Das weibliche Element - Manfred Rumpl - E-Book

Das weibliche Element E-Book

Manfred Rumpl

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Beschreibung

Neben seiner Leidenschaft für Literatur und Philosophie entdeckt Anatol Hofer schon früh das vielleicht geheimnisvollste der ihn umgebenden Elemente: das Weibliche und seine Anziehungskraft - dieses rätselhafte Versprechen, für das er viel aufs Spiel zu setzen bereit ist. Mit Ende vierzig blickt er zurück auf ein Leben als mäßig erfolgreicher Schriftsteller, der stets auf Brotberufe angewiesen und daran gewöhnt war, sich unter prekären wirtschaftlichen Bedingungen durchzuschlagen. Dem entgegen steht die Erinnerung an ein Beziehungsleben voller Affären und erotischer Abenteuer. In sechs Geschichten lässt er seine Verzückung über eine Klassenkameradin oder das Begehren der Partnerin des besten Freundes mit ebensolcher Hingabe wieder aufleben wie jenen Moment, der sich als eine letzte Versuchung erweisen könnte. Manfred Rumpls Erzählband gibt Einblick in das Leben eines Mannes, der hin- und hergerissen ist zwischen den Verheißungen jeder neuen Eroberung und einer zunehmenden Sehnsucht nach innerem Gleichgewicht.

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Manfred Rumpl

Das weibliche Element

Sechs Stories

© Luftschacht Verlag – Wien 2012Alle Rechte vorbehalten

www.luftschacht.com

Umschlaggrafik und Satz: Florian Anrather

ISBN: 978-3-902373-96-0eISBN 978-3-902844-07-1

Inhalt

Platonisch

Die Freundin des Freundes

Zu schön, um wahr zu sein

Virginie

Rochenflügel mit Risotto

Happy End?

Platonisch

Jedes Mal, wenn in der Stille des Klassenzimmers ihr Name fiel, weil sie aufgerufen wurde, Fragen zu beantworten, die andere überfordert hätten, versetzte es mir einen Stich. Ein Blitz, der mich durchzuckte und mir in Erinnerung rief, dass seit einiger Zeit etwas mit mir geschah, wofür ich kaum Worte fand. Ich. Die Leseratte. Der Teenager. Die Brillenschlange: Annerl, wie mich die meisten Mitschüler nannten, weil ich Anatol Hofer heiße.

Dunkler Teint, braunes, schulterlanges, glattes Haar, fast schwarz die Iris unter den Wimpern, so dass das Weiß erstrahlte, wenn sie einen überraschend ansah, die Lippen öffnend zu einem Lächeln. Und da war stets eine feine Ironie in ihren Zügen, in ihrer ganzen Haltung: Resultat des Wissens um ihre körperliche und geistige Attraktivität. Spiegel und Gegenspiegel. Das Spiel mit den Bildern von sich selbst, das sie gern spielte. Zu gern mitunter, kam mir vor, wenn ich an der Oberfläche abrutschte. Dann öffnete ich den Vorhang hinter der Bühne und legte den verborgenen Mechanismus des Theaters frei, in dem Sonja spielte. Wie die anderen auch, Schüler, Lehrer, Eltern, besser in der Regel jedoch, vollkommener, natürlicher und künstlicher paradoxerweise. Und dann ihre Figur, die seit Monaten wie im Zeitraffer Formen entwickelte, die mich hineinzogen in seltsame Phantasien von Verschmelzung.

Ich ließ mit einer beiläufigen Bewegung den Roman Mysterien in der Lade verschwinden und streckte mich auf dem Sessel aus, um dieses Gefühl von der Mitte an die Peripherie fließen zulassen. Bis ich aufschreckte, gar nicht wusste zunächst, warum eigentlich, dann aber eingeholt wurde vom Echo eines Namens. Ihres Namens. Und mein Blick suchte wieder einmal die Diagonale. Ich setzte mich ein wenig auf und verfolgte leicht berauscht, wie Sonja aufstand, kurz nachdachte und dann zu sprechen begann. Nicht was sie sagte, prägte sich mir ein, aber wie sie es sagte, in diesem ihr eigenen Tonfall. Etwas sonor vielleicht für eine Vierzehnjährige, die nicht einmal heimlich rauchte, aber voll und warm und nicht so schrill wie der Sound anderer Mädchen in meiner Klasse.

Seit Wochen ging sie mir nicht aus dem Sinn. Ich mochte tun, was ich wollte, mich hinter Büchern verschanzen, auch das funktionierte nicht. Ich meine diese richtigen Bücher, die mir Karl, mein Nachbar im Dorf, seit ein, zwei Jahren zukommen ließ. Russische, französische und amerikanische Romane. Obwohl diese Bücher mich derart einnahmen, dass mich so gut wie nichts ablenken konnte, brauchte es nur einen Gedanken, ein Wort, einen Namen: Sonja, und ich verlor den Faden. Manchmal reichte schon eine Vorahnung oder ein nicht näher zu bestimmender Impuls, um ihren Namen und damit ihre Gestalt auf den Plan zu rufen. Dann engte meine Welt ein und konzentrierte mich fast ausschließlich auf sie. Ein dem Wahnsinn verwandter Zustand zweifellos, wer hätte das übersehen können.

Dann dieser Fürst: Myschkin, der das Chaos meiner Gedanken und Empfindungen zusätzlich vertiefte. Ich kann überhaupt nicht sagen, was zuerst da war, die Empfindung oder der Gedanke, der Gedanke oder die Empfindung. Dachte ich an Sonja und spürte sie dann? Oder spürte ich zuerst diesen Nervenblitz in mir und dachte dann an sie? Die Frage nach der Henne oder dem Ei. Nicht mal Hatti, mein Freund und Sitznachbarin der letzten Reihe, bekam etwas mit, ahnte aber möglicherweise etwas, von dem er nicht sagen konnte, was es war. Er war selbst seit über einem Jahr in eine Beziehung mit einem Mädchen aus der 5A verstrickt. Die Person, die ich früher gewesen war, fühlte sich im Stich gelassen von dem, der ich im Begriff war zu werden. Ein Schwindel hatte mich gepackt, im doppelten Sinn des Wortes, und ließ mich nicht mehr los.

Dieses Treiben in einem Meer aus Möglichkeiten. Sich mit klopfendem Herz fragen, was es bedeutet: dieses Lächeln, dieser Blick? Beiläufige Berührungen, die Spuren im Bewusstsein hinterließen.

Als wir im Zug, mit dem wir zur Schule fuhren, aneinander vorbei mussten, spürte ich ihre Brüste über meinen Arm streifen, während sie mich ansah und irgendwas zu mir sagte: Etwas, das zugleich von dieser Berührung weggewischt wurde. Dann ging sie weiter. Ich sah ihr nach, wie sie das Rucken des Waggons ausglich, indem sie die Schritte breit setzte und in den Hüften nachgab, um nicht zu stolpern. Der Schottenrock bedeckte ihre Beine nicht mal bis zur Hälfte der Schenkel. Zum Anbeißen waren sie, diese Beine mit ihrem rätselhaften Schwung. Ich stand einfach nur so da und suchte nach den Sätzen, die ich hätte sagen müssen, als sie mich streifte und dabei so ansah, als würde sie auf etwas ganz anderes warten. Sätze, die ich aber immer nur dann parat hatte, wenn sie gerade nicht in der Nähe war.

Ich machte seit mehr als einem Jahr meine Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht, bei diversen Gelegenheiten und an den unterschiedlichsten Orten. Erlebnisse, die aber nichts mit ihr zu tun hatten, obwohl Sonja so etwas wie der Hintergrund war, vor dem sich alles abspielte. Ob ich nun eine Schularbeit schrieb oder in eins meiner Bücher vertieft war, immer war sie da, nicht unmittelbar greifbar zwar, aber doch da, hier und jetzt anwesend. Sie beeinflusste mich auf eine unberechenbare Weise, dass ich zum Beispiel nicht mehr in der Lage war, was ich wusste und konnte, auch zu Papier zu bringen. Mir stockte die Hand, die den Füller hielt. Der Weg vom Hirn zur Hand führt schließlich übers Herz, und dort, in diesem wesentlichen Bereich, gerieten die Dinge außer Kontrolle. Meine schulischen Leistungen näherten sich mehr und mehr dem Nullpunkt, obwohl ich immer ein ausgezeichneter Schüler gewesen war. Ich errötete plötzlich in den gewöhnlichsten Situationen. Gleichzeitig gelang es mir nicht mehr wie früher, was in meinem Kopf war, auch unbefangen auszusprechen. Mir versagte die Stimme und heraus kam ein Gestammel, das mir bloß mitleidige Blicke und Gelächter einbrachte, obwohl doch gewöhnlich ich es war, der die anderen mit seinem kritischen Witz zum Lachen brachte.

Konnte ich früher eine Viertelstunde lang laut und deutlich alles Mögliche vortragen, ohne mich auch nur ein Mal zu versprechen oder im Text stecken zu bleiben, verlor ich nun manchmal den Faden und versank in Schweigen. Bis mich mein Freund mit der Schulter schubste und mit dem Zeigefinger in die richtige Zeile verwies. Wenn alle schon nicht mehr in ihre Bücher, sondern nur noch zu uns her starrten, in der Hoffnung vielleicht, wie schon so manches Mal Zeugen einer Verweigerung zu werden. Dann durfte ich auf keinen Fall einen Blick ans andere Ende der Diagonale werfen, wollte ich nicht im Nichts versinken, sondern musste die Stimme erheben und meinen Text weiterlesen. Bis unsere äußerst strenge Deutschlehrerin mich mit einem militärisch knappen „Stopp!“ unterbrach. Das konnte mitten in einem Satz geschehen, um daraufhin mit einem ebenso zackigen Zuruf jemand anderen zum Weitermachen aufzufordern.

Von Zeit zu Zeit gab es diese Abenteuer, die ich mehr mitmachte, als sie gezielt herbeizuführen. Mit Freunden aus der Schule oder dem Dorf. Inszenierte Gelegenheiten meist, sich mit der Anatomie des Weiblichen vertraut zu machen. Begierde, Lust und Peinlichkeit gingen dabei ineinander über. Die Neugier war groß, die erhoffte Lust wollte sich aber nicht so recht einstellen, weil man im Grunde nicht wusste, was zu tun war, um ein Spiel daraus zu machen, das beide zufriedenstellt. Mehr war es ein Tappen im Dunkeln auf der Suche nach etwas, von dem ich mir nicht vorstellen konnte, wie es ist. Wie es aussieht, sich anfühlt, wie es riecht und schmeckt.

Im Freibad auf der Murinsel zum Beispiel. Wir waren eine Clique, Buben und Mädchen, Sonja war nie dabei. Ich existierte bloß am Rand dieser Gruppe, was auch meinem Stand in der Welt entsprach. Oft stand ich am Wochenende am Straßenrand und stoppte in die Hauptstadt, eine Randgruppenfigur auch dort. Außenseiter in einer Randgruppenszene. Ich mochte es, wenn nicht immer gleich jemand anhielt und mich mitnahm, nur wegen meines Milchgesichts. Ich stand nur so da, und die Autos fuhren vorüber. Langeweile kannte ich nicht, alles war durch und durch wirklich, und ich ließ mich davon berühren und durchdringen. Wäre da nur nicht mein Verhältnis zu Sonja gewesen. Erdrückend das Ideal, das sich zwischen uns auftürmte, das aber so gar nicht den Szenen entsprach, die sich in jenem Sommer im Freibad in diversen Umkleidekabinen abspielten.

Wenn wir einander über den Weg liefen – in der Pausenhalle, im Zug, auf dem Schulweg –, zufällig mehr oder weniger, weil ich es nicht wagte, ihr offen nachzustellen, dann geschah immer etwas, und dies mit einer heftigen Plötzlichkeit, dass ich nahezu verstummte. Augenblicklich verschlug es mir die Sprache. Einem, der seit Monaten vor der Welt in die Sprache flüchtete, dem verweigerte die Sprache, wenn es darauf ankam, den entscheidenden Dienst. Die Worte ließen sich einfach nicht so benutzen, wie ich mir das vorstellte, wenn ich Sonja gerade nicht gegenüberstand. Wenn ich auf das Echo jener Sätze hinhörte, die Camus, Hamsun oder Dostojewski formuliert hatten. Also murrte ich ein wenig herum, während ich mich unruhig bewegte, ließ, wie nebenbei, die eine oder andere Bemerkung fallen und wunderte mich schon, während ich noch sprach, dass ich offenbar etwas ganz anderes sagte, als ich eigentlich sagen wollte.

Ich sagte also zum Beispiel „Hallo, wie geht’s?“ und dachte dabei Du bist hinreißend.

Und sie sagte, mit diesem Lächeln, das ein Grübchen auf ihrer, von mir aus gesehen, linken Wange zum Vorschein brachte: „Hast du dich auf die Schularbeit vorbereitet?“

Und ich antwortete: „Hoffe, dass auch der Rechengang bewertet wird und nicht nur das Ergebnis“, war ich doch ein Meister darin, richtig zu denken und am Ende das Falsche herauszubekommen, während ich aber einfach nur sagen wollte: Geh doch endlich mit mir ins Kino. Vergiss, dass ich immer so distanziert bin. Das bin ich nur, weil ich mich vor diesen Gefühlen fürchte, weshalb ich mir das alles aus der Literatur hole, die mir wirklicher vorkommt als die Realität, die mich immer nur hinhält.

Manchmal erinnerten diese Gespräche an beckettsche Dialoge, die ich zu dieser Zeit gerade entdeckte: Wo immer ausschließlich über etwas anderes gesprochen wurde.

Hin und wieder durchstreifte ich mit einem Freund die Wälder rund ums Dorf. Das Licht zwischen den Bäumen, das Moos unter meinen Füßen, das die Schritte dämpfte, Nuancen von Braun und Grün und dann, gegen Ende des Sommers, alle Abstufungen von Rot und Gelb unter dem Blau eines Himmels, das sich über Lichtungen spannte wie ein vorkopernikanisches Blau. Und eine Sonne, die den Wald vergoldete, wenn wir unterwegs waren, um nach den Zeichen an den Bäumen zu sehen, die wir als Kinder eingeritzt hatten: Buchstaben, Initialen, Herzen auch, die sich dem Kitsch entzogen, wenn sie eindunkelten und vernarbten.

Unterwegs etwa auch zu einem Treffen mit der blonden Renate. Wir suchten beiläufig nach Pilzen, um uns von der Erregung abzulenken, die wir verspürten, eine Mischung aus Nervosität und Begehren. Renate war älter als wir. Eine gut entwickelte, junge Frau, die mein Freund schon lange kannte und irgendwie dazu gebracht hatte, sich mit uns im Wald zu verabreden. Für uns gab es kaum Zweifel am Zweck unserer Zusammenkunft, mir war aber unklar, ob das auch sie so sah, oder ob sich mein Freund vielleicht nur seinen Illusionen hingab.

Wir trabten durch den Wald, auf dieses Treffen zu. Ich versuchte an nichts Konkretes zu denken, um meine Aufregung nicht zu vertiefen, konnte aber nicht verhindern, dass mir Sonja in den Sinn kam und sich ein schlechtes Gewissen einstellte. Obwohl wir gar nicht miteinander gingen und ich unsicher war, was mit Renate sein würde, die womöglich ganz andere Pläne hatte als wir.

Dann stand sie da, wartete bereits an einer Weggabelung auf uns, auf einer morschen Bank, vor einem Marterl, das mit vergilbten Fotografien von Heiligen und verwelkten Blumen bestückt war. Vor dieser Kulisse des Ideals und des Verfalls wirkte sie überaus gegenwärtig. Mein Freund schlug vor, eine kleine Lichtung aufzusuchen, unweit, wo wir es uns bequem machen konnten. Nicht einmal eine Decke hatten wir dabei, aber der weiche Boden war warm vom Sommer. Wo wir uns endlich niederließen, stand das Gras dicht wie ein Teppich. Renate trug einen kurzen, dunklen Rock, Turnschuhe und eine weiße, kurzärmelige Bluse. Der BH zeichnete sich ab. Ihre Brüste waren um einiges voller als die der Mädchen in unserer Klasse. Wir redeten mit ihr, nur zum Schein, das war auch ihr klar, aber sie hatte nichts dagegen. Und indem wir mit ihr über ganz belanglose Dinge redeten, mein Freund mehr als ich, der ich ziemlich betäubt war von dem weiblichen Flair, begannen wir sie zu berühren. An unverfänglichen Stellen zunächst, Hüften, Armen und Haaren, während sie einfach da lag und lächelte, mit halb geschlossenen Augen, und unsere Berührungen erwiderte. Das machte Mut und reizte uns, ihr den Rock hochzuschieben, die Bluse aufzuknöpfen, sie auf den Mund zu küssen.

Da stand mein Freund plötzlich auf und ging in den Wald hinein mit den Worten, er lasse uns jetzt eine halbe Stunde allein. Ich wusste zunächst nicht, wie ich allein weitermachen sollte.

Renate seufzte nur und drehte sich ganz auf meine Seite. Sie half mir, ihre Brüste auszupacken. Diese duftenden Brüste, größer als meine Hände, deren eine ihre Schenkel erkundete.

Sacht öffneten die sich, der Hügel unter ihrem weißen Höschen passte gut in meine Hand. Ich schmiegte mich an Ihren Körper. Renate massierte mich mit ihren Hüften. Ich atmete in ihr Haar, Strähnen davon auch auf ihren Brüsten, etwas Seidiges auf ihrer Haut unter meinem Tasten und Drücken: Wirklichkeit, die einem Traum glich, während mein Träumen von Sonja meist echten Schmerz schuf. Den Schmerz der Distanz vom Ideal. Hier und jetzt aber, im Gegenteil, die Nähe eines Körpers, eine Frau, die berührte und berührt werden wollte, mochte sie sich auch ein wenig amüsieren über das Ausmaß an Ungeschicklichkeit, mit dem sie es in meinem Fall zu tun hatte. Immerhin machte sie sich nicht darüber lustig, sondern zeigte mir, wie man’s macht, damit beide etwas davon haben.

Nach Schulbeginn dauerte es nicht lange, bis ich eine Verabredung mit Sonja zustande brachte. Leicht fiel es mir noch immer nicht, aber nun wusste ich, dass ich es versuchen musste, wenn ich es wissen wollte. Falls ich wirklich wissen wollte, was hinter den Andeutungen, Gebärden und Zeichen steckte, die ich wahrnahm. Als sich unsere Blicke in der Diagonale der Klasse begegneten, war auf einmal das volle Einverständnis da. Obwohl (oder vielleicht sogar weil?) wir uns zwei Monate nicht gesehen hatten. Landkind und Stadtkind. Da war etwas in ihrem Blick, das früher nicht da gewesen war. Eine Art Wissen um das, was mit uns los war. Hatti sogar, mein Sitznachbar, bekam mit, wie wir einander ansehen, von einem Ende des Raumes zum anderen, kurz oft nur, ein Blinzeln überspringend. In der Verlängerung eines solchen Augenblicks fand die Verschwörung statt: Das Versprechen, endlich JA zu sagen.

Wir gingen ins Kino, ein altes Gebäude unter dem Schlossberg. In den Vitrinen verblichene Bilder von Stars: Marlon Brando, Katherine Hepburn, James Cagney und andere auf braunstichigen Fotografien. Im Foyer ein altes Paar. Sie verkaufte die Karten, Getränke und Süßigkeiten wie Krachmandeln und Sportgummi. Er kontrollierte den Einlass und brachte die Filmrollen und hypnotisierenden Bilder zum Laufen. Niemand verlangte einen Ausweis bei Streifen, die nicht jugendfrei waren. Das alte Kino musste gegen das noch ziemlich neue Fernsehen bestehen.

Im nach Politur riechenden Kinosaal standen vierzehn hölzerne Sitzreihen, ein altes Piano links vorne und ein Kanonenofen hinten rechts. Nicht weit von der kleinen Vorführkammer, von der aus ein heller Strahl den Raum über unsere Köpfe hinweg durchquerte – Licht und Schatten und Bewegung auf die Leinwand draußen werfend. Ein erregendes Schauspiel jedes Mal, das ich mir nicht restlos erklären konnte, vielleicht gar nicht erklären wollte, um den Zauber nicht zu zerstören. Im Licht dieses Strahls tanzte der Staub wie etwas äußerst Kostbares. Myriaden von Partikeln, Staubwolken ... Mikrouniversen. Dann das Ritual. Eine Geschichte, die nur zu einem geringen Teil aus Worten bestand. Aus Gesten, Zeichen und Verhaltensweisen vielmehr, die uns in ihren Bann zogen und zwischen uns etwas in Gang setzten. Ein Geflimmer aus Licht nur, aber Gestalt und Form und größer als das Leben außerhalb dieses Raumes, und wir hatten plötzlich Teil an dieser Größe. Unser Geflüster, Blicke im Halbdunkel, Berührungen, die aufgeladen waren mit einer Intensität, deren Medium wir waren. Später dann, in der Herbstnacht draußen, umarmten wir uns wortlos und tauschten Küsse aus. Immer wieder. Keine fünf Schritte konnten wir machen, ohne einander um den Hals zu fallen. Zwei, die aus ihrem Leben erwachten, um in einen Traum einzutauchen.

Tage und Wochen verstrichen. Wir gingen ins Kino, flanierten in der Stadt und auf dem Schlossberg umher, besuchten den Lunapark auf der Murinsel. Die Mitschüler wussten bald Bescheid. Niemanden wunderte es, dass wir jetzt ein Paar waren, es war wohl abzusehen gewesen. Die üblichen Scherze, dann ließ man uns in Ruhe. Es hatte nicht viel zu bedeuten, wenn zwei miteinander gingen. Solche Beziehungen dauerten damals zwei Monate, drei mitunter oder vier, doch selten länger. Dann fanden Rochaden statt: Wechsel, Verschiebungen. Wir häuteten uns öfter als Schlangen. Und vielleicht war, was wir für Liebe halten wollten, auch nur eine Mode der Gefühle. Nichts als eine Ahnung dessen, was uns noch erwartete.

Es war anders als mit irgendeinem Mädchen in den Kabinen des Freibads, viel intensiver. Obwohl wir über ein Tasten noch gar nicht hinaus waren. Anders auch als die Begegnung mit Renate im Wald, die ich noch lange an mir spürte. Diese reifen Berührungen. Es war irgendwie mehr als all das. Es war ihr Wesen, das mich verführte, die Art, wie sie war: dachte, lachte, sprach, sich bewegte, mich ansah. Dieser Rest, der blieb, nachdem ich mir alles erklärt hatte. Mein Herz war plötzlich kein Muskel mehr, sondern eine Art Sinnesorgan.

Am vierzehnten Oktober Fünfundsiebzig, in der großen Bahnhofshalle, inmitten der Pendler und Reisenden, ein ständiges Kommen und Gehen, erklärte mir Sonja etwas, das ich nicht genau verstand, weil zur gleichen Zeit die Abfahrt eines Schnellzugs durchgesagt wurde. Ich erinnere mich genau.

Es war der Schnellzug Johannes Kepler von Graz nach Wien. Ich fragte nach. Sie setzte noch einmal an und sagte mir, dass es mit uns zu Ende sei, weil sie am kommenden Sonntag mit ihrem Vater nach München übersiedle. Endgültig. Aus, sagte sie ein paar Mal, weil ich noch immer nicht richtig verstehen wollte. Ich stand einfach nur da, während nach und nach in mein Bewusstsein drang, was sie mir erklärte. In meinen Ohren rauschte es, mein Mund war ganz trocken, die Wände der Bahnhofshalle schienen zusammenzurücken. Es folgten Beteuerungen, in Kontakt zu bleiben, einander zu schreiben, zu besuchen sogar. Irgendwann aber blieb ich allein zurück. Ich setzte mich in den nächsten Zug ins Dorf. Das Rattern der Räder löste meinen Schock und gab mich mir allmählich wieder. Anders aber, als ich je gewesen war.

Etwa fünfzehn Jahre später, wir waren uns nie mehr begegnet, fuhr ich an einem verregneten Abend vor dem Bahnhof der Hauptstadt im Kreis, um einen Parkplatz zu finden. Die Scheibenwischer flitzten hin und her. Ich war ganz nah an der Windschutzscheibe, um besser zu sehen, da tauchte, von rechts kommend, ein Wagen auf. Ich hielt an, um ihn vorüber zu lassen, doch das Auto machte nur einen Ruck, und der Motor starb ab. In den Sekunden, die ich ungeduldig wartete, erkannte ich durch den dichten Regen im Licht der Scheinwerfer ihr Gesicht: Sonja. Wir schauten uns an, erstaunt, fast wie damals – über das Klassenzimmer hinweg.

Dann hupte jemand, ihr Wagen sprang wieder an, und wir fuhren einfach weiter. Hinein in die Dunkelheit dieser Nacht.

Die Freundin meines Freundes

Noch saßen wir uns in einem kleinen Innenstadtbistro befangen gegenüber, ein jeder verstrickt in seine eigene Geschichte. Nach Jahren der Entfremdung hatten wir uns nun verabredet, um endlich zu klären, wie das damals war, oder doch wenigstens, wie es gewesen sein könnte. Zeit ist relativ und umso mehr sind es unsere Gefühle, die sich mit der Zeit in etwas Anderes verwandeln: Etwas, das von der Zeit erst herausgearbeitet wird. Wie die Form einer Landschaft von der Bewegung eines Gletschers.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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