Der große Lord & Das Weihnachtswunder von Old Nichol - Raymond A. Scofield - E-Book

Der große Lord & Das Weihnachtswunder von Old Nichol E-Book

Raymond A. Scofield

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Beschreibung

Zwei wunderschöne Weihnachtsromane in einem E-Book Bundle!

Der große Lord.

Der sonderbare junge Mann, der an Heiligabend in die Polizeiwache von Erleboro stürmt, hat eine unglaubliche Geschichte zu erzählen. Als Kind war er für kurze Zeit Cedric Fauntleroy, der Erbe des Earl von Dorincourt. Doch dann wurden er und seine geliebte Mutter Opfer einer teuflischen Intrige, die nun, 21 Jahre später, ihrem dramatischen Höhepunkt entgegensteuert … Die bewegende Reise des kleinen Lord Fauntleroy aus New York endete gar nicht mit der Weihnachtsfeier auf dem Schloss. Raymond A. Scofield verrät, wie es mit dem liebenswerten Knaben weiterging. Eine herzerwärmende und heitere Weihnachtsgeschichte von Freundschaft, Liebe und Güte – und einem selbstverliebten Lama.

Nach dem berühmten Roman „Der kleine Lord“ von Frances Hodgson Burnett nun die Fortsetzung des Weihnachtsklassikers.

Das Weihnachtswunder von Old Nichol. 

Was ist das Weihnachtsglück? Die Geschwister Anna und Benjamin sind vor einer Hungersnot aus Irland nach London geflüchtet. Im düstersten Winkel der Stadt geraten die Kinder in die Fänge des zwielichtigen Apothekers Fox und bald auch - unschuldig - in die Mühlen einer gnadenlosen Justiz. Kurz vor Heiligabend scheint alles Glück sie verlassen zu haben. Nur einer kann sie retten - aber der ist sehr klein und die Widrigkeiten sind ungeheuer groß…

Eine wunderschöne Weihnachtsgeschichte aus dem London von Oliver Twist – vom Autor des Bestsellers „Der große Lord“.

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Seitenzahl: 536

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Der große Lord.

Der sonderbare junge Mann, der an Heiligabend in die Polizeiwache von Erleboro stürmt, hat eine unglaubliche Geschichte zu erzählen. Als Kind war er für kurze Zeit Cedric Fauntleroy, der Erbe des Earl von Dorincourt. Doch dann wurden er und seine geliebte Mutter Opfer einer teuflischen Intrige, die nun, 21 Jahre später, ihrem dramatischen Höhepunkt entgegensteuert … Die bewegende Reise des kleinen Lord Fauntleroy aus New York endete gar nicht mit der Weihnachtsfeier auf dem Schloss. Raymond A. Scofield verrät, wie es mit dem liebenswerten Knaben weiterging. Eine herzerwärmende und heitere Weihnachtsgeschichte von Freundschaft, Liebe und Güte – und einem selbstverliebten Lama.

Nach dem berühmten Roman „Der kleine Lord“ von Frances Hodgson Burnett nun die Fortsetzung des Weihnachtsklassikers.

Das Weihnachtswunder von Old Nichol. 

Was ist das Weihnachtsglück? Die Geschwister Anna und Benjamin sind vor einer Hungersnot aus Irland nach London geflüchtet. Im düstersten Winkel der Stadt geraten die Kinder in die Fänge des zwielichtigen Apothekers Fox und bald auch - unschuldig - in die Mühlen einer gnadenlosen Justiz. Kurz vor Heiligabend scheint alles Glück sie verlassen zu haben. Nur einer kann sie retten - aber der ist sehr klein und die Widrigkeiten sind ungeheuer groß…

Eine wunderschöne Weihnachtsgeschichte aus dem London von Oliver Twist – vom Autor des Bestsellers „Der große Lord“.

Über Raymond A. Scofield

Raymond A. Scofield heißt eigentlich Gert Anhalt und ist Reporter beim Zweiten Deutschen Fernsehen. Viele Jahre hat er für das ZDF aus China und Japan berichtet und zahlreiche Romane und Thriller verfasst, darunter »Der Jadepalast« und »Die Tibet-Verschwörung«. Zuletzt erschien von ihm der Bestseller: „Der große Lord“ – eine Fortsetzung des Klassikers „Der kleine Lord“ von Frances Hodgson Burnett.

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Raymond A. Scofield

Der große Lord & Das Weihnachtswunder von Old Nichol

Zwei wunderschöne Weihnachtsromane in einem E-Book Bundle!

Inhaltsverzeichnis

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Der große Lord

1. Kapitel Ein Besucher kommt an Heiligabend.

2. Kapitel Eine unfassbare Tragödie ereignet sich kurz nach Weihnachten auf Schloss Dorincourt.

3. Kapitel Um sich selbst und seine geliebte Mutter zu retten, muss Cedric eine schwere Entscheidung treffen.

4. Kapitel Der vormalige kleine Lord erreicht London, wo er erste Erfahrungen sammelt und wichtige Bekanntschaften macht.

5. Kapitel Der Junge findet ein neues Zuhause und Arbeit im Krämerladen des Charlie Froggat.

6. Kapitel Cedric wird in Tripes Bande aufgenommen, findet neue Freunde und lernt das schwer zu verstehende Cricketspiel kennen.

7. Kapitel Im Sommer trifft Cedric die Diebin Emma wieder und erweist sich im großen Elend als kleiner Gentleman.

8. Kapitel In der traurigen Mietskaserne kommt es beinahe zum offenen Aufstand, und Charlie Froggat muss um sein Leben fürchten.

9. Kapitel Mr. Froggat und Alfred Tripe planen ein Verbrechen, während Cedric ein unerwartetes und erfreuliches Wiedersehen erlebt.

10. Kapitel Cedric erhält unerwarteten Besuch, erfährt einige schlimme Dinge und bekommt eine Chance, auf die er nicht zu hoffen gewagt hätte.

11. Kapitel Cedric begegnet seiner Großtante Constantia wieder und ist wider Willen an einem abscheulichen Verbrechen beteiligt.

12. Kapitel Cedric wird gezwungen, seine ahnungslose Großtante zu bestehlen, und erlebt einen schlimmen Unfall.

13. Kapitel Cedric erwacht nach langer Bewusstlosigkeit im Himmel und findet sich in der Obhut eines Engels.

14. Kapitel Cedric kommt wieder zu Kräften und macht die Bekanntschaft einer weiteren Witwe, die aber nicht gut auf Kinder zu sprechen ist.

15. Kapitel Als Weihnachten näher rückt, bricht für Cedric eine Welt zusammen, und er muss das Schloss verlassen.

16. Kapitel Cedric fällt abermals den Ganoven in die Hände, die nun einen noch haarsträubenderen Plan schmieden.

17. Kapitel Cedric trifft einen leibhaftigen Prinzen, der ebenfalls ein Enkel ist. Aber da enden schon die Gemeinsamkeiten.

18. Kapitel Während sich unter dem Schloss Unheilvolles zusammenbraut, trifft Cedric eine folgenschwere Entscheidung.

19. Kapitel Tripes Schwager vermasselt der Diebesbande gehörig die Tour. Jerry besteht eine Bewährungsprobe.

20. Kapitel Im Schloss von Dorincourt kommt es zu einer unschönen Konfrontation und zur lange fälligen Abrechnung.

Epilog

Der kleine Lord und die große Sehnsucht

Das Weihnachtswunder von Old Nichol

Prolog: Das zauberhafte Fenster

Erstes Kapitel: Mrs. Crackpickle erhält eine schreckliche Nachricht.

Zweites Kapitel: Benjamin bringt einen geheimnisvollen Kasten heim und träumt von einer goldenen Zukunft.

Drittes Kapitel: Benjamin erlebt ein böses Erwachen, und der Apotheker macht Anna ein rettendes Angebot.

Viertes Kapitel: Benjamin wird von einem wütenden Schutzmann gejagt, und Anna findet einen neuen Freund.

Fünftes Kapitel: Benjamin wird zum Kurier für Apotheker Fox, und Anna soll für Mrs. Crackpickle etwas Wichtiges erledigen.

Sechstes Kapitel: Als hätte sie plötzlich alles Glück verlassen, geraten Benjamin und Anna unverschuldet in allergrößte Bedrängnis.

Siebtes Kapitel: Chip erhält unerwarteten Besuch, und Mr. Fox entziffert ein wichtiges Dokument.

Achtes Kapitel: Anna wird der Prozess gemacht, und Benjamin droht ein langer Gefängnisaufenthalt oder sogar schlimmeres.

Neuntes Kapitel: Anna lernt eine böse Dame kennen. Apotheker Fox erfüllt sich einen lange gehegten Traum, und Chip macht eine sensationelle Entdeckung.

Zehntes Kapitel: Anna findet eine neue Freundin und wagt etwas Ungeheures, und Chip und Wasmut beobachten Fox im Park und folgen ihm.

Elftes Kapitel: Anna und Molly in Not, und Apotheker Fox erwischt Eindringlinge in seiner Küche und bekommt unliebsamen Besuch.

Zwölftes Kapitel: In der Apotheke kommt es zu viel Getümmel, Verwirrung und zu einer längst überfälligen Verhaftung.

Dreizehntes Kapitel: Das Weihnachtswunder von Old NicHol nimmt seinen Lauf.

Impressum

Orientierungsmarken

Cover

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Copyright-Seite

Raymond A. Scofield

Der große Lord

Ein Weihnachtsroman

Für Karoline

1. KapitelEin Besucher kommt an Heiligabend.

Der bitterkalte Dezemberwind aus Nordwest wirbelte wilde Strudel weißer Flocken umher und drückte sie gegen die Fenster der Polizeiwache von Erleboro. Es heulte, zog und pfiff, die Läden klapperten, im Kamin prasselte ein Feuer. Konstabler Paddock spähte hinaus in den Schneesturm, während er seinen Weihnachtstee schlürfte, der beruhigend nach Vanille, Zimt und Kardamom duftete. Zwei Handbreit Neuschnee mochten schon gefallen sein. Und das allein in der letzten Stunde. Niemand hatte dieses Unwetter kommen sehen.

»Was meinst du, Toddy, alter Knabe? Ob ich jetzt doch rausmuss, um den Weg frei zu schaufeln?«

Der Jack Russel hob den Kopf, als halle die Frage in seinem Terrierkopf nach. Dann grunzte er abschlägig und legte das Kinn wieder auf die ausgestreckten Vorderpfoten.

»Ganz meine Meinung«, pflichtete Paddock bei. »Wer um alles in der Welt sollte uns denn wohl heute noch besuchen …?«

An diesem Heiligen Abend lag das Dorf still und andächtig. In manchen Fenstern brannte Licht, das aber nach wenigen Yards von den wütenden Wattewolken des Wintersturms verschluckt wurde.

Paddock nahm das letzte Ingwerplätzchen vom Teller und biss ein Stück ab. Er liebte dieses Gebäck, weil es sich gut mit seinem empfindlichen Magen und seinem trägen Darm vertrug. Und doch wollte er den letzten Keks nicht für sich allein. Er beugte er sich zu Toddy hinunter und bot seinem vierbeinigen Kameraden die andere Hälfte an.

Begeistert schnappte der Hund zu.

»Frohe Weihnachten, mein Freund.« Er tätschelte liebevoll Toddys Kopf. Dann suchte er Halt an der Tischkante, um seinen etwas zu gemütlichen Körper wieder in die Senkrechte zu bringen, und fingerte die Taschenuhr aus der Uniformjacke.

Es war jetzt kurz nach acht Uhr abends.

Noch zwei Stunden, dachte er in stiller Vorfreude, dann wäre es endlich Zeit, sich über dem Kaminfeuer seine besondere und ganz persönliche Weihnachtsbescherung zu bereiten, nämlich diesen köstlichen traditionellen Punsch. Fünf Teile Gin, drei Teile Brandy, ein guter Schuss Rum und dazu der Saft einer Zitrone. Das Ganze mit drei Löffeln Zucker im Kessel über der Kaminflamme erhitzt und mit einer Zimtstange umgerührt – fertig war Paddocks perfekter Weihnachtsdrink. Der Punsch machte friedlich, besinnlich und glücklich. Und vor allem machte er herrlich schläfrig, weswegen der brave Beamte sich nach dem Genuss auf der Dienstliege ein erholsames Nickerchen gönnen würde. So ließ es sich aushalten allein an Heiligabend auf der Polizeiwache in Erleboro. Auf diese Weise war der Feiertagsdienst keine Belastung, sondern hatte durchaus seine erquicklichen Seiten.

Nanu?

Plötzlich ging ein Zittern durch Toddys kleinen Hundekörper, und ein feindseliges Knurren stieg aus seiner Kehle auf. Sein Blick war starr auf die Tür gerichtet.

»Toddy? Was hast du denn?« Der Terrier stieß ein empörtes Bellen aus. Paddock drückte energisch den Rücken durch und zog seinen Uniformrock gerade. Durch das Fenster gewahrte er eben noch einen dunklen Schatten, der sich auf den Eingang der Wache zubewegte.

Toddys Knurren wurde immer vorwurfsvoller.

»Guter Hund, guter Toddy«, lobte der Konstabler, dem mit einem Mal etwas mulmig zumute war. Das Klopfen ließ ihn vor Schreck zusammenzucken.

»Wer da? Meldung!« Das war der Ruf, den er damals als Wachsoldat beim 72. Hochlandregiment im Krieg auf der Krim gelernt hatte.

Keine Antwort.

Stattdessen flog die Tür auf, und in einem Schwall von Kälte und Schneegriesel betrat ein junger Mann die polizeiliche Amtsstube. Er war für dieses Wetter völlig unpassend gekleidet. Er trug eine knallrote Jacke, großkarierte Schachbretthosen und einen runden Hut, aus dem eine Blume spross. Seine Schuhe waren viel zu groß. Unter seinem Arm klemmte ein wild zappelnder Pinguin. An einem Strick zog er ein rötlich braunes Zotteltier mit langem Hals hinter sich her. Er trampelte heftig auf, um den Schnee von den Schuhsohlen zu lösen.

»Guten Abend! Ihnen und allen Menschen überall ein fröhliches und gesegnetes Weihnachtsfest!«, wünschte er mit einigem Überschwang und zeigte ein gewinnendes Lächeln. »Nett haben Sie es hier. Und es riecht so gut.«

»Die Ziege bleibt draußen!«, verlangte Paddock schroff.

»Es ist ein Lama mit Namen Felicitas. Der Pinguin heißt Fred.«

»Dies ist eine Polizeistation und kein Tierheim.«

»Ich bitte um Verzeihung.« Der Besucher setzte den rebellischen Schwimmvogel auf dem Holzparkett ab. Das Tier schnatterte ärgerlich und begann sich mit seinem Schnabel zu putzen.

»Er ist ein seltener Höhlenpinguin und kommt aus Kappadokien«, erklärte der Fremdling.

»Ich wusste nicht, dass es dort Pinguine gibt.« Paddock war misstrauisch. Und ehrlich gesagt, wusste er gar nicht, wo Kappadokien überhaupt lag.

»Sie sind dort tatsächlich sehr selten. Man findet sie praktisch nur in Höhlen, wo es oft sehr staubig ist. Vielleicht hat er deshalb diesen ausgeprägten Putzfimmel.«

Toddy, der Terrier, beobachtete den schwarz-weißen Vogel mit einer Mischung aus Abscheu und Entsetzen. Das Lama Felicitas hatte einen Silberblick und kaute selbstvergessen auf einem Stück Wacholderwurzel. Sein Unterkiefer bewegte sich mechanisch von links nach rechts. Es blinzelte extrem gelangweilt und schien sich für etwas Besseres zu halten.

»Es soll draußen bleiben«, wiederholte Paddock und tastete nach seinem Knüppel. Er hatte zwar noch nie jemanden damit geschlagen, aber es fühlte sich einfach beruhigend an.

»Was wollen Sie eigentlich von mir?«, fragte er. »An Heiligabend. Mitten im tollsten Sturm? Und was tun Sie mit diesen Tieren?«

»Mein Name ist Tom Tipton. Ich bin vom Zirkus«, erklärte der junge Mann. «Und ich muss mich selbst anzeigen.«

Paddock stemmte die Arme in die Hüften und morste mit den Augenbrauen unverkennbare Anzeichen der Ungeduld.

»Und …?«

»Ich fürchte, ich habe Lord Fauntleroy erschossen.«

»Was?« Das Herz des Polizisten setzte vor Schreck einen Schlag aus.

»Den Earl von Dorincourt, diesen Lord Cedric Fauntleroy … Ich habe ihn erschossen. Bitte, nehmen Sie mich fest.«

Konstabler Paddock spürte, wie seine Knie nachgeben wollten und sein empfindlicher Magen vor Aufregung rumorte. Der junge Earl von Dorincourt – erschossen? In seinen über dreißig Dienstjahren hier in Erleboro hatte er keinen Satz von so ungeheurer Tragweite vernommen. Gestohlene Kühe, gewilderte Böcke. Auch mal ein Überfall auf die Postkutsche. Einbruch, Meineid, Beleidigung und an Feiertagen eine Schlägerei im Gasthaus Dorincourt Arms und auch schon mal eine gebrochene Nase – all das gab es hier.

Aber Mord?

Und dann ausgerechnet am Hof des Grafen, des reichsten, mächtigsten und am meisten gehassten Mannes weit und breit!

»Aber warum denn …?«, protestierte Paddock, der Schlimmes auf sich zukommen sah. Politiker, Presse und Polizisten aus London. Mit einem einzigen Schlag waren sein schönes Weihnachtsfest und womöglich der Rest seiner Dienstzeit in größter Gefahr.

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Tom Tipton. In diesem Moment heulte draußen der Sturm schauerlich auf und drückte eine Wirbeltrommel aus Flocken gegen die Fensterscheiben, die ächzten, als wollten sie unter der Attacke zerbersten. Es war nicht daran zu denken, auch nur einen Fuß vor die Tür zu setzen.

»Dann erzählen Sie, in Gottes Namen!« Paddock ließ sich auf seinen Dienststuhl sinken, um benommen vor sich hin zu starren. Oje, oje …, dachte er immer wieder.

»Dürfte ich vielleicht um einen Schluck Tee bitten?«

Erst jetzt bemerkte der Polizist, dass der Mann in seinem albernen Clownskostüm zitterte und erbärmlich fror. Felicitas, das versnobte Lama, schlabberte ohne große Umstände Toddys Wassernapf leer und ließ sich vor dem Kamin nieder, um sein hellrotes Fell zu trocknen. Sie blinzelte eitel schielend in den Raum, als gehöre ihr die Welt. Fred, der seltene, kappadokische Höhlenpinguin, putzte sich unverdrossen weiter.

»Bedienen Sie sich«, sagte der Konstabler müde und deutete auf die Kanne, die seinen Weihnachtstee enthielt. »Und dann erzählen Sie endlich …«

Tipton schenkte sich eine Tasse ein und trank gierig.

»Sie hätten nicht zufällig etwas Gebäck dazu?«

»Nein.«

»Schade. Es riecht hier so lecker nach Ingwerplätzchen …«

»Die sind aufgegessen worden. Sie wollten mir berichten, was mit dem Earl von Dorincourt passiert ist!«, fuhr ihn Paddock an, der eigentlich ein sehr gutmütiger Mensch war.

»Die Sache ist nicht so ganz einfach. Es begann nämlich vor genau einundzwanzig Jahren.« Tipton richtete seinen Blick auf einen Punkt in weiter Ferne. »Kurz nach dem großen Weihnachtsessen in der festlich geschmückten Gesindeküche mit dem netten alten Earl von Dorincourt und all den anderen freundlichen Leuten, die zu meinen Ehren ins Schloss gekommen waren. Damals dachten nämlich noch alle, ich wäre der echte Cedric, sein Enkel, der kleine Lord. Und ein paar Tage danach nahm das Unglück seinen Lauf. Es war ein klirrender Wintertag …«

2. KapitelEine unfassbare Tragödie ereignet sich kurz nach Weihnachten auf Schloss Dorincourt.

Es war wirklich ein besonders klirrender Wintertag. Die Luft war frostig und trocken, und diese Witterung milderte endlich die Gicht in den morschen Gelenken des alten Grafen, der zum ersten Mal seit langer Zeit aufstehen und sich fast schmerzfrei ohne seine Gehhilfe fortbewegen konnte.

»Großvater, lieber Großvater! Das ist ja wundervoll!«, jubelte Cedric. Seine glockenhelle Stimme fiel wie ein Lichtstrahl in die steingrauen Hallen des alten Gemäuers von Dorincourt. »Endlich kann ich dir mein amerikanisches Lieblingsspiel Baseball zeigen! Das wird ein Mordsspaß.«

In seinem schwarzen Flanellanzug mit dem weißen Van-Dyck-Kragen und der roten Samtschärpe hüpfte der schicke kleine Lord übermütig durch den weihnachtlich herausgeputzten Rittersaal. Sein hellblonder Haarschopf umwirbelte das vor Liebe und Aufregung gerötete Gesicht. Der Graf in seinem purpurnen Hausmantel stand beseelt lächelnd vor dem Kamin, denn er war nach wie vor ganz vernarrt in seinen lebensfrohen Alleinerben.

»Ist er nicht allerliebst, unser kleiner Lord?«, flüsterte der Anwalt Mr. Havisham sanft ins Ohr der stolzen Mutter des Jungen. »Herrlich, nicht wahr? Diese unverstellte kindliche Freude!«

Der sonst sehr sachliche Sachwalter des Grafen zeigte eine Maske der Güte und Milde. In Wahrheit war er dem Halbwüchsigen aus New York, den er selbst aufgespürt und nach England geholt hatte, durchaus nicht mehr so liebevoll zugetan, wie er sich den Anschein gab.

Im Gegenteil.

Die republikanischen Unsitten des kindlichen Amerikaners brachten ihn zur Weißglut. Das Früchtchen hing einem fatalen Irrglauben an und befürwortete die Freiheit und Gleichheit aller Menschen. Der kleine Aufrührer setzte sich munter über Standesgrenzen hinweg. Er scherzte mit den Pächtern und speiste und spielte ungeniert mit den Bediensteten. Sogar das Küchenpersonal kannte er mit Namen. Das alles war schon schlimm genug. Aber je deutlicher der junge Lord seine politischen Ansichten formulierte, desto mehr bangte Mr. Havisham um die Zukunft des Hauses Dorincourt.

Der Jurist sah mit einigem Schrecken voraus, dass der freigebige Cedric Errol sie alle in kürzester Zeit an den Bettelstab bringen würde. Der sonnige Knabe, dem über seinen prätentiösen Goldlocken ein Heiligenschein zu wachsen schien, war überaus gefährlich. Er war anscheinend von dem blödsinnigen Wunsch durchdrungen, alle Menschen glücklich zu machen. Er dachte laut darüber nach, das gräfliche Privatvermögen unter den Bedürftigen zu verteilen. Er überlegte, im Schlosspark Sozialwohnungen und ein Krankenhaus für die Armen zu bauen. Er wollte baldmöglichst die Kinderarbeit in den Bergwerken verbieten! Und dafür Kinderhorte, Spielplätze und sogar Schulen errichten für die bildungsferne Brut der Bauern. Ausgerechnet! Derartige Torheiten würden schwere Einbußen verursachen und Millionen zusätzlicher Mittel verschlingen! Seit Tagen versuchte Mr. Havisham, der seit vierzig Jahren die alltäglichen juristischen Belange des Hauses Dorincourt verantwortete, ohne Erfolg den alten Earl zu einem Gespräch über die alarmierenden Absichten seines Enkels zu gewinnen.

»Ich bin sehr erleichtert«, bekannte die liebliche Mrs. Errol, Cedrics Mama, und riss den Juristen aus seinen düsteren Gedanken. »Ich dachte nämlich, die Abreise seiner Freunde würde mein Herzenskind allzu sehr betrüben. Aber nun bin ich beruhigt.«

Gestern hatten sie Abschied genommen. Dick, der Schuhputzer, sein Bruder Ben Tipton, dessen Sohn Tom Tipton und der Spezereienhändler Mr. Hobbs waren in aller Frühe nach Liverpool aufgebrochen. Von dort aus würde sie der große Ozeandampfer zurück in ihre Heimat nach New York bringen. Seither befand sich der junge Earl in einer melancholischen Stimmung. Aber jetzt und mit der Aussicht auf eines seiner geliebten Baseballspiele kehrte seine ansteckende Fröhlichkeit zurück.

»Herzlieb! Komm – du bist der Werfer. Großvater ist der Fänger, und ich schlage den Ball!«, rief er ungestüm. Der betagte Earl gluckste vor Vergnügen, als er breitbeinig vor dem Kamin in die Hocke ging. Dougal, die riesenhafte Dogge, beobachtete fasziniert, wie Mrs. Errol, die Ceddie stets bei ihrem Kosenamen Herzlieb nannte, am anderen Ende des Saales Aufstellung nahm.

»Großvater, es geht ganz einfach. Wenn Herzlieb den Ball wirft, musst du ihn fangen. Ich aber werde versuchen, das zu verhindern und ihn zuvor ganz weit wegzuschlagen. Dann laufe ich zu Mr. Havisham, dann weiter zu Dougal und zurück zu dir. Hast du das verstanden, liebster Großvater?«

Der Earl nickte, vom Sportsgeist gepackt.

»Mr. Havisham, Sie sind der Umpire«, bestimmte Ceddie.

»Selbstverständlich, Mylord.« Der Advokat deutete eine knappe Verbeugung an und hatte keine Ahnung, was von ihm erwartet wurde. Aber offenbar ging es um das Empire, und das war in Ordnung. Er war zu schlau, um sich anmerken zu lassen, wie unpassend er es fand, von diesem altklugen amerikanischen Dreikäsehoch Befehle entgegenzunehmen.

»Also los, gib dein Bestes, Herzlieb!«, krähte vergnügt Seine junge Herrlichkeit, Lord Cedric Fauntleroy, und schloss die Hände fest um den Schläger.

Mrs. Errol legte sich ordentlich ins Zeug. Mit der Wurfhand lupfte sie den Ball mehrmals spielerisch in die Höhe. Alle Augen waren auf sie gerichtet – auch die des Hundes Dougal, der wie hypnotisiert die Auf- und Abwärtsbewegungen des Lederballes verfolgte. Als Mrs. Errol nun ihren zierlichen Körper nach hinten dehnte, um maximalen Schwung für den Wurf zu sammeln, da rappelte sich der Koloss von einem Hund plötzlich hoch. Und als sie dann mit aller Macht den Ball durch den Raum schleuderte, stürzte sich die löwengroße Dogge mit einem gewaltigen Satz auf die Werferin und riss sie krachend zu Boden. Noch bevor das Wurfgeschoss den Saal durchquert hatte, schlug Mrs. Errol unglücklich mit dem Hinterkopf auf den Steinfußboden und rührte sich nicht mehr.

»Herzlieb!«, kreischte der kleine Lord und verriss in seinem Schrecken den Schläger derart, dass er dem Großvater, der hinter ihm lauerte, die charaktervolle Adlernase brach, bevor der heransausende Baseball den greisen Grafen mit der Wucht eines Schrapnells an der Stirn erwischte und ihn wie einen Baum fällte.

»Hoppla«, entfuhr es Mr. Havisham, der sofort zum gestürzten Earl eilte. Cedric stand wie vom Donner gerührt, den Baseballschläger immer noch fest umklammert, bewegungsunfähig. Unter Schock.

Mrs. Mellon, die ältliche Haushälterin, erschien in ihrem glatten schwarzen Seidenkleid in der Tür und unterdrückte einen Schrei des Entsetzens.

»Hilfe! Wir brauchen einen Arzt!«, rief Mr. Havisham, und die gute Frau stürzte wimmernd hinaus, um Hilfe zu holen. John Arthur Molyneux Errol Graf Dorincourt, der betagte Earl, Schlossherr und Großvater von Dorincourt, lag mit offenen  Augen und einem eher nachdenklichen Gesichtsausdruck auf dem Rücken vor dem Kamin und rührte sich nicht. Mr. Havisham tätschelte vorsichtig die Wange des Lords.

»Mylord?«, fragte er forschend.

»Herzlieb!«, schluchzte Ceddie, der aus seiner Starre erwachte. »Großvater!«

Er rannte zu seiner Mutter, die leblos auf dem Parkett lag, dann zurück zum gefällten Grafen. Beobachtet von dem enormen Hund. Dougal stand schwanzwedelnd mitten im Raum und schien auf eine Belohnung für seine Tat zu warten. Oder wenigstens auf ein Wort der Anerkennung.

Schon huschte rabengleich der zerzauste Doktor Feeble, seit Menschengedenken des Grafen Leibarzt, in den Saal, um sich seinem wichtigsten Patienten zu widmen. Er fühlte den Puls, prüfte die Reflexe, blickte Seiner niedergeschlagenen Herrlichkeit tief in die erloschenen Augen und den halb geöffneten Mund und sagte dann: »Ich möchte nicht die Pferde scheu machen, aber der Earl ist in keiner guten Verfassung.«

»Wie ernst ist es?«, fragte Mr. Havisham.

»Nun ja. Er ist tot.«

»Mein lieber, guter Großvater!«, wimmerte Cedric. »Bitte, guter Doktor, sehen Sie auch nach Herzlieb.«

»Tut mir leid, ich bin kein Kardiologe.«

»Aber meine Mama! Der Hund hat sie umgeworfen.«

Ein Riechfläschchen, das der Doktor immer dabeihatte, tat sein Wunder. Ein Zittern und Zucken ging durch Mrs. Errols schlanken Körper, als der beißende Salmiak in ihre Nase schlich. Sie zog die Stirn kraus, dann schlug sie die Augen auf.

»Wo bin ich?«, fragte sie mit einem ratlosen Lächeln.

»Auf Schloss Dorincort, Ma’am«, antwortete Mr. Havisham.

Sie wollte sich umgehend hochrappeln. »Wir müssen die Wäsche hereinholen. Es beginnt gleich zu regnen.«

»Uh-oh«, kommentierte der Arzt, der sie sanft zurückdrückte.

»Herzlieb! Geht es dir gut?« Ceddie ergriff ihre Hand, die sie jedoch sofort zurückzog, als habe ein Fremder sie berührt.

»Wer ist denn dieser Schornsteinfeger?«

»Aber ich bin es doch, Ceddie, dein liebender Sohn.«

»Ach? Ich habe tatsächlich einen Schornsteinfeger als Sohn?«

Dr. Feeble nahm den Advokaten zur Seite. »Ich fürchte, die Lady hat durch den unglücklichen Sturz ihren Verstand verloren. Oder das Gedächtnis. Womöglich beides.«

»Eine unbegreifliche und schreckliche Tragödie.«

In Mr. Havishams flinkem Advokatengehirn begann in Windeseile ein komplizierter Plan Gestalt anzunehmen, mit welchem aus dem Sportunfall doch noch einen Segen für die Grafschaft, die aristokratische Gesellschaft insgesamt und nicht zuletzt für ihn selbst werden konnte. Er blickte streng auf den kleinen Lord Cedric hinab, der krampfhaft schluchzte, und sagte in mahnendem Ton: »Mein Junge, wir beide müssen uns dringend unterhalten.«

»Moment, Moment« unterbrach Konstabler Paddock seinen wunderlichen Gast im Zirkuskostüm. »Wollen Sie etwa andeuten, der alte Lord Fauntleroy sei Opfer eines verirrten Baseballs geworden?«

»Es war ein Unfall«, sagte der Fremde. »Das müssen Sie mir glauben.«

»Ich war damals noch ein recht unerfahrener Hilfskonstabler. Mein älterer Kollege, Chefkonstabler Bribsy, wurde zum Schloss gerufen und nahm das Protokoll auf. Ich erinnere mich, dass es hieß, der alte Lord sei durch einen unglücklichen Sturz zu Tode gekommen.«

»Was ja in gewisser Weise auch stimmte.«

»Also hat dieser Anwalt Havisham die Wahrheit vertuscht und sich damit strafbar gemacht.«

Tom Tipton ließ traurig den Kopf sinken. »Er tat es gewiss mit den besten Absichten.«

»Und die waren?«

»Er sagte, er wolle mich und meine Mutter retten.«

3. KapitelUm sich selbst und seine geliebte Mutter zu retten, muss Cedric eine schwere Entscheidung treffen.

Ich habe beschlossen, dich und deine Mutter zu retten und vor sehr unangenehmen Dingen in Schutz zu nehmen«, erklärte feierlich der Anwalt, selbst ein wenig gerührt von seinem Edelmut. Cedric folgte ihm quer durch den Raum und legte sogleich zutraulich seine Hand auf das Knie des Sachwalters, als dieser sich auf ebenjenem stattlichen Lehnstuhl niederließ, in dem der so tragisch verstorbene Earl oft und gerne gesessen hatte, um seine Gicht zu pflegen.

Mr. Havisham blickte äußerst finster drein.

»Sicherlich wird alles wieder gut«, sagte der Knabe, dessen unerschütterliches Sonnengemüt auch in dieser Situation keine Trübnis und kein Verzagen zuließ. »Alles wird doch immer wieder gut. Nicht wahr, Mr. Havisham?«.

»Gewiss, gewiss«, sagte der Sachwalter geistesabwesend. »Aber zuerst musst du dir über eines im Klaren sein: Deine Mutter wird für sehr lange Zeit ins Gefängnis kommen. Vielleicht droht ihr sogar Schlimmeres.«

Sofort schossen Cedric wieder die Tränen in die Augen.

»Was? Aber warum denn? Sie hat doch nichts Unrechtes getan.«

»Ich fürchte, der Richter und die Geschworenen werden das anders sehen und verlangen, dass sie für den feigen Mord am Lord … nun ja … an den Galgen kommt.«

»Wieso denn Mord?« Cedric riss fassungslos seine strahlend blauen Augen auf. »Sie hat doch nur Ball gespielt. Das war ein Unfall!«

»Das macht aber keinen Unterschied«, erklärte Mr. Havisham scheinheilig. »Unsere Justiz ist schon oft sehr hart mit Ausländern ins Gericht gegangen, die Vertreter der hiesigen Aristokratie vom Leben zum Tode beförderten. Insbesondere ihr Amerikaner habt da einen schweren Stand. Daher wirst möglicherweise auch du in große Schwierigkeiten geraten.«

»Aber ich wollte doch nur spielen!«

»Das sagen sie alle. Aber was passiert, wenn sich Zeugen finden, die gehört haben, was du deinem Großvater zugerufen hast?«

»Was habe ich denn gerufen?«

Havisham machte einen ganz schmalen Mund. »Nun, du hast gerufen: Das wird ein Mordsspaß. Daraus könnte ein geschickter Staatsanwalt einen Vorsatz herleiten. Und ein Motiv habt ihr auch: Der Graf musste sterben, damit ihr sein Vermögen bekommt. Ich fürchte, so leid es mir tut, dann landet ihr beide am Galgen.«

Cedric blickte in den schwärzesten Abgrund seines jungen, bisher so sorgenfreien Lebens.

»Herzlieb und ich am Galgen?« Er schluckte schwer, als spüre er bereits den Strick um seinen Hals.

»Das steht leider zu befürchten.« Der Advokat zuckte bedauernd die Schultern. »Es sei denn …«

»Was?«

»Ach, nichts. Das ist viel zu riskant und würde vermutlich auch nicht funktionieren.«

»Aber so reden Sie doch, Mr. Havisham! Ich würde alles tun, um meine geliebte Mutter zu retten. Alles. Egal, was mit mir passiert. Wenn nur sie in Sicherheit ist.«

Der ausgefuchste Anwalt wiegte nachdenklich sein Haupt, als wäge er im Geiste die Chancen und Risiken ab. Dabei wusste er längst, mit welch diabolischem Vorhaben er diesen Jungen um sein Glück und sich selbst in den Besitz unschätzbarer Reichtümer bringen konnte.

»Also, hier ist mein Plan. Du musst heute noch verschwinden, und du darfst niemals wieder nach Dorincourt zurückkommen. Niemals! Alles andere überlasse mir. Ich kann es so regeln, dass deiner Mama nichts Böses widerfährt. Sie muss allerdings hier auf dem Schloss und unter meiner Aufsicht und unter meinem Schutz bleiben. Dann wird ihr nichts geschehen. Du hast mein Wort.«

Das Herz des Jungen sank wie ein Stein in einen schwarzen Teich, und die Hoffnung, die eben noch seine Augen erstrahlen ließ, erlosch schlagartig.

»Ich soll allein fortgehen? Aber wohin denn?«

»Wie wäre es mit London?«, schlug Mr. Havisham listig vor.

»Aber Herzlieb …«, sagte Cedric niedergeschlagen. »Werde ich sie denn niemals wiedersehen?«

Der Advokat verdrehte ungeduldig die Augen. »Junge, sei doch vernünftig! Sie hält dich für einen Schornsteinfeger.«

Cedric schritt mit hängenden Schultern durch den Raum zurück zu seiner Mutter. Mrs. Errol hockte, leise vor sich hin summend, auf dem Parkett neben der Dogge Dougal, die sie skeptisch von der Seite musterte.

»Und Sie?«, fragte Mrs. Errol soeben den Hund. »Sind Sie denn verheiratet?«

»Herzlieb, mein Herzlieb«, wisperte Cedric. Tränen ertränkten seine himmelblauen Pupillen. »Alles ist meine Schuld. Aber ich will es wiedergutmachen. Ich verspreche es.«

Seine Mutter blickte ihn nicht an, sondern summte weiter verträumt vor sich hin.

»Wir dürfen nun keine Zeit verlieren. Doktor Feeble muss bald die Polizei verständigen«, drängte Mr. Havisham.

Er betätigte die Klingel, die seinem Kutscher Samuel das Zeichen zum Aufbruch gab, und ergriff Cedrics Hand. Er brachte ihn weg von der verwirrten Frau und ins Treppenhaus, um ihn so schnell wie möglich loszuwerden. Denn inzwischen nahm sein Plan immer kühnere Formen an. Jetzt kam es vor allem darauf an, dass er unverzüglich und ohne Rücksicht handelte.

»Du darfst niemandem jemals deinen richtigen Namen und deine Herkunft anvertrauen«, bläute er dem Jungen ein, der willenlos hinter ihm hertrottete. »Ab heute führst du den Namen Tom Tipton. Hast du das verstanden?«

Der kleine Lord machte große Augen. Diesen Namen kannte er!

»Aber hieß nicht so der andere Junge? Der Sohn von Dicks Bruder Ben? Der mit dieser unangenehmen lauten Mutter, der angeblich der wahre Erbe von Dorincourt war und der dann so plötzlich wieder abgereist ist?«

»Genau. Und von jetzt an wirst du ebenso heißen. Glaube mir, nur so kannst du deine Mama retten.«

»Aber ist das nicht Diebstahl, wenn ich einfach seinen Namen annehme?« Cedric, der eine tief sitzende Abneigung gegen alles Unrechte und Ungesetzliche hatte, war entsetzt. Noch nie in seinem Leben hatte er etwas gestohlen. Und wenn er sich nun diesen Namen aneignete – wie sollte sich der fremde Junge dann bloß nennen?

»Ach, papperlapapp«, wies ihn Mr Havisham zurecht, als sie die Empfangshalle des Schlosses erreicht hatten. Er ergriff die Schultern des kleinen Lords und drückte fest zu, während er ihm tief und beschwörend in die Augen blickte.

»Hier hast du dreißig Schilling. Das ist alles, was ich besitze«, log er. »Du besteigst den nächsten Zug nach London. Dort suchst du Jeremiah Wickham auf, der in Bethnal Green wohnt. Er ist ein ehrenwerter Mann und wird dir sicherlich helfen.« Er kritzelte ein paar Worte auf ein Blatt Papier, faltete es zusammen und steckte es in Ceddies Rocktasche. »Gib ihm diesen Brief. Aber rede mit niemandem sonst. Und vor allem rede nicht mit der Polizei.«

Cedric nickte tapfer.

»Ein unbedachtes Wort zu irgendwem – und du und deine Mutter landet am Galgen. Denk nur immer daran.«

Der Advokat öffnete die Haustür und schob den Jungen hinaus in die eisige Stille des Wintertages. Dann besann er sich und öffnete noch einmal, um ihm hinterherzurufen: »Und pass auf, dass du dich nicht erkältest.«

Nach einer Weile verkündeten das Hufklappern und Kieselknirschen vor dem Tor die Ankunft seines Landauers. Mr. Havisham legte den warmen Überrock an, nahm Stock und Hut und bestieg eilig das Vehikel.

»Samuel, bringen Sie mich zum Telegrafenamt«, rief er dem Kutscher zu. »Ich muss eine wichtige Depesche schicken.«

Das Gefährt setzte sich mit einem Ruck in Bewegung, um jedoch nach nur wenigen Yards die Fahrt plötzlich wieder zu verlangsamen.

»Was ist denn?«, rief der Advokat ungeduldig.

»Sir, da spaziert der junge Lord Fauntleroy mutterseelenallein die Allee hinunter. Er scheint zu frieren. Wollen wir ihn nicht ein Stückchen mitnehmen?«

»Keine Zeit!« Mr. Havisham hämmerte mit dem Knauf seines Stockes an die Kabinendecke. »Los, Mann. Es geht um jede Sekunde.«

Mit höchster Geschwindigkeit flog die Kutsche über die Allee, die durch den weitläufigen Schlosspark führte. Eine puderzarte Schneeschicht bedeckte die Rasenflächen, auf denen die Hasen und Rebhühner tollten, unempfindlich gegen den Frost. In einiger Entfernung stand das Hochwild, und aus den Nüstern atmete es kleine Wolken.

Es war ein langer Weg bis zum Tor, und der kleine Junge, der nun Tom Tipton hieß, setzte tapfer einen Fuß vor den anderen. Dr. Feeble, der etwas später abreiste und von dem hinterlistigen Plan des Advokaten keine Kenntnis hatte, nahm den schlotternden und für diesen abenteuerlichen Ausflug völlig falsch ausstaffierten Knaben in seinem Brougham bis ins Dorf mit, konnte aber nichts aus ihm herausbringen.

»Wie komme ich wohl von hier aus nach London?«, fragte der traurige falsche Tom.

»Was wollt Ihr denn dort, edler Herr?«

Jegliches Lügen war dem kleinen Lord bis zu diesem Tag fremd gewesen. Immer hatte er nur die Wahrheit gesagt, und niemals hatte er etwas verborgen oder geheim gehalten. An diesem neuen Wendepunkt in seinem jungen Leben würde er wohl lernen müssen, anders als bisher mit der Wahrheit umzugehen.

»Dringende Geschäfte …«, murmelte er. Was sich aus dem Munde eines Achtjährigen nicht gerade glaubhaft anhörte. Aber Dr. Feeble kannte die britischen Aristokraten gut genug, um zu wissen, dass sie sehr früh reiften und schnell alterten.

»Verstehe«, sagte er. »Wenn Eure Lordschaft es wünschen, kann mein Kutscher Euch gerne zum Bahnhof nach Swindon bringen. Von dort aus geht am Nachmittag der nächste Zug in die Hauptstadt.«

»Das wäre furchtbar nett«, sagte der falsche Tom Tipton und nickte erfreut. Dies war das letzte Mal für lange Zeit, dass jemand ein freundliches und ehrerbietiges Wort an ihn richtete.

Mr. Havisham telegrafierte unterdessen an einen zwielichtigen Privatdetektiv namens Mumford Barnaby den dringenden Auftrag, sofort nach Liverpool zu eilen und drei Amerikaner namens Mr. Hobbs und Dick, den Schuhputzer, sowie dessen Bruder Ben ausfindig zu machen. In Begleitung dieser Männer reiste der junge Tom Tipton. Er war der Sohn des Landarbeiters Ben Tipton und des Barmädchens Minna, die sich beinahe das Erbe von Dorincourt erschlichen hätte. Nachdem dieses Vorhaben misslungen war, war Minna abgehauen und hatte den Jungen kurzerhand bei seinem verdatterten Vater Ben zurückgelassen. Detektiv Barnaby aber sollte diesen Knaben nun entführen, bevor er auf den Dampfer nach New York gelangte, und ihn zurück nach Dorincourt schaffen.

Der Auftrag erwies sich als das reinste Kinderspiel, denn in dem heillosen Gedrängel beim Einschiffen fiel dem Vater das Verschwinden seines so unverhofft gewonnenen Sohnes gar nicht weiter auf. Er bemerkte den Verlust erst, als sie schon zehn Meilen auf See waren, und dann ließ er die ganze Sache lieber auf sich beruhen. Denn die Zeiten waren hart, und er hatte in seinem Landarbeiterleben gar keinen Platz für einen Sohn. Und dieser Bengel Tom war ihm sowieso nicht sonderlich sympathisch gewesen. Er erinnerte ihn viel zu sehr an seine Exfrau, die streitsüchtige Minna. Und die wollte er lieber vergessen.

Zurück im Schloss, wurde Tom von Mr. Havisham in Empfang genommen und neu eingekleidet. Schwarzer Rock, runder Hut, rote Samtkrawatte.

»Ich sehe ja aus wie ein blöder Lackaffe«, mokierte sich der undankbare kleine Rüpel. Seine Mutter, die sittenlose Bardame, hatte es offenbar versäumt, ihm auch nur die elementarsten Regeln der Höflichkeit beizubringen.

»Halt gefälligst deine Klappe«, wies ihn Mr. Havisham zurecht. »Ich stelle dir jetzt deine neue Mutter vor. Und wehe, du sagst auch nur ein falsches Wort!«

Dem Personal erklärte der Sachwalter des verstorbenen Grafen, dass die Erbschaft beinahe durch einen Irrtum an den falschen Jungen gefallen sei. Aber nun habe endlich alles seine amtlich bestätigte Richtigkeit.

»So ein Hin und Her …«, wunderte sich Thomas, der Dienstälteste und des verstorbenen Grafen treuer Leibdiener. Und obwohl alle den engelsgleichen Cedric in ihr Herz geschlossen hatten und seine plötzliche Abreise bedauerten, war das Schlosspersonal im Grunde doch erleichtert, dass der allseits geschätzte Mr. Havisham die Dinge nach dem plötzlichen Ableben des Grafen regelte und dafür sorgte, dass jeder seine Anstellung behalten durfte und sogar noch eine kleine Sonderzahlung bekam.

»Und du tust von nun an nur noch, was ich dir sage«, herrschte der Advokat den kleinen Tom an, als die beiden sich Mrs. Errol näherten. Sie saß mit leerem Blick und einer großen Beule am Hinterkopf vor dem Kamin.

»Na gut«, maulte der Knabe.

»Mylady«, flüsterte Mr. Havisham ölig. »Hier ist Ihr lieber und hochbegabter Sohn Cedric, Lord Fauntleroy, der neue Earl von Dorincourt. Sie erinnern sich gewiss. Er möchte Ihnen gerne einen guten Tag wünschen.«

Er versetzte dem Jungen einen kleinen Stoß, dass dieser nach vorn stolperte.

»’n Tach …«, nuschelte der Bursche. Als ihn der Advokat noch einmal knuffte, diesmal heftiger, riss er sich endlich zusammen. »Guten Tag, allerliebste Frau Mama.«

Mrs. Errol lächelte abwesend. »Guten Tag, Cedric, mein lieber Junge.« Dann schaute sie blinzelnd zu Mr. Havisham auf. »Wo ist denn nur dieser nette kleine Schornsteinfeger? Ich fand ihn recht süß …«

»Ein Schornsteinfeger, Mylady?« Mr. Havisham blickte ratlos drein. »Das haben Sie sicherlich nur geträumt. Dies hier ist Ihr einziger Sohn, der liebenswürdige Cedric. Erkennen Sie ihn nicht?«

»Doch, doch, gewiss …« Sie blinzelte irritiert. »Hallo, Ceddie.«

»Hallo, Mama. Ich habe dich lieb«, sagte der Bursche, und Mr. Havisham nickte begeistert. Der falsche Jungherr war tatsächlich um einiges gewitzter, als es den Anschein hatte. Mit ihm würde man sicherlich gut zusammenarbeiten können.

»Das ist ja eine recht wilde Geschichte«, unterbrach der Konstabler Paddock die Erzählung seines weihnachtlichen Besuchers. »Und wir hier im Dorf haben nichts von alledem gewusst. Ich erinnere mich, dass ich seinerzeit auf der Beerdigung des alten Earls von Dorincourt war. Es gab ganz ausgezeichneten Streuselkuchen und köstlichen Tee. Über einen falschen Erben oder eine verwirrte Mutter wurde überhaupt nicht gesprochen.«

»Sehen Sie – das gehörte alles zum Plan des klugen Mr. Havisham«, erklärte Tom Tipton, der sich zum Aufwärmen neben Felicitas vor dem Kamin niedergelassen hatte. Seinen lustigen Hut hatte er mit einem kunstvollen Wurf an die Garderobe verfrachtet. »So sorgte er dafür, dass niemand einen Verdacht gegen meine liebe Mutter schöpfte und auch ich ohne Mordanklage davonkam.«

Paddock stutzte und wechselte abrupt die Sitzposition, weil sein träger Darm ihn plötzlich zwickte.

»Aber dieser Mann hat Sie ausgebootet und einen fremden Jungen auf Ihren Platz gesetzt. Einen, der log wie gedruckt und den er leicht kontrollieren konnte. Ich sehe nicht, wo das besonders nett sein sollte.«

Der junge Mr. Tipton lächelte entwaffnend.

»Sehen Sie mich an. Ich bin gesund, habe viele Freunde und freue mich des Lebens. Anderen ist es viel schlimmer ergangen. Denken Sie nur mal an den armen Mister Froggat oder auch Inspector Higgins …«

Der Konstabler horchte kurz in sich hinein und schüttelte den Kopf.

»Nie von den beiden gehört. Was war denn mit ihnen?«

»Nun, ich hatte zwar strikte Order, nicht mit der Polizei zu sprechen. Aber als ich spät abends am Bahnhof in Paddington ankam, fragte ich doch einen Polizisten, wie ich am schnellsten nach Bethnal Green zu Mr. Jeremiah Wickham kommen könnte. Der Polizist hat sich sehr gewundert …«

4. KapitelDer vormalige kleine Lord erreicht London, wo er erste Erfahrungen sammelt und wichtige Bekanntschaften macht.

Der Polizist wunderte sich sehr und blickte hinunter auf den kleinen Jungen, der erbarmungswürdig mit den Zähnen klapperte.

»Sag’ s noch mal! Wen suchst du, du kleine Wanze?«

Der ehemalige kleine Lord beschloss, diese Beleidigung zu überhören, weil sie gewiss nicht beleidigend gemeint war, und antwortete: »Ich suche Mr. Jeremiah Wickham in Bethnal Green. Er ist ein ehrenwerter Mann, der mir weiterhelfen wird.«

»So, so. Und? Hast du denn diesen ehrenwerten Mann schon einmal gesehen?«

»Nein, Sir. Aber ich habe einen Brief für ihn.«

»Her damit!«

Der Beamte streckte seine Hand aus, die so groß war wie eine Bratpfanne. Cedric, der immer noch davon ausging, dass jeder Mensch auf dieser Welt im Grunde wohlmeinend und sein Freund sei, holte den säuberlich zusammengefalteten Zettel, den Mr. Havisham für ihn geschrieben hatte, aus der Rocktasche und händigte ihn dem Beamten aus. Dieser las mit umwölkter Stirn:

„Zickenbacke Wickenwurz, Protzverzottel Bockfurz.

Quackebacke, Schnutenpute, Heckenhacke. Angelrute.«

»Aha«, sagte er frustriert. »Reimsprache, Geheimsprache.«

Im von Bandenkriminalität und Gewaltverbrechen beherrschten Londoner Osten benutzten gewisse Elemente einen gereimten Code, den Außenstehende nicht verstehen konnten.

»Wie bitte?«, fragte Cedric.

»Nichts für dich, du halbe Portion. Los! Mitkommen! Wie heißt du überhaupt?«

Es kostete einige Überwindung. Aber als er daran dachte, was ihm und der armen Herzblieb blühen würde, wenn er versagte, brachte er die Lüge doch ganz flüssig heraus:

»Mein Name ist Tom Tipton, Sir.«

Der Bahnhofspolizist packte und zerrte ihn hinter sich her wie ein Gepäckstück. Keiner beachtete sie. Paddington Station war bevölkert von Reisenden, die ihre Feiertage in London verbracht hatten. Männer in schwarzen Anzügen mit Zylinderhüten und Frauen in wallenden Kleidern. Gepäckträger bahnten sich ihren Weg, Schaffner riefen und pfiffen, fliegende Händler boten Aalsuppe und Muffins an. Wen kümmerte in all der Betriebsamkeit schon ein Polizist, der einen weiteren kleinen Taschendieb zur Wache schleppte? Dort angekommen, schickte er sofort einen Laufburschen los. Cedric vermutete, dass dieser nach dem ehrenwerten Mr. Wickham suchen sollte, und saß eine Weile ganz still. Dann hielt er es nicht länger aus. Er konnte es noch nie ertragen, wenn zu viel Zeit verging, ohne dass jemand etwas Nettes sagte.

»Sie haben aber eine sehr gemütliche Amtsstube. Sicher haben es die Ganoven in dieser Stadt arg schwer mit Ihnen als Gesetzeshüter.«

»Halt den Rand!«, beschied ihn der Polizist.

Cedric, der solche rüden Umgangsformen nicht gewohnt war, plauderte munter weiter.

»In unserer Straße in New York hatten wir auch einen sehr dicken Polizisten, Mr. Kelly. Er kam aus Irland. Sind Sie auch von dort?«

»New York, so, so.« Ein Amerikaner also. Auch das noch. Die Angelegenheit wurde immer unübersichtlicher. Womöglich war er hier einem ganz großen internationalen Verbrechersyndikat auf der Spur.

»Dick und Mr. Hobbs konnten Mr. Kelly gut leiden.«

»Das kann ich mir lebhaft vorstellen«, schnaufte der Wachtmeister. Diese korrupten irischen Streifenpolizisten waren allen aufrechten Londoner Bobbys zutiefst verhasst. Dick und Mr. Hobbs, das waren sicherlich zwei ganz üble Figuren. Aber für solche Sachen war Detective Inspector Nathaniel Higgins zuständig, nach dem er geschickt hatte. Dieser gehörte dem Stab von Sonderermittlern der städtischen Polizei an, die viele ihrer Adresse wegen Scotland Yard nannten.

Wie aufs Stichwort betrat der hochgewachsene schneidige Gentleman die Wache. Seine Nase war sehr scharf und saß etwas verloren in einem breiten, strengen Gesicht, das von einem wallenden Backenbart eingerahmt wurde. Seine Augen waren dunkel und wachsam. Sein grauer Überrock war trotz der Kälte geöffnet, darunter trug er eine karierte dunkle Weste mit einer massiven Uhrkette.

»Constable Buckett?«

»Das bin ich!«

»Ich hoffe, Sie haben einen guten Grund, mich mitten in der Nacht auf den Bahnhof zu bestellen.«

Der Wachtmeister nickte bedeutungsvoll in Richtung des Jungen, der auf der Sünderbank hockte und mit seinen Füßen nicht einmal den Boden erreichte.

»Sag noch mal, wen du suchst!«, forderte er den Kleinen auf.

»Den ehrenwerten Mr. Jeremiah Wickham«.

Higgins horchte auf, seine wachsamen Augen begannen zu leuchten.

»Dieses Schreiben hier hatte der Knirps bei sich.«

Bahnhofspolizist Buckett händigte dem Zivilermittler den Brief aus, den dieser hoch konzentriert studierte. Als er damit fertig war, änderte sich sein Verhalten. War er eben noch unfreundlich, so schien er jetzt versöhnt. Buckett hätte zu gerne gewusst, was in dem gereimten Geheimschreiben stand, aber er wagte nicht zu fragen.

»Danke sehr, Constable. Ab hier übernehme ich. Und du, mein Junge …«

Cedric schaute erwartungsvoll zu ihm auf: »Ja, Sir?«.

»Du kommst jetzt mit mir. Ich war zufälligerweise gerade auf dem Weg nach Bethnal Green. Ich kann dich dorthin mitnehmen.«

»Danke vielmals, der Herr. Ich weiß Ihre Hilfsbereitschaft sehr zu schätzen.«

Es war Cedrics erster Ausflug nach London. Die Stadt war überwältigend. New York war dagegen ein verschlafenes Nest. Selbst zu so später Stunde waren die Straßen belebt und laut. Im gelben Licht der Gaslaternen herrschte ein Gewimmel wie in einem riesigen Ameisenhaufen. Der schlanke Brougham des backenbärtigen Mannes kam zwischen all den Kutschen, Pferdegespannen und menschlichen Leibern manchmal kaum voran. Immer wieder stieß der Kutscher deftige Flüche in die Nacht hinaus. Vor allem dann, wenn zerlumpte Bettler, Betrunkene oder schwer beladene Straßenhändler ihm den Weg versperrten oder ohne Vorwarnung auf die Fahrbahn stolperten.

»Ich finde es kolossal anständig von Ihnen, Sir, dass Sie mich in ihrer schönen Kutsche mitnehmen«, sagte Ceddie etwas steif. »Ich fürchte, ich hätte mich in dieser Stadt glatt verlaufen.«

Higgins lächelte nachsichtig. »Keine Ursache. Nun sag doch mal, junger Mann – was genau willst du denn von dem ehrenwerten Mr. Wickham?«

Cedric erstarrte und fühlte, wie ihm abwechselnd heiß und kalt wurde. Auf keinen Fall durfte er die wahren Umstände dieser Reise preisgeben. Schon gar nicht gegenüber einem Polizisten. Aber drohte ihm denn nicht auch eine Gefängnisstrafe, wenn er vorsätzlich einen Beamten belog? Er räusperte sich.

»Ich bin Amerikaner und fremd in diesem Lande. Da hoffte ich, dass mir der gute Mann vielleicht eine Anstellung geben könnte«, erklärte er gewichtig. »Ich möchte nämlich hier ein neues Leben beginnen.«

»Verstehe«, sagte Mr. Higgins. »Und wer hat dir diesen Brief geschrieben?«

»Ach … der … Brief. Wer schrieb ihn nur?«, stotterte der Junge. Sein Kopf wurde puterrot, was dank des schneeweißen Kragens auch im Halbdunkel der Kutschenkabine nicht verborgen bleiben konnte. »Tut mir sehr leid. Ich habe seinen Namen vergessen. Es war jedenfalls ein sehr netter Herr.«

»Tatsächlich …?«

Higgins beschloss, den Jungen nicht weiter zu bedrängen, denn er hatte längst erkannt, dass auf diese Art nichts zu erreichen war. Er musste geduldig sein und ausdauernd. Nur dann konnte er sich Hoffnungen machen, das Geheimnis des kleinen Tom Tipton zu lüften. Der erfahrene Zivilermittler beobachtete seinen Gast genau. Dieser überaus angenehme kleine Knabe war kein Gassenflegel, wie man sie üblicherweise in dieser Gegend aufgriff. Er hatte saubere Fingernägel, gute Zähne, Hände ohne Schwielen und frisierte Haare. Seine Kleidung war vornehm, er hatte anständige Manieren und befleißigte sich einer zivilisierten Sprache. Vielleicht bot sich hier endlich die Chance, auf die Higgins lange vergebens gewartet hatte. Er suchte schon seit Jahren nach einem Zugang zur verschlossenen Welt des gefährlichsten Gangsterbosses von ganz London: des quecksilberhaften, listenreichen Jeremiah Wickham. Niemand kannte seine Adresse, niemand wusste, wie er aussah. Aber in allen schmutzigen Geschäften hatte er seine Finger. Soweit der Inspector den komplizierten Reimbrief verstanden hatte, empfahl der Absender diesen Ausreißer als neues Mitglied in einer von Wickhams Straßenbanden. Zudem ging es darin um ein ganz großes Ding, das geplant war. Darauf deutete der Begriff Protzverzottel hin. Was aber mit Quackenbacke und Heckenhacke gemeint war, vermochte nicht einmal Detective Inspector Higgins zu erraten. Aber er hoffte, dass er diesen Jungen benutzen konnte, um endlich dem kriminellen Schrecken im Osten der Stadt ein Ende zu setzen.

Immer holpriger wurden die Straßen, immer schummriger wurde das Licht. Verdächtige Gestalten, in Lumpen gewickelt, drückten sich in Hauseingängen herum. Lose Frauenzimmer lehnten rauchend an den Wänden. Als die Kutsche einmal halten musste, stolperte ein Trunkenbold aus einer Spelunke, ein zweiter setzte ihm fluchend nach. Direkt vor Ceddies Fenster lieferten sie sich einen Faustkampf. Mit weit aufgerissenen Augen sah der Junge zu, wie sich die beiden rauften, dann Abschied nahmen und in verschiedene Richtungen humpelten.

»Hier trennen sich unsere Wege«, sagte der Detektiv. »Geh noch hundert Yards die Straße entlang und bieg am Gemischtwarenladen rechts in die Gasse. Da musst du dann noch mal jemanden fragen. Irgendwo dort soll jedenfalls Gerüchten zufolge dieser Mr. Wickham zu Hause sein.«

»Danke, Sir. Es war mir ein großes Vergnügen, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben«, sagte der kleine Lord. Es war deutlich zu erkennen, dass es ihm ein noch viel größeres Vergnügen gewesen wäre, wenn er die sichere und warme Kutschenkabine nicht hätte verlassen müssen. Zumindest nicht in einer so finsteren, übel riechenden Gegend.

»Wie es der Zufall will, sitze ich jeden ersten Dienstag im Monat abends in diesem Pub dort, der The Kings Arms heißt. Da trinke ich mein Bierchen. Wenn du mich wiedersehen und ein bisschen plaudern möchtest, dann leiste mir doch einfach mal dort Gesellschaft.«

Klug, dachte Higgins, ich bin wirklich ziemlich klug.

»Das ist kolossal freundlich von Ihnen«, sagte Cedric, der ja nun offiziell Tom hieß. »Sicherlich komme ich gerne auf Ihre Einladung zurück, Sir.«

Er reichte dem Polizeibeamten förmlich seine kleine weiche Hand und stieg aus. Draußen empfing ihn die bittere Eiseskälte und der Gestank von Fischabfällen, Hafenschlamm und Infektionskrankheiten. Er hörte wilde Seemannsgesänge, irgendwo wurde ein Akkordeon misshandelt. Weiber kreischten, Männer grölten, Kinder wimmerten.

»Das ist aber nicht die feine englische Art«, sagte der Konstabler Paddock mit einiger Empörung. »Man kann doch nicht ein ortsfremdes Kind mitten in der Nacht in so einer wilden Gegend absetzen!«

»Warum denn nicht? Zu diesem Zeitpunkt kannte er mich doch gar nicht und wusste nicht, was alles noch geschehen würde«, erklärte der junge Mann.

»Sie haben ihn also wiedergesehen!«

»Selbstverständlich. Wir wurden fast so etwas wie Freunde. Aber zuvor lernte ich noch eine Menge anderer Menschen kennen. Sie waren zwar nicht alle sofort nett zu mir. Aber je näher wir uns kamen, desto liebenswürdiger wurde der Umgang.«

»Hatten Sie denn gar keine Angst? Ich wäre heute noch vorsichtig, wenn ich allein in so eine Gegend käme.«

Tom Tipton schüttelte den Kopf.

»Ich hatte ja für eine ganze Weile gedacht, ich sei ein echter Fauntleroy. Und diese Leute, das hatte der alte Earl immer gesagt, diese Leute kannten keine Angst …«

5. KapitelDer Junge findet ein neues Zuhause und Arbeit im Krämerladen des Charlie Froggat.

Nun bin ich zwar kein echter Fauntleroy, dachte er tapfer. Aber ich wäre unwürdig, auch nur ein falscher Fauntleroy gewesen zu sein, wenn ich nun Angst verspüren oder gar zeigen würde …

Er blickte sich um und schritt dann beherzt hundert Yards vorwärts ins tückische Halbdunkel, als marschiere er unbeschwert durch einen Ziergarten. Der Gedanke verschaffte ihm eine gewisse Erleichterung, dass es auch hier, in diesem Stadtteil, einen Gemischtwarenhandel gab. Daheim in New York war schließlich sein bester Freund der Händler Mr. Hobbs gewesen. Wie oft hatte er auf den Biskuitkisten oder Apfeltonnen in Hobbs’ Spezereienhandel gehockt und tiefsinnige Gespräche und politische Diskussionen über Demokraten und Aristokraten geführt. Mit etwas Glück könnte vielleicht auch der hiesige Händler sein Freund und Lehrmeister werden.

Auf den ersten Blick jedoch hatte der Krämer nicht einmal eine entfernte Ähnlichkeit mit Mr. Hobbs. Eine menschliche Vogelscheuche stand vorgebeugt über einem offenen Kohleofen und rieb sich die Hände über der Glut. Der hagere Mann trug einen mottenzerfressenen schwarzen Mantel, darunter die unvermeidliche Krämerschürze und eine graue Melone auf dem Kopf.

»Guten Abend, braver Mann. Sind Sie zufällig Jeremiah Wickham?«

Der Händler, Träger einer enormen Hakennase, musterte den verdächtig gut gekleideten Fremdling wie einen Paradiesvogel, der plötzlich auf einen Misthaufen herniedergeflattert war. Jedes einzelne Haar seiner Augenbrauen schien in einer anderen Richtung abzustehen, was ihm ein liebenswert kauziges Aussehen hätte verleihen könnten. Aber da seine grauen Augen mitleidlos und leblos waren wie die eines Reptils, erinnerte er mehr an einen bösen Geist.

»Die Auskunft kostet fünf Schilling«, keifte er.

»Selbstverständlich.« Der Junge fischte in seiner Hosentasche nach den Münzen, die ihm Mr. Havisham zugesteckt hatte, und zählte dem schrägen Schrat den gewünschten Betrag in seine knochige Hand, die in fingerlosen Handschuhen steckte.

»Sagte ich fünf? Ich meinte natürlich zehn Schilling.« Fordernd und gierig wurde der Blick unter dem Gestrüpp seiner Brauen. Aber Cedric legte ohne Zögern noch einmal fünf Münzen drauf. Zufrieden ließ der Alte das Geld in seiner Schürze verschwinden und räusperte sich bedeutsam. Dann sagte er: »Nein. Bin ich nicht.«

»Danke sehr. Können Sie mir dann vielleicht freundlicherweise sagen, wo ich den ehrenwerten Mr. Jeremiah Wickham finde?«

Nun grinste der Krämer auf den ortsfremden Bengel hinunter wie ein Raubvogel auf seine Beute. »Die Auskunft kostet zehn Schilling.«

»Der alte Charlie Froggat wird Euch noch den letzten Penny abluchsen, wenn Ihr nicht aufpasst, feiner junger Herr«, sagte ein fröhliches Stimmchen. Es gehörte einem Mädchen mit langen strohigen Zöpfen. Die Kleine, die etwa in seinem Alter sein mochte, trug ein viel zu großes weißes Leibchen über ihrem kleidähnlichen Wollsack.

»Verschwinde, du Drecksluder!«, quakte Charlie Froggat zornig. Er schlug sogar nach ihr, aber sie wich ihm gekonnt aus, wobei sie kicherte.

»Wie heißt du denn?«, fragte Cedric.

»Ich bin Emma.«

»Sehr erfreut, Emma. Ich bin Lord … äh … Ced… nein, nein, Tom.«

»Komischer Name. Lodähsedneineitom. Ihr seid wohl nicht von hier, feiner junger Herr?«

»Nein. Ich sehe übrigens nur so aus. Ich bin gar kein feiner Herr. Nenn mich doch ruhig Tom.«

»Gerne.« Sie blinzelte ihn nett und etwas kokett an.

Der Krämer wurde zornig. »Haben wir’ s bald, ihr verlausten Spickelplötzen?«

»Ich muss jetzt leider dringend zur Chorprobe«, sagte Emma mit Bedauern. »Es war nett, Sie kennengelernt zu haben. Leben Sie wohl, Meister Tom«. Sie schien ihn wirklich auf Anhieb gernzuhaben, denn sie umarmte ihn herzlich. Cedric wusste nicht, wie ihm geschah, aber er war froh um jede Geste der Freundlichkeit und dankbar für ein bisschen menschliche Wärme. Als das Mädchen in der Dunkelheit der Gasse verschwunden war, kicherte der böse Charlie Froggat schadenfroh. Dann spuckte er in hohem Bogen aus.

»Dummkopf!«, grunzte er.

Als Cedric in seine Hosentasche griff, wusste er, was Froggat meinte. Seine neue Freundin hatte ihm beim Abschied das restliche Geld stibitzt.

»Na so was! Aber wenigstens ist mein Brief noch da«, freute sich Cedric.

»Welcher Brief?« Sofort waren wieder die Neugier und die Gier des unfreundlichen Krämers geweckt.

»Ein Empfehlungsschreiben. Aber dummerweise in einer Fremdsprache verfasst.«

»Los, herzeigen!«, verlangte der Händler, und als Cedric ihm das Papier ausgehändigt hatte, holte dieser einen Zwicker aus den Tiefen seines schmuddeligen Mantels hervor, den er auf seine Hakennase pflanzte, um zu lesen.

»So, so … haha … hmhm …«, murmelte er. »Aha. Nun ja. Schlechte Nachricht, du kleiner Schnösel. Der ehrwürdige Jeremiah Wickham ist viel zu mächtig, um sich mit menschlichem Abschaum wie dir abzugeben.«

»Oh, das ist aber wirklich schade«, flüsterte der Junge, denn nun wusste er gar nicht mehr, wohin er gehen sollte.

Froggat ließ ihn eine Weile in seiner Verzweiflung schmoren. Dann trompetete er: »Aber weil ich nun mal ein gutes Herz habe und ein unverbesserlicher Menschenfreund bin, will ich dir helfen.«

»Danke, Sir. Das ist sehr freundlich von Ihnen.« Cedric war erfreut. Der Geschäftsmann roch zwar nicht sehr vertrauenswürdig, besonders nicht aus dem Mund, aber vielleicht hatte er ein Herz aus Gold. Und er war Krämer. So wie der gute Mr. Hobbs. Andererseits hatte Mr. Hobbs ihn nie geschlagen. Er sah die Hand gar nicht kommen, mit der Froggat ihm eine Maulschelle verpasste.

»Fall mir nicht ins Wort, du Laus! Das kann ich nicht leiden. Und jetzt – zack, zack! – rein in die gute Stube. Du pennst da drüben unter dem Spülstein. Und gib mir sofort deinen feinen Gehrock. Du kannst das hier anziehen.«

Er hatte den Jungen in seinen dunklen, mit Waren und Unrat vollgestopften Laden gedrängt und drückte ihm ein muffiges Hemd und eine viel zu große Hose aus Leinen in die Hand. Dazu ein Paar ausgetretene Schuhe, in denen sicherlich im Laufe vieler Jahre schon Dutzende Paar Füße gesteckt hatten. In Dunkelheit und Eiseskälte zog sich Cedric um. Und dachte noch so bei sich: Wie aufmerksam. Die gute Krämerseele will bestimmt nicht, dass meine feinen Kleider schmutzig werden. Vielleicht will er auch den Rock, der bei der langen Zugfahrt etwas gelitten hat, kurz aufbügeln, damit ich nicht schlampig aussehe.

Doch als Cedric am nächsten Morgen nach einer kurzen, ungemütlichen Nacht mit schmerzenden Gliedern unter dem Spülstein erwachte, erkannte er seinen Irrtum. Sein schicker schwarzer Samtrock mit dem fein gestickten weißen Van-Dyck-Kragen war tatsächlich abgebürstet und aufgebügelt worden. Aber er hing nun im Schaufenster. Zusammen mit seinem runden Hut, der roten Schärpe und den guten Stiefeln stand er für zehn Schilling und Sixpence zum Verkauf. Cedric dachte an seinen armen verstorbenen Großvater und an seine arme verwirrte Mama und all die schrecklichen Dinge, die ihr zustoßen könnten, wenn er sich verplapperte oder als flüchtiger Grafenmörder zu erkennen gab. Hoffentlich passte Mr. Havisham gut auf Herzlieb auf!

Seine Augen füllten sich mit Tränen, als er vor seinem geistigen Auge ihr Bild sah, wie sie ihn liebevoll und glücklich anlächelte.

»Los, aufstehen! Faulenzer!« Ein Fußtritt brachte ihn schnell auf die Beine.

Cedric rieb sich die Tränen und die Müdigkeit aus den Augen und blickte sich in dem Verkaufsraum um. Das hiesige Sortiment war ähnlich breit gefächert wie bei Mr. Hobbs. Besen, Körbe, Stricke, Wannen, Holzlöffel und Bilderrahmen. Wolle, Kleider, Seife, Lampenschirme. Trockenfleisch, Äpfel, Sardinen und Obstkonserven. All das und noch viel mehr war lieblos und ohne erkennbares System übereinandergestapelt, nebeneinander abgelegt, staubbedeckt oder von einem öligen Film überzogen. Genau das schien in diesem Moment auch dem Ladenbesitzer aufgefallen zu sein.

»Jetzt machst du erst mal ordentlich hier sauber«, kommandierte Charlie Froggat mürrisch und laut wie ein Feldwebel.

»Das wollte ich selbst gerade vorschlagen«, erklärte Cedric mit einem sonnigen Lächeln. »Mr. Hobbs sagte immer, dass ein aufgeräumter Laden der erste Schritt zum geschäftlichen Erfolg ist …«

»Jetzt quatsch nicht so geschwollen daher, du neunmalkluger Schlaumeier«, knurrte Froggat, der sich mit einer Tasse Tee auf seinem Stuhl niederließ. Misstrauisch beobachtete er mit seinen kalten Schlangenaugen unter den grotesk buschigen Augenbrauen, wie sich der fleißige Ceddie mit einem Wisch aus Entenfedern an die Arbeit machte. Im Nu war der Verkaufsraum von einer Staubwolke erfüllt, und der Krämer rettete sich hustend und fluchend ins Freie.

Wenig später vernahm Cedric Männerstimmen vom Eingang her. War etwa Jeremiah Wickham aufgetaucht? Er huschte geschwind zum Fenster und befreite die Scheibe von einer milchigen Schmutzschicht, um hinauszuspähen. Im Tageslicht betrachtet, boten die Gassen von Bethnal Green einen niederschmetternden Anblick. Drangvoll eng und unendlich verkommen. Schäbig, mit widerlichen Schlammpfützen und offenen Abwasserläufen, die einen unbeschreiblichen Gestank verströmten. Alles wurde eingerahmt von rußgeschwärzten Backsteinfassaden. Eingehüllt in eine ewige Qualmglocke, die giftig braun und gelb aus Schloten und Schornsteinen über die Dächer gespuckt wurde. Kaum je drang ein Sonnenstrahl bis in diesen Abgrund menschlichen Daseins hinab. Solche windschiefen elenden Behausungen mit nassen Wänden, zerbrochenen Fensterscheiben und löchrigen Dächern hatte der junge Nobelherr bisher nur im sogenannten Grafenhof von Dorincourt gesehen, den sein grundgütiger Großvater danach so schön hatte renovieren lassen. Hier, in Bethnal Green, aber würden die armen Menschen wohl für immer auf einen so großzügigen Wohltäter warten müssen. Scheinbar willenlos und insektengleich quollen sie zu dieser frühen Morgenstunde aus den höhlenartigen Hauseingängen. Nicht selten hausten zwanzig Personen in einem kleinen fensterlosen Zimmerchen.

»Was soll ich denn mit noch so einem Dreckspatz, Charlie? Ich habe schon vier oder fünf von der Sorte«, hörte Cedric eine fremde Stimme sagen. Sie gehörte einem jungen Mann, der einen etwas zu großen schwarzen Frack mit Zylinderhut trug. Er hatte einen dünnen schwarzen Schnurrbart, und eine lange Narbe verlief quer über die Stirn. Dies war Alfred Tripe, dem jeder im Viertel aus dem Wege ging, der nicht unbedingt auf Ärger aus war.

»Aber keinen wie diesen«, widersprach Froggat mit seinem schnarrenden Falsett. »Der Junge ist sein Gewicht in Gold wert. Ich habe Großes mit ihm vor. Er ist nämlich der Schlüssel zu einer gut gefüllten Schatztruhe.«

Tripe machte kein besonders intelligentes Gesicht. Das machte er allerdings nie, was daran lag, dass er vor Jahren einen Huftritt auf die Stirn abbekommen hatte, von welchem die lange Narbe und eine andauernde Denkblockade zurückgeblieben waren.

»Häh?«

»Denk nicht darüber nach. Es reicht, wenn ich Bescheid weiß. Du musst nur so viel wissen: Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, dann können wir mit diesem Tom einen Haufen Geld machen. Bis dahin reicht es, wenn wir ihn durchfüttern und für uns arbeiten lassen.«

»Und ein bisschen konkreter geht es nicht?«, bohrte der Jüngere, der ein gieriger Mensch war und sich daher leicht überzeugen ließ.

»Ich würde mal sagen: hundert Pfund für jeden von uns. Vielleicht mehr«, raunte Froggat verschwörerisch.

»Moment mal!«, unterbrach Konstabler Paddock seinen sympathischen aber recht merkwürdigen Weihnachtsgast. »Hundert Pfund für jeden der beiden Gauner? Das ist ja ein Vermögen! Und dabei sollten Sie den beiden behilflich sein? Wie denn nur?«

Der Dorfpolizist von Erleboro, der Schurkereien solcher Größenordnung zum Glück nur vom Hörensagen kannte, kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

»Gewiss«, sagte Tom Tipton. Das eitle Lama Felicitas schlug weihevoll mit den Wimpern und gab sich den Anschein, als denke es über viel wichtigere Dinge nach als die unsäglich öden Probleme eines Kindes, das allein im übelsten Teil Londons ausgesetzt worden war. Tom Tipton streichelte das Tier liebevoll und blickte traurig ins Feuer. Der kappadokische Pinguin hielt mit dem Putzen inne und blinzelte ihn tröstend an.

»Am Anfang habe ich allerdings eine ganze Weile nur Cricket gespielt«, sagte er.

„Wirklich?«

»Ja, Cricket. Ein interessantes und überaus anregendes Spiel, aber die Regeln sind sehr schwierig.«

»Das kann man wohl sagen.«

»Zuallererst aber lernte ich diesen rothaarigen, sommersprossigen Jungen namens Freckles Pinpicker kennen. Er freute sich sehr, meine Bekanntschaft zu machen …«

6. KapitelCedric wird in Tripes Bande aufgenommen, findet neue Freunde und lernt das schwer zu verstehende Cricketspiel kennen.

Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Cedric verband die förmliche Begrüßung mit einer artigen Verbeugung, wie er es einst von seiner lieben Frau Mutter gelernt hatte.

»Ganz meinerseits!«, entgegnete der sommersprossige Halbstarke namens Freckles Pinpicker. Aber anstatt Cedrics ausgestreckte, rosige Knabenhand zu ergreifen und zu schütteln, schlug er dem Neuen die Faust mitten ins Gesicht und grölte, als der ehemalige kleine Edelmann mit rudernden Armbewegungen rücklings im winterlichen Dreck der Straße landete.

»Guckt euch bloß diesen Waschlappen an!«, quäkte der Rabauke im Triumph, und seine Kumpane stimmten ein gehässiges Gelächter an.

Zwischen den am Boden Liegenden und die niedrig hängenden Rußwolken eines typischen trostlosen Ostlondoner Nebelmorgens schoben sich die schrägen Visagen von Alfred Tripes Straßenbande: Freddy Poodle, Eddie Frothwopper, Elias Pooplock und Roddie Bricklewith.