Das Weihnachtswunder von Old Nichol - Raymond A. Scofield - E-Book
SONDERANGEBOT

Das Weihnachtswunder von Old Nichol E-Book

Raymond A. Scofield

4,9
8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Was ist das Weihnachtsglück? Die Geschwister Anna und Benjamin sind vor einer Hungersnot aus Irland nach London geflüchtet. Im düstersten Winkel der Stadt geraten die Kinder in die Fänge des zwielichtigen Apothekers Fox und bald auch - unschuldig - in die Mühlen einer gnadenlosen Justiz. Kurz vor Heiligabend scheint alles Glück sie verlassen zu haben. Nur einer kann sie retten - aber der ist sehr klein und die Widrigkeiten sind ungeheuer groß… Eine wunderschöne Weihnachtsgeschichte aus dem London von Oliver Twist – vom Autor des Bestsellers „Der große Lord“.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 274

Bewertungen
4,9 (16 Bewertungen)
15
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Informationen zum Buch

Was ist das Weihnachtsglück?

Die Geschwister Anna und Benjamin sind vor einer Hungersnot aus Irland nach London geflüchtet. Im düstersten Winkel der Stadt geraten die Kinder in die Fänge des zwielichtigen Apothekers Fox und bald auch – unschuldig – in die Mühlen einer gnadenlosen Justiz. Kurz vor Heiligabend scheint alles Glück sie verlassen zu haben. Nur einer kann sie retten – aber der ist sehr klein und die Widrigkeiten sind ungeheuer groß…

Eine wunderschöne Weihnachtsgeschichte aus dem London von Oliver Twist – vom Autor des Bestsellers »Der große Lord«.

Raymond A. Scofield

Das Weihnachtswunder von Old Nichol

Roman

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Prolog: Das zauberhafte Fenster

Erstes KapitelMrs. Crackpickle erhält eine schreckliche Nachricht.

Zweites KapitelBenjamin bringt einen geheimnisvollen Kasten heim und träumt von einer goldenen Zukunft.

Drittes KapitelBenjamin erlebt ein böses Erwachen, und der Apotheker macht Anna ein rettendes Angebot.

Viertes KapitelBenjamin wird von einem wütenden Schutzmann gejagt, und Anna findet einen neuen Freund.

Fünftes KapitelBenjamin wird zum Kurier für Apotheker Fox, und Anna soll für Mrs. Crackpickle etwas Wichtiges erledigen.

Sechstes KapitelAls hätte sie plötzlich alles Glück verlassen, geraten Benjamin und Anna unverschuldet in allergrößte Bedrängnis.

Siebtes KapitelChip erhält unerwarteten Besuch, und Mr. Fox entziffert ein wichtiges Dokument.

Achtes KapitelAnna wird der Prozess gemacht, und Benjamin droht ein langer Gefängnisaufenthalt oder sogar schlimmeres.

Neuntes KapitelAnna lernt eine böse Dame kennen. Apotheker Fox erfüllt sich einen lange gehegten Traum, und Chip macht eine sensationelle Entdeckung.

Zehntes KapitelAnna findet eine neue Freundin und wagt etwas Ungeheures, und Chip und Wasmut beobachten Fox im Park und folgen ihm.

Elftes KapitelAnna und Molly in Not, und Apotheker Fox erwischt Eindringlinge in seiner Küche und bekommt unliebsamen Besuch.

Zwölftes KapitelIn der Apotheke kommt es zu viel Getümmel, Verwirrung und zu einer längst überfälligen Verhaftung.

Dreizehntes KapitelDas Weihnachtswunder von Old NicHol nimmt seinen Lauf.

Über Raymond A. Scofield

Impressum

Leseprobe aus: Kristin Hannah – Die Nachtigall

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

If you had the luck of the Irish

You’d be sorry and wish you were dead

You should have the luck of the Irish

And you’d wish you was English instead.

JOHN LENNON

PrologDas zauberhafte Fenster

Grau, grau und nochmals grau – das war die Farbe des Winters in Old Nichol, dem dunkelsten Winkel des Londoner East End.

Grau war der Nebel, der die Gebäude, Gassen und Gänge einhüllte, als wolle er sie allesamt ersticken. Grau war die Kleidung der Menschen, die hier ihr Leben fristeten, und grau war auch die Farbe ihrer Haut. Grau waren meistens die Hemden und Laken, welche die Waschfrauen aus der grauen Brühe zogen. Grau war sogar der Schnee, wenn er lautlos auf die Pflastersteine rieselte. Und selbst die Seelen der Menschen waren befallen vom tristen Grau des allgemeinen Grauens. Den Schleier aus Dreck und Drangsal im Elendsviertel durchdrangen in der kalten Jahreszeit kein Lichtstrahl und kein Hoffnungsschimmer.

Bis auf jenen erlösenden Schein, der jedes Jahr an Heiligabend und dem Weihnachtstag aus einem bestimmten Fenster an der Ecke Boundary Street und Redchurch hinaus auf die Straße fiel. Es war dies das Schaufenster des Puppen- und Spielwarenladens von Thelma Crackpickle. Und wer diesem goldenen Lichterschein folgte und durch das Fenster in den Laden blinzelte, der erlebte ein wahres Wunder. Denn dahinter, von geschickt verborgenen Laternen geheimnisvoll beleuchtet, war eine zauberhafte Puppenstadt aufgebaut.

Dächer, Fassaden, Fenster und Türen. Bäume und Laternen. Eine kleine Straße mit einer Bäckerei, einer Kirche, einem Blumenladen, einem Jahrmarkt mit Karussell und einem Pub. An der Wand lehnte ein seliger Zecher, dessen rote Schnapsnase weithin sichtbar leuchtete. Seine erboste Frau, die wohl schon lange auf seine Heimkehr wartete, neigte sich im Nachbarhaus weit aus dem Fenster und drohte ihm mit einem Nudelholz. Sehr zum Vergnügen eines Kutschers, der seinen Zweispänner über die nur knopfgroßen Pflastersteine lenkte. Eine Gruppe von Kindern spielte mit bunten Reifen. Ein weißes Hündchen lief eifrig bellend neben ihnen. Ein betagter Gelehrter, würdevoll in wichtige Gedanken vertieft und mit runder Brille auf der Nase, spazierte, ein Buch unter dem Arm, zwischen den lachenden Marktfrauen umher, die sich schenkelklopfend über ihn lustig machten. Ein dicker Polizist schritt lässig, die Daumen in den Gürtel gehakt, sein Revier ab, während oben und für ihn unsichtbar ein fröhlicher Dieb aus dem Dachfenster stieg. Hier eine Mutter mit Kinderwagen auf dem Weg nach Hause, da ein Leierkastenmann, dort ein Schornsteinfeger mit Leiter und Besen und da hinten ein Scherenschleifer mit seinem runden Sandstein, der sich langsam drehte. Wohin das Auge auch schweifte in diesem Bild – es fand liebenswerte Menschen im Westentaschenformat, die ein sorgenfreies Leben führten. Allesamt eingefroren in einem Moment der Heiterkeit, wie es ihn hier draußen in der grauen Welt von Old Nichol kaum jemals gab.

Immer wenn zur vollen Stunde die Turmuhr schlug, erwachte kurz darauf das lustige Äffchen auf dem Rathausdach zum Leben und knallte seine Schepperbecken zusammen. Und auf dieses Signal hin kam mit Dampf und Pfiff eine Lokomotive aus dem Tunnel gerattert, die zwei Waggons zog, in denen übermütig singende Soldaten hockten und Studenten, die sich aus dem Fenster lehnten, um die scheuen, jungen Mädchen zu beeindrucken. Die saßen im zweiten Wagen und tuschelten und kicherten unter ihren großen Hüten. Manchmal hockte hinten auf dem Dach des Zuges ein besonders niedliches Zwergenwesen mit rotem Vollbart, das einen grün karierten Anzug und auf seinem walnussgroßen Kopf einen Zylinderhut trug. Dieser witzige Wicht winkte seinen Betrachtern zu und lachte und wirkte alles in allem so lebensecht, dass die Menschen sich fragten, welcher Genius von einem Spielzeugbauer ihn wohl erschaffen haben mochte. Manchmal tanzte der kleine Geselle auch hinter den Gardinen in den Wohnungen der Miniaturstadt herum, schlug Purzelbäume im Park oder hangelte sich frech an den Regenrinnen und Laternen entlang.

Jeder im Viertel, egal ob groß oder klein, kannte jedes Detail des magischen Weihnachtsfensters. Jeder hatte schon einmal mit einem verzückten Lächeln im Gesicht davorgestanden und gestaunt, bis ihn die Nachrücker ungeduldig wegschoben. Jeder hatte sich schon einmal in diese bessere Welt hineingeträumt, und jeder hatte dabei einen geheimnisvollen Schauer des Glückes gespürt, das leise wie ein wohliger, warmer Hauch über ihn kam und das, wenn man es gut bewahrte, Kraft und Hoffnung für das ganze, kommende Jahr gab. Gleichgültig wie trostlos das Leben hier draußen, auf der anderen, der grauen Seite von Mrs. Crackpickles zauberhaftem Fenster, auch war.

Jeder bis auf ein Mädchen namens Anna O’Reilly und ihren älteren Bruder Benjamin. Diese beiden waren erst im vergangenen Sommer bei ihrer alten Tante Siobhan eingezogen. Die Geschwister hatten ihre Eltern verloren und waren vor dem Hungertod von einer grässlich armen Insel geflohen, wo die Not noch größer war als im Londoner Osten. Dies war eine Insel, auf der die Menschen noch weniger Freude hatten, noch ärger froren und schlimmer schufteten und noch früher starben als in Old Nichol. Obwohl sich kaum jemand einen solchen Ort vorstellen konnte, gab es ihn: Er hieß Irland. Ihr trauriges Los konnten diese beiden Waisen mit der Flucht nach London aber nur wenig verbessern. Kurz nach ihrer Ankunft verstarb plötzlich und unerwartet ihre Tante, der einzige Mensch, der ihnen auf dieser Welt noch geblieben war. Benjamin wurde krank, und weil sie die Miete nicht mehr zahlen konnten, wollte der Apotheker Fox, in dessen Keller die Tante gehaust hatte, ihnen auch noch diese bescheidene Bleibe kündigen. Anna hatte zwar eine Anstellung als Putzkraft im Spielwarenladen der Witwe Crackpickle gefunden. Aber was ihr die geizige Händlerin zahlte, das reichte bei Weitem nicht aus, um sich selbst und ihren Bruder durchzubringen.

Und als sei das alles nicht schlimm genug, ereignete sich noch ein weiteres Unglück. Zwar geschah es weit entfernt und am anderen Ende der Welt, doch seine Auswirkungen auf das Leben in Old Nichol waren grausam und unmittelbar.

Denn plötzlich lief alles aus dem Ruder. Und zum Schrecken der ganzen Nachbarschaft geriet sogar die größte Weihnachtsfreude, das zauberhafte Fenster, in Gefahr.

Alles begann mit diesem schrecklichen Brief …

Erstes KapitelMrs. Crackpickle erhält eine schreckliche Nachricht.

Hallo? Ist da wer? Ich habe hier einen wichtigen Brief für eine gewisse Mrs. Crackpickle.«

Begleitet vom aufgeregten Gebimmel der Türglocke und eingehüllt in einen unangenehmen Schwall eiskalter Straßenluft, betrat der bärtige Bote des Königlichen Postdienstes den Spielzeugladen Ecke Boundary Street und Redchurch. Er stampfte mit den Stiefeln auf, um sie vom Schneematsch zu befreien, und blinzelte suchend ins Halbdunkel. Der stattliche Mann, der eine Ledertasche vor seinem Bauch und eine blaue Mütze auf dem Kopf trug, kam nicht oft in diese Gegend und kannte sich folglich hier überhaupt nicht aus. Die Bewohner von Old Nichol erhielten überaus selten Post. Denn die meisten waren des Lesens und Schreibens nicht kundig. Wenn sie einander etwas mitzuteilen hatten, dann brüllten sie die Nachricht für gewöhnlich einfach quer über die Gasse. Irgendwer würde sie schon aufschnappen und seinem Nachbarn weitererzählen und dieser dann seinem Nachbarn, bis die Nachricht irgendwann den richtigen Adressaten erreichte.

»Daìn gaàte misses çhloœckt bahi’is flackbottel’ll back fl’ovier. Aunˇber plàackflund øhnøœt blætzenmuçtzen micht iirch …«, antwortete eine aufgeregte, helle Stimme aus den Tiefen des Raumes, und der Postmann blickte sich irritiert um. Dann zog er verärgert die Stirn kraus und sagte mit brummiger Stimme: »Wenn sich hier jemand über mich lustig machen will, dann wird ihm oder ihr das aber gleich noch sehr leidtun. Mit dem Boten des Königlichen Postdienstes scherzt man nämlich nicht.«

»Schórry! Ich bemeœe mich doch so sehr. Aber manchæig kommen die rællchtigen Worte falsch heraus und die falschen Worte rællchtig. Aber es wird immer béscher, öhrlich.«

Eigentlich hatte Anna O’Reilly ihren lustigen, irischen Akzent längst erfolgreich unterdrückt und konnte sich fließend und beinahe wie ein Einheimischer in der eigenartigen Sprechweise des Londoner Ostens verständlich machen. Aber manchmal, vor allem wenn sie aufgeregt war oder gerade tief in ihren eigenen Gedanken an die ferne Insel ihrer Vorfahren gefangen, verfiel sie unvermittelt wieder in den vertrauten Singsang, der sich für die Menschen hier anhörte wie die Sprache von einem fernen Planeten. Ihr feuerroter Haarschopf tauchte hinter der Ladentheke auf, als sie ihren Besen abstellte und flink auf den Stuhl kletterte, um den Briefträger auf Augenhöhe zu begrüßen. Unter ihrem Kittel trug sie, was der brave Mann sehr missbilligte, eine zigmal geflickte und viel zu große Wollhose. Unerhört für ein Mädchen! Diese Hose war obendrein auch noch statt mit einem Gürtel mit einem dicken Strohseil zugebunden! Pfui und noch mal pfui!

»Oje«, stöhnte der Mann. »Du bist wohl nicht von hier, wie?«

»Stimmt genau. Ich komme aus Irland. Wie haben Sie das so schnell bemerkt?«

»Man kommt viel rum im Dienste der Royal Mail. Ihr Iren seid ein lebensfrohes Völkchen. Liebt Tanz, Gesang und Schnaps. Aber man kann euch wirklich nur sehr schwer verstehen.«

»Komisch …«, das Mädchen legte nachdenklich ihren roten Lockenkopf schief, »das sagen viele. Dabei verstehen wir uns untereinander eigentlich immer sehr gut. Schwierig wird es nur mit Auswärtigen.«

»Also …?« Der bärtige Besucher räusperte sich nunmehr sehr offiziell, denn er hatte noch eine ganze Reihe wichtiger Zustellungen zu erledigen. Vor allem amtliche Post. Rechnungen, Mahnungen, Vorladungen. Dann auch etliche versiegelte Briefe. Manche davon auf duftendem Papier geschrieben und vermutlich romantischen Inhalts. Bedeutsame Terminsachen und behördliche Anweisungen. Und weil derartiges in den letzten Jahren bei den Angehörigen der feinen Gesellschaft immer mehr in Mode gekommen war, fand er nun auch immer wieder Weihnachtskarten unter der Geschäftspost.

»Mein Name ist Watson, und ich habe Mrs. Crackpickle eine Postsendung auszuhändigen, die sie quittieren muss. Wo kann ich diese Dame finden?«, fragte er sehr zugeknöpft.

Anna räusperte sich ebenfalls und gab mit großem Ernst zurück: »Mein Name ist Anna O’Reilly. Ich mache hier sauber und koche der guten Madame den Tee. Sie ist ausgegangen, um Besorgungen für die Weihnachtsdekoration zu machen, und kommt erst am Nachmittag zurück. Ich kann gerne diesen Brief für sie entgegennehmen und quittieren. Vorausgesetzt, Sie zeigen mir, wie man das macht.«

Mr. Watson schien dieser Vorschlag nicht auf Anhieb zu gefallen.

»Das ist aber kein gewöhnlicher Brief, sondern ein Schreiben von der Versicherung«, erklärte er gewichtig und blickte auf den Umschlag in seiner Hand. »Lloyd’s of London. Ich nehme an, dass dies eine sehr bedeutsame Nachricht ist, die auf keinen Fall verloren gehen darf.«

»Dann ist sie bei mir gut aufgehœúben«, versicherte Anna und blinzelte den Fremden aus ihren großen, meergrünen Augen treu und ehrlich an. Sie hatte ein sehr hübsches und breites Gesicht mit zwei tiefen Grübchen in den Wangen und einer stattlichen Menge Sommersprossen.

»Gut aufgehoben«, korrigierte der Postmann Watson, der immer alles sehr genau nahm. Ein Einschreiben einfach so an ein unbekanntes Kind auszuhändigen, das war eigentlich gegen seine Gepflogenheiten und widersprach auch den Dienstanweisungen der Königlichen Post. Er traf jedoch auf seinen Touren jeden Tag dutzende Leute und hielt sich auf seine Menschenkenntnis einiges zugute. Dieses Mädchen, dachte er bei sich, war doch gewiss keine Diebin. Ganz genau wissen konnte man das natürlich nie. Schon gar nicht, wenn es sich um eine kleine Irin handelte. Aber die Zeit drängte, und seine heutige Tour war noch weit, denn sie ging bis hinüber zur Bank und zum Bahnhof in der Liverpool Street. Also wollte er mal die Vorschriften nicht allzu wörtlich auslegen.

»Na gut. Ich muss dann auch los. Aber ich ermahne dich hiermit: Ich werde mich ganz gewiss bei Mrs. Crackpickle erkundigen, wenn ich das nächste Mal in dieser schrecklichen Gegend bin. Du kannst das natürlich nicht wissen, aber solch ein Brief von einer angesehenen Versicherung kann unter Umständen alles verändern. Ich habe schon Fälle erlebt, wo Leute, denen ich einen solchen Brief zustellte, unverhofft steinreich wurden. Und zwar weil die Versicherung ihnen eine ganze Stange Geld auszahlen musste. So funktioniert das nämlich oft mit Versicherungen. So und nicht anders wird man reich.«

»Wirklich?«, staunte das Mädchen aus dem bettelarmen Irland. »Das wusste ich nicht.«

»Also, mach gefälligst keinen Unsinn damit, verstanden?«

»Natürlich nicht!«, sagte Anna mit großer Bestimmtheit. Sie war zwar erst zehn Jahre alt, aber mit Unsinn jeglicher Art wollte sie nichts zu schaffen haben.

Nachdem der Briefträger Watson sich empfohlen hatte, legte das Mädchen den kostbaren und wichtigen Umschlag unübersehbar mitten auf den Verkaufstisch des Spielwarenladens, über den sonst Spielfiguren, Schnitzwerk, Kreisel und bunte Bälle den Besitzer wechselten, und machte sich wieder an ihre Arbeit. Die bestand darin, dass sie wieder und wieder den Boden fegte und die Fenster putzte, die Holzflächen aller Regale und Kommoden mit einem nassen Lappen wischte und die dort verstauten unzähligen kleinen und größeren Figuren von Gnomen und Dämonen, von Damen und Rittern und Soldaten einzeln herausnahm und säuberte. Ebenso die Schaukelpferde, Reifen, mehrfarbigen Stoffbälle und weißen Federbälle, Springseile und Springteufel, die Würfelspiele, Zinnsoldaten, Handspielpuppen und Marionetten. Die vielen Holzschnitzereien, die winzigen Möbel der Puppenstuben und die noch winzigeren Tassen des Puppen-Teeservice musste sie jeden Tag aufs Neue von Spinnweben befreien, entstauben und ordentlich wieder aufstellen. Denn Mrs. Crackpickle war sehr bedacht darauf, dass ihr Laden immer gepflegt und einladend aussah. Und weil die Luft in London und besonders in diesem Teil Londons so unsagbar schmutzig und voller Staub und Ruß war, der durch alle Ritzen drang und sich in jeder Ecke sammelte, musste Anna, sobald sie mit allem durch war, auch schon wieder von vorne anfangen. Sie selbst hatte niemals ein Spielzeug besessen. Abgesehen von einem Lumpen, den ihre verstorbene Mutter mithilfe eines kurzen Seils in eine Art Gespensterpuppe namens Lilly verwandelt hatte. Lilly war längst weg, am Ende zu Tode gedrückt und in Fetzen geliebt von dem kleinen Mädchen, das so früh Armut und Angst kennengelernt hatte. Hier im Laden aber gab es echte Spielsachen, und Anna liebte ihre Arbeit und war Mrs. Crackpickle unendlich dankbar.

Am Morgen war die Witwe schon in aller Frühe aufgebrochen, um auf dem Markt von Spitalfields Tannen- und Mistelzweige zu besorgen, denn morgen sollte der Laden weihnachtlich geschmückt werden. Und später dann – daraus wurde ein großes Geheimnis gemacht –, später würde endlich das zauberhafte Fenster aufgebaut. Dazu erwartete die Witwe ihre beiden Söhne, William und Charlie, die zwar seit Jahren zur See fuhren, aber zu jeder Weihnacht pünktlich heimkehrten. Auf das Fenster war Anna sehr gespannt, denn sie kannte es bisher nur aus den Erzählungen, vor allem ihrer Tante, die mit Mrs. Crackpickle auf recht freundschaftlichem Fuße gestanden hatte.

Als die Türglocke und der unvermeidliche Wirbel kalter Straßenluft die Rückkehr der Besitzerin anzeigten, stand das Mädchen hoch auf einer Leiter im Nebenraum und säuberte eine handgeschnitzte Holzarche und all die niedlichen Tierpaare, die der Künstler mit auf die Reise gegeben hatte: zwei Kühe, zwei Hunde und ein Gänsepaar. Aber auch Vertreter des afrikanischen Tierreichs, die die hiesigen Kinder nur aus den Märchen kannten: Löwen, Kamele und zwei Giraffen mit langen Hälsen.

»Ein Mann von der Post war da!«, rief Anna Mrs. Crackpickle fröhlich entgegen. Die ganze Zeit über hatte sie an den wichtigen Brief denken müssen. Und an die Reichtümer, die er nach Ansicht des in diesen Dingen sehr erfahrenen Mr. Watson möglicherweise verhieß. Es kam lange keine Antwort von Mrs. Crackpickle, und so stellte Anna den Elefanten, den sie gerade säuberte, neben seinen Artgenossen und stieg die Leiter hinab. Sie sah gerade noch, wie die Witwe langsam auf ihren Stuhl niedersank. Mit einer Hand hielt sie sich am Verkaufstisch fest, in der anderen hatte sie den Brief. Ihr Gesicht, das ohnehin selten freundlich war, wirkte nun steinhart und so grau wie der Dezemberhimmel über Old Nichol.

»Stimmt es denn, dass Sie jetzt reich sind?«, fragte Anna aufgeregt.

Die Frage brauchte eine Weile, bis sie Mrs. Crackpickle erreicht hatte, die wie vom Donner gerührt ins Nichts starrte.

»Zehn Pfund Sterling«, sagte die Witwe leise und verzog keine Miene.

»Aber das ist ja wunderbar«, freute sich Anna. Sie hatte zwar keine Ahnung, was man für diese Summe kaufen konnte. Aber wenn sie und ihr Bruder mal von richtig großem Geld fantasierten, dann sprachen sie von nur einem Pfund. Und hier handelte es sich um atemberaubende zehn Pfund!

»Wunderbar …«, wiederholte Mrs. Crackpickle tonlos, und Anna, die ein angeborenes Gespür für Menschen und ihre Stimmungen hatte, begann zu ahnen, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Und schon gar nicht wunderbar. Plötzlich tat es ihr sehr leid, dass sie so ungestüm gewesen war.

»Kann ich Ihnen vielleicht helfen? Möchten Sie einen Tee?«

Das Mädchen ergriff die Hand der Witwe und bemerkte, dass sie eiskalt war. Sie hielt den Brief der Versicherung umklammert und reichte ihn dem Mädchen. Anna hatte zwar Lesen gelernt, aber diesen Brief verstand sie nicht. So viele fremde Namen und unbekannte Worte.

Im Auftrag der Kompanie Samuel Enderby & Söhne sind wir als Versicherungsträger verpflichtet, anzuzeigen, dass der Walfänger Roscoe Bonham, Heimathafen London, am 13. August dieses Jahres vor der Küste von Chile in einen Sturm geriet und sank. Die Mannschaft wird vermisst, und es besteht keine Aussicht auf Rückkehr. Weil der Zweite Harpunier William Crackpickle und der Schiffszimmermann Charles Crackpickle zur Besatzung der havarierten Roscoe Bonham gehörten, drücken wir Ihnen hiermit unser Beileid aus und legen vertragsgemäß als Entschädigung einen Scheck über 10 (in Worten: zehn) Pfund Sterling bei. Einzulösen ab sofort bis zum Ende des Jahres bei der Bank of England unter Nennung der Kennziffer 7878–64 und 65.

»William und Charlie«, sagte Anna leise. »Das sind doch Ihre beiden Söhne, von denen Sie so gerne erzählen!«

Die Frau, die plötzlich um Jahre gealtert schien, nickte, als höre sie in der Ferne leise eine vertraute Melodie.

»Die beiden sind alles, was ich noch hatte. Alles, was mir geblieben war nach dem Tod meines Mannes«, sagte sie mit einem unheimlichen Lächeln. »Und jetzt sind sie nur noch Nummern bei einer Bank. 7878–64 und 65.«

»Es tut mir so furchtbar leid.« Anna drückte tröstend die Hand der Spielwarenhändlerin und fühlte, wie Tränen ihr die Kehle und die Nase zuschnürten. Sie hatte ja selbst schon viel zu oft Schmerzen gekostet und viel zu viel Not und Schrecken erlebt. Die schlimmen Hungerjahre in Irland. Den Tod beider Eltern und zweier kleiner Geschwister. Die Gewalt, die Gefahren und die Angst auf der langen Flucht nach London. Dann den unerwarteten Tod des einzigen Menschen, der sich um sie und Benjamin gekümmert hatte, der lieben Tante. Deshalb empfand sie den Verlust der Witwe wie ihren eigenen und wünschte sich nur, ihr doch irgendwie helfen zu können. Ihre Trauer jedoch riss die arme Witwe in einen Abgrund, wo freundliche Worte sie nicht mehr erreichten. Überwältigt von ihren Gefühlen stieß sie das Mädchen von sich und spuckte auf den Brief der Versicherung und den verfluchten Scheck über zehn Pfund.

»Geh jetzt und verschwinde!«, herrschte sie Anna an, und ihre Augen waren plötzlich böse und voller Ablehnung und Kälte. »Lass mich alleine. Auf der Stelle!«

Anna wich erschrocken zurück und wäre fast über die Misteln und Tannenzweige gestolpert, die Mrs. Crackpickle besorgt hatte. Allein schon der Gedanke an Weihnachtsschmuck wirkte in diesem Haus der Trauer plötzlich fremd und unpassend. An Feiern, Fröhlichkeit, Frohlocken war überhaupt nicht mehr zu denken. Die Hausherrin war außer sich und schrie:

»Ich hätte es wissen müssen, dass so ein rothaariges Biest alles zerstören würde. Ich wollte dich nicht anstellen. Nur deiner Tante zuliebe habe ich es getan, und nun bezahle ich den Preis dafür! Hinaus! Hinaus!«

So wild und böse waren ihre Blicke, dass Anna es mit der Angst zu tun bekam.

»Gute Madame, es tut mir so leid. Kann ich nicht doch irgendetwas für Sie tun?«, bettelte sie verzweifelt. Was alles aber nur noch schlimmer machte. Denn weil sie so aufgeregt war, verfiel sie in ihren irischen Heimatakzent, und das klang in Mrs. Crackpickles Ohren wie: »Gœìnze MaulLhàmm mescheèfan æunsche kl’aépper æll förse póltentag?«, woraufhin die gramgepeinigte Spielwarenhändlerin antwortete:

»Sei still! Das ist die Sprache des Teufels! Mach jetzt, dass du verschwindest, du Satansbraten. Du hast das Unglück über mich und meine Söhne gebracht. Ich will dich nie wieder hier sehen. Das Unglück! Das Unglück!«, heulte sie hinter Anna her, die sich ins Freie rettete und weglief, so schnell sie konnte.

Zweites KapitelBenjamin bringt einen geheimnisvollen Kasten heim und träumt von einer goldenen Zukunft.

So geht das nicht, Paddy. Wirklich! So geht das nicht. Ich bin kein schlechter Mensch. Im Gegenteil. Ich bin, wie du sicherlich weißt, sogar ein ganz besonders gütiger Mensch. Aber auch meine Güte hat Grenzen. Besonders, wenn ich das Gefühl haben muss, dass ein gewisser Jemand meine Hilfsbereitschaft ausnutzt.«

Der Apotheker und Kräuterkundler Elias Fox war ein Mann von schier erdrückender Körperfülle und wenigen Skrupeln. Er wohnte und wirkte in dem windschiefen, grau angelaufenen Fachwerkhaus, das eingezwängt war zwischen den Häusern des Sargschreiners und des Hufschmieds. In seinem Keller hatte seit einigen Jahren bis zu ihrem plötzlichen Tode vor wenigen Wochen die irische Kräuterfrau Siobhan O’Reilly gewohnt. Jetzt hausten dort die beiden Kinder, von denen, wie der Apotheker Fox nicht müde wurde, jedem zu versichern, nichts Gutes zu erwarten war.

Soeben hatte der Apotheker Annas älteren Bruder, Benjamin O’Reilly, beim Nachhausekommen am Treppenabsatz abgefangen und zur Rede gestellt, bevor der Knabe in dem steilen, dunklen Kellerabgang verschwinden konnte. Zu seinem Glück gelang es Benjamin noch, den teuer erworbenen Kasten rechtzeitig in einer Mauernische verschwinden zu lassen. In diesem Kasten befand sich der Schlüssel zu einem neuen Leben für ihn und seine Schwester. Aber der Junge verspürte wenig Neigung, das Thema mit dem unangenehmen Dickwanst zu erörtern. Der Apotheker war einfach zu neugierig, und seine Motive waren undurchsichtig. Außerdem roch er ziemlich streng, und niemand hielt sich gerne länger als nötig in seiner unmittelbaren Umgebung auf. Aber am schlimmsten war, dass Benjamin tatsächlich sehr tief in seiner Schuld stand.

»Ich habe dir eine schöne Stange Geld geliehen, Paddy, mein Junge«, erklärte der Apotheker und fuchtelte mit seinem Zeigefinger vor Benjamins Nase herum. »Und zwar, weil ich Mitleid mit dir und deiner Schwester hatte. Außerdem fühlte ich mich dem Andenken an deine selige Tante verpflichtet. Aber so langsam werde ich unruhig und frage mich, ob ich meine siebzehn Schilling jemals wiedersehen werde.«

Benjamin trat ungeduldig von einem Bein aufs andere und vermied es, dem Mann direkt in die Augen zu schauen. Der Apotheker trug einen grauen Kittel, der vor vielen Jahren einmal weiß gewesen sein musste, und muffelte penetrant nach Albigenserkresse, röhrigen Buckelschilfblüten und dem gezackten Krötenfurz. Benjamin wünschte sich, Mr. Fox würde ihn nicht immer Paddy nennen. Auch wenn er aus Irland geflohen war, hatte er doch ein Recht auf seinen eigenen Namen. Jedoch war dieses abschätzige »Paddy« immer noch geringfügig besser als »Knollenkauer« oder »Kartoffelfresser«. Das waren die Schmähworte, mit denen die Iren in England am häufigsten belegt wurden.

»Also? Will der junge Herr mir vielleicht antworten?«, drängte ihn der Vermieter. Die Stimme des Apothekers klang viel zu hoch für einen erwachsenen Mann. Wenn er laut wurde und sich ereiferte, dann bekam sie sogar etwas entschieden Weibisches. Jetzt jedoch war sie durchaus nicht aufgeregt, sondern im Gegenteil bedrohlich ruhig. »Ich möchte doch zu gerne wissen, was mit meinem sauer verdienten Geld geschehen ist. Und noch lieber würde ich erfahren, wann ich es wohl zurückbekomme.«

Benjamin stand da wie ein ertapptes Sünderlein. Der kalte Wind, der einzelne Schneeflocken umherwirbelte, schnappte wie ein bissiger Hund nach seinen nackten Fußgelenken und seinem ungeschützten Hals.

»Wenn Sie nur noch ein paar Tage Geduld haben möchten, lieber Mr. Fox«, sagte er mit schamhaft gesenktem Kopf. »Ich habe nämlich einen Plan, um mein eigenes Geld zu verdienen. Ich beabsichtige, ein kleines Geschäft zu eröffnen. Und sobald das einigermaßen läuft, werden wir Ihnen das ganze Geld mit Zinsen zurückerstatten.«

»So? Der feine, irische Herr will also ins Geschäftsleben einsteigen?«, staunte der Fettwanst und zog seine Augenbrauen höhnisch in die Höhe. Alles an Mr. Elias Fox war rundlich, rosa und irgendwie fleischig. Er war nicht besonders groß, dafür aber stattlich in die Breite gewachsen. Seine Hände waren aufgedunsen, die Finger wie talgige, kurze Würste. Sein Schädel glich einer rosig glänzenden Kugel, umkränzt von einem Halbmond aus weißen Haaren. Auf seiner runden, knopfartigen Nase, die wie eingekeilt zwischen zwei runden, roten Wangen steckte, balancierte er ein rundes Brillengestell. Aber dahinter wohnte ein Paar flinker, blauer Augen. Man hätte diesen Mann für einen gemütlichen, vielleicht sogar gutmütigen Menschen halten können. Diese Augen jedoch, die das Gegenüber kühl und berechnend taxierten und Blicke werfen konnten, die spitz und schnell waren wie Giftpfeile – diese Augen verrieten, dass man ihn nicht unterschätzen sollte. Benjamin und Anna fühlten sich sehr unwohl, wenn der Apotheker sie mit diesen kalten, blauen Augen musterte. Es war, als taste er ihre Seelen ab. So wie jetzt, als sein Blick den Jungen zu durchleuchten schien.

»Und um welches Geschäft handelt es sich dabei?«, fragte er mit gespielter Fürsorge. »Ich kenne mich in geschäftlichen Dingen bestens aus. Vielleicht kann ich dir ein paar Tipps dafür geben, Paddy.«

Auch der zwölfjährige Benjamin war stolzer Träger eines feuerroten Haarschopfes von der gleichen Farbe wie Annas. Auch sein Gesicht war ein Tummelplatz für Sommersprossen. Auch er hatte Augen so grün wie die grünen Hügel Irlands und angenehme und offene Gesichtszüge. Er war von seinen Anlagen her kräftig und wäre unter günstigeren Umständen sicherlich zu einem stattlichen Mann emporgewachsen. Aber die Jahre der Armut und Unterernährung hatten bereits ihren Tribut gefordert. Er war viel zu dünn und viel zu blass, und er fror ohne Unterlass, weil seine Kleidung für einen milden Sommer in Irland und nicht für einen strengen Winter im Londoner Osten taugte. Doch so schwach auch sein Körper war – sein Wille war aus Eisen, und er verabscheute den falschen, gönnerhaften Ton, in dem der Apotheker mit ihm sprach. Nun war aber nicht der Zeitpunkt, gegen Fox aufzubegehren. Er schuldete diesem Mann eine Menge Geld. Und wenn der es darauf anlegte, konnte er sie jederzeit aus seinem Keller vertreiben und der Polizei übergeben. Dann bliebe für sie nur das Arbeitshaus. Und alles war besser als das Arbeitshaus.

»Also, Paddy …? Sag’s mir! Was ist dein Plan?«

Benjamin brachte es nicht über sich, Elias Fox in sein Vorhaben mit dem versteckten Kasten einzuweihen.

»Ich … hatte … gedacht«, begann er stotternd, denn er war wirklich kein guter Lügner. Plötzlich traten ihm Tränen in die Augen. Seine Stimme klang atemlos und gehetzt. Lange würde er es nicht mehr zurückhalten können. Die Worte presste er förmlich heraus, während ihm war, als setze jemand seinem Hals von innen mit einer Feder zu. »Mein Plan … ist …«

Jetzt war es so weit. Dieser verdammte Husten griff wieder nach ihm. Plötzlich brach es mit aller Gewalt aus ihm heraus. In seinen Lungen brodelte es wie in einem Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Und es brannte schrecklich, als wollte ihm glühende, mit scharfem Pfeffer versetzte Luft die Atemwege zerreißen. Der Apotheker wich vorsichtshalber einen Schritt zurück.

»Himmel, Paddy, das klingt ja abscheulich«, tadelte er.

Benjamin konnte nicht antworten, so grausig schüttelte ihn der Anfall durch. Sein Inneres schmerzte, er bekam kaum Luft. Sein Stöhnen und Röcheln ließ erahnen, welche Qualen er zu leiden hatte.

»Wie willst du denn irgendwas Nützliches anfangen mit diesem Husten?«, spottete der Apotheker. »Ich mache dir ein Angebot. Du arbeitest für mich. So kannst du deine Schulden nach und nach abtragen. Deine Aufgabe besteht nur darin –«

Doch bevor er seinen Satz beenden konnte, wurden die beiden fast über den Haufen gerannt von einem rothaarigen Blitz, der aus dem Nichts heranschoss und zwischen ihnen in den Kellerabgrund fuhr. Der rundliche Fox musste sich an der Wand abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und Benjamin bat ihn immer noch hustend und mit flehendem Blick um Verzeihung für das ungebührliche Verhalten seiner ungestümen kleinen Schwester.

»Du musst diesem Wildfang endlich Manieren beibringen«, grollte der Apotheker. Seine kaltblauen Augen blitzten boshaft auf. »Und sie sollte auch keine Hosen tragen, das geziemt sich nicht für ein Mädchen. Wenn sie es nicht selbst lernt, wird man es ihr im Arbeitshaus beibringen.«

»Bitte, haben Sie nur noch ein wenig Geduld.« Benjamins Stimme war nur mehr ein Krächzen, aber zum Glück entließ der Husten ihn langsam aus seiner quälenden Umklammerung.

»Wir werden sehen«, beschied ihn der Apotheker und wandte sich zum Gehen. Dann jedoch kam ihm noch ein Gedanke, und er packte Benjamin am Arm. »Ach, warte mal … Vielleicht gibt es doch noch eine andere Lösung. Könnte es nicht sein, dass eure Tante noch irgendwelche versteckten Geldmittel hatte, von denen keiner etwas wusste? Ich habe ihr immerhin einen sehr anständigen Lohn gezahlt.« In Wahrheit war er ihr den Lohn über viele Monate schuldig geblieben, hatte allerdings immer auf pünktlicher Bezahlung der Miete beharrt. »Wollten wir nicht gemeinsam mal danach suchen?«

Benjamin schüttelte heftig den Kopf. »Sie hatte nichts, Sir. Leider. Sonst hätte sie doch einen Arzt bezahlen können und wäre nicht so plötzlich gestorben.«

Die Auskunft schien Fox einzuleuchten. Er nickte und ließ Benjamins Arm wieder los.

Als der Junge seiner Schwester hinterher in den Keller geeilt war, zog der dicke Mann mit einem beherzten Ruck seinen Kittel gerade. Jetzt musste er zuerst dafür sorgen, dass er nicht etwa selbst noch krank wurde. Er war nämlich anfällig für Leiden aller Art, und so einen grauenvollen Husten wie jener, der den blassen, kleinen Kartoffelfresser quälte, wollte er sich auf keinen Fall zuziehen. So eilte er in seine Kräuterküche, wo er zwei Messlöffel getrocknetes Lungenkraut mit einer Prise walisischem Huflattich, Fenchel und Thymian vermengte und im Mörser zerkleinerte, mit heißem Wasser übergoss und den Sud vorsichtig schlürfte.

»Was hast du denn, Anna? Solltest du nicht um diese Zeit bei Mrs. Crackpickle im Laden arbeiten?« Als Benjamin ihre Behausung betrat, lag seine Schwester schluchzend auf dem aus groben Brettern gezimmerten Bett, das Gesicht im Kissen vergraben. Sie antwortete, aber er konnte die Worte nicht verstehen. Es klang, als hätte sie »Schrecklich, schrecklich« gewimmert.

»Was ist denn so schrecklich?«

Er setzte sich neben sie und streichelte vorsichtig ihren