Das wirkliche Leben - Adeline Dieudonné - E-Book
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Das wirkliche Leben E-Book

Adeline Dieudonné

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Beschreibung

»Dieser Roman ist unglaublich krass, von ungeheurer Sprachgewalt, es ist ein Thriller, eine Geschichte, die man gar nicht aus der Hand legen kann.« Stefanie Stahl, WDR 5, Bücher Eine Reihenhaussiedlung am Waldrand, wie es viele gibt. Im hellsten der Häuser wohnt ein zehnjähriges Mädchen mit seiner Familie. Alles normal. Wären da nicht die Leidenschaften des Vaters, der neben TV und Whisky vor allem den Rausch der Jagd liebt. In diesem Sommer erhellt nur das Lachen ihres kleinen Bruders Gilles das Leben des Mädchens. Bis eines Abends vor ihren Augen eine Tragödie passiert. Nichts ist mehr wie zuvor. Mit der Energie und der Intelligenz einer mutigen Kämpferin setzt das Mädchen alles daran, sich und ihren Bruder vor dem väterlichen Einfluss zu retten. Von Sommer zu Sommer spürt sie immer deutlicher, dass sie selbst die Zukunft in sich trägt, wird immer selbstbewusster – ihr Körper aber auch immer weiblicher, sodass sie zusehends ins Visier ihres Vaters gerät.

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Seitenzahl: 215

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Über das Buch

Eine Reihenhaussiedlung, wie es viele gibt. An ihrem Rand wohnt eine vierköpfige Familie, im schönsten und hellsten Haus. Ein Stück heile Welt, könnte man meinen. Wären da nicht die Leidenschaften des Vaters: Neben TV und Whisky liebt er den Rausch der Jagd. Da er für eine Großwildsafari aber selten das Geld hat, befriedigt er seine Gier nach Macht meistens in den eigenen vier Wänden. In einer solchen Atmosphäre aufzuwachsen ist nicht leicht. Damit sich der kleine Bruder zumindest sein Lachen bewahrt, geht das Mädchen tagsüber mit ihm auf dem Autofriedhof spielen und abends zum Eiswagen, der mit Tschaikowskis ›Blumenwalzer‹ sein Kommen ankündet. Bis eines Tages vor ihren Augen eine Tragödie passiert …

 

 

 

 

Für Lila und Zazie

 

 

 

 

Bei uns zu Hause gab es vier Schlafzimmer. Meines. Das meines Bruders Gilles. Das meiner Eltern. Und das der Kadaver.

Mazamas, Wildschweine, Hirsche. Antilopenschädel in verschiedenen Größen und von allen möglichen Arten: Springböcke, Wasserböcke, Impalas, Gnus, Oryxantilopen. Dann noch ein paar Zebraköpfe. Und auf einem Podest ein ganzer Löwe, die Zähne in den Hals einer kleinen Gazelle geschlagen.

In einer Ecke schließlich – die Hyäne.

Zwar war sie ausgestopft, doch sie lebte, da war ich mir sicher, und genoss den Schrecken in den Augen aller, die sie anzuschauen wagten.

An den Wänden hingen gerahmte Bilder. Darauf war mein Vater mit den toten Tieren zu sehen. Es war immer die gleiche Pose: Ein Fuß auf dem Tier, eine Hand in die Hüfte gestemmt, reckte er mit der anderen stolz und zum Zeichen des Triumphs sein Gewehr in die Luft, was ihn weit mehr wie ein Rebell im Adrenalinrausch eines Genozids wirken ließ als wie ein Familienvater.

Das Prunkstück seiner Sammlung, sein ganzer Stolz, war ein Elefantenstoßzahn. Eines Abends hatte er meiner Mutter erzählt, dass die größte Schwierigkeit nicht darin bestanden habe, den Elefanten zu erlegen. Das sei so einfach gewesen wie eine Kuh in einem U-Bahn-Tunnel zu erschießen. Nein, am schwierigsten sei es gewesen, Kontakt mit den Wilderern aufzunehmen und der Überwachung durch die Ranger zu entgehen. Und dann dem noch warmen Kadaver die Stoßzähne herauszubrechen. Ein richtiges Gemetzel sei das gewesen.

Das alles hatte ihn ein kleines Vermögen gekostet. Ich denke, deshalb war er auch so stolz auf seine Trophäe. Einen Elefanten zu töten, ist derart teuer, dass er die Kosten mit einem anderen Kerl hatte teilen müssen. Und dann hatte jeder einen Stoßzahn mit nach Hause genommen.

Ich strich gern über den Elfenbeinzahn. Er war so weich und groß. Aber ich musste es heimlich tun. Denn mein Vater hatte uns verboten, das Zimmer der Kadaver zu betreten.

Mein Vater war ein Koloss. Er hatte breite Schultern wie ein Abdecker. Und Hände wie ein Riese. Hände, die den Kopf eines Kükens ebenso leicht abschlagen konnten wie den Kronkorken einer Flasche Cola. Neben der Trophäenjagd hatte mein Vater noch zwei weitere Leidenschaften im Leben: fernsehen und Whisky trinken. Wenn er nicht gerade in den entlegensten Ecken der Welt nach Tieren zum Töten suchte, schloss er, eine Flasche Glenfiddich in der Hand, den Fernseher an die Lautsprecherboxen an, die so viel gekostet hatten wie ein Kleinwagen.

Und hin und wieder richtete er sogar das Wort an meine Mutter. Aber eigentlich hätte man sie auch durch einen Ficus ersetzen können, er hätte den Unterschied gar nicht bemerkt.

Denn meine Mutter hatte Angst. Angst vor meinem Vater.

Wenn man von ihrem Faible fürs Gärtnern und für Zwergziegen einmal absieht, lässt sich über meine Mutter sonst nicht viel sagen. Sie war eine hagere Frau mit langen, dünnen Haaren. Keine Ahnung, ob sie schon existiert hatte, bevor sie ihn traf. Ich nehme mal an ja. Sie muss allerdings damals schon einer primitiven, einzelligen, fast durchsichtigen Lebensform geglichen haben. Einer Amöbe: Ektoplasma, Endoplasma, Zellkern, Nahrungsvakuole. Durch das Zusammenleben mit meinem Vater hatte sich das bisschen Dasein dann nach und nach mit Furcht gefüllt.

Ihre Hochzeitsfotos haben mich schon immer neugierig gemacht. Soweit ich in meiner Erinnerung auch zurückgehe, sehe ich mich im Fotoalbum nach etwas suchen, das ihre bizarre Verbindung erklären könnte. Liebe, Bewunderung, Achtung, Freude, ein Lächeln … irgendwas …

Ich habe es nie gefunden.

Auf den Bildern posierte mein Vater in derselben Haltung wie auf den Jagdaufnahmen, nur nicht so stolz. Klar, eine Amöbe gibt als Trophäe ja auch nicht wirklich viel her. Sie ist leicht einzufangen, ein Glas, ein wenig abgestandenes Wasser und schwupps, geschnappt.

Angst hatte meine Mutter bei ihrer Hochzeit aber offenbar noch keine. Es sah nur so aus, als hätte jemand sie einfach so neben ihn gestellt, wie eine Vase.

Irgendwann, als ich schon älter war, fragte ich mich, wie die beiden es geschafft hatten, zwei Kinder zu zeugen. Meinen Bruder und mich. Allerdings stellte ich meine Überlegungen rasch wieder ein, denn das einzige Bild, das mir in den Sinn kam, zeigte meinen nach Whisky stinkenden Vater bei einer Attacke spätabends auf dem Küchentisch. Ein paar schnelle Stöße, brutal und nicht gerade einvernehmlich, und das war’s …

Die Hauptfunktion meiner Mutter bestand jedenfalls von Anfang an im Zubereiten der Mahlzeiten. Sie tat es wie eine Amöbe, ohne Kreativität, ohne Geschmack, dafür mit viel Mayonnaise. Meistens gab es Schinken-Käse-Toast, Dosenpfirsiche gefüllt mit Thunfischcreme, Russische Eier oder panierten Fisch mit Kartoffelpüree.

 

 

 

 

Hinter unserem Garten begann das Galgenwäldchen. Es lag in einem Tal, dessen bewaldete Hänge ein so steiles V bildeten, dass sich in der Talsohle das Laub sammelte. Ganz am Ende des Wäldchens, halb unter toten Blättern begraben, stand das Haus von Monica.

Gilles und ich gingen sie oft besuchen. Denn Monica konnte gut Geschichten erzählen. Ihre langen, grauen Haare tanzten dabei über die Blumen ihres Kleides, und an ihren Handgelenken klimperten die Armreifen. Von ihr wussten wir, wie das V entstanden war.

»Es war einmal vor langer, langer Zeit, da lebte nicht weit von hier auf einem Berg ein Drachenpaar.

Die beiden riesengroßen Drachen liebten sich so sehr, dass sie nachts immer miteinander sangen, so wundersam und schön, wie dies nur Drachen konnten.

Gleichwohl jagte ihr Gesang den Menschen, die unten in der Ebene wohnten, Angst ein. Eine Angst, die immer größer wurde, sodass sie bald kein Auge mehr zutaten.

Eines Nachts, als die Liebenden, müde und beseelt von ihrem Duett, eingeschlafen waren, schlichen die dummen Menschen mit Fackeln und Heugabeln bewaffnet hinauf auf den Berg und brachten das Weibchen um.

Außer sich vor Kummer brannte der männliche Drache daraufhin mit seinem Feueratem die ganze Ebene nieder. Männer, Frauen, Kinder, alle starben. Danach durchpflügten seine gewaltigen Krallen die verbrannte Erde. Und so ist das Tal entstanden. Seitdem sind die Pflanzen zwar nachgewachsen und die Menschen zurückgekehrt, aber die Krallenspuren sind geblieben.«

Die Geschichte machte Gilles Angst.

Abends kam er manchmal zu mir ins Bett gekrochen, weil er glaubte, den Drachen brüllen zu hören. Ich flüsterte ihm dann immer zu, dass es bloß eine Geschichte sei und es heute keine Drachen mehr gebe. Und dass Monica sie nur erzähle, weil sie Märchen liebe, aber das alles nicht wahr sei. Tief in mir regte sich trotzdem leiser Zweifel. Ich fürchtete sogar, mein Vater könnte eines Tages mit einem toten Drachen als Trophäe vom Jagdausflug zurückkehren. Um Gilles zu beruhigen, tat ich aber stets erwachsen und erklärte:

»Geschichten sind dazu da, alles hineinzupacken, was uns Angst macht. Denn so können wir uns sicher sein, dass es nicht im wirklichen Leben passiert.«

Ich liebte es, an diesen Abenden mit Gilles’ kleinem Kopf direkt unter meiner Nase einzuschlafen und dabei den Duft seiner Haare einzuatmen.

Gilles war in jenem Sommer sechs, ich war zehn.

Normalerweise streiten sich Geschwister, sind aufeinander eifersüchtig, plärren einander an, liegen sich in den Haaren.

Bei uns war das anders. Ich kümmerte mich um Gilles und brachte ihm alles bei, was ich wusste, so wie es die Aufgabe einer großen Schwester ist. Meine Liebe zu ihm war die reinste Form der Liebe, die es auf der Welt gibt. Wie Mutterliebe. Eine Liebe, die keine Gegenleistung erwartet und durch nichts zerstört werden kann.

Wenn Gilles lachte, und das tat er ständig, sah man seine Milchzähne blitzen. Sein Lachen wärmte mich jedes Mal wie ein kleines Stromkraftwerk. Ich bastelte Handpuppen aus alten Socken, erfand dazu lustige Geschichten und führte sie für ihn auf. Oder ich kitzelte ihn. Einfach nur, um ihn lachen zu hören. Denn Gilles’ Lachen konnte alle Wunden heilen.

Monicas Haus war halb von Efeu überwuchert, was sehr hübsch aussah. Manchmal fiel durch die Zweige der Bäume auch die Sonne darauf, und ihre Strahlen wirkten dann wie Finger, die es streichelten.

Unser Haus wurde von der Sonne nie so gestreichelt. Und auch nicht die Häuser in unserer Nachbarschaft.

Wir wohnten in einer Siedlung, die »Demo« genannt wurde.

Etwa fünfzig graue Einfamilienhäuser, aufgereiht wie Grabsteine.

In den Sechzigerjahren hatte an derselben Stelle noch ein Weizenfeld gelegen. Zu Beginn der Siebziger war die Siedlung dann innerhalb von sechs Monaten aus dem Boden geschossen, wie eine Warze. Ein Pilotprojekt, errichtet nach dem neuesten Stand des Fertighausbaus.

Die Demo. Eine Demonstration von was weiß ich. Die Erbauer wollten wohl irgendwas beweisen. Vielleicht hatte sie damals tatsächlich noch nach etwas ausgesehen. Jetzt, zwanzig Jahre später, war sie jedenfalls nur noch hässlich. Das Schöne, wenn es denn je existiert hatte, war vom Regen weggewaschen worden.

Die Straße der Siedlung war als großes Rechteck angelegt worden, mit Häusern innen und Häusern außen.

Unser Haus stand außen, an einer Ecke. Es war ein bisschen besser als die anderen, weil es der Architekt der Demo für sich selbst entworfen hatte. Er hat jedoch nicht lange darin gewohnt.

Das Haus war größer als die anderen. Und heller, denn es hatte große Fensterfronten.

Und es hatte einen Keller. Das klingt vielleicht albern, aber ein Keller ist wichtig. Er hält das Grundwasser davon ab, in die Mauern hochzusteigen. Die übrigen Häuser der Demo rochen wie ein muffiges Handtuch, das man in der Schwimmtasche vergessen hat. Bei uns roch es nicht schlecht, doch dafür gab es die ausgestopften Kadaver. Ich fragte mich manchmal, ob mir ein stinkendes Haus nicht lieber gewesen wäre.

Wir hatten auch einen größeren Garten als die anderen. Auf dem Rasen stand ein aufblasbares Schwimmbecken. Es sah aus wie eine dicke Frau, die in der prallen Sonne eingeschlafen war. Im Winter wurde es von meinem Vater geleert und weggeräumt, darunter kam dann ein großer Kreis gelbes Gras zum Vorschein.

Am Ende des Gartens, an einer mit kriechendem Rosmarin bewachsenen Böschung direkt am Waldrand, lag das Gehege der Ziegen.

Meine Mutter hatte drei Zwergziegen: Biskuit, Josette und Muskat. Bald würden es fünf sein, denn Muskat war trächtig.

Meine Mutter hatte zum Decken einen Bock kommen lassen, was ein wahres Drama mit meinem Vater gegeben hatte. Manchmal, wenn es um ihre Ziegen ging, geschah mit meiner Mutter nämlich etwas Merkwürdiges. Aus ihrem tiefsten Innern bahnte sich dann so etwas wie ein mütterlicher Instinkt seinen Weg, der sie ihrem Mann urplötzlich die Stirn bieten ließ.

Wenn das passierte, zog mein Vater das verdatterte Gesicht eines Meisters, dem sein Lehrling soeben den Rang ablief. Mit offenem Mund stand er da, suchte nach einer Antwort, wohl wissend, dass jede Sekunde des Schweigens seine Macht ein wenig mehr demolierte, wie eine Abrissbirne, die wieder und wieder gegen ein vom Schwamm befallenes Haus krachte. In seiner Not fletschte er schließlich die Zähne, und aus seinem Mund kam ein Knurren, das nach Stinktierbau roch.

Da wusste meine Mutter, dass sie gewonnen hatte. Sie würde dafür bezahlen, aber diesen Sieg konnte ihr keiner mehr nehmen. Übermäßig darüber zu freuen schien sie sich allerdings nicht. Jedes Mal kehrte sie danach schnell wieder in ihren Amöbenalltag zurück.

Muskat war also trächtig, und Gilles und ich fieberten der bevorstehenden Geburt entgegen. Wir achteten auf das kleinste Zeichen, das die Zicklein ankündigen konnte.

Mein kleiner Bruder lachte, als ich ihm erklärte, wie die Kleinen auf die Welt kommen würden.

»Sie kommen aus ihrer Mumu. Es wird so aussehen, als ob Muskat mal muss, statt der Köttel rutschen aber zwei Ziegenbabys raus.«

»Und wie sind die in ihren Bauch reingekrochen?«

»Sie mussten nicht reinkriechen. Muskat hat sie mit dem Bock gemacht. Die beiden waren sehr verliebt.«

»Aber der Bock ist nicht mal einen Tag hier gewesen, die kennen sich doch gar nicht! So schnell kann man sich nicht verlieben.«

»Oh doch. Das nennt man Liebe auf den ersten Blick.«

 

 

 

 

Wenn man durch das Galgenwäldchen lief und das Maisfeld überquerte, ohne sich vom Bauern erwischen zu lassen, kam man zu einem steilen, sandigen Abhang. Sobald man sich dort an den aus dem Boden herausragenden Wurzeln hinuntergehangelt hatte, stand man am Eingang zum Labyrinth.

Das Labyrinth war ein riesiger Schrottfriedhof.

Ich liebte diesen Ort. Wenn meine Finger über die Autowracks strichen, stellte ich mir manchmal vor, dass ich eine Herde zusammengepferchter Tiere vor mir hatte, die sich zwar nicht regten, aber höchst sensibel waren. Hin und wieder sprach ich darum auch mit ihnen. Vor allem mit den Neuen, weil ich mir sagte, dass sie bestimmt verängstigt waren und beruhigt werden mussten. Gilles half mir dabei. Wir konnten ganze Nachmittage damit verbringen, mit den Autos zu reden.

Einige waren schon lange Zeit dort, darum kannten wir sie mittlerweile gut. Manche waren noch fast intakt oder nur leicht beschädigt. Andere wiederum waren nur noch Schrott, ihre Motorhaube war eingedrückt, die Karosserie zerfallen; sie sahen aus, als hätte ein riesengroßer Köter stundenlang auf ihnen herumgekaut.

Mein Liebling war das grüne, dem sowohl die Sitze als auch das komplette Dach fehlten, so als sei es weggepustet worden, wie Schaum von einem Glas Bier. Ich fragte mich jedes Mal, wer es so zugerichtet hatte.

Auch Gilles hatte das Rumpelbums gern. So nannte er es. Das Rumpelbums. Und es war wirklich ein lustiges Auto. Es war so verbeult, als hätte es jemand in eine riesige Waschmaschine gesteckt, bloß ohne Wasser. Gilles und ich kletterten oft hinein und spielten, dass wir uns mit dem Auto im Schleudergang befänden. Ich packte das Lenkrad und schrie: »Rumpelbums! Bummelrumps! Rumpelbums!«, während ich immer wieder in die Höhe sprang, um das Auto zum Schaukeln zu bringen. Und Gilles’ magisches Lachen hallte bis ganz nach oben, den sandigen Hang hinauf. Spätestens das war der Moment, um abzuhauen, denn wenn der Schrotthändler es gehört hatte, würde er augenblicklich zur Stelle sein.

Ihm gehörte das Labyrinth, und er konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn wir zum Spielen herkamen. In der Demo hatten uns welche von den Großen gesagt, er hätte Wolfsfallen aufgestellt, um die Kinder zu fangen, die es wagten, zwischen seinen kaputten Autos zu spielen. Seither passten wir genau auf, wo wir hintraten.

Wenn er uns hörte, kam er brüllend angerannt. Dann durfte man sich auf keinen Fall von der Angst lähmen lassen, sondern musste blitzschnell an den Wurzeln den Hang hinaufklettern, denn mit seinem Fettwanst kam der Schrotthändler auf dem sandigen Boden nicht besonders weit hoch. Einmal hatte Gilles allerdings nach einer zu dünnen Wurzel gegriffen, sodass sie abbrach und er zurückrutschte, nur wenige Zentimeter über die großen Hände, die ihn zu packen versuchten. Da machte Gilles einen Satz wie eine Katze, ich bekam ihn am Ärmel zu fassen, und so entkamen wir knapp.

Kaum in Sicherheit, lachten wir uns halb tot vor Angst und rannten zu Monicas Efeuhaus, um ihr davon zu erzählen. Sie musste ebenfalls lachen, aber sie warnte uns auch mit einer Stimme, die wie eine rostige Hupe klang, und ihrem Geruch nach Strand:

»Mit dem Schrotthändler solltet ihr euch besser nicht anlegen, meine kleinen Kaulquappen. Zu gewissen Menschen hält man besser Abstand. Das werdet ihr noch lernen«, erklärte sie. »Es gibt Leute, die verdüstern euch den Himmel, stehlen euer Lachen oder setzen sich mit ihrem ganzen Gewicht auf eure Schultern, um euch am Fliegen zu hindern. Von solchen Menschen haltet euch bloß fern.«

Da musste ich wieder lachen, weil ich mir vorstellte, wie der Schrotthändler sich auf Gilles’ Schultern niederließ.

Danach liefen wir schnell zurück in die Demo. Denn wir hatten die Musik gehört.

Tschaikowskys ›Blumenwalzer‹.

Der Wagen des Eismanns, pünktlich zur Stelle, so wie jeden Abend.

Gilles nahm immer zwei Kugeln. Vanille und Erdbeere. Ich wählte Schokolade und Stracciatella, mit Sahne. Sahne war eigentlich nicht erlaubt. Keine Ahnung warum, aber mein Vater wollte es nicht. Darum aß ich sie immer schnell auf, bevor wir nach Hause kamen. So blieb es ein Geheimnis zwischen mir, meinem kleinen Bruder und dem netten Monsieur vom Eiswagen. Er war ein gertenschlanker, schon sehr alter Mann, hatte eine Glatze und trug einen braunen Samtanzug. Und mit seiner brüchigen Stimme und einem Lächeln in den Augen sagte er jedes Mal:

»Esst schnell auf, Kinder, sonst kommt euch die Sonne zuvor.«

 

 

 

 

In jenem Sommer hatte meine Mutter an einem Abend mal wieder Dosenpfirsiche mit Thunfisch gemacht, die wir auf unserer blau gepflasterten Terrasse aßen. Mein Vater war schon aufgestanden und hatte sich mit seiner Flasche Glenfiddich vor den Fernseher verzogen.

Er verbrachte nicht gern Zeit mit uns. Ich glaube, dass in dieser Familie keiner die gemeinsamen Abendessen mochte. Trotzdem hatte mein Vater uns dieses Ritual auferlegt. Und sich selbst auch. Weil es so zu sein hatte. Eine Familie isst gemeinsam zu Abend, ob es Spaß macht oder nicht. So wurde es einem im Fernsehen präsentiert. Nur dass die Leute im Fernsehen glücklich wirkten. Vor allem in den Werbespots. Da wurde diskutiert und gelacht die Leute sahen gut aus und liebten sich sehr. Die Zeit im Kreise der Familie wurde einem dort als Belohnung verkauft. Zusammen mit einem Ferrero Rocher war sie der Leckerbissen, den man sich nach stundenlanger Büroarbeit oder nach der Schule verdient hatte. Für uns dagegen waren die Familienessen eine Strafe, ein großes Glas Pisse, das wir Tag für Tag zu trinken hatten.

Jeder Abend verlief nach dem gleichen Ritual. Mein Vater schaute zuerst die Nachrichten und erklärte meiner Mutter dabei jede Neuigkeit, da er sie für unfähig hielt, ohne seine Kommentare irgendwas zu kapieren. Die Tagesschau war meinem Vater heilig, denn die aktuellen Geschehnisse mit seinen Anmerkungen zu versehen gab ihm das Gefühl, in der Welt eine wichtige Rolle zu spielen.

Als ob die Welt nur darauf wartete, um sich seinen Überlegungen entsprechend weiterzudrehen.

Sobald dann die Schlussmelodie ertönte, rief meine Mutter »Essen!«, mein Vater ließ den Fernseher laufen und alle setzten sich an den Tisch, wo wir schweigend zusammen aßen. Der Augenblick, wenn mein Vater aufstand, um zum Sofa zurückzukehren, war für uns jedes Mal eine Befreiung.

Das war an diesem Abend nicht anders. Gilles und ich sprangen vom Tisch auf, um zum Spielen in den Garten zu gehen. Die Abendsonne duftete nach karamellisiertem Honig.

Im Hausflur putzte meine Mutter Cocos Käfig.

Einmal hatte ich meiner Mutter zu erklären versucht, dass es grausam sei, den Wellensittich im Käfig zu halten. Vor allem, weil in der Demo jede Menge Sittiche frei herumflogen. Anscheinend wurden sie sogar langsam zum Problem, weil sie den kleineren heimischen Vögeln, Spatzen und Meisen, das Futter wegfraßen. Bei uns im Garten fraßen sie die Kirschen, noch bevor diese Zeit gehabt hatten, zu reifen.

Die Sittiche waren da, weil es wenige Kilometer von der Demo entfernt mal einen Zoo gegeben hatte. Einen kleinen Zoo. Aber er hatte Pleite gemacht wegen eines Vergnügungsparks, der nicht weit von hier eröffnet und seine Besucher weggelockt hatte. Sämtliche Tiere waren an andere Zoos verkauft worden. Bis auf die Wellensittiche. Die wollte niemand. Da es zu viel kostete, sie irgendwo anders unterzubringen, öffnete der Zoodirektor deshalb einfach die Käfige. Vielleicht dachte er, dass sie in der freien Natur bald erfrieren würden. Aber sie waren nicht gestorben. Im Gegenteil, sie hatten sich angepasst, Nester gebaut und Junge bekommen. Wenn sie aufflogen, bildeten sie große grüne Wolken am Himmel. Das war immer schön anzusehen. Richtig schön, wenn auch laut.

Deshalb verstand ich nicht, warum der arme Coco im Käfig bleiben und zuschauen musste, wie sich die anderen ohne ihn amüsierten.

Meine Mutter sagte, das sei nicht das Gleiche, er stamme aus einer Zoohandlung und sei ans Leben draußen nicht gewöhnt.

Trotzdem sollte er frei sein!

Meine Mutter putzte also Cocos Käfig, als draußen der ›Blumenwalzer‹ erklang.

Zeit für unser Eis.

Der Lieferwagen hatte an der Hecke vor unserem Haus gehalten, und der alte Eismann war bereits von einem Dutzend lärmender Kinder umringt.

Monica hatte mir irgendwann erklärt, dass er ganz anders als der Schrotthändler sei. Er sei sanft und freundlich. Wie sie so von ihm sprach, hatte ich etwas Sonderbares in ihren Augen gesehen. Beide waren schon alt. Darum kam mir der Gedanke, dass früher vielleicht einmal etwas zwischen ihnen gewesen war. Vielleicht gab es da eine schöne Liebesgeschichte, die durch eine lange zurückreichende Familienfehde abrupt beendet worden war? Ich las damals ziemlich viele Liebesromane.

Als der Eismann Gilles seine Waffel mit dem Vanille- und Erdbeereis reichte, schaute ich auf seine Hände. Alte Hände haben etwas Beruhigendes. Die Vorstellung, dass ihre feine, ausgeklügelte Mechanik dem netten alten Herrn schon so lange gehorchte, und der Gedanke an das viele Eis, das sie hergestellt hatten, gaben mir den Glauben an etwas, das ich zwar nicht genau beschreiben konnte, das aber auf jeden Fall beruhigend war. Und zudem waren sie schön, die dünne Haut über den hervortretenden Sehnen, die Adern bläulich schimmernd wie kleine Bäche …

Der Eismann sah mich mit einem Lächeln in den Augen an.

»Und was magst du haben, meine Kleine?«

Ich war an der Reihe. Mein Spruch ging mir schon seit fünf Minuten im Kopf herum. Ich weiß nicht, warum, aber wenn ich ein Eis bestellte, improvisierte ich nicht gern. Ich war jedes Mal erleichtert, wenn vor mir noch jemand in der Schlange stand, weil ich so Zeit hatte, mir meinen Satz zu überlegen. Damit er gut herauskam, ohne Zögern.

Zum Glück waren mein kleiner Bruder und ich heute die Letzten. Alle anderen Kinder hatten ihr Eis schon bekommen und waren gegangen.

»Schokolade-Stracciatella in der Waffel und mit Sahne, bitte.«

»Mit Sahne also, Mademoiselle. Selbstverständlich!«

Beim Wort »Sahne« zwinkerte er mir zu, um mir zu signalisieren, dass das immer noch unser Geheimnis war.

Und dann machten sich seine beiden Hände an die Arbeit, führten zum hunderttausendsten Mal ihren kleinen Tanz auf. Die Waffel … der Eisportionierer … die Kugel Schokolade … der Becher mit dem warmen Wasser … eine Kugel Stracciatella … der Sahnespender, ein Siphon aus Edelstahl, gefüllt mit echter Schlagsahne … Der alte Herr beugte sich vor, um ein hübsches Sahnehäubchen auf mein Eis zu spritzen. Auf die luftige Spirale konzentriert, die blauen Augen weit geöffnet, setzte er den Siphon mit einer eleganten, präzisen Handbewegung an, die Hand nah am Gesicht. Und dann, als er am Gipfel des hübschen Sahnehäubchens angelangt war, als seine Finger gerade den Druck wegnehmen und er sich wieder aufrichten wollte – explodierte der Sahnespender.

Bumm.

Ich erinnere mich noch ganz genau an den Knall.

Er ging mir durch Mark und Bein, prallte gegen alle Mauern unserer Siedlung. Er musste bis ins Galgenwäldchen, bis zu Monicas Haus zu hören gewesen sein. Mein Herz setzte zwei Schläge aus.

Dann sah ich sein Gesicht.

Der Siphon war mit voller Wucht hineingeknallt.

Wie ein Auto in eine Hausfassade.

Die eine Gesichtshälfte fehlte.

Sein kahles Schädeldach war noch intakt, das Gesicht hingegen nur noch eine Mischung aus Fleisch, Blut und Knochen. Und mitten drin: das eine Auge in seiner Höhle.

Es schaute überrascht, das blaue Auge. Ich habe es genau gesehen. Ich hatte genug Zeit. Denn der alte Herr blieb noch ein paar Sekunden wie erstarrt stehen, als ob sein Rumpf so lange bräuchte, um zu begreifen, dass nur noch ein zerfetzter Schädel auf ihm saß.

Dann brach er zusammen.

Es war wie ein schlechter Scherz. Ich hörte sogar ein Lachen. Es kam nicht von mir, es war überhaupt kein reales Lachen. Ich denke, es war der Tod. Oder das Schicksal. Jedenfalls etwas, das um ein Vielfaches größer und gewaltiger war als ich. Eine übernatürliche, allmächtige Kraft, die an diesem Tag anscheinend zu Späßen aufgelegt war und beschlossen hatte, sich mit dem Gesicht des Alten einen Scherz zu erlauben.

An das, was danach geschah, erinnere ich mich nur noch vage.

Ich schrie. Leute kamen angerannt. Sie schrien ebenfalls. Mein Vater kam.

Gilles neben mir rührte sich nicht. Seine großen Augen und sein kleiner Mund waren weit aufgerissen, seine Hand hielt die Waffel mit dem Erdbeer- und Vanilleeis fest umklammert.

Ein Mann neben uns erbrach Melone mit Parmaschinken.

Die Ambulanz kam, dann der Leichenwagen.

Mein Vater führte uns schweigend ins Haus. Meine Mutter fegte vor Cocos Käfig auf. Mein Vater setzte sich wieder vor den Fernseher, und ich zog Gilles an der Hand zum Ziegengehege. Mit starrem Blick und offen stehendem Mund folgte er mir wie ein Schlafwandler.

Der Garten, das Schwimmbecken, der hereinbrechende Abend: Alles erschien mir unwirklich. Besser gesagt: in eine neue Wirklichkeit getaucht. In die grausame Wirklichkeit von all dem Fleisch und Blut, dem Schmerz und dem linearen, unerbittlichen Vergehen der Zeit. Aber vor allem in die Wirklichkeit dieser übernatürlichen Kraft, die ich lachen gehört hatte, als der alte Mann zusammengesackt war. Dieses Lachen, das weder von mir noch von sonst jemandem kam – und das doch gleichzeitig überall war. So wie diese allmächtige Kraft. Auch mich konnte sie treffen. Jederzeit und überall. Es gab keinen Ort, an dem ich mich vor ihr verstecken konnte. Und wenn ich mich nicht verstecken konnte, existierte nichts anderes mehr. Nichts, außer Blut und Angst und Schrecken.

Ich wollte zu den Ziegen, weil ich hoffte, dass ihr gleichgültiges Widerkäuen mich in die Realität zurückbringen und beruhigen würde.