufs Bett und fängt an zu essen. Beim Abendessen nimmt sie so gut wie nichts zu sich, und später hat sie dann immer Hunger. »Aber schön gespielt hast du.«

»Ich möchte Geigerin werden. Jeden Abend spielen. Mir eine Existenz aufbauen, in London oder irgendwo anders. Geld verdienen.« Ich muss mich erkundigen, wie das mit der Aufnahmeprüfung für das Konservatorium funktioniert, wann ich die machen kann und was ich dafür können muss.

»Du brauchst doch gar kein Geld zu verdienen! Wir haben genug Geld.«

»Ich möchte mein eigenes Leben leben.«

»Das geht doch auch hier.«

Ich schüttle den Kopf.

Sie stellt den Teller mit dem nur zur Hälfte gegessenen Sandwich auf meinen Nachttisch und wünscht mir eine gute Nacht.