Vorwärts - Eva Meijer - E-Book

Vorwärts E-Book

Eva Meijer

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Klug, zeitgeistig und voller Esprit: der neue Roman von der Autorin des Bestsellers »Das Vogelhaus«.

Eine Gruppe von Freunden verlässt in den 1920er-Jahren Paris, um eine Kommune auf dem Land zu gründen. In ihrem Wohnprojekt Der Grüne Weg wollen sie im Einklang mit der Natur leben. Mann und Frau sollen gleichberechtigt sein, sie verschreiben sich dem Vegetarismus, Naturismus und Anarchismus.

Ein Jahrhundert später entdeckt die Philosophiestudentin Sam ein Tagebuch aus der damaligen Gemeinschaft und ist von dem Projekt fasziniert. Sam überzeugt ihre Partnerin und ein befreundetes Paar, von Amsterdam nach Friesland zu ziehen und auf einem Bauernhof ebenfalls ein neues, freies Leben zu beginnen. Doch schnell werden die hohen Ansprüche von der Wirklichkeit eingeholt, und sie müssen sich mit den Grenzen der freien Liebe und der Angst vor der Einsamkeit auseinandersetzen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 269

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Eine Gruppe von Freunden verlässt in den 1920er-Jahren Paris, um eine Kommune auf dem Land zu gründen. In ihrem Wohnprojekt Der Grüne Weg wollen sie im Einklang mit der Natur leben. Mann und Frau sollen gleichberechtigt sein, sie verschreiben sich dem Vegetarismus, Naturismus und Anarchismus.

Ein Jahrhundert später entdeckt die Philosophiestudentin Sam ein Tagebuch aus der damaligen Gemeinschaft und ist von dem Projekt fasziniert. Sam überzeugt ihre Partnerin und ein befreundetes Paar, von Amsterdam nach Friesland zu ziehen und auf einem Bauernhof ebenfalls ein neues, freies Leben zu beginnen. Doch schnell werden die hohen Ansprüche von der Wirklichkeit eingeholt, und sie müssen sich mit den Grenzen der freien Liebe und der Angst vor der Einsamkeit auseinandersetzen.

Zur Autorin

EVA MEIJER, geboren 1980 in Hoorn, Niederlande, ist Philosophin und Schriftstellerin. Sie hat Romane, Kurzgeschichten, Gedichte und Essays veröffentlicht. Ihr Roman »Das Vogelhaus« wurde für den renommierten Libris- und den ECI-Literaturpreis nominiert. 2017 wurde Eva Meijer für ihr Gesamtwerk mit dem Halewijn-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihr bei btb »Die Grenzen meiner Sprache«, ein persönlicher Essay über Depression. Eva Meijer forscht an der Universität von Wageningen.

EVA MEIJER

VORWÄRTS

Roman

Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Voorwaarts« bei Cossee, Amsterdam.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung August 2023

Copyright © 2019 by Eva Meijer und Uitgeverij Cossee BV, Amsterdam

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © shutterstock/Alex_Murphy; Kate Macate; Victoria Sergeeva; rraya; Olga Korneeva; stockvit

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

MA · Herstellung: sc

ISBN: 978-3-641-26227-3V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Erster Teil

1. Mai 1924

Clémence zeigte auf die hellgrünen Blätter der neugeborenen Salatpflänzchen. »Da fängt der Gemüsegarten an.« Ich folgte ihr am Rand entlang – trockene dunkle Erde zwischen meinen Zehen, Steinchen, zerfallendes altes Laub. »Hier stehen die Tomaten. Zucchini, Kartoffeln, Lauch. Die Zwiebeln.« Den Hintergrund bildete eine Reihe niedriger alter Bäume mit knorrigen Stämmen, einander zugeneigt wie die alten Männer auf einem Dorfplatz. »Das sind die Apfelbäume. Die Birnen stehen dort und die Pflaumen bei der Weide an der Ecke. Bis die reif sind, dauert es noch etwas.« In der Stadt lassen sich die Jahreszeiten an den Temperaturen ablesen und dem, was die Leute anziehen, kaum jedoch an der Reifung von Früchten, am Geruch des Grases oder am Verhalten der Vögel. »Hier.« Von einem Strauch pflückte sie zwei hellrote Erdbeeren. Sie gab mir die größere, biss selbst in die andere. Die Erdbeere war noch sauer. »Du musst aus der Sonne gehen, du verbrennst dir die Haut.« Ich schlug die Augen nieder. Zum ersten Mal an diesem Tag fühlte ich mich nackt.

»Seht mal.« Georges drehte den Eimer, den er vor sich hielt, mit der Öffnung zu uns hin. »Schwefelporlinge.«

»Georges kann Schwefelporlinge nicht von Birkenporlingen unterscheiden. Nur gut, dass ich dabei war. Er hätte uns alle vergiftet.« Louis kam mit einem Geschirrtuch in der Hand aus der Küche. Er war brauner als Clémence, wettergegerbt und muskulös, und roch stark nach Schweiß. Ich hätte ihn fast nicht wiedererkannt, als wir hier ankamen. In Paris trug er die schweren Anzüge mit großem Jackett, die in Mode waren, in Schwarz oder Dunkelblau, Schuhe mit stumpfer Spitze – und er war immer glatt rasiert. Jetzt lässt er den Bart stehen, und seine Haare sind lang – es verleiht ihm die Ausstrahlung von einer alten Eiche, weise und in sich ruhend. Louis hat uns vor zwei Monaten hierher eingeladen, weil sie sich vergrößern wollen. Georges und er kennen sich schon seit mindestens zehn Jahren; Louis hat eine Vorlesung an der École normale supérieure gehalten, als Georges dort Geschichte studierte, und seither arbeiten sie zusammen.

Ich habe beide bei einem Diskussionsabend über gewaltlosen Widerstand im Café de Flore kennengelernt, vor auch schon wieder fast vier Jahren. Die Veranstaltung fand im Keller statt, der dunkel und verraucht ist, an den Wänden wuchern schwarze Schimmelgebilde wie Fantasiebäume. Ich suchte mir ein Plätzchen auf einer Holzbank hinten im Raum, neben einem hoch aufgeschossenen Jungen mit kurzem Kraushaar und stilisiertem Oberlippenbart, der sich als Victor Martin vorstellte. Georges und Louis hielten eine Präsentation über Anarcho-Primitivismus, ich gab ihnen im Anschluss einen Prospekt vom Foyer, dem neuen vegetarischen Lokal an der Rue Mathis, wo ich dienstags kochte. Clémence war an dem Abend übrigens auch dort, zusammen mit ihrem damaligen Ehemann Solomon LeFèvre, dem Erfinder des Kugelschreibers, der viel zu früh auf tragische Weise bei einem Luftschiffunfall ums Leben gekommen ist. Ihr gab ich keinen Prospekt – sie trug ein teures Kleid und bewegte sich, als käme sie aus einer anderen Welt als wir.

Georges war ein paar Wochen später ins Foyer gekommen. Ich setzte mich nach meiner Schicht zu ihm, und wir redeten bis tief in die Nacht – ich erzählte ihm sogar von meiner Kindheit in Vilnius, von meinem abgebrochenen Studium in Genf. Er hatte sich wie ich mit der Untersuchung von Zusammenhängen zwischen Anarchismus und Vegetarismus befasst.

Georges zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Habt ihr schon Hunger?«

»Die Suppe steht auf dem Herd.« Victor saß am Esstisch und fädelte bunte Perlen auf Schnüre, um einen Fliegenvorhang für die Hintertür daraus zu machen. Er sah auch unbekleidet schmuck aus, seine honigfarbene Haut schimmerte, das Brusthaar kräuselte sich keck.

Clémence machte eine Flasche Wein auf.

»Ich dachte, ihr seid keine Befürworter von Alkohol.«

»Ein, zwei Gläser sind gut für den Blutkreislauf. Und wir müssen doch eure Ankunft feiern.« Sie schenkte fünf Gläser ein. »Louis, kommst du?«

Georges ließ sich mit seinem hageren Leib neben mir am Tisch nieder und ächzte. »Das Holz scheuert am Hintern.«

Louis nahm auf dem Diwan uns gegenüber Platz, stellte seinen Körper zur Schau. Mag sein, dass ihm die Nacktheit schon zur zweiten Natur geworden war, aber für mich hatte es etwas Demonstratives. Beine breit, Schultern zurück.

»Du hast dir ein schönes Fleckchen ausgesucht.« Louis hatte schon seit Jahren geplant, aus der Stadt wegzuziehen. Voriges Jahr ist dann sein Vater gestorben, der ihm, obwohl sie entzweit waren, Geld hinterlassen hat, von dem er diesen Bauernhof kaufen konnte.

»Das war nicht ich.« Louis zeigte auf Clémence und erzählte, dass sie es war, die davon gehört habe. An einem kalten Tag im Februar seien sie hergekommen, um ihn sich anzusehen. Ein Nachbar – ein alter Klappergreis mit höchstens noch zwei oder drei Zähnen im Mund – habe gleich seinen Hund auf sie losgelassen. »Aber als er Clémence’ Rehaugen sah, war alles gut.« Der Bauernhof gehöre Monsieur Renard, erzählte er, oder eigentlich dessen altem Mütterchen, das im vergangenen November beim ersten Frost gestorben sei. »Er wollte ihn gern loswerden.«

Clémence fragte, ob das Manifest schon fertig sei. Victor zog ein Blatt aus der Schreibmaschine und begann vorzulesen. Ich trank einen Schluck Wein. Als Erstes wurden meine Füße warm, dann folgten meine Fingerspitzen.

Manifest zur Förderung des Zusammenlebens von Mensch und Natur und des Friedens im Allgemeinen

Rousseau schrieb schon 1762 in seinem Gesellschaftsvertrag, dass wir als Menschen frei geboren werden, danach jedoch in Fesseln leben. Auch heute noch hält uns die Gesellschaft, in der wir leben, gefangen – nicht nur wegen der Ungleichheit an Macht und Besitz, sondern auch weil wir …

Victor schaute auf. »Der Gedanke ist noch nicht ausgereift.«

Wir haben sieben Prinzipien aufgestellt, nach denen man leben sollte.

Frieden ist der Weg zum Fortschritt.Wir wollen im Einklang mit der Natur leben.Vegetarismus ist die logische Konsequenz aus den ersten beiden Prinzipien: Wir töten nicht.Wir praktizieren Naturismus, da Kleidung unserer Verbundenheit mit der Natur und miteinander im Wege stünde.Autorität ist immer unbegründet, und unsere Gemeinschaft ist deshalb anarchistisch.Besitz korrumpiert, und deshalb gehört in unserer Gemeinschaft alles allen.…

»Nummer sieben haben wir noch nicht.«

»Ich finde die Liste noch nicht wirklich überzeugend«, meinte Clémence, von ihrem Wein nippend. »Der Hinweis auf Rousseau ist zwar durchaus angebracht, aber schon ein bisschen abgedroschen, und zudem war der natürlich eine höchst problematische Person angesichts seiner vielen Kinder und seiner Haltung gegenüber Frauen.« Sie schlug mir aufs Knie. »Das ist Punkt sieben: Frauen und Männer sind gleich.«

Louis nickte. »Natürlich. Petrus!« Der kleine weiß-braune Terrier hatte im Garten gedöst, bis ein Schmetterling auf seiner Nase landete; nun rannte er von Hecke zu Hecke und kläffte unsichtbare Feinde an. Louis rief ihn noch einmal, rannte dann durch die Küche nach draußen und warf eine Gabel nach ihm. Petrus merkte gar nichts davon.

Victor spannte das Blatt wieder in die Schreibmaschine. »Siebtens: Frauen und Männer sind gleich und müssen gleich behandelt werden.«

Georges gähnte. »Pardon.«

»Sophie, könntest du das bitte umschreiben? Du bist viel poetischer als diese Herren.« Clémence’ Hand lag immer noch auf meinem Knie. Louis runzelte die Brauen.

»Tut mir leid, Schatz. Deine Ideen sind gut, aber deine Feder ist so zähflüssig.« Sie stand auf und küsste ihn auf den Scheitel. »Zeit für ein Bad.« Sie lief mit leichtem Hüftschwung quer durchs Zimmer, Fußabdrücke im Teppich hinterlassend. Keiner von uns schaute ihr nach.

Clémence und Louis schlafen im größten Zimmer, auf der Vorderseite des Hauses, ausgestattet mit einem wuchtigen Himmelbett aus Eiche und Fenstern mit Butzenscheiben. Victor hat das kleine Gästezimmer mit dem Alkoven unten auf der Rückseite des Hauses bekommen, wo nie die Sonne hineinscheint. Georges und ich durften das Zimmer im ersten Stock beziehen. Die Matratzen der beiden schmalen Betten dort waren von einer dicken Staubschicht bedeckt, und als ich den Fenstervorhang aufziehen wollte, fiel er von der Wand. Georges hängte stattdessen ein Laken vors Fenster, auf das der Baum davor gleich seinen Schatten warf. Die Betten haben wir zusammengeschoben und in ein Doppelbett mit harter Kante in der Mitte verwandelt.

»Ich muss mal eben die Augen zumachen.« Georges ließ sich rücklings aufs Bett fallen, lag kurz da wie tot und richtete sich wieder auf. »Kommst du auch?«

Ich roch mich selbst. »Ich gehe mich erst waschen.« Der Versuchung widerstehend, die Arme vor meinen Körper zu halten, lief ich stolz aufgerichtet nach unten. Dort war es kühler, und der Temperaturunterschied machte mir eine Gänsehaut. Ich nahm ein verwaschenes blaues Handtuch und einen Brocken Seife aus dem Vorratsschrank. Vom Wohnzimmer her ertönte Musik.

Ach, das Leben, es ist nur Leben

Ach, das Leben, es ist nur Zeit

Die Akeleien werden blühen

Der Morgen wiederkehren und der Mai

Das alte Leben, das alte Leben

Die ersten Dinge, die ich sah

Wir können Tage zählen und messen

Wirklich bewahren aber lässt sich kein Tag

»Hübsch, Schatz.« Ich erschrak über die schneidende Stimme von Louis, der plötzlich hinter mir im Flur auftauchte, den nackten Körper dicht an meinem vorbeischob. »War doch gut, dass wir das Klavier haben kommen lassen.«

Clémence hielt kurz inne, sang dann leise weiter. Am Ende des Liedes klatschte ich Beifall.

An der Eiche und der Ziegenweide entlang lief ich zur Wasserpumpe hinten im Garten, wobei ich mich vor den Brennnesseln vorsehen musste. Der Sand roch nach Wärme, über dem Hügel kreiste ein Raubvogel, wahrscheinlich ein Bussard.

2. Mai

Louis klopfte mit seinem Messer an ein Kristallglas, damit wir still waren, und schlug das Glas dabei entzwei. »Verflucht!« Er hob die größte Scherbe vom Boden auf, schnitt sich an ihrem gezackten Rand und steckte den Finger in den Mund. Clémence brach in Lachen aus, lachte, bis ihr Tränen in den Augen standen. Victor und Georges lachten zögerlich mit, Louis’ Gesichtsausdruck gerann zu einer Grimasse, die genauso gut Wut wie Belustigung ausdrücken konnte. Er war als Einziger noch nackt.

Wir aßen eine Suppe aus Kartoffeln, Kohlrabi, Zwiebeln und Kerbel. Louis hatte einen Salat aus jungem Blattsalat, Spinat und Gartenkresse dazu gemacht und im Steinofen auf der kleinen Veranda hinter dem Haus ein Brot gebacken. Victor fand ein Schneckchen in seinem Salat.

Clémence wischte sich die Tränen ab und hob ihr Glas. »Prosit. Auf dieses besondere Experiment, auf euch alle, auf die Freiheit, nein, auf die Liebe.«

»Auf die Liebe«, wiederholten wir. Nur Louis blieb stumm.

»Man schmeckt, dass das Gemüse direkt vom Land kommt. Viel mehr Aroma«, sagte Georges zu ihm. Dabei sprühte er etwas Grünes in meine Richtung, das auf Victors Glas landete.

Louis gab nicht zu erkennen, ob er ihn gehört hatte.

»Schmeichler«, sagte ich leise.

Victor kaute bedächtig. »Ich weiß nicht«, sagte er zu Georges. »Salat ist Salat.« Dann sprang er auf. »Ich denke, ihr könnt jetzt mal eine heitere Weise gebrauchen. Clémence, wo hast du das Grammofon versteckt?«

»Nach dem Essen«, sagte Louis.

»Gut, gut, du bist der Chef.« Victor kratzte an seinen Mückenstichen – wir waren leichte Beute. Bei den Ziegen hatte mich eine Bremse gestochen, meine Wade war zu mehr als der Hälfte rot angeschwollen.

»Er ist nicht der Chef«, sagte Clémence. »Wir alle haben hier das Sagen. Gemeinsam. Wollen wir abstimmen?«

Victor rollte mit den Augen. »Nach dem Essen ist auch in Ordnung.«

Louis setzte den Teller an den Mund und schlürfte den letzten Rest Suppe in sich hinein.

Petrus tauchte am Tisch auf. »Hopp«, sagte Clémence, und schon machte er Männchen. Sie strich ihm etwas Öl auf einen kleinen Brotkanten. Er rannte damit in die Zimmerecke und verschlang den Bissen wie ein Wolf ein Schaf – wie ein alter Wolf ein altes Schaf.

Früher am Tag war ich mit Georges und Victor an Raps- und Maisfeldern entlang ins Dorf gelaufen, um die Umgebung zu erkunden. Eine Frau in einem ausgefransten braunen Kleid, sie hatte etwas von einem Wiesel, hielt uns vor dem Marktplatz an. »Seid ihr die Leute, die Renards Bauernhof gekauft haben?«

»Die sind wir«, bestätigte Victor mit geschwellter Brust.

»Nicht gut«, sagte sie. »Und du?« Sie sah mich scheel an.

»Ich wohne auch dort, Madame.«

Davon erzählte Victor nun Louis und Clémence und dickte die Geschichte gehörig an; er band sich ein Geschirrtuch um den Kopf und ahmte den Gesichtsausdruck der Frau nach, mit den missbilligend geschürzten Lippen. Sie lachten.

»Mir tut sie leid«, sagte ich. Clémence sah mich interessiert an.

»Wieso denn das nun wieder?«, fragte Victor.

Louis erhob sich, einen feuchten Fleck auf seinem Stuhl zurücklassend. Er ging zum Sofa und streckte sich dort aus, die Arme über der Brust gekreuzt. Petrus sprang neben ihn, hechelte dort mit seinem drahthaarigen Leib weiter. »Zeit für Musik«, sagte Clémence und nahm das Grammofon aus dem Schrank. Victor legte eine Quadrille auf und tanzte mit einem unsichtbaren Partner im Kreis. Clémence tat es ihm nach. Georges fasste meine Hand und zog mich aufs Parkett. Anfangs hatten wir oft getanzt, ich war zwar nie sonderlich geschmeidig, und er auch nicht, aber es war schön, ein Raum nur für uns. Zu der Zeit traute er sich noch kaum, mich anzufassen. Jetzt führten wir für die anderen einen Schautanz vor, drehten uns einige Male übertrieben schnell im Kreis, bis uns schwindlig wurde und ich mich schlapp in seine Arme fallen ließ.

Das Musikstück endete abrupt, und Georges ließ mich nach einem raschen Kuss los, um einen Schluck Wasser zu trinken. Victor blieb wie erstarrt in seiner letzten Pose stehen, um sich dann bei der ersten Note des nächsten Lieds wieder in Bewegung zu setzen. Clémence ergriff meine Hand. »Darf ich bitten?« Sie nahm auch meine andere Hand, ohne eine Antwort abzuwarten, und zog mich an sich. Vor, zurück, die Musik taugte nicht zum Tanzen, man konnte darauf nur ein paar Schritte machen – sie sah mich an, unverwandt, vor, zurück, und dann war das Stück wieder vorbei, und sie lachte und fasste Louis’ Hand. Er schüttelte den Kopf. Victor drehte sich noch ein paarmal in der Mitte des Zimmers, als wäre die Musik nicht verstummt, und legte dann einen Walzer auf, satt und hoheitsvoll – er tanzte mit geschlossenen Augen allein weiter.

Draußen fiel plötzlich die Dunkelheit ein, das logische Ende. Die Mücken waren schon wieder da, Georges und ich nahmen Zitronen mit nach oben. Das Messer scheiterte zunächst an der zähen Schale, tat nach einigen Schneidebewegungen aber doch, was ich wollte. Wir rieben uns gegenseitig mit den Zitronenhälften ein.

»Louis ist ganz schön präsent, nicht?«, sagte ich.

»Das war er schon immer. Aber deshalb sind wir ja auch hier. Weil er so etwas wie das hier auf die Beine stellen kann.« Er legte sich neben mich, den Arm über meiner Brust. »Man hört auf ihn.«

»Das wird ein interessanter Sommer.«

Er küsste mich auf die Schulter. »Das glaube ich auch.«

3. Mai

»Vergesst die Nägel nicht!« Clémence ging mit Georges ins Dorf, um Werkzeug zu kaufen – sie hatte ihn gebeten, einen Badezuber zu zimmern, und Holz war zwar zur Genüge da, aber kein Hammer.

Ich schrieb einen Brief an meine alte Freundin Petra – wie geht es in Paris, kommt ihr mit der vegetarischen Küche zurecht, und was machen die Katzen? Hier ist es wie erwartet still und ländlich, Louis spielt den Chef. Clémence … Ja, Clémence kennst du wahrscheinlich. Die lässt sich nicht unterkriegen. Victor vermisst seinen Frisör. Kommst du im Juni? Alles Liebe, auch von Georges, der sich noch eingewöhnen muss.

Die Luft erwärmte sich, bald würde es oben zu heiß zum Arbeiten sein. Ich zog das Manifest zur Förderung des Zusammenlebens von Mensch und Natur und des Friedens im Allgemeinen zu mir heran. Vielleicht sollte ich mit einer Beschreibung der ländlichen Umgebung beginnen, jetzt noch grün und üppig, vollkommen wach; in ein paar Monaten würde alles gelb und offen sein. Eine Fliege summte über meinem Kopf, ich konnte sie nicht fangen und machte das Fenster auf, damit sie hoffentlich von allein den Weg hinausfand.

Um die Mittagszeit läutete Louis die Glocke. Ich legte meinen Füllfederhalter hin, machte einen neuen Fleck ins Löschtuch.

»Lass uns zusammen essen.« Georges und Clémence waren noch nicht wieder da, Victor war im Wald, um Wildkräuter zu sammeln. Louis pflückte einen Marienkäfer von seinem Schamhaar und setzte ihn auf den Jugendstil-Beistelltisch.

Das Essen war schon aufgetragen, Brot und Suppe von gestern. Ich erzählte, was ich geschrieben hatte, er schlürfte seine Suppe. »Bleibt das so?«

»Was?«

»Dass du immer angezogen bist. Du musst deine Scham überwinden. Ihr nicht stets nachgeben.« Er kniff die Augen zusammen. »Ich sehe, dass du noch sehr an dem festhältst, was du hattest und warst. Dass du dich noch sehr gegen uns abkapselst. Lass los. Ich helfe dir gern dabei, wenn du so weit bist.«

Ich tunkte mein Brot in die lauwarme Suppe. Meine Wangen glühten, aber es war auch heiß. »Ich brauche keine Hilfe.« Ich sah ihm gerade ins Gesicht. Er schien kurz verdutzt, wandte den Blick aber nicht ab.

»Seht mal!« Victor stand mit zwei großen Büscheln schlapper Petersilie in der Hand in der Tür.

Louis ging in die Küche. »Die kann gleich in die Suppe.«

»Er will mir helfen, mich zu öffnen.«

»Igitt.« Victor zog übertrieben die Mundwinkel herunter.

»Na, schön gekungelt?« Louis kam aus der Küche zurück und stellte einen Teller vor Victor hin, der etwas Petersilie hineinstreute.

»Sophiechen sagte, sie sei froh, dass ich wieder da bin. Und das weiß ich zu schätzen.« Er wandte sich mir zu. »Geht es ein bisschen voran mit dem Manifest? Ich habe heute Morgen einen Brief von Tobias bekommen, sie warten sehnsüchtig darauf. Ich glaube, ich werde es ihnen selbst hinbringen, ich muss sowieso in die Stadt.« Er setzte den Teller an den Mund und schlürfte die Suppe aus. Als er den Teller wieder hinstellte, grinste er mich kurz an, mit grünen Blättchen an den Zähnen.

Nach dem Essen ging ich zu den Ziegen. Ich füllte ihren Trog mit Wasser. Die größte kam kurz zu mir. Ihr hellbraunes Fell fühlte sich struppig an, der Geruch blieb an meiner Hand haften. Ich habe diese Ziege Marie getauft – Louis findet, wir sollten ihnen keine Namen geben, weil wir sie damit nur vermenschlichten –, Marie mit den tiefbraunen Augen. Ich wedelte die Fliegen von ihrem Gesicht und meinen Beinen fort. Sie meckerte kurz. Die Kleinen hatten Streit – Bobby jagte ständig hinter Dobby her, der, wann immer möglich, nach ihm ausschlug. Sie waren nur miteinander befasst, von mir nahmen sie kaum Notiz. Dominique, der Vater, hatte immer ein wachsames Auge auf die Straße in der Ferne, genauso wie die alte Geiß Dési. Die Luft war klar, warm, ohne schwer zu sein, es hätte mich gewundert, wenn es ein Gewitter gegeben hätte. Marie schaute ebenfalls zur Straße. Das ist es, dachte ich, das ist alles. Es hat keinen Sinn, sich nach dem zurückzusehnen, was war.

Ich blieb zu lange bei ihnen und verbrannte mir den Scheitel. In der Nacht träumte ich von grauen Wölfen, die bei uns blieben, uns beschützten.

4. Mai

Heute wurden die Olympischen Spiele eröffnet. Victor hat den ganzen Tag am Radio gesessen. Seine Begeisterung war ansteckend – zum Schluss saßen wir alle um ihn herum. Getanzt haben wir auch noch.

5. Mai

Victor und Georges waren früh im Dorf gewesen, um Pfähle zu besorgen – hinter dem Haus lag zwar ein Stapel alter Pfähle, doch sie reichten nicht aus, um die ganze Ziegenweide neu einzuzäunen. Victor klagte über Schmerzen in der Schulter, Georges runzelte hinter seinem Rücken die Brauen. Ich musste lachen.

»Lachst du mich aus?«, fragte Victor.

»Das würde ich nicht wagen. Aber gestern hat dir überhaupt nichts gefehlt.«

»Pfff«, machte er mit schiefem Grinsen. Er hat mir erzählt, dass er manchmal Heimweh hat, vor allem am Wochenende – nach der Mode, dem Schwung der Stadt, einem Publikum, das nicht nur aus Birken und Gänsen besteht.

Louis maß die Abstände aus und legte die Pfähle an den richtigen Stellen bereit, Clémence hielt sie fest, während ich sie mit ein paar Schlägen des dicken Hammers im Boden versenkte. Schon nach zwei Pfählen fing ich an zu schwitzen und musste mich ständig der Mücken erwehren – auch eine Bremse flog herum, die es wahrhaft auf mich abgesehen hatte, bis Louis ihr einen Hieb mit einem der Pfähle verpasste. »Selbstverteidigung.«

Um die Mittagszeit kam der Wagen mit der zweiten Ladung Pfähle. Georges und Victor brachten sie zur Weide, wo Clémence sie an die richtigen Stellen legte. Victor setzte sich ins Gras. »Schaut mal, ein Schneckenkönig.« Er hielt eine Weinbergschnecke in die Höhe, ihr gelbweiß-braunes Gehäuse war linksherum gewunden. Schnecken sind älter als Berge.

Clémence setzte sich zu uns in den Schatten der Weide. Louis brachte Butterbrote, sein Pimmel baumelte vor meinem Gesicht, als er das Tablett abstellte.

Nach dem Mittagessen arbeiteten wir weiter. Mein Körper war schwer, an den Innenseiten meiner Daumen bildeten sich Blasen, die bei jedem Schlag brannten. Schmerzen sind nur ein Gefühl. Clémence merkte, dass sich mein Tempo verlangsamte. »Soll ich dich mal ablösen?«

Louis sah sich meine Hände an. »Tun die Blasen nicht weh?«

»Das macht mir nichts.«

Er spannte ein dickes Tau zwischen den Pfählen, ganz bis zum Ende des Feldes.

»Beißen sie das nicht einfach durch?«, fragte ich Clémence. Sie zuckte mit den Schultern.

»Ich verstehe nichts von Ziegen.«

»Louis denn?«

Sie schüttelte den Kopf und lachte.

Am späten Nachmittag bezog sich der Himmel. Unter der Decke aus dünnen weißen Wolken blieb die Wärme erhalten. Ich war schweißnass, als endlich Wind aufkam, und es fühlte sich an, als würde ich sauber geblasen, als wäre ich neu erstanden, nun aber als Körper. In der Ferne fuhr ein Karren vorüber, gezogen von zwei Belgischen Kaltblütern. Der Mann auf dem Bock hob die Hand, wir winkten zurück. Krähen flogen um den Wagen herum.

»Liebe Leute«, Louis legte die Hände zum Trichter um den Mund, um die Entfernung besser zu überbrücken, »ich habe hier ein Glas kalte Zitronenlimonade für euch.«

»Komm«, Clémence tippte mir auf den Arm – ich bekam überall Gänsehaut.

»Zum Wohl«, sagte Louis, als wir alle um den runden Tisch hinter dem Haus saßen. Wir hoben unsere Gläser.

»Uh«, Victor zog die Wangen ein, »sauer.«

»Halb so schlimm«, meinte Louis.

Victor lachte. »Denn das ist ganz dein Geschmack.«

Louis lachte auch. »In der Tat.«

Georges hatte am Abend davor ein Kartoffelsoufflé gemacht, von dem noch ein großes Stück übrig war. Er wurde ein immer besserer Koch. Wir aßen jungen Salat aus dem Gemüsegarten dazu. Während des Essens besprachen wir Tolstois Essay »Der erste Schritt« über das Schlachten von Tieren. Louis meinte, dass der Vegetarismus für Tolstoi vor allem eine religiöse Angelegenheit gewesen sei, während Victor fand, dass darin wachsende moralische Einsicht zum Ausdruck komme – schon bald schwenkte die Diskussion zu den Theorien von Bakunin und Proudhon über, wobei Letzterer von Louis als fast schon bourgeoiser konservativer Denker dargestellt wurde. Victor widersprach dem vehement, Clémence versuchte, eine Brücke zwischen beiden Positionen zu schlagen. Ich hörte vor allem zu, wohlig müde vom Essen und vom langen Tag. Georges nickte immer wieder ein.

»Wach bleiben«, sagte Louis plötzlich und stupste ihn an.

Georges schreckte hoch. »Pardon.«

6. Mai

Heute war ein langer Tag, der sich mit Simplem hinzog. Clémence und ich setzten die Arbeit am Zaun fort, Georges pflückte hinter dem Haus Disteln, um eine Suppe daraus zu machen. Victor sagte, er müsse an einem Vortrag arbeiten, und sann mit geschlossenen Augen auf dem Sofa liegend den halben Tag über vor sich hin. Louis betätigte sich im Gemüsegarten – das Unkraut schießt aus dem Boden. Petrus leistete ihm Gesellschaft, er schlief im Schatten der Hortensie an der hinteren Hauswand.

Es war weniger heiß als in den letzten Tagen, aber uns lief trotzdem schon bald der Schweiß über den Rücken, und wir tranken immer wieder Wasser aus der Kanne an der Pumpe. Ich trug ein lockeres Baumwollkleid – die Mücken hatten mir gestern derart zugesetzt, dass ich vor Juckreiz kaum schlafen konnte. Ein gehöriger Muskelkater machte mir das Bücken schwer, und die Blasen an meinen Daumen waren aufgeplatzt. »Geht es?«, hatte Louis vorab gefragt. Natürlich ging es.

Um zwei Uhr waren wir fertig mit dem Ziegengatter. »Kommst du mit baden?«, fragte Clémence. Sie deutete auf den Himmel. »Wir müssen uns aber beeilen.«

Vor der Biegung der Straße zum Dorf zweigt ein schmaler Pfad ab, der zum Fluss führt. Man geht dort durch lockeren Sand, und ich war froh, dass ich feste Schuhe angezogen hatte.

Clémence erzählte von einem Pamphlet über pazifistischen Anarchismus, das Louis geschrieben hatte.

»Warum ist er so sehr gegen Gewalt?« Mir schien das im Widerspruch zu seinem Charakter zu stehen.

»Er glaubt an die Liebe. Auch Tiere liegen ihm am Herzen.«

Wir liefen still weiter. Enten flogen über uns hinweg, ich hörte sie weiter entfernt irgendwo auf dem Wasser landen; zwischen den Nadelbäumen hockte ein Kaninchen, das uns beäugte.

Wir kletterten über einen niedrigen Holzzaun und liefen über eine Wiese voll blühendem Löwenzahn zu dem schmalen Sandstrand. Wortlos zogen wir uns aus. Clémence war schneller als ich, eher im Wasser. Ich bin seit Jahren nicht mehr schwimmen gewesen, aber mein Körper wusste noch, was er zu tun hat.

»Bist du glücklich mit Georges?« Sie schwamm ein ganzes Stück von mir weg, drehte um und kam wieder zum Ufer zurück.

»Er ist mein bester Freund. Und du mit Louis?« Das kalte Wasser betäubte meine schmerzenden Hände.

»Louis und ich sind seelenverwandt.« Sie tauchte unter, schwamm zur anderen Seite des Flusses, winkte mir, aber ich fror mit einem Mal. Ich stieg heraus, nahm Wasser mit, das um mich herum Miniaturmeere im Sand bildete.

»Mochtest du nicht mehr schwimmen?« Sie ragte über mir auf wie ein Pferd oder eine Mutter.

»Ich schwimme nie lange.«

»Wir hätten ein Picknick mitnehmen sollen.«

Sie saß zu dicht neben mir, ich rückte zur Seite. Der Sand war warm wie eine zweite Haut. Ein Haubentaucher brach durch die Wasseroberfläche und danach viel weiter weg noch einmal. Es wirkte wie eine Einladung. Ich ging wieder ins Wasser und schwamm bis ins Tiefe, meine Schultermuskulatur lockerte sich.

Als ich wieder aus dem Fluss kam, hatte sie sich angezogen. Ich streifte mit dem Rücken zu ihr rasch mein Kleid über, wischte mir, so gut es ging, den Sand von den Füßen, bevor ich die Schuhe anzog.

11. Mai

Louis saß, als ich nach unten kam, schon am Radio, um die Nachrichten über die Wahlen zu verfolgen. Die Männer hatten am Abend davor lange darüber diskutiert, ob sie wählen gehen sollten oder nicht. Prinzipiell sind wir natürlich alle dagegen – das ist ja letztlich nichts anderes als die Bejahung eines faulen alten Systems. Pragmatisch gesehen liegt es anders. Da das aus den Nachkriegswahlen hervorgegangene Mitte-rechts-Kabinett mehr schlecht als recht regiert, hat die Linke jetzt gute Chancen. Für Louis und Georges war Wählen keine Option, Victor war sich unschlüssig. In Paris wäre er bestimmt zur Wahl gegangen, um Schlimmerem vorzubeugen; hier musste er diese Entscheidung rechtfertigen, was ihn zweifeln ließ. Von seiner Stimme würde es zwar nicht abhängen, doch wenn alle Anarchisten so dachten oder, schlimmer noch, alle Bürger, dann wäre das schon eine andere Sache.

»Ich begleite dich an die Wahlurne«, sagte ich. Ich war neugierig, wie sie das hier aufzogen. Clémence wollte auch mitkommen.

Es war ein strahlender Tag, die Sonne machte das neue Grün um uns her noch heller, ließ die Blätter Schatten aufeinander werfen. Petrus lief ein Stück mit uns mit, blieb aber schon am Zaun hechelnd stehen. Clémence hatte ein schickes grünes Kleid gewählt, und ich kam mir neben ihr wie ein Bauerntrampel vor, obwohl ich mein bestes Kleid anhatte. Victor trug ein etwas altmodisches Hemd mit Binder und Hosenträgern. Wir waren eine Sehenswürdigkeit im Dorf. Drei Knirpse von acht, neun Jahren liefen eine Weile tuschelnd und lachend hinter uns her, bis Victor sich umdrehte und mit dem Finger drohte. Die Frau vom Milchmann trat in die Türöffnung, um uns zu mustern. Unser fröhliches »Bonjour« erwiderte sie nicht.

Im Gemeindehaus hatte man ein Wahllokal zusammengeschustert. Zwei alte Männer saßen an einem Tisch, der aus einer Tür auf zwei Böcken mit einem Laken darüber bestand. Die Türklinke ragte genau vor dem linken der beiden unter dem Laken empor, daneben lagen die Stimmzettel.

»Einmal?« Die Zähne des rechten Mannes standen alle kreuz und quer.

Victor gab ihm seine Wahlkarte und zeigte seinen Ausweis vor, der Mann schrieb etwas in ein Heft. Sein Füller kleckste, der Ärmel hatte blaue Flecken.

Unterdessen setzten die Männer ihr Gespräch fort. Es ging um einen Schimmel, der Sehnenbeschwerden im linken Vorderbein hatte. Der Stimmzettelmann wollte ihn loswerden, doch der Schlachtpreis war ihm zu gering. Er wollte lieber noch abwarten. Der andere gab Tipps: Stell ihn eine Zeit lang raus auf die Weide, es ist Sommer, vielleicht heilt es doch noch.

Clémence lächelte den ersten Sprecher an. »Verzeihung, ich fing gerade etwas von Ihrem Gespräch auf. Sie haben ein Pferd zu verkaufen?«

Der Mann kniff die Augen zusammen, als schaue er ins Licht.

»Wir haben vor ein paar Monaten den Bauernhof von Renard gekauft, und da hätten wir schon Platz für ein Pferd.«

Victor warf seinen Stimmzettel in die als Wahlurne dienende Milchkanne.

»Ich habe kein Pferd zu verkaufen.«

»Falls Sie es sich anders überlegen sollten«, sie zog einen Zettel aus ihrer Tasche und griff zu dem Füller, der auf dem Tisch lag, um ihre Adresse aufzuschreiben, »ich biete hundert Franc über dem Schlachtpreis.«

Wir gingen wieder hinaus in die Sonne. »Das arme Tier«, sagte Clémence. »Wir müssen das mal im Auge behalten.« Keiner von uns hatte Erfahrung mit Pferden, aber warum sollten wir das nicht auch hinbekommen.

Zu Hause lief laut das Radio. Louis hatte die Fenster aufgemacht, während er im Gemüsegarten arbeitete. Clémence erzählte ihm von dem Pferd. Er sagte nichts dazu.

»Was ist? Findest du die Idee nicht gut?«

»War das vor oder nach der Stimmabgabe?« Er trieb den Spaten energisch in den Boden.

»Ach, Louis. Die anarchistische Sache steht und fällt doch nicht mit einer richtigen oder falschen Stimme.«

»Es geht ums Prinzip. Wenn du im Restaurant eine Schweinelende bestellst, wird auch kein Schwein dafür getötet. Aber du isst das Fleisch von einem getöteten Tier, und je mehr Menschen das tun, desto mehr Schweine werden getötet.«

Clémence schüttelte den Kopf und sah ihn eine Weile an, doch er hielt den Blick abgewandt, schaute auf die Tomatenpflanzen. Sie zog in meine Richtung die Brauen hoch und ging ins Haus. Die Sonne folgte ihr, warf ihren Schatten vor ihr her.

Beim Essen blieb das Radio an. Aufgeregte Stimmen vermischten sich mit unseren. Es sah so aus, als könnte das Bündnis der Linken die Wahlen gewinnen. »Erst mal abwarten«, sagte Victor. »Voriges Mal hatte ich so große Hoffnungen, habe sogar Geld eingesetzt, und dann wurden wir alle enttäuscht.«

»Georges, würdest du mir bitte den Wein reichen?«, bat Louis. Der Wein stand direkt neben Clémence.