Das Wunder der Geometrie. Eine kurze Geschichte der Mathematik - David Acheson - E-Book

Das Wunder der Geometrie. Eine kurze Geschichte der Mathematik E-Book

David Acheson

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Beschreibung

Wie können wir sicher sein, dass der Satz des Pythagoras wirklich wahr ist? Warum ist der Winkel in einem Halbkreis immer 90 Grad? Und wie können Tangenten dabei helfen, die Geschwindigkeit einer Kugel zu bestimmen?

David Acheson nimmt den Leser mit auf eine reich bebilderte Reise durch die Geschichte der Geometrie, vom antiken Griechenland bis in unsere Zeit. Dabei treffen wir auf Skurriles und Unerwartetes, begegnen großen Rechenkünstlern und Philosophen und entdecken einige der schönsten Überraschungen der Mathematik. Verständlich und unterhaltsam erläutert er die praktischen Anwendungen und zeigt auf, dass über die Geometrie der schnellste Weg zum Geist der Mathematik führt. Um es mit Galileo Galilei zu sagen: »Wer die Geometrie begreift, vermag in dieser Welt alles zu verstehen.«

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Seitenzahl: 162

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DAVID ACHESON

Das Wunder der Geometrie

Eine kurze Geschichte der Mathematik

Aus dem Englischen von Dietlind Falk

Titel der englischen Originalausgabe:

The Wonder Book of Geometry. A Mathematical Story

Oxford: Oxford University Press 2020

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © David Acheson 2020

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung

© dieser Ausgabe 2022 by Anaconda Verlag, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagmotive: Adobe Stock / paw (Zauberer), orbcat (geometrische Formen)

Umschlaggestaltung: Druckfrei. Dagmar Herrmann, Bad Honnef

Satz und Layout: InterMedia – Lemke e. K., Heiligenhaus

ISBN 978-3-641-29016-0V001

www.anacondaverlag.de

Inhalt

1. Einleitung

2. Erste Schritte

3. Euklids Elemente

Euklid, 1732

4. Satz des Thales

Die mathematische Welt des antiken Griechenlands

5. Geometrie in Aktion

6. Der Satz des Pythagoras

7. »Verliebt in die Geometrie«?

371 Beweise für Pythagoras

8. »Stellen Sie sich meine Begeisterung vor, Watson …«

9. Kongruenz und Ähnlichkeit

Der Goldene Schnitt

10. Im Umkehrschluss …

11. Kreissätze

12. Tangenten

13. Von Tangenten zum Überschall

Galileo und der Satz des Thales

14. Was genau ist π eigentlich?

15. Die Geschichte der Ellipse

16. Geometrie durch Koordinaten

Inspektor Euklid ermittelt ...

17. Geometrie und Analysis

18. Ein Königsweg zur Geometrie?

19. Unerwartete Aufeinandertreffen

20. Der Satz von Ceva

Noch mehr π

21. Eine Art Symmetrie

22. Plagiat in Woolwich?

23. Fermats Problem

24. Eine saubere Lösung

25. Geometrie im Ladies’ Diary

Euklid, 1847

26. Euklid

27. Euklids Parallelenaxiom

Beweis durch Bilder?

28. »Eine neue Theorie der Parallele?«

29. Anti-Euklid?

30. Wenn Geometrie schiefgeht

31. Geometrie aus neuen Blickwinkeln

32. Und zu guter Letzt …

Anmerkungen

Weiterführende Literatur

Danksagung

Bildnachweis

Index

Einleitung

Alles begann in der Schule, an einem kalten Wintermorgen des Jahres 1965. Ich war zehn.

Mr. Harding rechnete gerade etwas an der Tafel, von seiner Hand rieselte der Kreidestaub, und plötzlich drehte er sich um und befahl uns, einen Halbkreis mit Durchmesser AB zu zeichnen.

Anschließend sollten wir uns auf dem Halbkreis einen beliebigen Punkt P suchen, ihn mit A und B verbinden und den so entstehenden Winkel P messen (Abb. 1)

Abb. 1

Der Satz des Thales.

Ich tat wie geheißen und nahm an, der Winkel bei P hinge davon ab, wo auf dem Halbkreis sich P befand.

Doch ich lag falsch.

Es waren immer 90°.

* * *

Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass die Mathematik voller Überraschungen steckte.

Ich hatte auch noch nie etwas von diesem Mathematiker namens Thales gehört, der im antiken Griechenland gelebt hatte und dem wir einen der ersten bedeutenden Lehrsätze der Geometrie zu verdanken hatten. Laut Thales soll die entscheidende Frage nicht gelautet haben: »Was wissen wir?«, sondern vielmehr: »Wie können wir das wissen?«

Warum also beträgt der Winkel bei P auf dem Halbkreis immer 90°?

Abb. 2

Mathematiker unter sich.

Kurz gesagt lässt es sich eben beweisen, und zwar durch eine simple Abfolge logischer Schritte, die sich aus einigen offensichtlichen Anfangsannahmen ergeben.

Auf den nächsten Seiten möchte ich Sie nicht nur durch den Beweis des Satzes des Thales führen, nein, mein Ziel ist weit ehrgeiziger gesteckt.

Denn in der Geometrie zeigen sich der Geist und die Natur der Mathematik mithin von ihrer schönsten Seite, sie kann uns in jedem Alter begeistern, und das alles binnen einer halben Stunde.

Sie glauben mir nicht? Nun …

Erste Schritte

Die erste wichtige Idee ist die der sogenannten Parallelen.

Hierbei handelt es sich um Geraden, die in einer Ebene liegen, einander jedoch nicht schneiden, ganz gleich, wie weit man sie verlängert.

Ich werde über sie zwei Annahmen machen.

Parallelen

Stellen wir uns zwei parallel zueinander liegende Geraden vor, die von einer weiteren Geraden geschnitten werden, sodass die sogenannten Stufenwinkel entstehen (Abb.3).

Abb. 3

Stufenwinkel.

Beinahe für die gesamte Länge dieses Buches werde ich annehmen, dass

Stufenwinkel gleich groß sind, wenn die beiden Geraden parallel zueinander verlaufen und

die zwei Geraden parallel zueinander verlaufen, wenn die Stufenwinkel gleich groß sind.

Diese Annahmen ergeben sich aus der intuitiven Vorstellung, dass zwei Parallelen sozusagen »in dieselbe Richtung verlaufen«, und auch wenn sich leichthin sagen ließe, (1) und (2) lägen doch völlig auf der Hand, so sind es bisher eben nur Annahmen.

Und selbst zu diesem frühen Zeitpunkt in unserer Beweisführung sollte man sich klarmachen, dass sie sehr unterschiedliche Funktionen haben.

Durch (1) können wir Parallelen verwenden, während uns (2) dabei hilft, zu zeigen, dass wir überhaupt welche haben.

Winkel

Wir werden Winkel in Grad angeben, dafür steht das Zeichen °. Die beiden Teile einer Geraden durch den Punkt P bilden einen Winkel von 180° (Abb. 4).

Abb. 4

Eine Gerade.

Die Hälfte davon ist ein rechter Winkel, also ein Winkel mit 90°. Die beiden Geraden, durch die er gebildet wird, sind rechtwinklig oder orthogonal zueinander (Abb. 5).

Abb. 5

Rechte Winkel.

Gegenwinkel

Schneiden sich zwei Geraden, so sind die sogenannten Gegenwinkel gleich groß (Abb. 6).

Abb. 6

Gegenwinkel.

Wechselwinkel

Werden zwei Parallelen von einer dritten Geraden geschnitten, dann sind die sogenannten Wechselwinkel gleich groß (Abb. 7).

Abb. 7

Wechselwinkel.

Abb. 8

Beweis dafür, dass Wechselwinkel gleich groß sind.

Auch der Umkehrschluss ist zulässig: Sind die Wechselwinkel gleich groß, so muss es sich bei den Geraden um Parallelen handeln.

Das ist alles, was man wissen muss, um unseren ersten Lehrsatz zu beweisen – Wer hätte das gedacht!

Die Summe der Winkel in einem Dreieck

Die Winkel innerhalb eines Dreiecks ergeben in der Summe immer 180° (Abb. 9).

Abb. 9

Winkelsumme in einem Dreieck.

Um dies zu beweisen, ziehen wir gegenüber einer der Seiten eine Parallele durch einen Eckpunkt des Dreiecks (Abb. 10).

Abb. 10

Beweis für die Winkelsumme eines Dreiecks.

Die Winkel a sind gleich groß (Wechselwinkel).

Aus demselben Grund sind die Winkel b gleich groß.

Euklids Elemente

Das berühmteste Beispiel für diese präzise, deduktive und umsichtig strukturierte Art, die Geometrie zu behandeln, sind die Elemente, die Euklid von Alexandria (Abb. 11) etwa 300 v. Chr. verfasste.

Abb. 11

Euklid.

Ich möchte gleich zu Beginn vorwegnehmen, dass Euklid in den Elementen (Abb. 12) für seine exakten Lehrsätze und Beweise im Grunde imaginäre Objekte heranzieht.

Abb. 12

Die älteste Ausgabe von Euklids

Elementen

, MS. D’Orville 301, sie wurde 888 in Konstantinopel von Stephen the Clerk für Arethas von Patras angefertigt.

Eine Euklidische Gerade ist beispielsweise nicht nur »absolut« gerade – sie hat auch eine Breite von null. Selbst wenn es mir also gelänge, sie perfekt zu ziehen, könnte man sie nicht sehen.

Auch ein Punkt ist nicht etwa ein winziges rundes Etwas – auch er besitzt keine Dimension. In Euklids Worten:

Ein Punkt ist das, was ohne Teil ist.

Man sollte erwähnen, dass Euklid sich keiner »Längenmaße« bedient, wie wir sie heute kennen, und seine Winkel misst er nicht in Grad. Das einzige, was er an Winkelgröße verwendet, ist das Konzept des rechten Winkels, von dem macht er ausgiebig Gebrauch (Abb. 13).

Abb. 13

Der Beweis dafür, dass Gegenwinkel gleich groß sind, aus einer Ausgabe der Euklidischen Elemente von 1732.

Trotz dieser Tatsachen und dem gelinde gesagt nüchternen Stil haben die Elemente des Euklid in der Geschichte der Menschheit wohl größeren Einfluss gehabt als jedes andere Buch – und mehr Neuauflagen.

Am Ende führt nicht nur ein einziger Weg in die Geometrie, wir alle müssen für uns selbst herausfinden, wie wir uns diesem mathematischen Gebiet nähern.

Sollte ich in diesem Buch dank meiner etwas aktualisierten Grundannahmen schneller voranpreschen als Euklid, dann nur, um meine Leserschaft schneller zu interessanten und überraschenden Ergebnissen zu führen …

Euklid, 1732

Eine der beliebtesten frühen Euklid-Editionen stammte von Isaac Barrow und erschien zuerst 1660. Meine persönliche Ausgabe stammt allerdings von 1732.

Der Satz des Thales

Der Satz des Thales besagt, dass der Winkel eines beliebigen Punktes auf einem Halbkreis immer 90° beträgt. Um dies zu beweisen, benötigen wir nur ein bis zwei weitere Schlüsselgedanken.

Kongruente Dreiecke

Als kongruente Dreiecke bezeichnet man Dreiecke, die in Form und Flächeninhalt exakt übereinstimmen.

Um zwei Dreiecke auf Kongruenz zu prüfen, ist es natürlich am einfachsten, die Länge von zwei Seiten zu messen und den Winkel zu bestimmen, den sie bilden.

Dieser sehr simple Kongruenz-Test nennt sich auch SWS (Seite-Winkel-Seite).

Abb. 14

Kongruenz durch SWS.

Gleichschenklige Dreiecke

Bei einem gleichschenkligen Dreieck sind zwei Seiten gleich.

Dreiecke dieser Art spielen in der Geometrie eine wichtige Rolle, da die sogenannten Basiswinkel eines gleichschenkligenDreiecks gleich groß sind (Abb. 15).

Abb. 15

Ein gleichschenkliges Dreieck.

Für viele liegt diese Erkenntnis sicherlich auf der Hand, schließlich sieht ein gleichschenkliges Dreieck von vorne und von hinten genau gleich aus.

Etwas formaler lässt sich dies beweisen, wenn wir eine Strecke CD ziehen, die den Winkel bei C halbiert (Abb. 16).

Abb. 16

Der Beweis, dass die Basiswinkel eines gleichschenkligen Dreiecks gleich groß sind.

Die Dreiecke ACD und BCD sind durch SWS kongruent zueinander, wobei das eine Spiegelbild oder eine seitenverkehrte Version des anderen ist. Die Winkel von A und B müssen also gleich groß sein.

(Sind alle drei Seiten eines Dreiecks gleich groß, so nennt man es gleichseitig. Das Dreieck ist also an drei Stellen gleichschenklig, was bedeutet, dass darin alle drei Winkel gleich sein müssen.)

Kreise

Ein Kreis zeichnet sich dadurch aus, dass all seine Punkte gleichweit von einem Mittelpunkt entfernt sind, den wir M nennen.

Abb. 17 verdeutlicht einige Grundbegriffe rund um den Kreis.

Abb. 17

Der Kreis.

Mehr Vorwissen braucht es nicht, um den Satz des Thales zu beweisen.

Der Satz des Thales

Abb. 18

Beweis für den Satz des Thales.

Plötzlich ergeben sich zwei gleichschenklige Dreiecke, AMP und BMP.

Die beiden Basiswinkel a müssen daher gleich groß sein, ebenso wie die beiden Basiswinkel b.

Die drei Winkel innerhalb des großen Dreiecks AMB müssen 180° ergeben, also

In all den Jahren, seit mir dieser Beweis an einem kalten Wintermorgen des Jahres 1956 zum ersten Mal vorgeführt wurde, habe ich ihn nicht vergessen.

Auf den ersten Blick würde man vielleicht ein anderes Ergebnis erwarten, doch binnen weniger Minuten wird einem vermutlich ein Licht aufgehen und man wird sagen: »Ach so, ist ja logisch – wenn man es auf diese Art betrachtet.

Meiner Erfahrung nach zeichnen sich die Sternstunden der Mathematik häufig durch genau diese Erkenntnis aus.

Thales lebte in Miletus.

Pythagoras stammte von der Insel Samos, zog jedoch später nach Crotona.

Über dem Eingang der Platonischen Akademie in Athen fand sich diese berühmte Inschrift:

»Ohne Kenntnis der Geometrie soll keiner eintreten«

Der Leuchtturm von Pharos, Alexandria

Euklid schrieb Die Elemente in Alexandria.

Archimedes lebte und arbeitete in Syrakus.

Geometrie in Aktion

Im Laufe der Geschichte hat die Geometrie in der Praxis vielerlei Verwendung gefunden. Eines der ersten Beispiele dafür war Thales‘ Versuch, die Höhe der ägyptischen Cheops-Pyramide zu berechnen.

Thales und ähnliche Dreiecke

Thales maß die Länge des Schattens, den die Pyramide durch den Einfall der Sonne warf, und bestimmte L, indem er die Hälfte der Gesamtbreite der Pyramide hinzuaddierte wie in Abb. 19.

Abb. 19

Ähnliche Dreiecke.

Dann maß er den Schatten l einer vertikalen Stange der Höhe h.

Thales ging von der Annahme aus, die Strahlen der Sonne verliefen parallel, und schlussfolgerte, die beiden Dreiecke aus Abb. 19 seien dadurch zwar von sehr unterschiedlicher Größe, ihre Form wäre jedoch exakt dieselbe, sodass die jeweiligen Seiten dieselben Verhältnisse zueinander hätten.

Insbesondere schlussfolgerte er, dass

und da er die anderen drei Längen kannte, konnte er somit die Höhe der Pyramide H errechnen.

Abb. 20

Thales auf einer griechischen Briefmarke von 1994.

Heute bezeichnen wir Dreiecke derselben Form als ähnliche Dreiecke. Später wird sich zeigen, dass sie in einigen der faszinierendsten Lehrsätze der Geometrie eine tragende Rolle spielen.

Die Vermessung der Welt

Seiner griechischen Wurzel nach bedeutet das Wort »Geometrie« so viel wie »Erdvermessung«. Es scheint insofern angebracht, als nächstes den berühmten Versuch genauer zu betrachten, den Erdumfang zu berechnen, den Eratosthenes von Alexandria etwa 240 v. Chr. unternahm.

Wie der Zufall es will, gebrauchte auch er dafür die Strahlen der Sonne – allerdings auf eine sehr andere Art und Weise.

Eratosthenes wusste, dass die Sonne am längsten Tag des Jahres zur Mittagsstunde genau über seinem Geburtsort Syene (dem heutigen Assuan) stand, da sie dann bis auf den Grund eines tiefen Brunnens fiel.

Er wusste auch, dass die Sonnenstrahlen zum selben Zeitpunkt in einem Winkel von 7.2° in Alexandria einfielen, das für ihn 5000 Stadien nördlich von Syene lag.

Abb. 21

Die Vermessung der Erde.

Eratosthenes nahm an, die Sonne sei so weit von der Erde entfernt, dass ihre Strahlen parallel einfielen. Bei den beiden schraffierten Winkeln in Abb. 21 handelt es sich somit um Stufenwinkel, sodass der Winkel von M am Erdmittelpunkt ebenfalls 7.2° betragen muss.

7.2° sind ein Fünfzigstel von 360°, sodass Eratosthenes schlussfolgerte, der Erdumfang müsse 50-mal die Distanz zwischen Alexandria und Syene betragen, also 250 000 Stadien.

Um ehrlich zu sein, ist diese Beschreibung vermutlich eine Vereinfachung von dem, was Eratosthenes tatsächlich unternommen hat, um den Erdumfang zu berechnen. Auch wissen wir heute nicht mehr, wie lang ein Stadium, das Längenmaß, mit dem er arbeitete, gewesen sein soll. Spätere Gelehrte schätzten es auf etwas zwischen 0,15 und 0,2 km, wodurch Erathostenes‘ Ergebnis für den Erdumfang irgendwo zwischen 37 500 und 50 000 km ausfällt. (Tatsächlich sind es etwa 40 000 km).

»Praktische Aufgaben«, 1929

Natürlich gibt es in der praktischen Anwendung der Geometrie noch ein weiteres, ganz anderes Feld, nämlich die Anfertigung geometrischer Figuren mit Lineal, Zirkel und anderen Hilfsmitteln.

Bei dieser Beschäftigung muss man sich jedoch vor etwas hüten, das Physiker als »Versuchsfehler« bezeichnen – sonst wird es schnell unfreiwillig komisch.

In meinem Bücherregal zu Hause befindet sich beispielsweise ein Übungsbuch für Geometrie von 1929, das damals einem Grundschüler aus Nordengland gehörte.

Das Buch besitzt einen ganz eigenen Charme und enthält hauptsächlich vereinfachte euklidische Rechnungen, die sorgfältig und größtenteils richtig durchgeführt werden. Auf der letzten Seite lautet die Überschrift jedoch plötzlich »praktische Aufgaben«, für die offenbar eigenhändige Messungen notwendig waren (Abb. 22).

Abb. 22

Aus einem Schulbuch von 1929.

Auch wenn der Lehrer seinen Haken unter diese Rechnung gesetzt hat, geht sie bei näherem Hinsehen nun wirklich nicht auf.

Der Winkel A beträgt wohl eher 45° statt 50°, und soweit ich das sehe, wurden auch die restlichen Zahlen ganz unverblümt zurechtgebogen, um auf das »richtige« Ergebnis zu kommen.

Flächeninhalt

Die vermutlich älteste geometrische Vorstellung von erheblicher praktischer Relevanz ist die des Flächeninhalts, ein Problem, das sich bei der Vermessung von Land ganz automatisch ergibt.

Wenn wir mit einem Quadrat der Seitenlänge 1 beginnen, so ergibt sich schnell, wie wir auch Rechtecke berechnen können, deren Seitenlänge sich in ganzen Zahlen ausdrücken lässt (Abb. 23).

Abb. 23

Flächeninhalte.

So können wir die Fläche eines Rechtecks ganz allgemein ausdrücken als

wobei die Seitenlängen a und b nun auch Brüche oder sogar irrationale Zahlen sein können.

Schneidet nun eine Diagonale das Rechteck, ergibt sich für die Fläche des dadurch entstehenden rechtwinkligen Dreiecks .

Es mag etwas vermessen klingen, doch diese einfachen Grundgedanken reichen bereits aus, um einen ersten Blick auf einen der berühmtesten – und folgenreichsten – geometrischen Lehrsätze überhaupt zu werfen …

Der Satz des Pythagoras

Die Seitenlängen jedes rechtwinkligen Dreiecks stehen in einem überraschend einfachen Verhältnis zueinander (Abb. 24). Und wie so oft ist der daraus resultierende Lehrsatz von umso größerer Durchschlagskraft, je einfacher er ist – Mathematik at its best!

Abb. 24

Der Satz des Pythagoras.

In Abb. 24 gibt c die Länge der Hypotenuse an, der Seite also, die dem rechten Winkel gegenüber liegt – während a und b die beiden anderen Seiten bezeichnen.

Ein Spezialfall

Der Grundgedanke eines rechtwinkligen Dreiecks mit den Seitenlängen 3, 4 und 5 war den babylonischen Mathematikern (im heutigen Irak) bereits über tausend Jahre vor Pythagoras bekannt. Auf einer antiken Tontafel hat man beispielsweise ein geometrisches Problem gefunden, das dem Folgenden ähnelt:

Eine Leiter, deren Länge fünf Einheiten beträgt, lehnt an einer Wand. Oben rutscht sie um eine Einheit ab. Wie weit ist sie folglich unten abgerutscht?

Abb. 25

Der 3-4-5 Spezialfall des Satzes des Pythagoras, aus John Babingtons

Treatise of Geometrie

(1635).

Tatsächlich ist das rechtwinklige Dreieck der Längen 3-4-5 so berühmt, dass es manchmal mit dem Satz des Pythagoras verwechselt wird. Doch wie bereits erwähnt ist es nur ein sehr spezieller Fall (Abb. 25).

Und auf eine Art ist es noch nicht einmal der speziellste Spezialfall von allen …

Unerwartet irrational

Sind die beiden kürzeren Seiten des rechtwinkligen Dreiecks gleich lang, so stehen die drei Seiten qua Satz des Pythagoras zueinander in dem Verhältnis (Abb. 26a).

Auch dies war bereits lange vor Pythagoras auf einer berühmten babylonischen Tontafel namens YBC 7289 festgehalten worden, die irgendwann um 1700 v. Chr. angefertigt wurde: Sie zeigt ein Quadrat mit zwei Diagonalen sowie diverse Zahlen der damaligen mathematischen Notationsweise (Abb. 26b).

Abb. 26

Ein weiterer Spezialfall des Satzes des Pythagoras.

Und eine dieser Zahlen, die für das Verhältnis der Diagonale zur Seite steht, würde in heutiger Notation so aussehen:

1,4142128.

Dies entspricht bis auf ein Millionstel dem Wert von .

Dieses spezielle Beispiel ist umso wichtiger, da Pythagoras die Entdeckung machte, dass es sich bei um eine irrationale Zahl handelte, sodass sich das Verhältnis der Diagonale zur Seite eines Quadrates nicht schreiben ließ wie das Verhältnis zweier ganzer Zahlen.

Abb. 27

Über Pythagoras ist nicht viel bekannt, wohl aber wissen wir mit Sicherheit, dass er die Verbindung zwischen Mathematik und Musik untersuchte. Dieser Holzschnitt stammt aus Franchino Gaffurios

Theorica Musicae

(1492).

Anders gesagt ist es unmöglich, eine Längeneinheit zu finden, ganz gleich wie klein, durch die sich die Seite und Diagonale eines Quadrates beide durch ganze Zahlen ausdrücken lassen.

Für das Pythagoräische Weltbild war dies ein ziemlicher Schock, der sich noch hunderte Jahre später auf die Struktur von Euklids Elementen auswirkte.

Drei Beweise für Pythagoras

Bisher haben wir den Satz des Pythagoras als die unerwartet einfache Beziehung dreier Längen zueinander dargestellt.