Das weingetränkte Notizbuch - Charles Bukowski - E-Book

Das weingetränkte Notizbuch E-Book

Charles Bukowski

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Beschreibung

Erstmals als Taschenbuch - aus dem Nachlass von Charles Bukowski Charles Bukowski war vielleicht der umstrittenste Skandalautor der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts. ›Das weingetränkte Notizbuch‹ enthält eine umfangreiche Auswahl von lange verschollenen Texten Bukowskis, die er für Underground-Zeitungen, Literaturzeitschriften und sogar Pornomagazine schrieb. Diese größtenteils zum ersten Mal auf Deutsch erscheinenden Erzählungen, Essays und Zeitungskolumnen zeigen Bukowski in seiner ganzen Meisterschaft – Bukowski at his best. »Der geniale Maulwurf hat uns weitere Texte hinterlassen, und sie sind Volltreffer - da kommen einem die Tränen.« Tom Waits

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Seitenzahl: 440

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Charles Bukowski

Das weingetränkte Notizbuch

Stories und Essays 1944-1990

Aus dem Amerikanischen von Malte Krutzsch

Fischer e-books

Dank

Viele Menschen waren mir bei der Entstehung dieses Buchs im Lauf der vergangenen acht Jahre behilflich. Ich danke Ed Fields von den Special Collections der Davidson Library der University of California in Santa Barbara für die Erlaubnis, das unveröffentlichte Manuskript »Vorwort zu William Wantlings 7 on Style« sowie Teile des Manuskripts »Die Szene von L. A.« hier mit aufzunehmen; Roger Myers von den Special Collections der University of Arizona Library; dem Fernleiheteam der Eastern Michigan University und Julie Herrad, Leiterin der Labadie Collection innerhalb der Special Collections der University of Michigan in Ann Arbor. Jamie Boran war mir eine Riesenhilfe, als ich das Projekt im Jahr 2000 in Angriff nahm. Dank auch Abel Debritto in Spanien, Bukowski-Spezialist der Extraklasse, der mich auf mehrere ausgezeichnete, unentdeckte Stories und Essays aufmerksam machte. Michael Montfort war so nett, sich in Freiburg meiner anzunehmen. Wie immer vielen Dank an Maria Beye. Elaine Katzenberger von City Lights hat das Projekt mit großem Aplomb geleitet. Besonderen Dank meinem sehr klugen, sehr belesenen und hochprofessionellen Lektor bei City Lights, Garrett Caples, durch den die anspruchsvolle Arbeit an diesem Buch zu einer sehr angenehmen Erfahrung wurde. Zutiefst dankbar bin ich Ludwig Wittgenstein, der mich bei Laune und mir den Kopf freihält. Besonders gedankt sei schließlich John Martin für seine Unterstützung und Linda Lee Bukowski, die mir freigebig ihre Zeit geschenkt und mich sanft ermutigt hat, genau den richtigen Ort für Hanks Arbeit zu finden.

Einführung

Erst jetzt, vierzehn Jahre nachdem Charles Bukowski (1920–1994) seine letzten Worte getippt hat, ist es möglich, seine proteische Kreativität ganz auszuloten. Zwar ist er in erster Linie als Dichter bekannt, aber er hat ein breites Spektrum an Prosa verfasst: Short Stories, autobiographische Essays, Vorworte zu den Werken anderer Dichter, Buchbesprechungen, literarische Essays, die berühmte Artikelserie »Notizen eines Dirty Old Man« sowie eine Reihe von »Manifesten« zu seiner sich entwickelnden Poetik und Ästhetik. Außerdem war er ein glänzender Briefeschreiber (die Briefe sind in fünf Bänden jetzt teilweise gesammelt) und hat sechs Romane veröffentlicht: Der Mann mit der Ledertasche (1971), Faktotum (1975), Das Liebesleben der Hyäne (1978), Das Schlimmste kommt noch oder Fast eine Jugend (1982), Hollywood (1989) und Pulp – ausgeträumt (1994). Bukowski war so produktiv, dass die Literaturwissenschaftler nicht hinterherkamen, und so gibt es noch immer keine adäquate oder vollständige Bibliographie seiner Werke. Der vorliegende Band weist den Reichtum und die Vielfalt seines unbekannten Œuvres aus und enthält nicht gesammelte sowie bisher unveröffentlichte Stories und Essays.[1]

Bukowskis früheste Geschichten – »Nach dem langen Ablehnungsbescheid« (1944) und »20 Tanks aus Kasseldown« (1946) – zeigen bereits die gegensätzlichen, einander ergänzenden Stile, die seine ganze Laufbahn hindurch für ihn bezeichnend geblieben sind. »Ablehnungsbescheid« ist ein phantasievolles Porträt des donquichottischen jungen Künstlers als Außenseiter und Clown, in »20 Tanks« dagegen ist Bukowski grüblerisch und düster in der Tradition seiner Vorbilder Nietzsche und Dostojewskij und schreibt, weit weg im Exil geistiger Einsamkeit, gepeinigte Notizen aus dem Untergrund. Seine Originalität bestand letztlich darin, existentielle Härte und humorvollen Schwung in einem unnachahmlichen »bukowskischen« Ganzen zu verbinden. Wie sein nihilistischer, philosophierender Protagonist war Bukowski selbst ein empfindsames, gequältes, verletzliches Genie, das in einem kleinen Zimmer gefangensaß, doch er verfügte auch über einen trockenen Humor und war ein charmanter Spötter in der Tradition eines anderen literarischen Vorbilds, James Thurber.

Bukowski hatte sein literarisches Debüt mit vierundzwanzig, als »Ablehnungsbescheid« in der renommierten Zeitschrift Story von Whit Burnett und Martha Foley erschien; zwei Jahre später folgte dann »20 Tanks« in Caresse Crosbys Avantgardeblatt Portfolio, neben Beiträgen von Jean Genet, Federico García Lorca, Henry Miller und Jean Paul Sartre. Entgegen der Legende schrieb Bukowski damals jedoch nicht nur Prosa, sondern auch Lyrik. So findet sich beispielsweise in der Sommerausgabe von Matrix1946 nicht nur seine Story »The Reason Behind Reason«, sondern auch sein erstes veröffentlichtes Gedicht, »Hello«. Und im Herbst/Winter 1947 bringt Matrix sowohl das Gedicht »Voice in a New York Subway« als auch die Story »Cacoethes Scribendi«. In der Praxis hat er also von Beginn an zwischen Gedicht, Story und Essay gewechselt und seine doppelte Identität als Dichter und Prosaschriftsteller aufgebaut. Diese »Zweigleisigkeit« zeigt sich auch in einer 1959 geschriebenen, aber erst 1961 veröffentlichten Arbeit, »Das weingetränkte Notizbuch«, wo sich Bukowski auf einen Genremix außerhalb der Kategorien Prosa, Lyrik und Prosagedicht verlegt.

Viele seiner darauffolgenden Texte sind in einer enormen Vielzahl »kleiner Zeitschriften«[2] erschienen. So wie die berühmten Geburtsstätten des Modernismus – Blast, Criterion, Little Review, The Dial, transition – entscheidend zur Verbreitung der Meisterwerke von Ezra Pound, T. S. Eliot und James Joyce beigetragen haben, waren die Literaturzeitschriften und die Alternativpresse – Trace, Ole, Harlequin, Quixote, Wormwood Review, Spectroscope, Simbolica, Klactoveedsedsteen – Abnehmer für Bukowskis unkonventionelle Arbeiten. Und nach dem Vorbild der großen Modernisten wurde Bukowski zum Verfasser militanter Manifeste. In seinem Essay zur Lyrik mit Jazzbegleitung für Trace (herausgegeben von James Boyer May in London) begann er ästhetische Theorien aufzustellen, die er fortwährend ausarbeitete und erweiterte. Bukowskis Stil und Methode waren im Wesentlichen experimentell, und wie er einmal festhielt, gibt es »nicht genug Leser, die progressive Texte verstehen, verarbeiten und Spaß daran haben«.[3]

In einem seiner stärksten Manifeste, »Zur Verteidigung einer bestimmten Art von Gedichten, einer bestimmten Art zu leben, eines bestimmten blutdurchströmten Lebewesens, das eines Tages sterben wird«, entwickelt er Ansätze einer Poetik des Herzens, einer Poetik der Zärtlichkeit und Offenheit: Sie nimmt mein Herz in die Hände. Bukowski wählte diese Variante einer Zeile aus Robinson Jeffers’ Gedicht »Hellenistics« als Titel für einen seiner ersten Gedichtbände und bringt damit sehr genau seine romantische und geistige Sehnsucht in unserer »kaputten Welt« zum Ausdruck.[4] Seine ganze Kindheit hindurch war Bukowski von seinem Vater brutal geprügelt und seelisch misshandelt worden. Das »blutdurchströmte Geschöpf« hier hat also verschiedene Bedeutungen: »Blut« im Sinne von D. H. Lawrence für Instinkt/Intuition, das Urgefühl, das klüger ist als der Intellekt, aber auch das bei Bukowskis qualvollen Züchtigungen buchstäblich vergossene Blut, und schließlich das Blut, das aus seinem Körper schoss, als er 1955 mit 35 Jahren in die Armenstation des Los Angeles County Hospital eingeliefert wurde und beinah an starken alkoholbedingten Magenblutungen starb.[5] Daher ist es kein Wunder, dass er sich fragte, wieso die anerkannte, etablierte Literatur durch die Jahrhunderte so ausgiebig über die am schlimmsten Leidenden geschwiegen hatte: die Geprellten, die Armen, die Verrückten, die Arbeitslosen, die Obdachlosen, die Alkoholiker, die Außenseiter, die misshandelten Kinder, die Arbeiterklasse. Seine poetische Welt ist wie die von Samuel Beckett die Welt der Enteigneten, der »stolzen dünnen Sterbenden«, und er bezeichnet sich selbst als »literarischen Outlaw«; Sicherheit ist nicht zu haben in einem Leben der äußersten Not, am Rand von Wahnsinn und Tod. Bukowskis größter Zorn galt den elitären »Jungs von der Uni«, die die Dichtung verrieten, indem sie ein harmloses, cleveres, gelehrtes und völlig uninspiriertes kleines Spiel mit Worten daraus machten und die heilige, wilde Muse zu zähmen versuchten – die brisanten, ungestümen archaischen Urkräfte des schöpferischen Unbewussten. Bukowskis Kunst besteht darin, seine blutenden Stigmata herauszustellen, sich (oft humorvoll) als Opfer vorzuführen und das in einer einfachen, direkten, rohen, gemeißelten Sprache zu tun, die auf Schnörkel und Drumherum verzichtet. Wie er in einem unveröffentlichten Vorwort zu William Wantlings 7 on Style schreibt: »Stil bedeutet, keinerlei Schutzschild. Stil bedeutet, keinerlei Fassade. Stil bedeutet völlige Natürlichkeit. Stil bedeutet, als Mensch allein unter Milliarden anderen zu sein.«[6]

In mehreren dieser Manifeste mit ihren zugleich empörenden und lyrischen Titeln wie »Ein hin und her schweifender Essay über Poetik und das verfluchte Leben, verfasst bei einem Sechserpack Bier« und »Über die Mathematik des Atems und des Weges« erkundet Bukowski den Zusammenhang zwischen Schreiben und der Suche nach dem authentischen Dasein. Er fährt zur Rennbahn, um das Leben zu beobachten, damit er es daheim an der »Maschine« in Kunst umsetzen kann. Wie Henry David Thoreau möchte er das Leben in die Ecke drängen und sehen, was er da vor sich hat – vom Ästhetizismus des Elfenbeinturms kann hier keine Rede sein. Bukowski sieht das künstlerische Schaffen in direktem Zusammenhang mit der eigenen inneren Entwicklung, und das Künstlerdasein ist für ihn mit einer ebenso strengen Disziplin verbunden wie die Schulung eines Zenmönchs. Er kombiniert eine präzise »Mathematik« genauer Beobachtung mit dem Atem und dem Weg taoistischer Praxis: Der Schriftsteller ist unterwegs, und er sollte alles, was ihm auf der Reise durch die Alltagswelt begegnet, genau beobachten. Dort auf der Rennbahn, in der Bar, bei den Klängen von Sibelius aus dem kleinen Radio in seinem kleinen Zimmer, draußen in den tristen, leeren Straßen wird er den gesuchten Weg finden. Wie er in »Bekenntnis eines Dirty Old Man« schreibt, war Bukowski Beat vor den Beats, und es ist kein Zufall, dass er sich von den Gedichten Allen Ginsbergs stark angesprochen fühlte und eine klare Linie zwischen Howl und den frühen Arbeiten des begabten jungen Ginsberg sah, die später als Empty Mirror herausgebracht wurden.

Die Undergroundpresse – kleine Zeitschriften, Zeitungen, Heftchen, Hektographien –, der Bukowski seine Stories und Essays lieferte, kam in den sechziger Jahren groß auf, und damals explodierte seine Kreativität in viele verschiedene Richtungen. Bukowski hatte wohlgemerkt am Los Angeles City College Journalistik studiert und ursprünglich gehofft, bei einer Zeitung unterzukommen. Vielleicht war sein Wunsch vom Beispiel Hemingways inspiriert, doch in einer autobiographischen Notiz am Ende von Longshot Pomes for Broke Players (1962) erzählt er uns, »zum Reporter habe ich’s nie gebracht, nur zum Laufburschen in der Setzerei des New Orleans Item. Hinten raus war eine Bierkneipe, und so vergingen die Abende schnell.«[7] Aber das sollte sich ändern, als 1967 der Sommer der Liebe kam, denn da nahm Bukowski im gesetzten Alter von 47 Jahren kurioserweise doch noch die lange aufgeschobene Journalistenlaufbahn in Angriff, gerade als die Hippie/Jugend/sexuelle Revolution ihrem Höhepunkt zustrebte. Er schrieb jetzt seine Artikelserie »Notizen eines Dirty Old Man«: Die erste Folge, in der es um die rechte Haltung der Ordnungshüter in Sachen Alkohol am Steuer geht, erschien in John Bryans Open City in der Ausgabe vom 12.–18. Mai 1967. Zwei Jahre später, im November 1969, quittierte Bukowski mit der finanziellen Unterstützung seines Verlegers John Martin von der Black Sparrow Press seinen langjährigen Frondienst bei der Post und fing ein neues Leben als Berufsschriftsteller an.

»Notizen eines Dirty Old Man« erschien zu verschiedenen Zeiten in der Los Angeles Free Press, dem Berkeley Tribe, Nola Express, The New York Review of Sex and Politics, National Underground Review und in den 80er Jahren schließlich in High Times. Die Serie griff ein breites Spektrum von Themen auf, u.a. die Studentenrevolte, den Vietnamkrieg, den Kampf der Geschlechter, Rassismus und die Missgeschicke von Henry (»Hank«) Chinaski (der ersten Inkarnation von Bukowskis literarischem Alter Ego begegnen wir in der frühen Story »The Reason Behind Reason« von 1946 unter dem Namen »Chelaski«). Die Artikel, wie sie in der L. A. Free Press erschienen, waren künstlerisch gestaltet und an den passenden Stellen mit Bukowskis witzigen Zeichnungen versehen. Nachdem 1969 bei Essex House eine Auswahl der Artikel als Buch erschienen war, breitete sich Bukowskis Ruhm aus, und Los Angeles, San Francisco/Berkeley und New Orleans wurden die drei Zentren seiner literarischen Aktivität. Die Verbindung nach San Francisco hatte er Anfang der sechziger Jahre hergestellt, als er seinen Antikriegsessay »Peace, Baby, Is Hard To Sell« an John Bryants Zeitschrift Renaissance schickte. Und in New Orleans waren seine Sachen in The Outsider erschienen, der Zeitschrift von Jon Edgar Webb und seiner Frau Gypsy Lou, deren Loujon Press auch Bukowskis erste größere Gedichtbände verlegt hatte, It Catches My Heart In Its Hands: New and Selected Poems 1955–1963 (1963) und Crucifix in a Deathhand (1965). Der Nola Express, New Orleans, trug ebenfalls wesentlich dazu bei, Bukowski über Los Angeles hinaus bekannt zu machen.[8]

Jetzt begann Bukowski an seinem Image zu feilen, an der Rolle des wilden, gerissenen, kernigen Überlebenskünstlers, der schamlos trinkt, Streit sucht, den Frauen nachsteigt und Gedichte und Stories schreibt, während er Mozart, Bach, Strawinsky, Mahler und Beethoven hört. Er erfindet ein neues Genre zwischen Fiktion und Autobiographie: eine Mischung aus aktuellen Themen, literarischen und kulturellen Anspielungen und phantasievoller Verarbeitung von persönlich Erlebtem. Das jahrelange Briefeschreiben und die ständige Beschäftigung mit seinem Metier zahlten sich nun aus, denn Bukowskis Prosa erwies sich als erstaunlich sicher und gekonnt; sie ist klar, lebhaft, lustig, launisch, hart, immer in Bewegung. Er hält sich an Hemingways simplen Wortschatz und flotten Dialog, geht aber mit seiner enormen Energie, seinem Humor und seinem Talent zur Karikatur und Übertreibung über sein Vorbild hinaus. Sein untrüglicher Sinn für Rhythmus, Timing und komische Überraschung wird deutlich in »Die Nacht, als niemand glaubte, dass ich Allen Ginsberg bin«, wo die rasante, atemlose, irre Handlung rasch von einer unwahrscheinlichen Szene zur nächsten fortschreitet. Die Story zeigt auch, wie Bukowski Phantasie und Autobiographisches verbindet. Der Auftritt von Harold Norse am Ende und das wüste Telefonat über Penguin Modern Poets 13 (den tatsächlich gerade erschienenen Band mit Bukowski, Norse und Philip Lamantia) geben Bukowski Gelegenheit, sich nebenbei aufs Schönste über einen wichtigen Wendepunkt in seiner Dichterlaufbahn lustig zu machen. Nach dem ungehobelten Geschäker, der Slapstick-Klopperei und den Späßen für Literaturkenner endet die Story wunderbar stimmig in einem Ton resignierter Ruhe, und surrealistische Bilder, die wohl aus der verschütteten Kindheit des Erzählers stammen (»Die Abraham-Lincoln-Brigade und elf tote Kaulquappen unter einer Wäscheleine 1932«), tauchen auf, während er sich am Telefon zärtlich mit seiner kleinen Tochter unterhält.

Bukowskis Tabubrüche haben etwas wild (und zugleich ironisch-humorvoll) Entschlossenes an sich. Er ist ungestüm und sexbesessen auf eine Art, wie seine beiden amerikanischen Vorbilder – William Saroyan und John Fante – es nicht sind, wenngleich seine aggressive Pose als Panzer aufgefasst werden sollte, den er anlegt, um sich vor Übergriffen zu schützen.[9] Wobei seine »Obszönität« erkennbar in einer langen klassisch-literarischen Tradition steht: Petronius’ Satyrikon, Der goldene Esel des Apuleius, Catulls gepeinigte, fiebrig-wütende Liebes- und Hassgedichte an Lesbia und Boccaccios Decamerone, das Bukowski als Muster für seinen Roman Das Liebesleben der Hyäne genommen hat.[10]

Trotzdem ist Bukowski ein literarischer Rebell wie Céline und Artaud. Bukowski bewunderte Célines »Reise ans Ende der Nacht«, und er erweist dem großen französischen Misanthropen in mehreren Gedichten und Interviews seine Reverenz; Antonin Artaud wiederum betrachtet er als einen Künstler, dem die Scheinheiligkeit der Gesellschaft verhasst war, die ihn sowohl missverstand als auch ablehnte.[11] Und Bukowski war tabuverletzend in der Tradition eines dritten französischen Autors, den er nicht kannte – Georges Bataille. Bataille, der den Zusammenhang zwischen Tabu, Obszönität, Gewalt, Wahnsinn und dem Heiligen untersuchte, stellte fest, dass »in verschiedenen Sprachen die Wörter für das Heilige sowohl ›rein‹ als auch ›schmutzig‹ bedeuten. Der Sinn des Heiligen kann als verloren angesehen werden in dem Maße, wie das Bewusstsein von den der Religion zugrunde liegenden geheimen Schrecken verlorengegangen ist.«[12] So ist Bukowskis Alter Ego ein »dreckiger« alter Mann, ein Wort, das die Doppelwertigkeit der Sexualität in seinem ganzen Werk bezeichnet. Eine Story wie »Der silberne Christus von Santa Fe« weist mehrere bataillesche Züge auf: das Spiel um Psychiatrie und Wahnsinn, die »primitiven« Indianer, die ins Bad des »zivilisierten« Angelsachsen vordringen, der »unerlaubte« Geschlechtsakt, bei dem die Hauptfigur ein furchteinflößendes silbernes Kruzifix gewahrt, la nostalgie pour la boue. Bei Bukowski jedoch kommt praktisch immer ein dunkler – oder schwarzer – Humor dazu, der seine existentielle Sicht auf die absurde Welt auflockert.

Dass die amerikanische Kritik Bukowski nicht richtig einzuschätzen weiß, liegt auch daran, dass sie sein stark europäisch ausgerichtetes Denken verkennt. Diese Ausrichtung erklärt auch seinen Erfolg in Deutschland und Frankreich, wo sowohl die Intellektuellen als auch das »breite Publikum« sehr schnell erkannten, wie originell er ist und wo er in der abendländischen Philosophie einzuordnen wäre. Man kann sich Bukowski eher mit Bataille in einem Pariser Bistro vorstellen, oder beim Austausch scharfzüngiger, bitterer Aphorismen mit dem großen rumänischen Schriftsteller E. M. Cioran, als im Zwiegespräch mit seinen amerikanischen Zeitgenossen Saul Bellow oder John Updike. Die »krause Schwermut, das unpraktische Denken und die unterdrückten Begierden eines Osteuropäers« – Eigenschaften, die er humorvoll in »Nach dem langen Ablehnungsbescheid« anführt – sind durchaus hervorstechende Züge seines eigenen Charakters.

Die »Obszönität« in Bukowskis Texten hat ihn letztlich ins Zentrum der amerikanischen Zensurdebatte gerückt, die nicht gerade neu war: James Joyce’ Ulysses, D. H. Lawrence’ Lady Chatterley, Henry Millers Wendekreis des Krebses, Vladimir Nabokovs Lolita, William Burroughs’ Naked Lunch und Allen Ginsbergs Howl – sie alle hatten behördliche Empörung hervorgerufen, und derlei Kämpfe waren in den Sechzigern noch nicht ausgestanden. Bukowski schrieb zwei Essays zur Unterstützung von d.a. levy, einem Lyriker aus Cleveland, der sich wegen »Obszönität« zu verantworten hatte, und eine Razzia in Jim Lowells Asphodel Bookshop in derselben Stadt regte Bukowski zu einem weiteren Essay an, der in A Tribute to Jim Lowell erschien, neben Beiträgen einer ganzen Riege namhafter amerikanischer Schriftsteller wie Robert Lowell, Lawrence Ferlinghetti, Guy Davenport und Charles Olson. Wegen seiner »provozierenden« Texte für die Undergroundpresse und seines Eintretens für die Redefreiheit geriet Bukowski schließlich ins Visier des FBI, ein Faktor, der mit dazu beitrug, dass er die Arbeit bei der Post aufgab.[13]

Hätte man sich beim FBI die Mühe gemacht, einen nachdenklichen Essay wie »Sollen wir Uncle Sam den Arsch aufreißen?« zu lesen, hätte man festgestellt, dass Bukowski keineswegs der Meinung war, das Wassermannzeitalter sei bereits eingetreten. Nach dem Brandanschlag von Studenten auf die Bank of America in Santa Barbara und dem Prozess gegen die »Sieben von Chicago« erklärt Bukowski, »mit romantischen Slogans ist es nicht getan«. Nach einer kundigen Rückschau auf die linken Autoren der 30er Jahre – John Dos Passos, Arthur Koestler, John Steinbeck –, und ihre wechselnden politischen Sympathien sagt Bukowski den revoltierenden Studenten: »Euer ganzes Denken muss darauf gerichtet sein, nicht wie ihr eine Regierung stürzt, sondern wie ihr eine bessere schafft. Damit ihr nicht schon wieder die Dummen seid.« Und er legt den revolutionswilligen Hippies einen Slogan ans Herz, der auch Gandhi und Thoreau erfreut hätte: »Alles, was ihr besitzt, sollte in einen Koffer passen, dann habt ihr den Kopf vielleicht frei.« Bukowski stand den Idealen der kalifornischen Gegenkultur wohlwollend gegenüber, doch er war im Innersten apolitisch und anarchistisch und wie viele Künstler eher ein Träumer als ein Mann der Tat. Dichter mögen zwar, wie Shelley meinte, »die nicht anerkannten Gesetzgeber der Welt« sein, aber wenn sie die Zehen in das heiße Wasser der Politik (links oder rechts) stecken, verbrühen sie sich oft, wie Bukowski in seinem Essay über Ezra Pound, »Blick zurück auf einen Großen«, zeigt.

Ende der 50er Jahre porträtierte Lawrence Lipton die südkalifornische Gegenkultur in Die heiligen Barbaren (1959), und ganz ähnlich schildert Bukowski einige zeitgenössische Bohemiens, die er in der Stadt kennengelernt hat, in seinem Essay »Die Szene von L. A.«. Bukowskis beste Arbeiten führen an wiederkehrende Schauplätze: East Hollywood, MacArthur Park, Lincoln Heights, Bunker Hill, Venice Beach, das Terminal Annex Post Office; Melrose Avenue, Alvarado Street, Carlton Way, Hollywood Boulevard, Western Avenue, DeLongpre Avenue.[14] Die Rennbahnen Santa Anita, Hollywood Park und Los Alamitos, die Boxkämpfe im Olympic Auditorium, der Smog, die endlosen Freeways, die unzähligen Autos, der unendlich stille Pazifik, die Orangenhaine und die Palmen sind die vertrauten Wegmarken in seinem schrecklich-schönen dichterischen Kosmos.[15] Und seine Bewunderung für John Fante beruht darauf, dass Fante mit Büchern wie Ich – Arturo Bandini zeigte, dass die Stadt der Engel Beachtung verdient als ein Ort, an dem große Literatur entstehen kann. Bukowski sah sich als Fantes Nachfolger in dem Bemühen, Los Angeles zu einer Stadt zu machen, die für die Literatur mindestens so wichtig war wie jedes andere literarische Zentrum der Vereinigten Staaten; gegen Ende seiner Laufbahn erwies er Fante seine Reverenz in der Geschichte »Ich lerne den Meister kennen«.

Los Angeles war Bukowskis journalistisches »Revier«, und er berichtete unter anderem über ein Rolling-Stones-Konzert im Forum. In »Jaggernaut« postiert er sich als Teilnehmer und Beobachter im Zentrum eines tatsächlichen Ereignisses und verwischt die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion ganz ähnlich wie Norman Mailer und Hunter S. Thompson es bei ihren Ausflügen in den »New Journalism« getan haben. Bemerkenswert ist vielleicht auch, dass um diese Zeit der bekannte Kulturtheoretiker Hayden White sein Werk Metahistory herausbrachte, das Historiker die Erzählstrukturen, die sie heranzogen, um vermeintlich »objektive« Ereignisse zu beschreiben, mit neuen Augen sehen ließ, gerade als Schriftsteller wie Bukowski die Schnittstellen zwischen den angeblichen »Fakten« ihrer Biographie und der phantasievollen Neugestaltung von Erlebtem erkundeten.[16]

In den 70er und 80er Jahren erschienen Interviews mit Bukowski in Zeitschriften wie Rolling Stone und Andy Warhols Interview, und der Film Barfly mit Mickey Rourke (1987) machte ihn international bekannt. Um sein Einkommen aufzubessern, begann er in dieser Zeit Beiträge für Herrenmagazine wie Fling, Rogue, Pix, Adam, Oui, Knight, Penthouse und Hustler zu schreiben, und auch für Zeitschriften der Drogen- bzw. Rockszene, High Times und Creem.[17] Seine ganze Laufbahn hindurch wechselte Bukowski, wie bereits erwähnt, fast systematisch von Lyrik zu Essay und Erzählung. Seine letzte Schaffensperiode war dabei keine Ausnahme, und von den 80er Jahren bis zu seinem Tod 1994 blieb er in allen drei Genres produktiv und meisterlich.

In der späten Story »Wie es geschah«, einer gnostischen Parabel von der Umkehrung und Vergewaltigung der natürlichen Ordnung, kehrt Bukowski zu den apokalyptischen Themen zurück, die aus vielen seiner früheren Gedichte und Stories bekannt sind; in »Zeit rumbringen« hingegen erinnert er sich an die Bar in Philadelphia, der er schon im »Weingetränkten Notizbuch« gedacht hat. Diese Story führt auch Figuren und Situationen ein, die Bukowski bald in Barfly wieder aufgreifen sollte: die Barmänner Jim und Eddy und die Atmosphäre mystischer Einheit und Transzendenz, die sich leider nicht aufrechterhalten lässt: »Und allen ging es gut, man merkte, wie es um sich griff: Wir waren wer, alle waren schön und toll und unterhaltsam, und jeder Augenblick erstrahlte hell und unverbraucht.«

Bukowskis Fähigkeit, den jeweiligen Augenblick wie ein Zenmeister in seiner ganzen einmaligen Realität aufscheinen zu lassen, wird in »Zerstreuungen im Literatenleben« deutlich. Die ersten Sätze jedes Absatzes stehen im Präsens, was der Erzählung eine lebhafte Unmittelbarkeit verleiht und den Leser mitten ins Geschehen stellt: »Es ist ein warmer Sommerabend«; »Nebenan klingelt das Telefon«; »Jedenfalls reicht Sandra mir den Hörer«; »Es ist mein Dealer, der in einem Haus zur Straße hin wohnt«. Außerdem begegnen wir hier einem typisch bukowskischen Tropus: Ein Schriftsteller schreibt über die Geschichte, die er schreibt, so dass die Grenze zwischen Kunst und Leben verwischt, und erwähnt en passant andere Schriftsteller: Updike, Cheever, Ginsberg, Mailer, Tolstoi, Céline. Bukowski war immer schon »postmodern« und »metafiktional«: Seine Schriftsteller schreiben öfter über das Schreiben und das Schriftstellerdasein als über sonst etwas.[18]

Seine letzte Story, »Der Andere«, ist eine straff gestaltete Doppelgängergeschichte, die einige der Themen seines letzten Romans Pulp vorwegnimmt; eine Kriminalgeschichte, in der der Andere/der Tod/das Selbst zum vertrautesten Gegenüber und Feind wird. Und in »Grundausbildung«, seinem abschließenden Essay über das Schreiben, erklärt Bukowski: »Im Laufschritt näherte ich mich meinem Hausgott: EINFACHHEIT. Je dichter und kleiner die Form, desto weniger lief man Gefahr, Fehler zu machen oder zu lügen. Genie war vielleicht die Fähigkeit, Tiefes mit einfachen Worten zu sagen. Worte waren Geschosse, waren Sonnenstrahlen, Worte durchbrachen die Finsternis und die Verdammnis.« In meinem Ende liegt mein Anfang, und der Kreis von Charles Bukowskis langer literarischer Reise schließt sich, wenn er ein letztes Mal die magischen Flammen der poiesis beschwört: Schreibmaschine, Weinflasche und Mozart im Radio.

Nach dem langen Ablehnungsbescheid

Ich lief draußen herum und dachte darüber nach. Es war die längste, die ich je bekommen hatte. Sonst schrieben sie immer nur: »Sorry, das hat nicht ganz gereicht«, oder: »Sorry, das hat nicht so reingepasst«. Meistens begnügten sie sich mit der vorgedruckten Ablehnung.

Aber das hier war die längste, die ich je bekommen hatte. Sie galt meiner Story »Meine Abenteuer in einem halben Hundert Pensionen«. Ich stellte mich unter eine Straßenlaterne, nahm den Brief aus der Tasche und las ihn noch einmal –

Lieber Mr Bukowski,

wieder haben Sie ein Konglomerat von unerhört gutem und anderem Lesestoff vorgelegt, das so voll von idealisierten Huren, Kotzszenen am Morgen danach, Menschenhass und Lob auf den Selbstmord ist, dass es sich für eine einigermaßen auflagenstarke Zeitschrift nicht eignet. Allerdings singen Sie das Epos eines bestimmten Menschenschlags, und ich finde, Sie mühen sich redlich. Eines Tages drucken wir Sie vielleicht, wenn ich auch nicht genau weiß, wann das sein wird. Das hängt von Ihnen ab.

Mit freundlichen Grüßen,

Whit Burnett

Na, ich kannte die Unterschrift: das mit dem ›W‹ verflochtene lange ›h‹ und den Steilstrich am ›B‹, der die halbe Seite runterging.

Ich steckte den Brief wieder ein und lief die Straße entlang. Ich fühlte mich ziemlich gut.

Schrieb ich doch erst seit zwei Jahren. Gerade mal zwei Jahre. Hemingway hatte zehn Jahre gebraucht. Und Sherwood Anderson war vierzig, bis etwas von ihm gedruckt wurde.

Allerdings würde ich wohl das Trinken und die Frauen von üblem Ruf aufgeben müssen. Wobei Whiskey ohnehin schwer zu kriegen war und der Wein mir den Magen ruinierte. Millie jedoch – Millie, das war schon schwieriger, viel schwieriger.

… Aber Millie, Millie, wir müssen an die Kunst denken. Dostojewskij, Gorki für Russland, und jetzt sucht Amerika einen Osteuropäer. Amerika ist die Browns und Smiths leid. Die Browns und Smiths sind zwar gute Schriftsteller, aber es gibt zu viele von ihnen, und sie schreiben alle gleich. Amerika wünscht sich die krause Schwermut, das unpraktische Denken und die unterdrückten Begierden der Osteuropäer.

Millie, Millie, deine Figur ist genau richtig: alles läuft straff auf die Hüfte zu, und dich zu lieben ist so einfach wie das Handschuhanziehen, wenn der Frost kommt. In deiner Bude ist es immer warm und hell, und du hast Schallplatten und Käsebrote auf Lager, das gefällt mir. Und weißt du noch, Millie, deine Katze? Als sie noch unser kleiner Kater war? Wie ich ihm beibringen wollte, Pfötchen zu geben und sich auf den Rücken zu wälzen, und du sagtest, eine Katze ist kein Hund, das geht nicht? Es ging aber doch, Millie, oder? Jetzt ist der Kater groß und war trächtig und hat Junge bekommen. Aber damit muss Schluss sein, Millie: keine Katzen und Kurven und keine Sechste von Tschaikowski mehr. Amerika braucht einen Osteuropäer …

Inzwischen war ich bei meiner Pension angekommen und wollte reingehen, da sah ich Licht in meinem Fenster. Ich schaute rein: Carson und Shipkey saßen mit jemandem am Tisch, den ich nicht kannte. Sie spielten Karten, und vor ihnen stand eine große Henkelflasche Wein. Carson und Shipkey waren Maler, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie wie Salvador Dalí oder wie Rockwell Kent malen sollten, und während sie sich darüber klarzuwerden versuchten, arbeiteten sie auf der Werft.

Dann sah ich, dass auf meiner Bettkante ganz still ein Mann hockte. Er hatte einen Schnurrbart und ein Ziegenbärtchen und kam mir bekannt vor. Das Gesicht hatte ich schon mal gesehen. In einem Buch, in der Zeitung, in einem Film vielleicht. Wo?

Dann fiel es mir ein.

Als es mir einfiel, wusste ich nicht, ob ich reingehen sollte oder nicht. Denn was sagte man? Wie benahm man sich? Bei so jemandem war das ein Problem. Man musste aufpassen, dass man nichts Falsches sagte, mit allem musste man sich vorsehen.

Ich entschloss mich, erst einmal um den Block zu gehen. Irgendwo hatte ich gelesen, dass das gegen Nervosität hilft. Als ich abzog, hörte ich Shipkey fluchen, und dann ließ jemand ein Glas fallen. Das half mir weniger.

Ich entschloss mich, mir ein paar Worte zurechtzulegen. »Wirklich, aufs Reden versteh ich mich nicht besonders. Ich bin in mich gekehrt und verkrampft. Ich heb mir das alles auf und bring es zu Papier. Auch wenn Sie jetzt von mir enttäuscht sind, ich war schon immer so.«

Das müsste genügen, fand ich, und als ich den Block einmal umrundet hatte, ging ich schnurstracks in meine Wohnung.

Ich sah, dass Carson und Shipkey ziemlich blau waren, und wusste, dass sie mir nicht beistehen würden. Der kleine Kartenspieler, den sie mitgebracht hatten, war auch hinüber, aber das ganze Geld lag auf seiner Tischseite.

Der Mann mit dem Ziegenbart stand vom Bett auf. »Guten Tag«, sagte er.

»Schönen guten Tag.« Ich gab ihm die Hand. »Sie warten hoffentlich noch nicht lange?«, sagte ich.

»Aber nein.«

»Wirklich«, sagte ich, »aufs Reden versteh ich mich nicht besonders –«

»Außer, wenn er besoffen ist, dann schreit er alles zusammen. Manchmal hält er sogar Vorträge auf dem Marktplatz, und wenn keiner zuhört, spricht er mit den Vögeln«, sagte Shipkey.

Der Mann mit dem Ziegenbart grinste. Er hatte ein prächtiges Grinsen. Offensichtlich ein Mann von Verstand.

Die beiden anderen spielten weiter Karten, doch Shipkey drehte seinen Stuhl herum und beobachtete uns.

»Ich bin in mich gekehrt und verkrampft«, redete ich weiter, »und –«

»Lachkrampf oder Magenkrampf?«, schrie Shipkey.

Das war übel, doch der Mann mit dem Ziegenbart lächelte auch jetzt, und gleich ging es mir besser.

»Ich heb mir das alles auf und bring es zu Papier und –«

»Weinkrampf oder Bierkrampf?«, schrie Shipkey.

»– und auch wenn Sie jetzt von mir enttäuscht sind, ich war schon immer so.«

»Hey, Mister!«, rief Shipkey und wackelte auf seinem Stuhl hin und her. »Hey, Ziegenbart!«

»Ja?«

»Hören Sie, ich bin einsachtzig groß, hab wellige Haare, ein Glasauge und zwei rote Würfel.«

Der Mann lachte.

»Glauben Sie mir etwa nicht? Meinen Sie, ich hab keine zwei roten Würfel?«

Aus irgendeinem Grund wollte Shipkey, wenn er betrunken war, den Leuten immer weismachen, er hätte ein Glasauge. Mal zeigte er auf das eine, mal auf das andere Auge und behauptete, es sei aus Glas. Angeblich hatte sein Vater ihm das Auge gemacht, der größte Spezialist dafür weltweit, den leider in China ein Tiger zerrissen hatte.

Plötzlich schrie Carson los: »Die Karte da! Wo hast du die her? Komm, lass sehn! Da, gezinkt! Dachte ich mir doch! Kein Wunder, dass du die ganze Zeit gewonnen hast! Ha! Ha!«

Carson stand auf, packte den kleinen Kartenspieler am Schlips und zog ihn daran hoch. Carson war vor Wut blaurot im Gesicht, und der kleine Kartenspieler lief rot an, als ihn Carson am Schlips zog.

»Was war? Was war? Was ist los?«, schrie Shipkey. »Worum geht’s denn? Lass hören!«

Carson war blaurot und konnte kaum noch sprechen. Mit großer Mühe zischte er die Worte hervor, ohne den Schlips loszulassen. Der kleine Kartenspieler fuchtelte mit den Armen herum wie ein gestrandeter Krake.

»Beschissen hat er uns!«, zischte Carson. »Beschissen! ’ne Karte aus dem Ärmel gezogen, ich schwör’s! Der hat uns beschissen!«

Shipkey trat hinter den kleinen Kartenspieler, packte ihn bei den Haaren und riss ihm den Kopf von einer Seite zur anderen. Carson blieb am Schlips.

»Hast du uns beschissen, ja? Ja? Rede! Rede!«, schrie Shipkey, an den Haaren zerrend.

Der kleine Kartenspieler sagte nichts. Er warf nur die Arme umher und kam ins Schwitzen.

»Kommen Sie, wir gehen irgendwohin, wo wir ein Bier trinken und was essen können«, sagte ich zu dem Mann mit dem Ziegenbart.

»Los! Rede! Spuck’s aus! Wie kannst du uns bescheißen?«

»Ach, das ist nicht nötig«, sagte der Mann mit dem Ziegenbart.

»Du Ratte! Du Natter! Du Arschgesicht!«

»Ich bestehe darauf«, sagte ich.

»Einen Mann mit’m Glasauge ausnehmen, was? Dir werd ich’s zeigen, du Arschgesicht!«

»Das ist sehr nett von Ihnen, danke, und ein bisschen Hunger hab ich auch«, sagte der Mann mit dem Ziegenbart.

»Rede! Rede, du Arschgesicht! Wenn du binnen zwei Minuten nicht den Mund aufmachst, binnen zwei Minuten, schneid ich dir die Pumpe raus und verwende sie als Türgriff!«

»Gehen wir«, sagte ich.

»Okay«, sagte der Mann mit dem Ziegenbart.

 

So spät am Abend hatten alle Esslokale zu, und es war eine lange Fahrt in die Stadt. Da ich ihn nicht wieder mit zu mir nehmen konnte, musste ich mein Glück bei Millie versuchen. Sie hatte immer reichlich zu essen. Jedenfalls hatte sie immer Käse da.

Ich hatte recht. Sie machte uns Käsebrote mit Kaffee. Die Katze kannte mich noch und sprang mir in den Schoß.

Ich setzte sie auf den Fußboden.

»Aufgepasst, Mr Burnett«, sagte ich.

»Gib Pfötchen!«, befahl ich der Katze. »Gib Pfötchen!«

Die Katze saß nur da.

»Komisch, früher hat sie das immer gemacht«, meinte ich. »Gib Pfötchen!«

Shipkey hatte dem Mann auch noch gesagt, ich würde mit den Vögeln reden.

»Na los! Gib Pfötchen!«

Langsam kam ich mir blöd vor.

»Jetzt komm! Pfötchen!«

Ich beugte mich zu der Katze runter, legte meinen Kopf an ihren und hängte mich voll rein.

»Gib Pfötchen!«

Die Katze saß nur da.

Ich setzte mich wieder hin und griff zu meinem Käsebrot.

»Katzen sind komische Tiere, Mr Burnett. Man steckt nicht drin. Millie, legst du mal Tschaikowskis Sechste auf für Mr Burnett?«

Wir lauschten der Musik. Millie kam rüber und setzte sich auf meinen Schoß. Sie hatte nur ein Nachthemd an. Sie lehnte sich an mich. Ich hielt das Brot zur Seite.

»Achten Sie mal darauf«, sagte ich zu Mr Burnett, »wie in dieser Sinfonie die Marschbewegung ins Spiel kommt. Für mich ist das einer der schönsten Sätze in der ganzen Musik. Nicht nur schön und kraftvoll, sondern auch perfekt im Aufbau. Man spürt, welche Intelligenz da am Werk ist.«

Die Katze sprang dem Mann mit dem Ziegenbart auf den Schoß. Millie schmiegte ihre Wange an meine und legte mir die Hand auf die Brust. »Wo warst du, Spatz? Du hast Millie gefehlt, weißt du?«

Die Platte war zu Ende, und der Mann mit dem Ziegenbart nahm die Katze vom Schoß, stand auf und drehte die Platte um. Er hätte die andere Scheibe aus der Hülle nehmen sollen. Wenn er die erste umdrehte, kamen wir zu schnell zum Höhepunkt. Aber ich sagte nichts, und wir hörten sie zu Ende.

»Gefällt sie Ihnen?«, fragte ich.

»Ausgezeichnet! Ganz ausgezeichnet!«

Er hatte die Katze auf dem Fußboden.

»Gib Pfötchen! Gib Pfötchen!«, sagte er zu ihr.

Die Katze gab Pfötchen.

»Da«, sagte er. »Die Katze gibt mir Pfötchen.«

»Gib Pfötchen!«

Die Katze wälzte sich auf den Rücken.

»Nein, gib Pfötchen! Gib Pfötchen!«

Die Katze saß nur da.

Er ging mit dem Kopf zum Kopf der Katze runter und sprach ihr ins Ohr. »Gib Pfötchen!«

Die Katze langte ihm mit der Pfote in den Bart.

»Sehen Sie? Sie gibt mir Pfötchen!« Mr Burnett schien sich zu freuen.

Millie drückte sich ganz an mich. »Küss mich, Spatz«, sagte sie. »Küss mich.«

»Nein.«

»Du lieber Gott, Spatz, fängst du an zu spinnen? Was hast du denn? Ich merk doch, dass dich heute Abend was bedrückt! Erzähl es deiner Millie! Du weißt, dass Millie für dich durch die Hölle gehn würd, Spatz! Wo drückt der Schuh, hm?«

»Jetzt mach ich, dass die Katze sich auf den Rücken wälzt«, sagte Mr Burnett.

Millie schlang fest die Arme um mich und blickte in mein emporgerichtetes Auge. Sie sah sehr traurig und mütterlich aus und roch nach Käse. »Sag Millie, was du hast, mein Spatz.«

»Auf den Rücken!«, sagte Mr Burnett zu der Katze.

Die Katze saß nur da.

»Millie«, sagte ich zu Millie, »siehst du denn Mann da?«

»Klar seh ich den.«

»Nun, das ist Whit Burnett.«

»Wer?«

»Der Zeitschriftenmann. Dem ich meine Stories schicke.«

»Also der, von dem du immer die Winzbriefe kriegst?«

»Ablehnungsbescheide, Millie.«

»Na, der ist doch gemein. Den mag ich nicht.«

»Auf den Rücken!«, sagte Mr Burnett zu der Katze. Die Katze wälzte sich auf den Rücken. »Da!«, rief er. »Sie hat sich auf den Rücken gewälzt! Wie viel wollen Sie für die Katze? Die ist fabelhaft!«

Millie schlang die Arme fester um mich und schaute mir in die Augen. Ich war ganz hilflos. Ich kam mir vor wie ein noch lebender Fisch auf Eis hinter der Metzgertheke am Freitagmorgen.

»Hör zu«, sagte sie, »den krieg ich schon dazu, dass er eine Geschichte von dir druckt. Ich kann machen, dass er sie alle druckt!«

»Sehen Sie mal, wie sich die Katze vor mir auf den Rücken wälzt!«, sagte Mr Burnett.

»Nein, nein, Millie, das verstehst du nicht. Herausgeber sind anders als müde Geschäftsleute. Herausgeber haben Skrupel!«

»Skrupel?«

»Skrupel.«

»Auf den Rücken!«, sagte Mr Burnett.

Die Katze saß nur da.

»Mit den Skrupels kenn ich mich aus! Mach dir darüber keine Gedanken, Spatz. Den krieg ich dazu, dass er deine ganzen Geschichten druckt.«

»Auf den Rücken!«, sagte Mr Burnett zu der Katze. Nichts geschah.

»Nein, Millie, das kommt nicht in Frage.«

Sie hatte sich völlig um mich gewickelt. Ich kriegte kaum Luft, und sie war ziemlich schwer. Ich merkte, wie mir die Füße einschliefen. Millie drückte ihre Wange an meine und streichelte mir über die Brust. »Da hast du gar nichts zu melden, Spatz!«

Mr Burnett neigte den Kopf zum Kopf der Katze hinunter und sprach ihr ins Ohr. »Auf den Rücken!«

Die Katze langte ihm mit der Pfote in den Bart.

»Ich glaube, die Katze möchte was zu fressen«, sagte er.

Damit hockte er sich wieder auf seinen Stuhl. Millie ging zu ihm und setzte sich auf sein Knie.

»Wo haben Sie denn das schnuckelige Ziegenbärtchen her?«, fragte sie.

»Entschuldigen Sie mich«, sagte ich, »ich geh mir ein Glas Wasser holen.«

Ich ging und setzte mich in die Frühstücksecke und betrachtete das Blumenmuster auf dem Tisch. Ich versuchte es mit dem Fingernagel abzukratzen.

Millies Liebe mit dem Käsehändler und dem Schweißer teilen zu müssen war schon schwer genug. Millie mit den gemeißelten Hüften. Verdammt und zugenäht.

Ich blieb da eine Weile sitzen, dann zog ich den Ablehnungsbescheid aus der Tasche und las ihn noch einmal. Die Faltstellen wurden langsam schmuddlig braun und rissig. Statt ihn immer wieder zu lesen, legte ich ihn am besten in ein Buch ein wie eine Rosenblüte.

Ich ließ mir durch den Kopf gehen, was drinstand. Das Problem hatte ich schon immer. Schon am College neigte ich der krausen Schwermut zu. Die Shortstory-Lehrerin lud mich eines Abends zum Essen und zu einer Veranstaltung ein und hielt mir einen Vortrag über die Schönheiten des Lebens. Ich hatte ihr eine Story von mir gegeben, in der ich als die Hauptfigur abends an den Strand ging und im Sand über die Bedeutung von Jesus nachdachte, den Sinn des Todes, den Sinn und die Vollkommenheit und den Rhythmus in allem. Mitten in meine Gedankengänge platzt dann ein triefäugiger Penner und kickt mir Sand ins Gesicht. Ich rede mit ihm, spendiere ihm eine Flasche, und wir trinken zusammen. Wir müssen kotzen. Anschließend gehen wir in einen Puff.

Nach dem Essen klappte die Shortstory-Lehrerin ihre Handtasche auf und holte meine Strandgeschichte heraus. Sie schlug sie etwa in der Mitte auf, wo der triefäugige Penner auftaucht und der Sinn Jesu sich verabschiedet.

»Bis dahin«, sagte sie, »bis dahin war das sehr gut, richtig schön.«

Dann warf sie mir einen bösen Blick zu, wie ihn nur mit Kunstverstand begabte Menschen draufhaben, die irgendwie zu Rang und Geld gekommen sind. »Aber ich muss doch sehr, sehr bitten«, sie tippte auf die zweite Hälfte meiner Story, »was zum Teufel hat denn dieser Kram da verloren?«

 

Länger konnte ich nicht wegbleiben. Ich stand auf und ging in das vordere Zimmer.

Millie hatte sich um ihn herumgewickelt und schaute in sein emporgerichtetes Auge. Er guckte wie ein Fisch auf Eis.

Millie dachte wohl, ich wollte mit ihm über redaktionelle Fragen reden.

»Entschuldigen Sie mich, ich muss mir die Haare kämmen«, sagte sie und ging aus dem Zimmer.

»Nettes Mädchen, nicht wahr, Mr Burnett?«, fragte ich.

Er setzte sich ordentlich hin und zog seinen Schlips zurecht. »Verzeihung«, sagte er, »warum sagen Sie immer ›Mr Burnett‹ zu mir?«

»Heißen Sie denn nicht so?«

»Ich heiße Hoffman. Joseph Hoffman. Ich bin von der Curtis-Lebensversicherung. Ihre Postkarte hat mich zu Ihnen geführt.«

»Ich habe Ihnen doch gar keine Karte geschrieben.«

»Wir haben aber eine von Ihnen erhalten.«

»Das kann nicht sein.«

»Sind Sie denn nicht Andrew Spickwich?«

»Wer?«

»Spickwich. Andrew Spickwich, 3631 Taylor Street.«

Millie kam wieder und wand sich um Joseph Hoffman herum. Ich brachte es nicht über mich, sie aufzuklären.

Leise schloss ich die Tür hinter mir, ging die Treppe hinunter und raus auf die Straße. Ich wanderte ein Stück den Block entlang, dann sah ich, dass das Licht ausging.

Wie der Teufel lief ich zu meiner Bude in der Hoffnung, dass in der Riesenflasche auf dem Tisch noch ein Rest Wein war. Allerdings rechnete ich nicht damit, so viel Glück zu haben, denn dafür bin ich zu sehr das Epos eines bestimmten Menschenschlags: krause Schwermut, unpraktisches Denken und unterdrückte Begierden.

20 Tanks aus Kasseldown

Er saß in seiner Zelle, trommelte mit den Fingern auf der Flasche und dachte: Dass sie mir die Flasche gegeben haben, war ja sehr anständig. Es fühlte sich gut an, mit leicht gespreizten Fingern auf dem Glas zu trommeln, kühl und sauber. So kannte er das vom Whiskey; der machte das Leben erträglich, nahm ihm die Spitze, war gut für rastlose Geister: er räumte im Kopf auf, schaltete ihn runter und brachte ihn spürbar zur Ruhe.

Eine Schabe huschte zackzack über den Fußboden und hielt zack vor einem seiner Schuhe an. Sie hielt still, und er hörte auf zu trommeln und beobachtete sie. Von den reglosen Fingern an der Flasche bis hinunter zum Schnitt des Schuhs neben der Schabe war er von schlanker Gestalt, geschmeidig, frauenhaft, ohne feminin zu wirken, und er strahlte eine Würde aus, die an Könige, an Fürsten denken ließ, an Behütetes und Verwöhntes, und hätte man es nicht besser gewusst, hätte man meinen können, das Leben sei spurlos an ihm vorübergegangen. (Er setzte den Fuß vor und zertrat die Schabe.) Er war um die dreißig, und sein Gesicht sah wie das eines Denkers zugleich jünger und doch wieder älter aus. Seine Bewegungen waren zurückhaltend und leise, immer vom Kopf gesteuert, und wurden im Gedränge manchmal hektisch und plump, eine Täuschung, um nicht aufzufallen. Während des Prozesses, als er im Blickpunkt der Öffentlichkeit stand, hatte es in seiner Zelle von Reportern gewimmelt. Er lächelte ununterbrochen, als sie ihn befragten, dennoch merkten sie ihm an, dass er nicht im mindesten glücklich war – als hätte er das sein sollen! Und doch war es kein spöttisches Lächeln. Es war in gewisser Weise freundlich. Er trug nicht viel Hass in sich; da war nur etwas Unbestimmtes, Widersprüchliches. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich zu rasieren, und trug einen schütteren Bart, die Haare so dünn wie unter seinen Achseln. Er ließ ihn wirklich nach Märtyrer aussehen, dieser Bart, zusammen mit den Geisteraugen, erst recht, wie er da an der Wand lehnte, mit leichter Hand seine Zigarette anzündete und zu Boden sah. Wie er die Reporter anlächelte: »So, Freunde, was kann ich für euch tun?«

»Haltet mir bloß die Priester vom Leib …«, hatte er gesagt.

Jetzt saß er in der Zelle, und die Finger fingen wieder an zu trommeln, auf der Flasche zu trommeln. Weil es aber der zweite Durchgang war und er das nun schon kannte, war es nicht mehr ganz so schön. Er musste lächeln.

Hattest Zeit, ein Buch zu schreiben. Hättest eins schreiben sollen. Druckerschwärze auf Papier. Der erste Buchstabe jedes Kapitels herrlich ausgeschmückt. Verziert mit einer Rose, Blattwerk oder einem Mädchenknie. Hättest ein Buch schreiben sollen. Tun sie ja alle. »Verrat heißt nur … zu den Verlierern der Revolution zu gehören.« Dies ist ein kleines Land, aber ich hätte ein großes Buch schreiben können … Dies ist ein kleines Land, aber 20, nur 20 Panzer mehr, dann wäre ich jetzt in Kasseldown und Curtwright wäre hier – säße hier an einem Buch. Verdammt, sogar mit 100 Pferden …

Aber jetzt haben sie dich herausgepickt, um diesem ruhmreichen Land in den Geschichtsbüchern einen wehrhafteren Anstrich zu geben. Denn du hast heute eine Schabe getötet und sie auch – das heißt, bei Sonnenuntergang werden sie es tun … Sieh die Kleinen, wie sie lesen, lesen, und da die Lehrerin mit ihrem langen Rohrstock und ihrer Schiefertafel, wie sie auf die farbige Landkarte zeigt. Die Schreibhefte, die dicke Tinte auf den Pulten … merkt euch, merkt euch das. Ein ganzer Schwall, ein ganzer Strom von Worten und Gedanken und Ideen … stundenlang Rede und Gegenrede, von Prüfungen, von Überliefertem, das leicht beeinflussbaren Hirnen eingetrichtert wird, damit alles beim Alten bleibt. Und jetzt singen sie, singen sie und marschieren aus den Klassenzimmern, spielen Ball und glauben … und werden größer und lesen die Zeitung und glauben … das alles, weil es auf 100 Pferde ankam, 100 Brocken Tierfleisch, gefüttert und satt; stumpfes, stumpfes Viehzeug, das den Ton der Musik macht … Curtwrights Pferde.

Er nahm noch einen Zug aus der Flasche und fühlte sich sehr allein, aber nicht der vier nassen, arenahaften Wände wegen.

Trotzdem … du hast es versucht. Und wenn du gesiegt hättest, wäre es das Gleiche auf der anderen Seite gewesen … Warum hast du dir die Mühe gemacht? War dir nicht klar, dass außer für die paar Auserwählten nichts einen Sinn ergibt? … Nein, es war kein Ehrgeiz – nicht dieser Art … An den Leuten lag es, ihrem leerlaufenden, kaum gelebten, angstgeplagten Leben. Das Ganze war ein Ritual des Tunichts, Riskiernichts und Lassdirnichtstun. Er hatte einfach Hunger bekommen, Hunger, etwas zu tun … irgendetwas, um aus dem Schneckenhaus, in dem er erstickte, auszubrechen.

Er saß in der Zelle und hielt sich die Flasche vor die Augen. Trotz des schwachen Lichts konnte er die ins Glas geprägten Worte erkennen: VERKAUF UND WIEDERVERWENDUNG DIESER FLASCHE GESETZLICH VERBOTEN …

Er stand auf und schaute auf die Wände. Seltsam graue, kalt schwitzende, dicke Mauern, vollgepackt mit Dramen – und so alt … Alt. Seltsam auch bei den Frauen … wie sie alterten. Wirklich traurig. Du hast die jungen gesehen, straff und aufreizend, und ihr Stolz war dir zuwider, denn Stolz auf etwas Mechanisches und Vorübergehendes war unangebracht. Stolz stand nur denjenigen zu, die neue Formen schufen und siegten … Er lächelte wieder und sah auf die Wände. Freundlich und solide wirkten sie, und er fuhr mit dem Finger an dem rauen, nassen grauen Putz entlang.

Er hatte einen trockenen Mund und ging zum Wasserhahn hinüber, um seine Blechtasse zu füllen. Das Wasser kam in einem harten Strahl, der weißen Schaum in der Tasse aufwirbelte. Er drehte den Hahn zu, aber zu spät, so dass das Wasser überschwappte und auf einem seiner Schuhe einen Flecken sauberes, poröses Leder freilegte. Langsam drehte sich etwas hinter seiner Stirn, und er dachte, es ist zu still. Er trank das Wasser, aber es schmeckte stark nach Blech, und plötzlich wurde ihm übel, speiübel. Er setzte sich wieder auf die Pritsche, umgeben nur von Halbdunkel und Beton, und war sich seines Atmens bewusst, und spürte den Blechgeschmack in jedem Atemzug. Er trank den Rest Whiskey aus der Flasche, dann stellte er sie leise auf den Boden. Das Abstellen der Flasche war eine der wenigen selbständigen Handlungen, die ihm noch blieben. Er lehnte sich gegen die Wand, schloss die Augen, schlug sie auf und begriff, dass er jetzt wohl wirklich Angst hatte, dass sein Verstand nach einer Rechtfertigung für den Tod des Fleisches suchte.

Als ihm das bewusst wurde, kroch ihm die Kälte in die Finger und an beiden Armen hoch, bis er krampfhaft mit den Schultern zuckte, um sie abzuschütteln. Es ist so still, dachte er wieder, und mit einem Mal fand sein Verstand einen Ausweg, eine Basis, und er hasste den Strudel, den sinndurchtränkten Strudel in seinem Kopf, die Gedankenmassen und die Rechnerei, das Gewicht von Zahl und Zufall; die Masse und den Druck ungeordneter und bezugloser Dinge, die einen ohne ein Aufblitzen, ein Seufzen, ein Ticken umbringen konnten.

Aber halt, dachte er, lass nicht der Leidenschaft die Zügel schießen. Unbeherrschte Leidenschaft ist ein Zeichen von Minderwertigkeit! Hör zu. Nimm das alles und mach für die da Zahlen draus, harte, eherne Symbole, ausgewogene Formeln.

Da musste er dann doch lachen – nicht lachen, sondern kichern wie eine Frau, ohne genau zu wissen warum, halbverrückt.

»Wache!«

»Wache!«, schrie er.

Der Wärter kam und blieb vor dem Gitter stehen. »Möchten Sie einen Priester?«, fragte er.

Der Wärter war kahlköpfig und fett, und als er ihn vor sich sah, dachte er: Kahlköpfig und fett, sein Gesicht ist eine Mischung aus Brutalität und Humor und kann sich zwischen beidem nicht entscheiden, und die Augen sind so klein, so klein.

»Halten Sie mich bitte nicht für ungehobelt oder biestig, Herr Wärter, aber bei einem Menschen wie Ihnen ist es gleich, wann er lebt – ob heute, in zweitausend Jahren oder irgendwo dazwischen. Sie hinterlassen nichts fürs Auge, fürs Ohr, Sie bringen nichts Neues … Natürlich ist es trotzdem großartig zu leben, so großartig wie Sie. Großartig, da zu stehen und mich zu fragen, ob ich einen Priester möchte, großartig, Ihr harmloses Spielchen zu spielen und mitzubekommen, wie sich der große Knall anbahnt. Denn mitbekommen tun Sie schon was, auch wenn Sie beiseitetreten … aber ich kann mich nicht mehr hören. Sagen Sie mal was. Was meinen Sie, Herr Wärter?«

»Was ich meine?«

»Ja.«

»Möchten Sie einen Priester?«

»Nein. Gehen Sie.«

Ihm war schlecht in seiner Zelle.

Ich versuch’s, ich versuch’s, ich will doch sehen. Aber die ganze verdammte Welt scheint mir falsch zu sein, falsch. Ach, ich hätte in der Klinik bleiben sollen, wo ich an Leuten herumdoktern und nachts malen konnte. Nachts hätte ich mir eine eigene Welt erschaffen können. Aber ich wollte den ganzen Teich aufrühren, an den Grundfesten rütteln. Ach, Hunger – Hunger.

Er blickte zu Boden, auf den Fleck, der einmal eine Schabe gewesen war, und lächelte wieder.

Schwer ohne Musik

Larry wurde von seiner Vermieterin im Flur angehalten, als er von der Straße hereinkam.

»Es ist jemand oben in Ihrem Zimmer. Die haben Ihr Inserat wegen des Plattenspielers und der Platten gesehen. Ich dachte, ich kann sie ruhig hochlassen. Wir haben uns eine ganze Weile unterhalten, und außerdem …«

»Schon okay.« Er ging an ihr vorbei.

Sie fasste ihn am Ellbogen. »Larry.«

»Ja?« Er drehte sich um.

»Es sind Nonnen.«

Er schwieg.

»Alles in Ordnung, Larry?«

»Klar.«

»Wirklich? Es sind Ordensschwestern, Larry. Wäre nicht schlecht, wenn’s keine wären.«

Er ging die Treppe hinauf, dann zur Toilette auf dem Flur. Er schloss die Tür und sah in den Spiegel. Er trank ein Glas Wasser, dann steckte er sich eine Zigarette an und rauchte in schnellen, tiefen Zügen. Der Rauch stieg zur Decke hoch, und an der Zigarette bildete sich ein dünner, fester Aschestrang. Er nahm einen letzten Zug, ging zum Klo und warf die Kippe hinein. Noch einmal schaute er in den Spiegel …

Die Tür zu seinem Zimmer stand offen, und er trat ein. Die eine Nonne saß auf dem Stuhl, die andere ging gerade mit einer Platte in der Hand zum Plattenspieler.

Die auf dem Stuhl sah ihn zuerst. »Die sind ja wunder-wunderschön!«

Larry ging zum Sessel hinüber und setzte sich. Vom Fenster aus konnte er die Bäume und den Garten sehen. Ob es stimmte, was Paul erzählt hatte? Dass sie sich die Köpfe rasierten?

Die Nonne, die die Schallplatte in der Hand hielt, legte sie neben dem Apparat ab und wandte sich Larry zu.

»Legen Sie sie ruhig auf«, sagte er. »Hören Sie sich an, so viele Sie wollen.«

»Ach, die sind doch alle gut«, sagte die Nonne auf dem Stuhl.

»Schwester Celia kennt sich aus«, sagte die Stehende.

Die auf dem Stuhl lächelte. Ihre Zähne waren strahlend weiß. »Sie haben einen sehr guten Geschmack. Fast alles von Beethoven, Brahms, Bach …«

»Ja«, sagte Larry. »Ja, danke.« Er wandte sich an die andere Nonne. »Nehmen Sie doch Platz«, meinte er. Aber sie rührte sich nicht.

Auf der Stirn, den Handflächen und in der Halsbeuge brach ihm der Schweiß aus. Er wischte sich die Hände an den Knien ab. Wieso hatte er das Gefühl, er sei im Begriff, etwas Furchtbares zu tun? Wie schwarz sie angezogen waren, und dann das Weiß – was für ein Kontrast. Und die Gesichter. »Am liebsten«, sagte er, »höre ich Beethovens Neunte.« Das stimmte nicht. Er hatte keine Lieblinge.

»Ich würde die Platten gern im Unterricht verwenden«, sagte Schwester Celia, die Sitzende. »Ohne Musik … ist es so schwer.«

»Ja«, sagte Larry. »Für uns alle.« Es klang sehr dramatisch. Er hatte das Gefühl, nicht hierherzugehören. Es war Hochsommer. Die Augen fielen ihm zu, er hatte einen trockenen Hals. Ein dünner Luftzug strich ihm kurz über die Stirn. Er dachte an Krankenhäuser, an Desinfektionsmittel.

»Es ist eine Schande, sie zu verkaufen. Na ja … für Sie«, sagte Schwester Celia. Sie war offensichtlich die Käuferin, dachte er. Die andere war nur dabei.

Larry wartete einen Augenblick, bevor er antwortete: »Ich muss umziehen. In eine andere Stadt. Dabei würden sie doch nur kaputtgehen.«

»Die wären sicher toll für meinen Unterricht, für die älteren Mädchen.«

»Die älteren Mädchen«, sagte Larry. Dann schlug er die Augen auf und schaute direkt in das glatte Gesicht von Schwester Celia, in die hellen Nonnenaugen. »Das ist vernünftig«, sagte er. »Sehr vernünftig.« Seine Stimme war hart und metallisch geworden. Auch an den Beinen brach ihm der Schweiß aus, und der Hosenstoff stach ihm in die Beine. Seine Hände fuhren über die Knie. Er senkte den Blick, dann sah er wieder Schwester Celia an. Die andere Nonne schien weit weg zu sein, als hinge sie dort in der Luft.