Das Wagnis, ein Einzelner zu sein - Christian Möller - E-Book

Das Wagnis, ein Einzelner zu sein E-Book

Christian Möller

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Beschreibung

Sören Kierkegaard, der am 5. Mai 2013 seinen 200. Geburtstag hatte, wurde vor allem bekannt durch Schriften wie 'Entweder-Oder', 'Der Begriff Angst' oder 'Die Krankheit zum Tode'. Weniger Bekanntheit erlangten seine 94 erbaulichen (oder: religiösen) Reden, die Kierkegaard als sein eigentliches Vermächtnis ansah. Michael Heymel und Christian Möller interpretieren exemplarische Texte dieser erbaulichen Reden und befragen sie auf ihre Aktualität hin. 'Das Wagnis, ein Einzelner zu sein' eignet sich so auch als Einführung in Glauben und Denken Sören Kierkegaards. Der erste Teil des Buches stellt sein Leben und sein Werk vor, der zweite präsentiert zehn ausgewählte erbauliche Reden und legt sie für die Gegenwart aus. Im dritten Teil wird versucht, Kierkegaards Leben in der Spannung von Freude und Schwermut, Himmel und Hölle zu verstehen, und gezeigt, wie er Türen zu neuen Welten öffnet. So kann man Kierkegaard als religiösen Schriftsteller kennenlernen.

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Michael Heymel, Christian Möller

Das Wagnis, ein Einzelner zu sein

Glauben und Denken Sören Kierkegaards am Beispiel seiner Reden

Theologischer Verlag Zürich

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar.

Umschlaggestaltung: Simone Ackermann, Zürich

ISBN 978-3-290-17698-3 (Buch) ISBN 978-3-290-17730-0 (E-Book)

|XX| Seitenzahlen des E-Books verweisen auf die gedruckte Ausgabe.

© 2013 Theologischer Verlag Zürichwww.tvz-verlag.ch

Alle Rechte vorbehalten

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Inhalt

Titelei

Inhalt

Vorwort

Teil A

1 Sören Kierkegaard – Annäherungen an sein Leben

Der rätselhafte Kierkegaard

Der religiöse Schriftsteller

Die indirekte Mitteilung

Kierkegaards Biografie in wenigen Daten

Der Vater

Regine Olsen

2 Sören Kierkegaard – Annäherungen an sein Werk

Zwei Lesarten Kierkegaards – ein kurzer Rückblick auf die Rezeptionsgeschichte

Was hat Kierkegaard mit Philosophie zu tun?

Drei verschiedene Textsorten

Flugblätter gegen die verbürgerlichte Kirche

Teil B

1 Der Streit des Gebets (1844)

A »Der rechte Beter streitet im Gebet und siegt – dadurch, daß Gott siegt«

B Interpretation

Pseudonyme Schriften und Erbauliche Reden von 1844

Der Streit des Beters mit Gott

Kindliches und erwachsenes Beten

Der Streit mit dem Weisen

Im Gebet verändert sich die Gottesbeziehung

C Bezug zur Gegenwart

Missverstandene Innerlichkeit

Innerlichkeit und »Entweltlichung«

Innerlichkeit und Aktivismus

Innerlichkeit und Anbetung

2 Innerlichkeit (1844)

A »Die Bestätigung in dem inwendigen Menschen« (1843)

B Interpretation

Einleitung

Hauptteil der Rede

A. Der inwendige Mensch (131–134)

B. Wohlgelingen dient zur Bekräftigung (134–140)

C. Übelgelingen dient zur Bekräftigung (140–145)

D. Wohl- und Übelgelingen dienen zur Bekräftigung (145–148)

Schluss (148)

C Bezug zur Gegenwart

3 Der Einzelne (1847)

A Aus Anlass einer Beichte (1847)

B Interpretation

Kierkegaards Auseinandersetzung mit dem »Corsar«

Die Frage nach dem Einzelnen als Gewissensfrage

Die Dialektik von Einzelnem und Nächsten

Das Elend des Vergleichens

Das Märchen von der bekümmerten Lilie

C Bezug zur Gegenwart

Der Einzelne und die Quote

4 Erbauung (1847)

A »Liebe erbaut« (1847)

B Interpretation

Was heißt erbauen?

Sehen, was in Wahrheit Liebe ist

Alles kann erbaulich sein, wenn Liebe dabei ist

Kierkegaards Begriff des Erbaulichen

Das Erschreckende als Kehrseite des Erbaulichen

C Bezug zur Gegenwart

5 Die Sorge (1848)

A Die Sorge der Selbstquälerei

B Interpretation

Zur Situation

Zum Aufbau der Reden

Ein biografisches Beispiel

C Bezug zur Gegenwart

Hochrechnungen und Sorgen

»Planen als plante ich nicht«

6 Der einladende Christus als Gestalt der Kirche (1848)

A Eine erbauliche Rede zu Mt 11,28 (1848)

B Interpretation

Was Jesus von anderen Ärzten und Helfern unterscheidet

Christus als der wahre Arzt

Jesus lädt die Sünder ein

Thorvaldsens Christus

Gemeinschaft der Glaubenden

C Bezug zur Gegenwart

Christus als Gemeinde

Die Gestalt des Einladenden heute

7 Über das Erzählen (1848)

A Einübung im Christentum, 3. Teil, III (1848)

B Interpretation

Ein evangelisches Exerzitium

Vom liebevollsten Menschen erzählen

Die Wirkung der Erzählung auf das Kind

Ein Kind als Beispiel für Erwachsene

Wie erzählt werden soll

Das Poetische in Beziehung zum Leben bringen

C Bezug zur Gegenwart

Christentum als Erzählgemeinschaft

Aufmerksamkeit

Lebendiges Erzählen – drei Beispiele

8 In Jesu Seelsorge (1849)

A Der Hohepriester. Rede zum Altargang am Freitag (1849)

Hebräer 4,15

B Interpretation

Trösten – wie geht das?

Jesus Christus und die andere Qualität des Mitleidens

»Rede zum Altargang«

»Die Krankheit zum Tode« im Verhältnis zu den »Drei Erbauliche Reden«

C Bezug zur Gegenwart

Selbstseelsorge

Selbst werden

9 Die Bibel – ein Liebesbrief (1851)

A »Sich mit wahrem Segen beschauen im Spiegel des Worts« (1851) Aus einer erbaulichen Rede zu Jak 1,22–27

B Interpretation

Die Heilige Schrift: Gottes Wort

Begegnung mit dem Bibeltext, kein Buchstabenglaube

Der unbedingte Anspruch des Wortes Gottes

Was der Liebende tun soll

Radikaler Gehorsam

Mögliche Einwände gegen Kierkegaard

C Bezug zur Gegenwart

10 Gottes Unveränderlichkeit (1851 / 1854 / 1855)

A In Gottes Unveränderlichkeit zur Ruhe kommen262

B Interpretation

Zur Situation des Predigers

Ruhe in Gottes Unveränderlichkeit

Kierkegaard als Prediger

Streit mit der Staatskirche

Die neue Situation der Citadelpredigt

Kierkegaards Sterben und Tod

C Bezug zur Gegenwart

Gericht und Gnade

Teil C

1 Wie Sören Kierkegaard seinen Lesern Türen öffnen kann

2 Sören Kierkegaard – zwischen Himmel und Hölle

Literatur

Sören Kierkegaard

Literatur

Fußnoten

Seitenverzeichnis

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Vorwort

Dieses Buch ist aus zwei Vorlesungen erwachsen, die wir gemeinsam in den Sommersemestern 2011 und 2012 an der Universität Heidelberg gehalten haben, um Studierende aller Fakultäten in Glauben und Denken Kierkegaards einzuführen. Üblicher Weise1 werden dafür pseudonyme Schriften Kierkegaards wie »Entweder-Oder«, »Philosophische Brocken«, »Der Begriff Angst« oder »Die Krankheit zum Tode« herangezogen, weil vor allem sie seinen Namen bekannt gemacht haben. Seine Reden bleiben aber meist unbeachtet, ihre besondere Bedeutung für das Verstehen seines Glaubens und Denkens wird nicht erkannt.

Wir haben vor allem auf diese Reden zurückgegriffen, weil Kierkegaard sie unter seinem eigenen Namen herausgegeben hat. Diese fast hundert literarischen Reden sind deshalb so provokant, weil sie von einer Leidenschaft des Glaubens geprägt sind. Gerichtet sind sie an »jenen Einzelnen, den ich meinen Leser zu nennen die Ehre habe«. Wer ist das – »jener Einzelne«? Es ist jeder, es ist jede, freilich so, dass sie zu sich selbst kommen, den trügerischen Schutz der Menge und des »Meinungssuffs« verlassen und verantwortlich für sich selbst werden. Dieser widerständige Einzelne ist für Kierkegaard freilich nur die andere Seite einer Gemeinschaft, die von der Verantwortung des Einzelnen lebt und auf die Würde des Einzelnen achtet. Jeder Mensch wird dann zum »Nächsten«, wie Kierkegaard in seiner wohl großartigsten Sammlung von 18 Reden ausführt, die er unter dem Titel »Der Liebe Tun« (1847) herausgab.

Was Kierkegaards Reden auszeichnet, ist die Widerstandskraft, die sie ihrem Leser verleihen, um Einzelner zu werden, der sich nicht mehr von jedem neuen Lüftchen der Zeit wegwehen lässt. Kierkegaard nennt diese Widerstandskraft »Innerlichkeit«, die es im Menschen zu »erbauen« gilt. Deshalb geht es um »Erbauliche Reden«, die einen ähnlich programmatischen Charakter haben wie eine Generation zuvor Schleiermachers »Reden |8| über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern« (1799). Kierkegaards Reden sind in ihrer Existenzmitteilung nicht apologetisch, sondern polemisch: Sie greifen eine Gesellschaft an, der die Leidenschaft des Denkens und des Glaubens abhandengekommen ist; sie greifen vor allem eine an die üblichen Denkschemata der Zeit angepasste Christenheit an und üben mit dem Leser und der Leserin Schritt für Schritt, Rede für Rede ein Verstehen des Lebens ein, das zwar rückwärts reflektiert werden kann, aber vorwärts gelebt werden muss.

Kierkegaard wollte, dass seine Schriften, vor allem seine Reden, laut gelesen werden. Deshalb haben wir die Vorlesung jeweils in der Universitätskirche begonnen, um eine der ausgewählten Reden in gekürzter Fassung2 laut zu Gehör kommen zu lassen. Anschließend ging es in den Hörsaal, wo das Gehörte interpretierend in den Kontext von Kierkegaards Glauben und Denken gestellt wurde. Schließlich haben wir den Versuch gewagt, von Kierkegaards Impulsen aus einen Bezug zur Gegenwart herzustellen, um nicht bloß über Kierkegaard zu reden, sondern mit ihm weiterzudenken. Dieser Dreischritt bestimmt auch die zehn Kapitel in Hauptteil B des vorliegenden Buches.

Wir danken den Hörern und Hörerinnen unserer Vorlesungen für die engagierte und kritische Teilnahme, besonders Annette Röhrs und Rico Drechsler für hilfreiche Vorschläge zur Überarbeitung unseres Manuskripts.

Wir grüßen Lothar Steiger, der als ein Schüler von Hermann Diem und Hans-Georg Gadamer in seinen Wuppertaler wie Heidelberger Vorlesungen und Seminaren ebenso wie mit seinen tiefschürfenden Aufsätzen3 viele Studierende für Kierkegaard begeistert, den Wuppertaler Freund inspiriert |9| und den Heidelberger Schüler auf den Weg gebracht hat, das Humane bei Kierkegaard zu lernen.4

Michael Heymel / Christian Möller

Heidelberg,

im Jahr des 200. Geburtstags von Sören Kierkegaard

am 5. Mai 2013

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Teil A

1 Sören Kierkegaard – Annäherungen an sein Leben

Der rätselhafte Kierkegaard

Selten war ein Mensch sich selbst, seiner Mitwelt wie seiner Nachwelt so rätselhaft wie der am 5. Mai 1813 in Kopenhagen geborene und am 11. November 1855 in Kopenhagen gestorbene Sören Aabye Kierkegaard. In einer geselligen Abendrunde konnte er der witzigste und geistreichste Teilnehmer |12| sein, so dass alle denken mussten, was für eine glückliche Natur dieser junge Student sei. Dann aber ging Kierkegaard nach Hause und schrieb in sein Tagebuch:

»Ich komme jetzt gerade von einer Gesellschaft, wo ich die Seele war, Witze strömten mir nur so aus dem Mund, alle lachten, bewunderten mich – aber ich ging –––––, ja der Gedankenstrich müsste genauso lang sein wie die Radien der Erdbahn und wollte mich selbst erschießen.«5

Er kleidete sich gelegentlich wie ein Dandy und spazierte am Nachmittag durch Kopenhagens Hauptstrasse mit seinem Spazierstock, als genieße er das Leben und sei ein Müßiggänger. Doch kaum war es dunkel geworden, eilte er zurück in seine Wohnung und arbeitete bis Mitternacht an mehreren Stehpulten weiter, sei es an seinem Tagebuch, an einer pseudonymen Schrift oder an einer erbaulichen Rede.

Gab er sein erstes Hauptwerk »Entweder-Oder« in zwei Bänden 1843 heraus, so gab er dem Verfasser das Pseudonym Victor Eremita (der siegreiche Einsiedler). Natürlich sprach sich bald in Kopenhagen herum, dass Kierkegaard in Wahrheit der Verfasser sei. Und doch ließ sich der wahre Verfasser auf der Straße oder an anderem Ort nicht auf sein Werk ansprechen, sondern war nur bereit, über den pseudonymen Verfasser und dessen Werk zu reden. Warum dieses Versteckspiel? Probiert hier einer die Rollen seiner Existenz aus, erprobt er Möglichkeiten des Lebens und spielt sie durch, um sie seinem Leser zuzuspielen?

Das macht es so schwer, Kierkegaards Leben auf die Spur zu kommen: Bei fast jeder seiner Äußerungen bezieht er sich auf seinen Leser und entzieht sich doch zugleich, als wollte er sagen: Hier bin ich und bin es doch nicht. Nennt mich meinetwegen den »Sokrates Kopenhagens«. Ja, ich habe über Sokrates und dessen Ironie eine Magisterarbeit6 geschrieben. Mit dieser Rolle könnte ich mich angesichts der Geisteszustände Kopenhagens gut anfreunden, wie mir Sokrates überhaupt zu dem Weisen des Altertums geworden ist. Mit ihm vergleichen könnte ich mich freilich nicht.

Nennt mich den »Spion Gottes«, wie ich es selbst einmal in mein Tagebuch geschrieben habe. Das bin ich und bin es doch nicht, denn Gott ist im Himmel und ich auf der Erde. ER weiß, was er mit mir vorhat.

|13| Nennt mich einen »Philosophen«! Ja, ich habe viel Philosophie studiert, habe Schelling in Berlin gehört, habe mich mit Hegel an vielen Stellen meiner Schriften direkt oder indirekt auseinandergesetzt, wäre gern der Nachfolger meines verehrten philosophischen Lehrers Poul Möller an der Universität Kopenhagen geworden, habe auch eine kleine Schrift mit dem Titel »Philosophische Brocken« mitsamt einer sehr langen »Unwissenschaftlichen Nachschrift« herausgegeben, aber ein Philosoph bin ich nicht, auch wenn mich die Philosophiegeschichte zum Begründer der »Existenz-Philosophie« machen will.

Nennt mich einen »Psychologen«! Ja, ich habe zwei meiner Schriften Untertitel gegeben, die mein großes Interesse an der Psychologie zum Ausdruck bringen: »Eine schlichte psychologisch andeutende Überlegung« (»Der Begriff Angst«) und »Eine christlich-psychologische Erörterung zur Erbauung und Erweckung« (»Die Krankheit zum Tode«); auch hat mein Verständnis vom »Selbst« besonders in der humanistischen Psychologie eine große Bedeutung gewonnen. Aber ein Psychologe bin ich gleichwohl nicht, denn ich habe eigentlich nur mich selbst im Licht Gottes reflektiert und dabei festgestellt: »Je mehr Vorstellung von Gott, um so mehr Selbst; je mehr Selbst, umso mehr Gottesvorstellung«.7

Nennt mich einen »Theologen«! Ja, ich habe auch Theologie studiert, 10 Jahre lang, und habe sogar ein theologisches Examen in Kopenhagen gemacht, habe eine Probepredigt für Kandidaten gehalten und die Anstellungsfähigkeit für die Kirche erworben, aber ich bin kein Pfarrer geworden, habe nicht die Ordination der Kirche erhalten und habe doch oftmals mit dem Gedanken gespielt, irgendwo in einem Dorf Dänemarks Pfarrer zu werden. Letztlich aber war das mir nicht möglich.

Das Schlimmste aber wäre, wenn irgend so ein Professor über mich und mein System dozieren würde. Denn ich habe gar kein System und gehöre keiner Schule an, auch wenn sich Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre, Carl Rogers, Rudolf Bultmann, Karl Barth u. a. häufig auf mich berufen haben.

Der religiöse Schriftsteller

Wer aber ist dann eigentlich dieser Sören Kierkegaard? Er spürte wohl, wie oft diese Frage von seinen Lesern an ihn herangetragen wurde, vielleicht auch in ihm selbst arbeitete, bis er schließlich eine kleine Schrift im Jahr 1851 |14| herausgab: »Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller«8. Darin legte er sich endlich einmal fest: Religiöser Schriftsteller sei er, der »ohne Vollmacht« auf das Religiöse, das Erbauliche, das Christliche aufmerksam mache. »Ohne Vollmacht« heißt für Kierkegaard nicht nur, ohne kirchliche Bevollmächtigung, sondern auch ohne den Anspruch, ein besserer oder gar vollkommener Christ zu sein. Vielmehr betrachte er sich am liebsten als einen Leser seiner Bücher, nicht als deren Verfasser.

Und was ist das »Religiöse« dieses »religiösen Schriftstellers«? Auch hier legt Kierkegaard sich in derselben kleinen Schrift fest und nennt eine Kategorie, die für ihn so maßgeblich wurde, dass er eine Zeitlang sogar erwog, sie auf seinen Grabstein setzen zu lassen: »DER EINZELNE«: »Die Bewegung ist: fort vom Publikum zum ›Einzelnen‹.« Religiös gebe es nämlich kein Publikum sondern nur Einzelne; das Religiöse sei der »Ernst«, denn ernsthaft werde es erst beim Einzelnen, jedoch so, »daß jeder Mensch, unbedingt jeder Mensch, der Einzelne sein kann, ja sein soll, so wie er es denn ja ist«.9

Anmerkungsweise fügt Kierkegaard gegenüber allen, die ihn fälschlicher Weise auf Individualismus festlegen wollen, noch hinzu, dass die Gemeinde, soweit es sie religiös gibt, nur die andere Seite des Einzelnen sei. Sie dürfe aber auf keinen Fall mit der politischen Größe des Publikums, der Menge, des Numerischen verwechselt werden. Gemeinde im christlichen Sinn schaffe Raum für die Würde und die Überzeugung des Einzelnen, wie umgekehrt der Einzelne für die Gemeinde einsteht und ihr in seinem Leben Raum gibt. In der christlichen Gemeinde gelte nicht das numerische Gesetz, wonach die Mehrheit sagt, was Wahrheit ist. Deshalb war Kierkegaard auch skeptisch gegenüber der Entwicklung seiner Zeit zur Demokratie, weil er fast prophetisch aus der Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit solche Gefahren hervorgehen sah wie z. B. den Massenwahn des Nationalsozialismus, der bekanntlich mit demokratischer Mehrheit 1933 an die Macht kam.

Schließlich bringt Kierkegaard an derselben Stelle seiner kleinen Schrift »Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller« noch sein Credo kurz und bündig zum Ausdruck: »Und das ist mein Glaube: so viel Verwirrtes und Böses und Widerwärtiges an den Menschen sein mag, sobald sie, der Verantwortung und Reue ledig, ›Publikum‹, ›Menge‹ und dgl. werden: ebensoviel Wahres und Gutes und Liebenswertes ist an ihnen, wo man sie einzeln zu fassen bekommt. O, und in welchem Maße würden die Menschen nicht – |15| Menschen werden und liebenswert, wenn sie Einzelne würden vor Gott!«10 Dieses Credo bringt eine Steigerung zum Ausdruck: Von der Menge, der man verfallen kann, über den Einzelnen, den es zu fassen gilt, bis zum Einzelnen, den es vor Gott zu bringen gilt. Das hört sich einfach an und ist ja auch ganz einfach, weil jeder Mensch von Haus aus ein Einzelner ist. Und doch ist Kierkegaards ganzes Leben im Grunde ein Kampf um den Einzelnen gegen die Verführung der Menge. Es ist so bequem, in der Menge mitzulaufen und sich als Einzelner dem allgemeinen Trend zu beugen. Einzelner muss ich immer erst gegen den Sog der Menge werden, und ich werde es in besonderem Maß, wenn ich vor Gott komme, weil mich dann Reue und Gnade bestimmen, während der Einzelne in der Menge verstummt: »Wir sind viele, ganz viele!«

Drei Gesichtspunkte scheinen mir für die Annäherung an Kierkegaards Leben besonders wichtig zu sein:

In den Äußerungen zu seiner Wirksamkeit als Schriftsteller gibt sich Kierkegaard als einer zu erkennen, der sich dem

geschriebenen Wort

anvertraut hat, weil er offenbar darin seine Berufung und sein Charisma für sein Wirken und sein Leben gefunden hat. Mit dem geschriebenen Wort konnte er so virtuos wirken wie kaum ein anderer, während die wenigen Male, die er in Kopenhagen tatsächlich predigte, unschwer erkennen ließen, dass das mündliche Wort schon stimmlich seine Sache nicht war. Die meisten Leute konnten ihn mit seiner leisen Stimme schon akustisch kaum verstehen.

11

Kierkegaard versteht sich als

religiösen, erbaulichen Schriftsteller

. Das Erbauliche ist freilich für ihn erst einmal das Erschreckende, weil es darum geht, den Menschen mit sich selbst zu konfrontieren, um die Masse zu zerteilen und der Menge zu widerstehen, damit er dem Sog des Trends widerstehen und ein Einzelner werden kann. Das kostet Kampf, List, Gebet und viel Kraft, wie Kierkegaards Leben zeigt.

Alle Anstrengung seines Lebens gilt der eigentlichen Aufgabe des religiösen Schriftstellers,

den Einzelnen vor Gott zu rufen

, um ihn zu »er-bauen«, und d. h. ihn in seiner wahren Würde aufzurichten: ein Sünder zu werden, der Gottes Gnade bedarf. Denn: »Gottes bedürfen ist des

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Menschen höchste Vollkommenheit«, wie der Titel einer erbaulichen Rede Kierkegaards von 1844 lautet.

Die indirekte Mitteilung

Auf dem Weg der Annäherung an Kierkegaards Leben sei noch einmal die Frage gestellt, warum sich dieser »erbauliche Schriftsteller« mit seinem Leben und seiner Person dem Leser immer wieder entzieht und für seine Mitwelt wie Nachwelt zum Rätsel wird. Warum spielt er für die Kopenhagener Öffentlichkeit den Dandy? Wozu braucht er für seine großen Schriften Pseudonyme? Ist das ein harmloses Versteckspiel, oder hat es vielleicht Methode?

Ja, es hat sokratische Methode, denn Kierkegaard hat von dem »Weisen des Altertums« gelernt, dass es darauf ankommt, den Gesprächspartner nicht mit fertigen Erkenntnissen abzufertigen, sondern ihn am Entstehen einer Erkenntnis zu beteiligen, und zwar so sehr, dass es am Ende scheine, als habe der Partner selber die Erkenntnis gefunden. Diese dialektische Kunst der »indirekten Mitteilung« praktiziert Kierkegaard im Dialog mit seinen Lesern. Sie sollen nicht fertige Kost serviert bekommen, sondern selbst beim Lesen mit ihrer Phantasie, mit ihrem Verstand, mit ihrem Glauben aktiviert werden. Es gibt dafür heute einen Begriff, der so voluminös klingt, dass Kierkegaard ihn bei seinem Achten auf einfache, nächstliegende Worte niemals gebraucht hätte: »Rezeptionsästhetik« (W. Iser u. a). Die Rezeptionstätigkeit der Leser gilt es beim Schreiben zu aktivieren, damit sie an dem gelesenen Text mitschaffen und ihn so zu ihrem eigenen Text, zu ihrer eigenen Sache machen.

Wenn das die Hauptsache ist, muss Kierkegaard mit seinem Leben und mit seiner Person zur Nebensache, ja eigentlich überflüssig werden. Zuweilen könnte er sogar ein Hindernis dafür werden, dass die Sache zu den Lesern gelangt. Es kommt ja darauf an, den geneigten Leser zu gewinnen und mit ihm gemeinsame Sache zu machen. Deshalb gilt es zu verhindern, dass der Leser mit seinen Gedanken am Autor hängenbleibt und die Gründe für das Geschriebene im Leben des Autors sucht, in dessen Verliebtheit vielleicht oder in dessen Schwermut oder in sonst etwas. Das lässt die gelesene Sache nur bedingt beim Leser ankommen. Kierkegaard aber will den Leser »erbauen« und d. h. heilsam vereinzeln und zu sich selbst kommen lassen, damit er Abstand zum Gebrüll der Massen bekomme und sich sein eigenes Urteil bilde.

|17| Und doch ist das nur die halbe Wahrheit, denn die Sache hat, wie so oft bei Kierkegaard, noch einmal eine andere Seite, die sich schon andeutet, wenn der 23-Jährige in sein Tagebuch schreibt: Es gilt »die Idee zu finden, für die ich leben und sterben will«.12 Wer so existentiell fragt und die Subjektivität zur Wahrheit erhebt, der kann gar nicht an seinem Leben vorbei, sondern muss stets durch sein Leben hindurch denken. Das zeigt sich, wenn Kierkegaard alle seine erbaulichen Reden seinem verstorbenen Vater widmet, so lenkt er den Blick des Lesers auf das Verhältnis des Sohnes zum Vater. Er wirft beim Leser die Frage auf, was dieser Vater für diesen Schriftsteller bedeutet. Subtiler ist es mit den vielen versteckten Anspielungen auf seine ehemalige Verlobte Regine Olsen, die den kundigen Leser nachdenklich machen und fragen lassen, welche Rolle diese Frau im Leben Kierkegaards spielt. Diese und viele andere Anspielungen machen deutlich, wie das Leben |18| bei Kierkegaard zum Stoff eines existenziellen Denkens geworden ist. Deshalb ist es unerlässlich, dieses Leben wenigstens in seinem Grundriss und in wenigen Daten kennen zu lernen.

Kierkegaards Biografie in wenigen Daten

5.5.1813 geboren als 7. Kind von Michael Pedersen Kierkegaard und seiner Ehefrau Anne Sörensdatter Lund

30.10.1830 Immatrikulation an der Universität Kopenhagen

31.7.1834 Tod der Mutter / 8.8.1838 Tod des Vaters

3.7.1840 Theologische Staatsprüfung

10.9.1840 Verlobung

29.9.1841 Verteidigung der Magisterarbeit vor der Fakultät

11.10.1841 Entlobung

25.10.1841 Abreise nach Berlin/ Rückkehr am 6.3.1842

1845/46 Fehde mit der satirischen Zeitschrift »Der Corsar«

30.1.1854 Tod von Bischof Mynster;

5.2.1854 Gedächtnisrede von Professor Hans Lassen Martensen auf Bischof Jacob Peter Mynster

18.12.1854 Kampfartikel Kierkegaards in der Zeitung »Faedreland«: »War Bischof Mynster ein Wahrheitszeuge?«

1855: Kampf gegen die dänische Staatskirche mit Zeitungsartikeln und Flugblättern »Der Augenblick«

11.11.1855 Kierkegaards Tod im Frederikshospital zu Kopenhagen

Die wenigen Daten erwecken vielleicht den Eindruck, dass die 42 Jahre von Kierkegaards Leben doch wenigstens in den ersten 25 Jahren ziemlich ruhig und beschaulich in Kopenhagen verlaufen seien: Jüngstes Kind einer kinderreichen Familie, Vater ein Wollwarenhändler, der es zu einigem Reichtum im Laufe des Lebens gebracht hat, so dass der Sohn nach einem elfjährigen Theologiestudium samt Prüfungen und Magisterexamen es sich leisten konnte, nicht ins Pfarramt zu gehen, sondern von dem ererbten Vermögen seines Vaters als freier Schriftsteller zu leben und eine Menge Bücher zu schreiben. Berühmt machte ihn gleich sein erstes Werk »Entweder-Oder«, das in den literarischen Kreisen Kopenhagens großen Beifall fand. Neben der ersten Berlinreise wären noch drei kürzere Berlinreisen zu nennen und eine Reise nach Nord-Jütland, wo sein Vater 1756 geboren worden war. Schließ-lich gab es noch ein paar Ausflüge an die Nordspitze Seelands und nach Jütland. Das war aber schon die ganze Reise- und Ausflugstätigkeit Kierkegaards, insgesamt nicht einmal ein ganzes Jahr in seinem Leben.

|19| Wo liegt das Aufregende und Rätselhafte dieses Lebens, das so unendlich viele Biografien und Abhandlungen über Kierkegaards Leben hervorgebracht hat, wie z. B. die jüngste Biografie des Dänen Joakim Garff, die im Jahr 2000 in Kopenhagen und 2005 in Deutschland erschien und nahezu 1000 Seiten umfasst. Das Aufregende an Kierkegaards Leben deutet sich bereits in drei so dürren Daten an wie: 1841 Entlobung, 1846 Fehde mit der satirischen Zeitschrift »Der Corsar«; 1855 »Kampf gegen die dänische Staatskirche«. Das sind gleichsam die Explosionen in Kierkegaards Leben. Doch auch diese Daten offenbaren noch nicht sehr viel, zumal heute eine »Entlobung« gleichgültig zur Kenntnis genommen oder gar als Glücksfall zur Verhinderung einer unglücklichen Ehe angesehen wird. Das wahrhaft Explosive ereignete sich bei Kierkegaard eher als Implosion, d. h. nach innen gerichtete Katastrophe eines durch und durch reflektierten Lebens, an dessen Verlauf wir vor allem in Gestalt von Tagebüchern – in der deutschen |20| Auswahlausgabe sind es fünf Bände mit fast 2000 Seiten – und einem schmalen Briefband teilhaben dürfen. Diese Texte wie auch die pseudonymen Schriften und Reden Kierkegaards lassen durchscheinen, wie viel Schmerzen und Anfechtung, welche Höhen und Tiefen, wie viel Begeisterung und Leidenschaft sich in einem Leben ereignen können.

Neben den Lehrern und Freunden der Universität, neben den Angehörigen der Familie, neben so manchen anderen Kopenhagenern aus näherer und fernerer Umgebung sind es vor allem zwei Personen, um die Kierkegaards Reflektieren wieder und immer wieder kreist: 1. Sein Vater und 2. seine Verlobte. Der eine war ihm seit dem 8.8.1838 durch den Tod, die andere durch eine von ihm selbst betriebene rätselhafte Entlobung seit dem 11.10.1841 entzogen. Dieser Entzug löste aber in Kierkegaard einen umso stärkeren Bezug der Reflexion zu beiden aus, weil er beide in einer »Erinnerung nach vorn« (Lothar Steiger), in Richtung auf Ewigkeit, stets innerlich vor Augen hatte. Dieser Bezug ging so weit, dass sich im Tagebuch am 27.3.1848 die Notiz findet:

»Jetzt, da ich mich so gänzlich darin verstehe, ein einsamer Mensch zu sein, ohne Verhältnis zu irgendjemandem, mit tiefen Schmerzen in meinem Innern, nur mit einem einzigen Trost: Gott, der Liebe ist; mit Verlangen nur nach einem einzigen Freund, auf daß ich ganz ihm gehöre, dem Herrn Jesus Christus; mit Sehnsucht nach einem verstorbenen Vater; schlimmer als durch den Tod getrennt von dem einzigen lebenden Menschen, den ich in entscheidendem Sinn geliebt habe.«13

Es ist auffällig, dass die Sehnsucht nach seinem verstorbenen Vater ebenso wie die Sehnsucht nach seiner ehemals Verlobten, die er nicht einmal beim Namen zu nennen wagt, mit Kierkegaards glühendem Glauben an den »Gott, der Liebe ist«, und mit seinem Verlangen nach Jesus Christus, der sein einziger Freund ist, verbunden sind. Die Sehnsucht nach seinem verstorbenen Vater begleitete Kierkegaard ein Leben lang so stark, dass er ihm, wie bereits angedeutet, fast alle seine »Erbaulichen Reden« widmete: »Dem verstorbenen Michael Pedersen Kierkegaard, weiland Wollwarenkrämer hier in der Stadt, meinem Vater, seien diese Reden gewidmet«.14 Die Sehnsucht nach Regine, seiner ehemals Verlobten, ging so weit, dass sich in seinem Testament die Notiz fand: »Die unbekannte Person, deren Name einmal genannt werden wird, der das ganze Werk gewidmet ist, ist meine |21| frühere Verlobte: Frau Regine Schlegel«.15 Fragen wir also, was Kierkegaard ein Leben lang so innig an seinen Vater gebunden hat, und fragen wir zum anderen, was ihn noch viel inniger ein Leben lang an Regine gebunden hat, von der er sich doch durch eine Entlobung getrennt hatte.

Der Vater

Michael Pedersen Kierkegaard stammte aus ärmlichen Verhältnissen in Jütland. Die bittere Armut seiner Heimat muss ihn schon als kleines Kind so sehr verbittert haben, dass er als Hütejunge an einem frostigen Herbsttag auf einen Hügel stieg, die Fäuste gen Himmel reckte und Gott verfluchte, weil er ihn in einem derart elenden Dasein leben ließ. Diesen Fluch muss aber Michael Pedersen, der von der Herrnhuter Frömmigkeit geprägt war, nie mehr vergessen haben, auch dann nicht, als er zu einem reichen Verwandten nach Kopenhagen in die Kaufmannslehre kam, bald ein eigenes Geschäft als Wollwarenhändler mit großem Erfolg aufbaute und reich wurde. Als er in erster Ehe kinderlos blieb und seine Frau frühzeitig starb, und als er dann seine Magd heiratete, mit der er sieben Kinder bekam, von denen fünf in noch jungem Alter starben, da kam er zu der Überzeugung, dass seine kindliche Gottesverfluchung auf ihn und seine Familie zurückgefallen sei. Als seine Frau das 7. Kind erwartete, fasste der schon 56-jährige Michael Pedersen den Entschluss, dieses Kind Gott als Opfer darzubringen. Er gelobte, wie einst Hanna vor der Geburt ihres Sohnes Samuel (1Sam 1), dieses Kind solle Gott in besonderer Weise priesterlich gehören. So wollte er den verfluchten Gott versöhnen. Sören Aabye war also schon bei seiner Geburt am 5. Mai 1813 ein »Geopferter« und nahm diese Bestimmung, je mehr er sie im Lauf der Jahre begriff, als seine Lebensbestimmung an.

Es ist klar, dass der Vater mit diesem Sohn aufs Engste verbunden blieb und sich um dessen Erziehung in ganz besonderer Weise kümmerte. Kierkegaard gibt in einer unvollendeten und erst posthum veröffentlichten Schrift »De omnibus dubitandum est« auf pseudonyme Weise mit einer Erzählung einen Einblick in diese Erziehung:

|22| »Sein Vater war ein sehr strenger Mann, dem Anschein nach trocken und prosaisch, indessen er unter dieser Friesjacke eine glühende Einbildungskraft verbarg, die auch sein hohes Alter nicht abzustumpfen vermochte. Wenn Johannes zuweilen um die Erlaubnis bat, ausgehen zu dürfen, wurde er zumeist abschlägig beschieden; wohingegen der Vater gelegentlich zum Entgelt ihm vorschlug, an seiner Hand die Diele auf und nieder zu spazieren. Das war beim ersten Augenschein ein dürftiger Ersatz, und doch ging es damit ebenso wie mit der Friesjacke, er barg etwas ganz anderes in sich. Der Vorschlag ward angenommen, und es wurde Johannes ganz überlassen zu bestimmen, wo es hin gehen sollte. Sie gingen dann aus dem Tore, zu einem nahe liegenden Lustschlösschen oder hinaus zum Uferstrand, oder umher in den Straßen, ganz wie Johannes es wollte; denn der Vater vermochte alles. Während sie so die Diele auf und nieder gingen, erzählte der Vater alles, was sie sahen; sie grüßten die Vorübergehenden, Wagen ratterten an ihnen vorüber und übertäubten die Stimme |23| des Vaters; die Früchte der Kuchenfrau waren einladender denn je. Er erzählte alles so genau, so lebendig, so gegenwärtig bis zur unbedeutendsten Einzelheit, die Johannes bekannt war, so ausführlich und anschaulich, was ihm unbekannt war, daß er, wenn er eine halbe Stunde mit dem Vater spaziert war, so überwältigt und müde worden war, als wenn er einen ganzen Tag aus gewesen wäre. Die Zauberkunst des Vaters lernte Johannes ihm bald ab.«16

Hier liegt die Wurzel für die herausragende Gabe der Phantasie, die Kierkegaard auszeichnete. Sein Vater hat sie mit Hilfe der phantasievollen Spaziergänge im Wohnzimmer ausgebildet. Sie beflügelte den Sohn in seinen Schriften so sehr, dass seine Argumentation häufig durch eines seiner Gleichnisse zur Evidenz und d. h. zu einleuchtender Kraft gebracht wird. Es sind Gleichnisse, die den Leser zu eigener Einbildungskraft einladen. Der amerikanische Theologe T. C. Oden hat in seinem Buch »Parabels of Sören Kierkegaard«17 alle Schriften auf Gleichnisse hin durchforscht. Er kam auf insgesamt 533 Gleichnisse und Gleichniserzählungen in dem Gesamtwerk. Kierkegaard war eben ein Augen-Mensch, und er wollte die Vorstellungskraft seiner Leser und Leserinnen provozieren, so dass sie etwas zu sehen bekommen, was ihnen »einleuchtet«. Das ist eines der Geheimnisse seiner Schriftstellerkunst, das uns auch in seinen Erbaulichen Reden begegnen wird.

Ein anderes Geheimnis seiner Schriftstellerkunst, das er als Kind bei seinem Vater gelernt hat, ist die Kunst der Dialektik:

»Mit einer allmächtigen Einbildungskraft verband der Vater eine unwiderstehliche Dialektik. Wenn da bei der einen oder anderen Gelegenheit der Vater sich in ein Wortgefecht mit einem andern einließ, so war Johannes ganz Ohr, und das um so mehr, als alles in einer beinahe feierlichen Ordnung vor sich ging […] Der Vater ließ den Widerpart jederzeit völlig ausreden, fragte ihn auch noch aus Vorsicht, ob er noch mehr zu sagen habe, eher er mit seiner Antwort begann. Johannes war dem Vortrage des Widerparts mit gespannter Aufmerksamkeit gefolgt, war auf seine Weise mit daran interessiert, wie es ausging. Die Pause trat ein, die Erwiderung des Vaters folgte, und sieh! Im Handumdrehen war alles anders. Wie das zuging, blieb für Johannes ein Rätsel; aber seine Seele vergnügte sich an diesem Schauspiel. Der Widerpart sprach zum andern Mal. Johannes war noch aufmerksamer, um alles richtig festzuhalten; der Widerpart wurde eindringlich. Johannes konnte beinahe sein |24| Herz klopfen hören, so ungeduldig wartete er, was da wohl geschehen werde. Es geschah; in einem Nu war alles umgekehrt, das Erklärliche unerklärlich gemacht, das Gewisse zweifelhaft, das Gegenteil einleuchtend. Wenn ein Hai seine Beute packen will, so muß er sich auf den Rücken herumwerfen, denn sein Rachen sitzt auf seiner Bauchseite; Er ist am Rücken dunkel, silberweiß unter dem Bauche. Es soll ein herrlicher Anblick sein, diesen Wechsel in der Farbe zu sehen: sie soll zuweilen so stark blinken, daß es dem Auge nahezu wehe tut, und doch macht es Freude, es anzuschauen […] Eines ähnlichen Wechsels Zeuge wurde Johannes, wenn er den Vater disputieren hörte. Er vergaß das Gesagte wieder, sowohl das, was der Vater als auch das, was der Widerpart gesagt hatte, aber dies Erschauern der Seele vergaß er nicht.«18

Mit der Kunst der Dialektik und der Kunst einer intensiv ausgebildeten Vorstellungsgabe war Kierkegaard ausgestattet, als er sich 1830 an der Universität Kopenhagen einschrieb, natürlich für Theologie, denn so hatte es ja sein Vater vorgesehen. Doch eben dieser Vorsehung des Vaters suchte sich der Sohn im Laufe seines Studiums mehr und mehr zu entziehen, zuerst in die Philosophie und in das kulturelle Leben seiner Zeit, dann in ein ausschweifendes, kostspieliges Studentenleben, dessen Unkosten der Vater dennoch bereitwillig bezahlte, schließlich in ein Langzeitstudium, das auch im 16. Semester noch lange kein Ende zu nehmen schien. Wonach er suchte, notiert der 22-jähriger Student in sein Tagebuch19, sei eine »Wahrheit für mich«, und nicht Wissensvermehrung, nicht Erkenntnisgewinn, die »für mich selbst und mein Leben keine tiefere Bedeutung« hätten. Schon hier deutet sich die Richtung an, die sich später in dem programmatischen Satz Kierkegaards verdichten wird: »Die Subjektivität ist die Wahrheit«.

Es sind dann aber doch zwei objektive Ereignisse im Jahr 1838, die dem Leben wie dem Studium Kierkegaards eine entscheidende Wende geben: Einmal stirbt im März sein geliebter Lehrer und Freund Poul Möller, der seinem Schüler vielleicht einen Lehrauftrag für Philosophie an der Universität hätte besorgen können. Wichtiger noch ist der Tod seines Vaters im August, was Kierkegaard mit den Zeilen im Tagebuch kommentiert:

»Mein Vater starb am Mittwoch, dem 8., nachts 2 Uhr. Ich hatte so innig gewünscht, daß er noch einige Jahre gelebt hätte, und ich sehe seinen Tod als das letzte Opfer an, |25| das er seiner Liebe zu mir brachte, denn er ist nicht von mir weggestorben, sondern für mich gestorben, damit womöglich noch etwas aus mir werden kann«.20

Mitten zwischen diesen beiden Todesdaten liegt ein Ereignis, das Kierkegaard in seinem Tagebuch nicht nur mit einem Datum, sondern sogar mit Uhrzeit versieht: 19. Mai, vormittags 10 ½ Uhr. Es wird die Stunde seiner »Bekehrung« genannt. Der Begriff scheint mir deshalb falsch gewählt, weil in »Bekehrung« ein aktives Moment des sich bekehrenden Menschen mitschwingt, der sich gleichsam mit einem Sprung in den Glauben versetzt hat. Die Tagebuchnotiz Kierkegaards klingt aber ganz anders. Sie ist eher Ausdruck einer Überwältigung, die mit ihm vor sich gegangen ist:

»Es gibt eine unbeschreibliche Freude, die uns ebenso unerklärbar durchglüht, wie des Apostels Ausbruch unbegründet hervorbricht: ›Freuet euch, und abermals sage ich: Freuet euch‹. Nicht eine Freude über dies oder jenes, sondern der Seele vollgültiger Ausruf ›mit Zung und Mund und aus Herzens Grund‹: ›ich freue mich an meiner Freude, aus, in, bei, an, durch und mit meiner Freude‹ – ein himmlischer Kehrreim, der gleichsam plötzlich unseren übrigen Gesang abschneidet; eine Freude, die gleich einem Windhauch kühlt und erfrischt, ein Stoß des Passats, der vom Hain Mamre zu den ewigen Hütten weht«.21

Die sich überschlagende Sprache zeigt an, dass es um das überwältigende Widerfahrnis einer »unbeschreiblichen Freude« geht, für die Kierkegaard kaum noch Worte findet, so dass er Anleihen bei Paulus in Phil 4,4 und Gen 18,1 machen muss, das Gleichnis eines Windhauches bzw. einen »Stoß des Passats« bemüht, um anzudeuten, dass er vom Heiligen Geist als einem Geist der Freude erfüllt worden ist. Das bringt ihn kurz darauf zu dem Entschluss: »Ich will mir Mühe geben, in ein weit innerlicheres Verhältnis zum Christentum zu kommen«.22 Bisher sei er eigentlich nur ein Simon von Kyrene im äußerlichen Kreuztragen Christi gewesen. Nun aber komme es ihm auf innerliche Nachfolge Jesu an.

Was also von innen her schon vorbereitet ist, wurde durch den Tod des Vaters zu einem festen Vorsatz, mit den ihm geschenkten väterlichen Gaben der Dialektik, der Rhetorik und der Einbildungskraft für ein »Christentum mit Leidenschaft« zu arbeiten. Umgehend begann er seine Examensvorbereitung, um die Theologische Staatsprüfung abzulegen und in ein Pfarramt einzutreten. Als Viertbester bestand er zwei Jahre darauf die Prüfung und begann |26| eine Magisterarbeit »Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates«, die er am 29.9.1841 vor der Universität erfolgreich verteidigte.

Regine Olsen

Kurz nach seiner Theologischen Staatsprüfung verlobte er sich mit der zehn Jahre jüngeren Regine Olsen, in die er sich seit drei Jahren mehr und mehr verliebt hatte. Es schien so, als ob nun bei Kierkegaard alles in geordnete Bahnen auf dem Weg zu einem Pfarramt kam. Auch die zukünftige Pfarrfrau schien gefunden. Doch es schien nur so, während in Wirklichkeit in dem Verlobten ein Konflikt ausbrach, der seine Anlage zur Schwermut erneut weckte und ihn in tiefe Ratlosigkeit stürzte: Einerseits sah er sich durch seine grenzenlose Liebe zu Regine und durch seine Vorstellung von einer radikalen Offenheit gegenüber seiner zukünftigen Ehefrau verpflichtet, ihr sein Inneres und seine ganze Familiengeschichte zu offenbaren; andererseits fühlte er sich außerstande, ihr den Fluch und die daraus resultierende Schwermut zu gestehen, von der er glaubte, dass sie über seinem Vater, über ihm selbst und der ganzen Familie liege. Diese Geliebte zu heiraten, das hieß für ihn, sie in den Abgrund einer verfluchten Familiengeschichte und einer Schwermut hineinzuziehen, von der Kierkegaard später in sein Tagebuch schreibt, dass sie gleichsam seine Schwester geworden sei. Entweder heiratet er Regine und macht sich schuldig an ihr, oder er heiratet sie nicht und macht sich schuldig an ihr, weil Verlobung in seinen Augen, aber auch vor den Augen der Gesellschaft Kopenhagens im 19. Jahrhundert, eine unbedingte Verpflichtung zur Heirat war. Regine spürte, dass mit ihrem Verlobten irgendetwas vor sich ging, was sie nicht einordnen konnte. Doch je mehr sie ihn mit Liebeserweisen überhäufte, desto ablehnender wurde er und gab ihr schließlich am 11.10.1841 den Verlobungsring zurück. Unter unsäglichen Schmerzen musste Kierkegaard lernen, dass ein Mensch entweder so oder so schuldig werden kann und dann unweigerlich mit Schuld leben muss. Das war sein Konflikt, den er nun, kaum dass er vierzehn Tage nach der Entlobung gen Berlin abgereist war, als einen grundsätzlichen Existenzkonflikt des Menschen wieder und wieder in seinen pseudonymen Schriften, in seinen erbaulichen Reden und natürlich auch in seinen Tagebüchern psychologisch, philosophisch und vor allem theologisch reflektierte.

|27| Ich breche an dieser Stelle mit meinen Annäherungen an Kierkegaards Leben ab, denn es ist erst einmal genug, um den biografischen Hintergrund eines Großteils seines Werks zu verstehen. Anderes folgt, wenn eine Reihe seiner erbaulichen Reden zumindest in Ausschnitten gelesen, mit Glauben und Denken Kierkegaards zusammengebracht und auf ihre möglichen Bezüge zur Gegenwart befragt worden sind.

Christian Möller

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2 Sören Kierkegaard – Annäherungen an sein Werk

Sören Kierkegaard hat in wenigen Jahren ein umfangreiches literarisches Werk geschaffen. Die dritte Auflage seiner Samlede Vaerker, der dänischen Ausgabe der Gesammelten Werke, umfasst 20 Bände (Kopenhagen 1962–1964), die Papirer, die Tagebücher, liegen in 16 Bänden vor (2. Aufl. Kopenhagen 1968–1978). Die einzige bisher vorliegende deutsche Gesamtausgabe der Werke Kierkegaards in der Übersetzung von Emanuel Hirsch und seinem Schüler Hayo Gerdes (Düsseldorf-Köln 1950–1969) zählt 24 Bände, zu denen noch 5 Bände mit einer Auswahl aus den Tagebüchern (Düsseldorf-Köln 1962–1974) hinzukommen.

|30| Die neue dänische Gesamtausgabe (Skrifter), die seit 1994 in Kopenhagen von verschiedenen Forschern herausgegeben wird, ist auf 55 Bände veranschlagt. Auf dieser historisch-kritischen Ausgabe beruht die Deutsche Sören Kierkegaard Edition (DSKE), die in Berlin seit 2005 im Erscheinen begriffen ist. Wer Kierkegaard im dänischen Originaltext lesen kann, findet auch eine online-Version seiner Werke (unter sks.dk).

Von den deutschen Übersetzungen ist diejenige von Emanuel Hirsch und seinem Schüler Hayo Gerdes leider nur mit Vorbehalt benutzbar, weil vor allem Hirsch dazu neigt, Kierkegaards wohlklingendes Dänisch in ein altertümliches und zuweilen umständliches Deutsch zu übertragen. In seiner Manie, Fremdwörter zu vermeiden, hat er immer wieder zu seltsamen Wortbildungen gegriffen (wie z. B. »Fragmal« für »Problem« oder »sintemal« für »weil« oder »da«).23 Deshalb ziehen wir in diesem Buch, wo immer das möglich ist, andere Übersetzungen heran.

Wer Kierkegaard kennenlernen will, muss sich zunächst einen Überblick verschaffen, was zu seinem Gesamtwerk gehört. Dabei wird eine innere Gliederung, eine in rascher Folge entfaltete Konzeption und Komposition erkennbar. Je nachdem, welches Werk wir als Ausgangspunkt wählen und wie wir das Verhältnis zwischen den Teilen und dem Ganzen bestimmen, wird die Perspektive sein, aus der wir an Kierkegaards Texte herangehen. Insofern hängt es vom Zugang des Lesers ab, welcher geisteswissenschaftlichen Disziplin man diesen Autor zuordnet. Und diese Zuordnung beeinflusst wiederum die Art und Weise, wie Kierkegaard gelesen und rezipiert wird.

Zwei Lesarten Kierkegaards – ein kurzer Rückblick auf die Rezeptionsgeschichte

Nun mag der Eindruck entstanden sein, als ob wir ohne Vorbedingung wählen könnten, wie wir uns Kierkegaards Werk nähern. Das ist jedoch nicht der Fall, weil wir nicht die Ersten sind, die seine Texte lesen. Unser Zugang zu ihnen erfolgt auf dem Hintergrund einer verzweigten Rezeptionsgeschichte, in der sich im Wesentlichen zwei Ansätze der Interpretation |31| herausgebildet haben. Beide wirken bei der Lektüre gewissermaßen wie Lesebrillen, und je nachdem, welche Brille wir aufsetzen, werden wir Kierkegaard in einem bestimmten Licht sehen und ihn als Autor so oder so auffassen. Deshalb kann die Übersicht über das Gesamtwerk nicht ohne einen kurzen Rückblick auf seine philosophische und theologische Rezeption in den vergangenen Jahrzehnten auskommen.24

Nach dem ersten Ansatz liest man seine Texte als Dokumente eines subjektiven Denkens oder einer subjektiven Wahrnehmung des Menschen. Diese bis heute weit verbreitete Lesart wird von Sozialphilosophen und liberalen Theologen vertreten. Sie fasst Kierkegaard als Exponenten einer »weltlosen Innerlichkeit« (Th. W. Adorno) und einer monadischen Subjektivität (E. Levinas) bzw. als Fürsprecher eines radikal religiösen Individualismus und eines persönlichen Christentums, das sich von der Kirche als sozialer Institution und Organisation abgelöst hat (H. L. Martensen, E. Troeltsch, E. Hirsch).

Für den zweiten Interpretationsansatz sind Kierkegaards Texte als Mitteilungen eines intersubjektiven Denkens oder einer intersubjektiven Wahrnehmung des Menschen zu lesen. Diese Lesart hat sich inzwischen bei maßgebenden Kierkegaard-Interpreten sowohl in der Philosophie (M. Theunissen) wie in der Theologie (G. Pattison, A. Grøn, H. Deuser) durchgesetzt; sie wurde aber in Deutschland bisher nur unzureichend zur Kenntnis genommen. So erscheint Kierkegaard hierzulande immer noch oft als weltfremder eigensinniger Individualist, der für ein Christwerden des Einzelnen ohne Kirche eintritt – ein Zerrbild, das den unbefangenen Zugang zu seinem Werk verstellt. Liest man indessen seine Schriften und Reden als Zeugnisse intersubjektiven Denkens, erschließt sich die Eigenart seines Denk- und Redestils. Sie ist darin begründet, dass Kierkegaard den Menschen stets in den Relationen Ich – Gott – Du wahrnimmt. Das zwischenmenschliche Verhältnis oder das Verhältnis des einzelnen Menschen zum anderen ist demnach kein unmittelbares, sondern stets ein durch Gott als »Zwischenbestimmung« (mellembestemmelsen) vermitteltes Verhältnis. Ihm kann nur eine doppelt reflektierte, d. h. zugleich auf das Was (den Inhalt) und das Wie (die Aneignung durch den Adressaten) reflektierende Mitteilungsform entsprechen. Diese Form nennt Kierkegaard »indirekte Mitteilung«. Sie lässt dem Adressaten jederzeit die Freiheit, sich so oder so zu ihr zu verhalten. Anders |32| als eine direkte Mitteilung oder Information, die sich auf Sachverhalte bezieht und richtig oder falsch sein kann, ist die indirekte Mitteilung diejenige Mitteilungsform, die bei ethisch-religiösen Fragen erforderlich ist, bei denen es um den Sinn menschlicher Existenz geht. Die indirekte Mitteilung hält, worauf Kierkegaard größten Wert legt, die Subjektivitäten gottesfürchtig auseinander. Sie respektiert, dass jeder Mensch sich als Einzelner zu Gott verhält und es im Verhältnis zum anderen immer zugleich mit Gott zu tun hat, der ihm im anderen als dem Nächsten begegnet.

Zu der eben skizzierten Rezeptionsgeschichte Kierkegaards gehört es nun auch, dass die erbaulichen Reden in Deutschland, ähnlich wie in Dänemark, wenig gelesen werden, während die pseudonymen Schriften seit je bei der Leserschaft größeres Interesse finden. Erst in jüngster Zeit werden die erbaulichen Reden von der theologischen Forschung stärker beachtet (G. Pattison, A. Haizmann). So könnte es sein, dass gerade die Beschäftigung mit ihnen zu einem besseren Verständnis Kierkegaards führt. Denn sein intersubjektiver Denk- und Redestil zeigt sich besonders an den Reden, die von vornherein auf die selbsttätige Rolle des Lesers setzen und ihr die Subjektivität des Autors konzeptionell unterordnen.

Was hat Kierkegaard mit Philosophie zu tun?

Es ist weithin üblich, Kierkegaard der Philosophie zuzuordnen. Das geschieht mit einem gewissem Recht, insofern er Bücher geschrieben hat, die schon mit ihrem Titel, ihrer Problemstellung und ihrem Aufbau zu verstehen geben: Hier geht es um Themen der Philosophie, hier wird grundsätzlich über Fragen des Menschseins nachgedacht. Bücher wie »Entweder-Oder«, »Philosophische Brocken«, »Der Begriff Angst« und »Die Krankheit zum Tode« bedienen sich einer Begrifflichkeit, die weithin aus der Philosophie des deutschen Idealismus, vor allem Hegels, übernommen ist. Sie setzen sich auseinander mit Denkern und Gedanken, die uns aus der Geschichte der abendländischen Philosophie bekannt sind, angefangen mit Sokrates, Platon und Aristoteles. Schließlich folgen manche Schriften Kierkegaards in Aufbau und Gedankenführung einer strengen Systematik, was spätere Philosophen dazu veranlasst hat, sich gerade auf sie zu berufen. Karl Jaspers und Martin Heidegger haben »Der Begriff Angst« und »Die Krankheit zum Tode« besonders hoch geschätzt, weil Kierkegaard darin seine Anschauung vom Menschsein mit größerer begrifflicher Klarheit und Folgerichtigkeit als in anderen Schriften entfaltet. Dennoch ist die Zuordnung Kierkegaards zur Philosophie problematisch, ja in mehrfacher Hinsicht irreführend und falsch.

|33| Gewiss lässt sich aus seinen Schriften so etwas wie eine Existenzphilosophie entwickeln; mehrere Philosophen des 20. Jahrhunderts (Karl Jaspers, Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre) haben das auch getan. Andere, wie z. B. der dänische Kierkegaard-Forscher Eduard Geismar, haben Kierkegaards Lebensphilosophie zu beschreiben versucht.25 Aber das beweist nicht, dass das Werk von Kierkegaard solche philosophischen Anliegen verfolgt oder dass Kierkegaard darin nichts weiter als eine bestimmte philosophische Konzeption vertritt. Die Existenzphilosophen haben die menschliche Existenz unabhängig vom christlichen Glauben verstanden. Damit haben sie Kierkegaards Existenzbegriff auf den Bereich des humanen Selbstverständnisses reduziert und die Pointe seines Werkes verfehlt. Denn Kierkegaard geht es um »Existenz im Glauben« (Liselotte Richter), nicht ohne den Glauben. Er will seine Leser zu der Erkenntnis führen, dass kein Mensch von sich aus um die Wahrheit seiner Existenz weiß, weil er in der Unwahrheit, in verzweifelter Fixierung auf sich selbst existiert. Erst wer sich im Verhältnis zu Christus als Sünder verstehe, könne sich selbst verstehen. Der Haupteinwand gegen die Existenzphilosophie ist also, dass hier Existenz ohne die für Kierkegaard entscheidende Bestimmung der Sünde begriffen wird. Sie verliert ihr religiöses Zentrum: die Vergebung der Sünden als Bedingung der Möglichkeit, sich in Wahrheit zu verstehen. Wo dies nicht als Dreh- und Angelpunkt festgehalten wird, ist Kierkegaards Werk missverstanden.

Nicht weniger problematisch erscheint es mir, ihm eine »Philosophie ohne Systemzwang«26 zuzuschreiben. Mit dieser von der neueren Forschung angeregten Deutung hebt der Theologe und Religionsphilosoph Hermann Deuser zwar zu Recht hervor, dass Kierkegaard dem systematischen Denken in der Schule Hegels ein antisystematisches Denken entgegengesetzt hat, das sich auf die Existenz des Einzelnen bezieht. Wenn aber daraus abgeleitet wird, diese Philosophie erlaube es, »Wirklichkeit […] in einem offenen Prozeß zu bestimmen«,27 wird Kierkegaard doch wieder, freilich auf subtile Weise, einem systematischen Denkzusammenhang eingefügt und als Theoretiker interpretiert, der einem philosophischen Programm verpflichtet war. Ein Theoretiker hat der Däne aber nicht sein wollen, sondern bewusst die literarische Form gewählt, um seinen Leser, den Einzelnen, zu einer existenziellen |34| Auseinandersetzung mit der Tradition des christlichen Glaubens zu bewegen. Deuser bemerkt selbst, dass Kierkegaard das Dichterische bzw. die Literatur zu seiner »Lebensform« gemacht habe.28 Das legt den Schluss nahe, sein Werk als eine Art von Literatur zu verstehen, die es mit dem Religiösen, genauer: mit dem Menschlichen und dem Christlichen, zu tun hat. Diese Form steht im Dienst einer doppelten Intention, die das Gesamtwerk der Schriften und Reden verfolgt: auf das Christliche aufmerksam zu machen und zu erbauen. Herauszuarbeiten wäre also, weshalb Kierkegaard keine objektiv philosophische Abhandlung über menschliche Existenz geschrieben hat, sondern dichterische Fiktionen braucht, die den Leser mit Existenzmöglichkeiten konfrontieren. Welche literarischen Gattungen oder Textsorten verwendet er, um dieses Ziel zu erreichen?

Drei verschiedene Textsorten

Betrachtet man das Werk als ganzes, so legt sich rein formal eine Einteilung in drei verschiedene Textsorten nahe (zu denen gelegentlich, aber nicht durchgehend noch eine vierte Textsorte hinzukommt):

a) Die erste Gruppe bilden die pseudonymen Schriften von »Entweder-Oder« bis zu »Einübung im Christentum«. Ein Pseudonym hat für Kierkegaard sozusagen die Funktion einer literarischen Maske: Der Autor verbirgt sich hinter einer Maske, weil er die Rolle eines anderen spielen und nicht mit diesem identifiziert werden will. Kierkegaard greift zu diesem – in der romantischen Literatur beliebten – Gestaltungsmittel, um den Leser zu veranlassen, sich mit Problemen der individuellen menschlichen Existenz zu beschäftigen, d. h. mit Aufgaben, die jedem Menschen durch sein konkretes Dasein als Lebensaufgaben gestellt werden. Bei der Lösung – oder vorsichtiger: bei der Bearbeitung – dieser Aufgaben sind allgemeine und objektive Wahrheiten nur begrenzt von Nutzen. Wichtiger sind beispielhafte Figuren, Personen, an denen sich zeigt, auf welche Weise Menschen sich in ihrer Existenz verstehen, kurz: wie sie ihr Leben wahrnehmen und führen. Und dem Autor Kierkegaard liegt daran, dass sein Leser sich in die Lage fiktiver Figuren versetzt, gewissermaßen in ihre Rolle schlüpft, um an ihnen Möglichkeiten menschlicher Existenz zu erkunden. Zu diesem Zweck wählt Kierkegaard Pseudonyme, die schon durch ihre Eigenart neugierig machen, die Phantasie ansprechen und zum Nachdenken herausfordern: Victor Eremita, der |35| siegreiche Einsiedler, oder Johannes de Silentio, Johannes vom Schweigen, oder Hilarius Buchbinder, der heitere Buchbinder. Das Spielerische, die Vielfalt literarischer Formen, die hochreflektierten Anspielungen, Verschachtelungen, Einschübe, Mystifikationen, die uns in den pseudonymen Schriften begegnen, sind kunstvolle Mittel, die allesamt den Leser zur Selbsttätigkeit bewegen. Der Leser muss selbst herausfinden, was ihn angeht. Darin besteht offenbar Kierkegaards Methode in den pseudonymen Schriften: Wahrheiten menschlicher Existenz so darzustellen, dass der Leser sich dazu verhalten muss. In diesem Zusammenhang entwickelt er seine Kategorien der Existenz bzw. des Sich-in-Existenz-Verstehens und seine Lehre von den Stadien (ästhetisch – ethisch – religiös), die verschiedene Existenz- oder Lebensweisen beschreiben.

Liest man die pseudonymen Schriften fortlaufend im Zusammenhang, so wird erkennbar, dass es darin um ethisch-religiöse Wahrheiten geht, deren Eigenart darin besteht, dass sie »sich auf keinen Fall direkt mitteilen lassen. Es reicht nicht aus, dass sie einem erklärt werden oder dass man sie auf irgendeine äußerliche Art und Weise mitgeteilt bekommt. Denn ihre Pointe liegt darin, dass man sie persönlich verwirklichen, sie in der eigenen Existenz realisieren muss. Man muss sie sich aneignen oder: »Man muss sie als seine eigene Wahrheit wählen, für die man auch einsteht«.29 Deshalb schließt Kierkegaards erstes pseudonymes Buch »Entweder-Oder« mit dem Satz: »Nur die Wahrheit, die erbaut, ist Wahrheit für dich.«30 Die Person des Autors soll den Leser nicht davon ablenken, diese Wahrheit zu wählen, und darum verbirgt sich der Autor dort, wo er ihn in die Beschäftigung mit ethisch-religiösen Wahrheiten verwickeln will, hinter einem Pseudonym.

b) Daneben steht in Kierkegaards Werk eine zweite Gruppe: das sind die erbaulichen Reden, die gelegentlich auch als fromme, religiöse oder christliche Reden bezeichnet werden. Seine Interpreten haben den Reden oft nur wenig Beachtung geschenkt. Das hat zur Folge, dass sie sich darüber täuschen, wie viel Kierkegaard daran liegt, sein Verständnis des religiösen Lebens so zu formulieren, dass der Leser ein von Grund auf anderes Verhältnis zum ganzen Leben gewinnt und die Sorgen und Leiden des Lebens vom religiösen Ausgangspunkt, nämlich vom Glaubensverhältnis zu Gott aus wahrnimmt. Und das geschieht in den erbaulichen Reden, anders als in den pseudonymen Büchern, stets im Anschluss an biblische |36| Texte, denen Kierkegaard einen Leitgedanken entnimmt, ohne philosophische Erörterungen und Anmerkungen.

Die Reden sind der Form nach Lesepredigten, die sich dezidiert an »den Einzelnen« wenden. Sie stimmen mit den Schriften darin überein, dass Existenzwahrheit sich nur indirekt mitteilen lässt. Insbesondere die späten Reden, die im Titel als »christliche Reden« bezeichnet werden, machen jedoch das Christliche autoritativ als Forderung geltend. Sowohl wegen ihrer Anzahl – wenn ich richtig gezählt habe, sind es 94 Reden – als auch wegen der Tatsache, dass sie von Anfang an parallel zu den pseudonymen Schriften veröffentlicht wurden, kann man nicht gut behaupten, Kierkegaard habe überwiegend pseudonyme Schriften philosophischen Inhalts geschrieben. Wenn wir uns die Chronologie der Werke genau ansehen, fällt auf, dass die erbaulichen Reden zunehmen und die pseudonymen Werke proportional zurücktreten. Die letzte Schrift, die Kierkegaard unter einem Pseudonym veröffentlicht hat, »Einübung im Christentum«, hat sich der Textsorte »erbauliche Rede« so weit angenähert, dass man hier beinahe von einer Sammlung erbaulicher Reden sprechen kann.31 Dies passt zu der Beobachtung, dass die pseudonymen Werke inhaltlich eindeutig zum Christlichen hin tendieren. Für »Die Krankheit zum Tode« und »Einübung im Christentum« hat Kierkegaard dasselbe Pseudonym »Anti-Climacus« gewählt. In einer Tagebuchnotiz Ende Juni 1849 schreibt er dazu, im Gegensatz zu »Climacus«, »der von sich selber sagte, er sei kein Christ«, bezeichne »Anti-Climacus« »das entgegengesetzte Extrem: ein Christ in außergewöhnlichem Maße«.32

Das Thema, zu dem Kierkegaard in den pseudonymen Schriften seine Leser hinführen will, ist also das Religiöse, genauer: das Christliche, und demselben Thema sind von Anfang an die erbaulichen Reden gewidmet. Um erst einmal das Interesse der Leser zu wecken, setzt er ästhetisch-literarisch ein.33 Aber die ästhetischen Werke (so fasst Kierkegaard selbst seine pseudonymen Bücher auf) sind in der Summe nicht auf das Ästhetische, sondern auf das Religiöse ausgerichtet, d. h. darauf, wie man zugleich in Beziehung zur Welt und in Beziehung zu Gott leben kann. Das Verhältnis von erbaulichen Reden und pseudonymen Schriften muss daher anders bestimmt werden als es in der philosophischen (und teilweise auch der |37| theologischen) Kierkegaard-Rezeption vielfach üblich war. »Die Reden sind das Hauptwerk Kierkegaards, die pseudonymen Schriften: dialektische Protreptik, psychologische, ästhetische, ethische und religiöse Klärung und Annäherung.«34 Folglich wird Kierkegaard missverstanden, wenn man ihn ohne weiteres den Philosophen zurechnet. Und obwohl er seiner Ausbildung nach evangelisch-lutherischer Theologe war, lässt sich sein Werk aus Gründen, die ich noch erörtern werde, auch nicht als theologisches Werk bezeichnen.35 Kierkegaard selbst bezeichnet sich als religiösen Schriftsteller, dessen »gesamte Wirksamkeit als Schriftsteller in einem Verhältnis zum Christentum steht«.36 Diese Bezeichnung ist seinem Selbstverständnis, der literarischen Eigenart und dem sein gesamtes Werk bestimmenden Thema am angemessensten, und deshalb sollten wir uns an sie halten.

c) Nun muss auf eine dritte Gruppe in Kierkegaards Werk eingegangen werden, die im Unterschied zu den pseudonymen Schriften und den erbaulichen Reden nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren: die Tagebücher und Briefe. Die Tagebücher umfassen in der dänischen Ausgabe 16 Bände (2. Aufl. hrsg. von Niels Thulstrup, Kopenhagen 1968–1978); deutsche Leser müssen sich vorläufig37 noch mit einer fünfbändigen Auswahl von Hayo Gerdes begnügen. In den Tagebüchern finden sich biografische Notizen und Aufzeichnungen, Bemerkungen zu Personen und eigenen publizierten Schriften, aber auch Entwürfe zu Werken, die Kierkegaard nicht weiter ausgeführt hat. Zu diesen Werken gehören die vorhin erwähnte unvollendete, posthum veröffentlichte Schrift »Johannes Climacus oder de omnibus dubitandum est«,38die Kierkegaard in den |38| Jahren 1842/43 geschrieben hat, und Entwürfe zu einer »christlichen Redekunst«.39

Eine frühe Tagebuchaufzeichnung von 1835 will ich ausführlicher zitieren, weil sie uns etwas über Kierkegaards Sehnsucht nach einer das ganze Leben bestimmenden Existenzwahrheit und sein Motiv als Schriftsteller, aber auch über sein Verhältnis zur Philosophie verrät:

»Es kommt darauf an, zu verstehen, was meine Bestimmung ist, zu sehen, was die Gottheit eigentlich will, das ich tun soll; es gilt, eine Wahrheit zu finden, die Wahrheit ist für mich, eine Idee, für die ich leben und sterben kann. Was nützte es mir, wenn ich eine sogenannte objektive Wahrheit fände, wenn ich mich durch die Systeme aller Philosophen hindurcharbeitete und über sie alle Revue halten könnte? Was nützte es mir, wenn ich eine Welt konstruieren könnte, eine Totalität der Erkenntnis, in der ich selbst doch nicht lebte, sondern die ich nur als Schaustück anderen hinhielte, was nützte es mir, wenn ich die Bedeutung des Christentums entwickeln könnte, wenn es dann doch für mich selbst keine tiefere Bedeutung hätte?«40

Die rhetorische Stilisierung mit einer Anapher, der zweimal wiederholten Frage »Was nützte es mir?«, lässt erkennen, dass hier ein Ausspruch Jesu meditiert wird: »Was wird es einem Menschen nützen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dafür aber sein Leben einbüßt?« (Mt 16,26 parr). Hier hat der Autor sich selbst in Jesu Rede vom Menschen hineingelesen.

Kierkegaards Briefe sind in deutscher Übersetzung in der Werkausgabe von Emanuel Hirsch