DDR aus der Schublade - Dieter Winkler - E-Book

DDR aus der Schublade E-Book

Dieter Winkler

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Beschreibung

Winkler hat die gesellschaftliche Realität, in denen ihn die Umstände und eigener Entscheid leben ließen, immer wieder kritisch kommentiert. Kritisch von seinem persönlichem Standort aus, also von "unten". In seinen Aufzeichnungen finden sich ein nicht interessefreies politisches Denken und ein unübersehbares Faible für Sarkasmus und Ironie. Bei "Schwächen" machen die in der Regel knappen und präzisen Texte lesbar. Winklers Texte dokumentieren den nicht komplikationsfreien Weg eines kritischen DDR-Bürgers zum kritischen Bürger der Bundesrepublik Deutschland.

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Dieter Winkler

DDR aus der Schublade

Impressum

DDR aus der Schublade

Copyright: © 2014 Dieter Winkler

Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN-Nr. 978-3-8442-9358-6

Inhalt

1. Vorwort

2. Die Sechziger

2.1 Arbeiter

2.2 Student

2.3 Absolvent

2.4 Gedicht-Versuche (um 1970)

3. Honeckerjahre

3.1 Randbemerkungen I

3.2 Aus meinem Leben

3.3 Aus der Bürokratie

4. Wendezeit

5. „Ossi“

5.1 Randbemerkungen II

5.2 Randgespräche

5.3 Minigedichte

5.4 Die Zukunft der Rente – eine Selbstverständigung

6. Anhang

6.1 Rundtischgespräch im „Sonntag“ 1975

6.2 Promotionsverfahren an der Humboldt-Universität zu Berlin 1993/94

1. Vorwort

Weil eine radikale Kritik an der Gesellschaft der DDR in der DDR selbst öffentlich kaum äußerbar war, schrieb man sie nicht selten auf. In der DDR entstand in den 40 Jahren ihrer Existenz eine Vielzahl höchst unterschiedlicher sogenannter Schubladentexte, die seit 1990 Band für Band an eine auf sie nicht gerade neugierige Öffentlichkeit drängen. Als eine Quelle für das wirkliche Denken und Handeln zumindest eines Teils der ostdeutschen Bevölkerung machen diese Texte jedoch deutlich, dass unter einer autoritär verkrusteten Oberfläche immer mehr an geistiger Bewegung stattfand, als für Blicke von außen erkennbar war.

Zu den Autoren solcher Schubladentexte hatte ich gehört. Darauf weisen bereits die gemeinsam mit Torsten Hilse herausgegebenen vier Bände „Schubladentexte aus der DDR“. Wenig hatte mich dabei das Verfassen umfangreicher Traktate gereizt – bei mir hatten Erlebnisse, Ereignisse und Lektüre immer wieder und vor allem zu bitteren oder boshaften, lapidaren oder vergleichenden Kurzkommentaren geführt, die ich später „Randbemerkungen“ nannte. An denen habe ich vom ersten Einfall bis zur letzten Fassung zumeist mehrere Tage formuliert, gelegentlich sogar noch länger: unterwegs auf der Straße, in langweiligen Zuhörveranstaltungen, abends am Schreibtisch. Dort, wo mir aus dem Einfall keine mich einigermaßen oder mehr befriedigende Textfassung geriet, warf ich die Sache wieder weg. Darum sind – von Ausnahmen abgesehen – nur meine Aufzeichnungen aus den Sechzigern ein echtes Tagebuch.

Wichtiger als die Form meiner Notizen ist etwas anderes: Bei meinen „Aufzeichnungen eines Ostdeutschen aus über fünf Jahrzehnten“ handelt es sich um Texte eines vor und nach dem Epochenbruch von 1989/90 Nichtprominenten – eines Menschen also, den die Umstände dazu brachten, den ehemals zweiten deutschen Staat, aber auch dessen „Aufarbeitung“ nach seinem Untergang, von „unten“ zu betrachten. Außerdem gehöre ich zu den Ostdeutschen, die in der DDR erlernte Verhaltensmuster auch nach dem Ende der DDR nicht mehr abgelegt haben. So begann auch nach 1990 meine Reaktion auf nunmehrige Regierungs- u. a. Verlautbarungen in der Regel weiterhin mit der Frage: Was spricht dagegen? War ich doch auch im Westen schon sehr bald auf neue Behauptungen von hoher Ideologiehaltigkeit und geringem Realitätsgehalt gestoßen: Wie etwa der, dass die größere soziale Ungleichheit im Westen der „Preis der Freiheit“ wäre. Als ob im Chile des demokratisch-sozialistischen Präsidenten Allende mehr an sozialer Ungleichheit geherrscht hätte als unter der wirtschaftlich und sozial neoliberal ausgerichteten Diktatur des Generals Pinochet.

Auch stieß ich, wie z.B. meine zweite Anlage beweist, in der neu erworbenen westdeutschen Gesellschaft auf so manche Erscheinungen, die mich ziemlich fatal an unangenehme Realitäten von ehedem erinnerten. Aus einem langjährig kritischen DDR-Bürger konnte so nur ein höchst kritischer Bundesbürger entstehen.

Wer bin ich?

Noch mitten im II. Weltkrieg in Leipzig geboren, gehören zu meinen prägenden Kindheitserfahrungen ein fehlender, weil an der Front gefallener Vater, Ruinen auf Schritt und Tritt, der Hunger in den ersten Friedensjahren – aber auch die Erzählungen meiner Großmutter, bei der ich aufwuchs, und anderer Verwandter und Bekannter über das Elend während Inflation und Weltwirtschaftskrise.

Natürlich sind Teil meiner Kindheitserfahrungen auch Kommunisten. Sie waren nicht alle Machthaber und nicht alle synchron mit ihrer Führung denkend und handelnd. Mein Stiefvater, dem als gelernten Zimmermann die Sprache des Proletariats vertraut war, gab mir z. B. nach dem XX. KPdSU-Parteitag 1956 die Lehre mit auf den Weg: „Politikern darfst du nie allein aufs Maul schauen. Sondern musst du stets auch auf die Pfoten gucken. Das gilt auch für die eigenen Leute.“1) An meinen Schulen stieß ich auf Lehrer, die auf Grund eigener politischer Irrungen in ihrer Jugend ihren Schülern ebenfalls ein gewisses Maß an politischem Irrtum zugestanden: Meine Oberschule mussten während meiner vier Jahre dort2) nur Schüler mit nicht ausreichenden fachlichen Leistungen wieder verlassen. Allerdings hörte ich von anderswo durchaus auch anderes.

Eines einte alle Kommunisten, auf die ich damals stieß: Die Überzeugung, in Ostdeutschland eine „bessere Gesellschaft“ – ohne Krieg und Wirtschaftskrisen und mit Aufstiegschancen auch für Kinder aus der „Arbeiterklasse“ – „errichten“ zu können. Wer im festen Glauben an die „Sieghaftigkeit“ der kommunistischen Sache die Verfolgungen der Nazi-Diktatur überlebt hatte, nahm damals allzu gern an, dass seine „Sache“ auch „noch nicht Überzeugte“ über kurz oder lang zu gleichen historischen Einsichten wie ihn selbst bringen müsse. Mich machte jedoch etwas anderes zum jungen Kommunisten: Im Kinderferienlager 1955 an der Ostsee hatte ein gleichaltriges westdeutsches Mädchen meine Hand ein wenig zu lange in die ihre gelegt. Danach war ich von der Richtigkeit der seinerzeitigen Wiedervereinigungsprogrammatik der SED zutiefst überzeugt. Mein nunmehr staatstreuer Aktivismus hat mir allerdings so manchen Ärger bei Mitschülern eingebracht. Woanders konnte sich solcher „Ärger“ Mitte der fünfziger Jahre sogar noch bis hin zu „Klassenkeile“ ausweiten.

Obwohl ich an meiner Oberschule zu den da ziemlich raren engagierten Anhängern des Staates unter den Schülern gehört hatte, schickte mich die Universität nach dem Abitur in einen Leipziger Großbetrieb, um mir dort noch mehr „Bewusstsein der Arbeiterklasse“ anzueignen. Diesen zwei Jahren in der „materiellen Produktion“, im Gorki’schen Sinne ebenfalls „Universitäten“, entstammt die zweite Generation der mich prägenden politischen Erfahrungen.

Als ich im Sommer 1962 mein Arbeiterleben beendete, wusste ich, dass das uns Ostdeutschen nach dem Sieg der Sowjetunion im II. Weltkrieg übergestülpte sowjetisch-stalinistische Modell von „Sozialismus“ keinesfalls die versprochene glorreiche Zukunft bringen würde.

Zu dieser Erkenntnis hatten mir die ersten verbotenen Bücher verholfen, die ich ab dem Herbst 1960 in die Hände bekam3), ein Besuch in Westdeutschland im März 1961, bei dem ich dort nirgends den in der Schule verkündeten „sterbenden Kapitalismus“ entdeckt hatte, und die Gespräche mit den Arbeitern im Betrieb, von denen einige ältere mein Denken in Richtung einer demokratischen Variante von Sozialismus bzw. eines „Dritten Weges“ zu lenken verstanden.4)

Die sechziger Jahre in der DDR waren ein auffällig widerspruchsvolles Jahrzehnt. Auf der einen Seite war die politische Führung ausgesprochen reformfreudig, stellte sie immer wieder selber Strukturen der eigenen Gesellschaft in Frage5), auf der anderen Seite aber herrschte sie immer noch höchst autoritär, teilweise sogar brutal. Ein neu aufgekommener Technokratismus und ein weiter bestehender Stalinismus hatten zu einem merkwürdigen Amalgam gefunden.

In meiner Studentenzeit 1962 bis 1967, immer noch in Leipzig, gehörte ich zu den Kommilitonen, die hin und wieder als „Abweichler“ auffielen. Neben Freunden oder mir selbst in die DDR mitgebrachter Literatur wie Jaspers „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte“, Klaus Mehnerts „Der Sowjetmensch“, Sartres „Marxismus und Existentialismus“, Djilas' „Gespräche mit Stalin“, dem Godesberger Programm der SPD, aber niemals einem Exemplar der in Westdeutschland verlegten Zeitschrift „Der 3. Weg“, las ich in der einzigen Leipziger Bibliothek, in der man in den Sechzigern so etwas ohne „Giftschein“ in die Hände bekam – der Bibliothek des Museums für Geschichte der Leipziger Arbeiterbewegung im Dimitroffmuseum, dem ehemaligen Reichsgericht – marxistische Autoren nichtleninistischer Provenienz wie Bernstein und Kautsky6) sowie Rosa Luxemburgs damals noch verbotene Schrift „Die Russische Revolution. Eine kritische Würdigung“ 7). Bei Marx selber entdeckte ich später die mit der angeblich von Marx' Erkenntnissen geprägten politischen Realität in der DDR so überhaupt nicht korrelierende Aussage, dass die Freiheit das „Gattungswesen des ganzen geistigen Daseins“ sei.8) In der gleichen Schrift ist übrigens der Satz zu finden: „Kein Mensch bekämpft die Freiheit; er bekämpft höchstens die Freiheit der anderen.“ 9) Auf ihn geht wahrscheinlich die berühmte Bemerkung von Rosa Luxemburg zurück, dass Freiheit „immer die Freiheit der Andersdenkenden“ ist.10)

Natürlich suchte man in meinen Kreisen auch nach Widersprüchen bei den ansonsten überaus respektierten Marx und Engels. So glaubte ich, diesen Widerspruch entdeckt zu haben: Nach Marx soll der Mensch im Kommunismus nach seinen Fähigkeiten arbeiten und nach seinen Bedürfnissen erhalten. Gleichzeitig wusste Marx aber, dass jede Bedürfnisse befriedigende Produktion neue Bedürfnisse hervorbringt. Damit musste, so fand ich, die Befriedigung von Bedürfnissen neu ausbrechenden Bedürfnissen stets hinterherlaufen.

Vielleicht verfügte das Leipzig der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts über ein paar Voraussetzungen, den Traum von einem „Dritten Weg“ in besonderem Maße sprießen zu lassen.

Als erstes besaß Leipzig in der damaligen DDR den Ruf, besonders „dogmatisch“ zu sein11), weil an der Spitze des Parteiapparates des Bezirkes ein Mann stand, der nur in sehr groben Rastern zu denken vermochte. Er war nach meiner Erinnerung in den meisten Gruppen der Leipziger Intelligenz höchst unbeliebt und provozierte durch Äußerungen und Maßnahmen immer wieder eine stille, aber unübersehbare Ablehnung des durch ihn repräsentierten Typs von Gesellschaft.

Als zweites hatten an der Leipziger Universität nach dem Ende der NS-Herrschaft einige bedeutende liberal-kommunistische Wissenschaftler wie Ernst Bloch, Hans Mayer oder Werner Krauss Lehrstühle erhalten, so dass in größeren Teilen der damaligen intellektuellen Szene Leipzigs ein Wissen hochgradig existent war, dass Sozialismus auch anders als uns vorgeführt gehen müsse.

Als drittes wirkten in Leipzig geistige Einflüsse von außerhalb des abgemauerten Staates intensiver als in der übrigen DDR. Die hohe Zahl ausländischer Studenten – im Studentenklub stieß ich sogar auf einen Kommilitonen aus dem fernen Neuseeland –, zu denen man den Kontakt suchen konnte und aus deren Erzählungen man gesellschaftliche Realitäten und gesellschaftliche Vorstellungen von anderswo in der Welt zu rezipieren vermochte bzw. von denen man gelegentlich sogar verbotene Literatur mitgebracht bekam12), war ein erstes Element von größerer Weltoffenheit. Das zweite war, last not least, die Leipziger Messe, in deren Buchhaus sich nicht wenige Studenten immer wieder auf nicht legale Art und Weise mit westlicher Literatur versorgten.13)

Da zum Zwecke der Diskussion eines „Dritten Weges“ gegründete Gesprächskreise in den sechziger Jahren von der Staatsmacht umgehend unterdrückt worden wären, Überlegungen in diese Richtung aber ziemlich verbreitet waren, existierten auf der einen Seite nur rein informelle Formen von Gedankenaustausch zum Thema14), und waren auf der anderen Seite die Ergebnisse von Überlegungen und Gedankenaustausch sehr an die intellektuellen Fähigkeiten und Interessen von Individuen gebunden. Kritik richtete sich in meinem Bekanntenkreis nahezu nie gegen das „sozialistische Ideal“, aber mehr oder minder radikal gegen die von uns erfahrene „sozialistische Realität“. Allerdings hatten auch wir Illusionen. Etwa die, dass z. B. ich damals glaubte, der Einzug von Demokratie in die Gesellschaft würde auch – eindimensional – den Einzug von mehr Vernunft in die Gesellschaft nach sich ziehen. Unsere Ablehnung bezog ich aber niemals vorrangig auf Personen – man denke nur an die 1953 populäre Losung „Der Spitzbart muss weg“ –, sie galt stets politischen und sozialen Strukturen.

Hatte auf dem Gebiet der Politik der damalige sowjetische Parteiführer, der „Entstalinisierer“ Chruschtschow, schon selbst auf das Beispiel USA verwiesen, als er die Begrenzung der Verweildauer von seinesgleichen an der Spitze von Partei und Staat auf zwei Legislaturperioden begrenzen wollte15), so gingen Nicht-Parteimitglieder wie ich natürlich über diesen Vorschlag hinaus: Der erste Mann im Staat sollte unserer Meinung nach nicht mehr von einer Parteiführung aus sich heraus bestimmt, sondern vom Volk gewählt werden. Wiederum wie in den USA sollten zwei Kandidaten zur Wahl stehen, die für eine unterschiedliche Handhabung des vorhandenen Gesellschaftssystems – in unserem Falle also eines sozialistischen – stehen sollten.

Dazu wollten meine Gleiches, Ähnliches oder Anderes denkenden Freunde und ich natürlich durchgängig echte Volksvertretungen, die nicht einfach die vom SED-Apparat und seiner Nationalen Front vorgefertigten Gesetze und Beschlüsse diskussionsarm abnickten; wir wollten Volksvertretungen aus geheim gewählten Persönlichkeiten, die von – sich zu Demokratie, Solidarität und Antifaschismus bekennenden – Parteien und Massenorganisationen, auch neu gegründeten, zur Wahl gestellt werden sollten. Auf den prinzipiell öffentlichen Tagungen dieser Volksvertretungen sollten auch Delegierte betroffener Bürger, Vereine und Interessengruppen Anhörungs- bzw. Rederecht erhalten. Spenden von Interessenorganisationen an Parteien und Massenorganisationen sowie ein professionell betriebener Lobbyismus kamen in den Vorstellungen von meinesgleichen von moderner Demokratie nicht vor. Unsere Demokratie sollte zweifellos „bürgerlicher“, aber nicht „kapitalistischer“ werden. Die Idee von Volksabstimmungen wie in der Schweiz fanden wir, ohne Genaueres über deren Handhabung zu wissen, ausgesprochen anziehend.

Obwohl meine Freunde und ich den Großteil unserer politischen Informationen aus den öffentlich-rechtlichen Rundfunksendern Westdeutschlands bezogen (sowie vom Rias und dem deutschsprachigen Dienst der BBC), bestand bei einem Teil von uns – infolge der in ihr stattgefundenen gesellschaftlichen Restauration, vor allem der Übernahme so vieler ehemaliger Nazis in leitende Stellungen jeglicher Couleur – gegenüber der 1949 in Westdeutschland neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland erst einmal ein unübersehbar reserviertes Verhältnis. Erst mit dem Auftreten der „68er“ sollte sich das ändern.

Parallel zu dem Nachdenken über demokratischere politische Strukturen verlief ein Nachdenken über wirtschaftliche Reformen. Reformen in der Wirtschaft hielten in den Sechzigern bekanntlich auch Parteiführungen für nötig, die an politische Reformen weniger zu denken wagten.16) Im Mittelpunkt der Überlegungen der Wirtschaftsreformer der kommunistischen Parteien – in der DDR vor allem Apel, in der ČSSR Šik und in Ungarn Nyers – standen Änderungen hin zu einem anderen Typ von Reproduktion, Reformen bei den Relationen zwischen Planung und Markt, anders strukturierten Eigentumsverhältnissen bei den Produktionsmitteln bzw. einen effizienteren Umgang mit dem juristisch staatlichen Eigentum an diesen Produktionsmitteln.

Die von den jeweiligen Parteiführungen initiierten Reformdiskussionen schwappten über die offiziellen Medien und die Kommentare in den westlichen Funkmedien auch ins Volk. Da sich meinesgleichen nie einfach auf Konzepte von „oben“ verließ, auch wenn sie noch so überzeugend klangen, versuchten wir auch bei den Wirtschaftsreformen gelegentlich Eigenes zu denken. Dabei hatten wir immer die Absurditäten beider dominanter Gesellschaftssysteme vor Augen: Dass sich die Arbeitslosen in der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise nicht einfach durch Arbeit hatten aus ihrem Elend befreien können, und dass bei uns im „Sozialismus“ Arbeiter nicht selten produzieren mussten, was sie als Kunden keinesfalls kaufen wollten.

Wenig „Abweichlerisches“ war zur offiziellen Diskussion zum notwendigen neuen Typ der Reproduktion zu sagen. Die Sowjetunion hatte den II. Weltkrieg auch gewonnen, weil sie in den dreißiger Jahren ihre industrielle Basis extensiv erweitert hatte17), und dort in Osteuropa, wo es vor 1945 nur wenig Industrie gegeben hatte, war mittlerweile Industrie durch die kommunistischen Regierungen geschaffen worden. Aber diese Wirtschaftspolitik war nun an ihre Grenzen gestoßen. Zusätzliche Arbeitskräfte waren in den entwickelteren Regionen Osteuropas kaum mehr zu mobilisieren, und aus den mit hohem Aufwand gewonnenen Rohstoffen entstanden zu wenig hochwertige Endprodukte – also predigten alle führenden Ökonomen von DDR, ČSSR, Ungarn und anderswo in den sechziger Jahren den Übergang zu einem neuen Typ von Reproduktion: der intensiv erweiterten Reproduktion.18)

Die Wirtschaftslenkung sollte nach den offiziellen Reformern nicht mehr so starr wie bisher durch eine Wirtschaftsbürokratie nach ihrem Dogma „Der Plan ist Gesetz“ erfolgen. Eine gesellschaftliche Rahmenplanung vor allem für Ressourcen, sollte durch eine Marktsteuerung vorrangig für Gebrauchsgüter und Dienstleistungen ergänzt werden. Irgendwann hatte einer meiner Freunde auch davon gehört, dass in Frankreich damals eine „Planification“ existierte. Schon den Fakt, dass es offenbar auch andere Varianten von Planung gab als die bei uns im sowjetischen Machtbereich gängigen, fand er mitteilenswert.19)

Auf Grund der guten Erfahrungen mit den damals in der DDR noch existierenden privaten oder halbstaatlichen Kleinbetrieben konnte sich meinesgleichen beim „Eigentum an den Produktionsmitteln“ nur eine Ausgestaltung der vorhandenen „gemischten Wirtschaft“ vorstellen: mit Staats- und kommunalen (Groß-)Betrieben, mit privaten oder genossenschaftlichen Klein- und Mittelbetrieben; und diese vor allem für die Produktion von Waren des täglichen Bedarfs. Freiraum sollte für die Gründung neuer, auf Innovationen aufbauender Privatfirmen und Genossenschaften geschaffen werden. Bei den Staatsbetrieben hatte ich immer den zu Beginn der fünfziger Jahre noch völlig in Staatsbesitz befindlichen Volkswagen-Konzern vor Augen, der mittlerweile aus ideologischen Gründen – „Eigentum für alle“ – von Ludwig Erhard einer Teilprivatisierung unterworfen worden war, der sich aber als staatlicher Betrieb vordem in keinerlei Weise in roten Zahlen befunden hatte.

Bei der Frage, wie die staatlichen Betriebe künftig zu führen waren, hatte ich mir Eigenes ausgedacht. Dass die „Arbeiterselbstverwaltung“ in Jugoslawien nicht so effektiv wie geplant funktionierte, war als Gerücht auch bis in meine Kreise vorgedrungen. Also sollte auch bei mir an der Spitze der Staatsbetriebe ein Verwaltungsrat stehen, der über alle strategischen Fragen des Betriebes zu entscheiden und für das operative Geschäft Direktoren zu berufen hatte. Meine nun völlig eigenständige Überlegung: Dieser Verwaltungsrat sollte zu einem Drittel aus Vertretern des Staates, zu einem Drittel aus Vertretern der Belegschaft und zu einem Drittel aus Abgesandten der Volksvertretungen des Territoriums bestehen, in dem der Betrieb seinen Sitz hatte. Die Vertreter des Staates sollten dabei jedoch keinesfalls aus irgendwelchen Behörden kommen, sondern aus in Wirtschafts- oder Technik-Sparten von Universitäten, Hoch- oder Fachschulen des Territoriums des Betriebes geheim gewählten Wissenschaftlern bestehen.20) Bei den Belegschaftsvertretern sollte sowohl das aktive wie das passive Wahlrecht erst nach mindestens einem Jahr Betriebszugehörigkeit erteilt werden. Aus der Bundesrepublik Konrad Adenauers stammten meine Vorstellungen von einer gut gestaffelten Progression bei der Einkommenssteuer21), aus den USA Roosevelts der Gedanke einer hohen Erbschaftssteuer.22)

Es blieb die Frage: Wer sollte den Umbau der Gesellschaft durchführen, dem „Dritten Weg“ real Gestalt geben?

Da sich Chruschtschow 1956 mit Teilen der sowjetischen Parteiführung von dem damaligen kommunistischen Halbgott Stalin getrennt hatte, weil die Entwicklung in der KPTsch zwischen 1962 und 1968 so überzeugend vorführte, dass im „fortschrittlichen Teil“ von Parteiintelligenz und Nomenklatura in Krisenzeiten ihrer Gesellschaft die Bereitschaft wachsen konnte, zu einem Reformlager zu werden, glaubten Freunde und ich in den Sechzigern noch an die Möglichkeit einer „Revolution von oben“. 23)

Als ich mich in der Folge solcher Überlegungen in der letzten Phase der Herrschaft Ulbrichts mit der Frage abquälte, ob ich nicht in die SED eintreten und wie ein Teil der „68er“ im Westen einen „langen Marsch durch die Institutionen“ antreten sollte, konnte ich mich zu diesem Schritt jedoch nicht durchringen. Im Ungarn János Kádárs hätte ich mich mit Sicherheit anders entschieden.24)

Die Gründer der Alt-Bundesrepublik hatten bei deren Konzipierung 1948/49 auf die uns Deutschen so überaus unvollkommen geratene Republik von Weimar zurückgegriffen, dabei aber auffällige Mängel in deren politischer Architektur korrigiert – meinesgleichen hätte in den Sechzigern ganz gern noch einmal mit der Novemberrevolution von 1918 begonnen und diese radikaler als geschehen weitergeführt: z.B. bis hin zu einer Wirtschaftsdemokratie.

Im „Prager Frühling“ von 1968 hatte die Suche nach einem „Dritten Weg“ in Osteuropa kulminiert. In der DDR verlor der „Dritte Weg“ mit der Biermann-Ausbürgerung 1976 und dem darauf folgenden Exodus vieler nicht parteitreuer linker Kulturschaffender weitgehend seine intellektuelle und soziale Basis. Nur in der evangelischen Kirche der DDR, in der einige Verantwortliche frühzeitig Befürchtungen hinsichtlich des in den siebziger Jahren im Westen aufkommenden Neoliberalismus und seines Menschenbildes hegten, blieb die Hoffnung auf einen „verbesserlichen Sozialismus“ noch bei einigen Verantwortungsträgern auf der politischen Agenda.

Mit den „Gorbi“-, „Gorbi“-Rufen am 7. Oktober 1989, den Forderungen einiger Demonstranten jenes legendären Herbstes und dem Appell „Für unser Land“ erlebten die Sehnsüchte nach einem „Dritten Weg“ in der DDR ein letztes Aufbäumen.

Nach der Öffnung der Mauer setzte sich im Volk der DDR jedoch ganz rasch die Auffassung durch: Warum eine eigenständige Variante von moderner Gesellschaft entwickeln, wenn die schnelle Übernahme des – für jeden sichtbar – so erfolgreichen westdeutschen Gesellschaftsmodells weniger aufwendig ist? In der DDR des Frühjahrs von 1990 reussierte – mit einem kleinen, aber gewichtigen Zusatz – ein alter Wahlkampf-Slogan der West-CDU noch aus Adenauers Zeiten: „Keine Experimente MEHR“.

Das Modrow’sche Konföderationskonzept, also die Übernahme des Grundprinzips des britisch-chinesischen Hongkong-Vertrages von 1984 für die Wiedervereinigung Hongkongs mit China – „Ein Staat, zwei Systeme“ – war für die Mehrheit des DDR-Volkes von 1990 völlig inakzeptabel.

Unter „Kapitalismus“, den sie unbedingt übernehmen wollten25), verstanden die meisten Bewohner der DDR im ersten Halbjahr 1990 allerdings nur den „Rheinischen Kapitalismus“ mit seiner auf die effiziente Produktion hochwertiger Gebrauchs- (und Investitions-)Güter aller Art ausgerichteten Realwirtschaft einschließlich angeschlossenem, alle Gesellschaftsgruppen mehr oder minder berücksichtigendem Sozialstaat. Selbst Menschen wie ich, die auf Helmut Kohls Ankündigung „blühender Landschaften“ skeptisch reagierten, konnten sich damals noch keine kapitalistische Ökonomie vorstellen, wie sie heute vielen Menschen das Leben schwer macht: mit einer künstlich aufgeblähten Finanzindustrie als dominierendem Faktor – mit einer von einer kurzsichtigen Politik über die massive Senkung von Einkommens- und Unternehmenssteuern produzierten überquellenden Liquidität auf der einen Seite und einem durch diese Steuersenkungen auf der anderen Seite geschaffenen neuen Finanzbedarf von Staat und Kommunen.26)

Wie rasant sich nach der Maueröffnung die Stimmung bei den Menschen der DDR veränderte, beweisen für mich die beiden folgenden Erinnerungen: Auf der großen Demonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz hatten einige hellsichtige Teilnehmer noch ein Plakat mit der Aufschrift mit sich geführt: „Nicht neue Herren, sondern keine“. Nur wenige Monate später fuhren – ansonsten höchst sympathische – Mitarbeiterinnen einer Berlin-Hellersdorfer Bildungseinrichtung nach Westberlin, um sich aus der dortigen Bildungsverwaltung einen neuen Chef auszusuchen. Nach einem neuen Leiter unter in der DDR oppositionell Gewesenen zu suchen – auf diese Idee waren sie gar nicht erst gekommen.

Hinsichtlich der politischen Rationalität im westlichen System hatte es aber selbst in meinem Freundeskreis Anfang 1990 noch Illusionen gegeben: Wir hatten eine Herrschaft von Vernunft in der modernen westlichen Demokratie erwartet, wo es für Herrschende einzig schwieriger ist, Unvernünftiges auf Dauer durchzusetzen.27)

1945 sandte die sowjetische Propaganda ein Foto rund um die Welt mit sowjetischen Soldaten darauf, die auf dem Berliner Reichstagsgebäude die sowjetische Flagge aufpflanzten. Heute wissen wir, die auf dem Bild festgehaltene Tat war nicht das Originalgeschehen, sondern eine im Auftrag der sowjetischen Führung später nachgestellte Aktion. Ob die Forschung bei der DDR-„Aufarbeitung“ einmal Ähnliches herausfinden würde? So wissen wir Zeitzeugen durchaus, dass uns von interessierter Seite gelegentlich Anführer in unserem einstigen Streben nach mehr Freiheit präsentiert werden, die bei unseren tatsächlichen Unternehmungen in Richtung von mehr Freiheit noch wenig dabei gewesen waren. Außerdem scheint der DDR-Historiografie von heute die Aktenhinterlassenschaft des MfS nicht selten die gewichtigste schriftliche Quelle zu sein. Hatte die Stasi aber tatsächlich den Einfluss auf unsere Geschichte, der ihr heute so gern zugeschrieben wird? Da wir DDR-Menschen von einst vom Einwirken des MfS auf unser Handeln weniger wussten als die Forscher von heute, handelten wir zumeist, ohne diese Einflüsse ausreichend in unser eigenes Handeln bzw. dessen Kalkül einzubeziehen. Die Erkenntnis dieser Unschärferelation sollte m. E. in jegliche DDR-Geschichtsschreibung gehören, die sich vorrangig auf die MfS-Akten stützt.

Mit meinen „Aufzeichnungen eines Ostdeutschen aus fünf Jahrzehnten“ möchte ich ein wenig zu der Einsicht beitragen, dass wir einstigen DDR-Menschen anders funktionierten

als die Mächtigen der DDR zu ihrer Zeit annahmen, und

auch viele Deutsche von heute es mittlerweile vermuten.

Da die Texte zu unterschiedlichen Zeiten entstanden sind, wurde zwar die Rechtschreibung durchgängig heutigen Kriterien angepasst, die Form der Texte blieb aber weitgehend im Originalzustand.

Dieter Winkler

Oktober 2012/Februar 2013

Fußnoten zum Vorwort
1) Später, als er einen Fernseher hatte, schaute ich bei ihm nie Schnitzlers „Schwarzen Kanal“, ziemlich häufig dagegen Höfers „Frühschoppen“. Allerdings war er stets gehörig glücklich, wenn ich bei Höfer „bürgerlichen“ Journalisten mit linken Argumenten zu widersprechen verstand. Mein Stiefvater hatte 12 Jahre NS-Herrschaft ohne tägliche Anleitung durch eine hauptamtliche Parteiagitation überlebt – ihn zog es zumindest zuhause nicht allzu sehr zu den jeweils amtlichen „Parteiargumentationen“.  
2) Ich kam 1956 nach acht Jahren „Grundschule“ zur vierjährigen „Oberschule“. 1958 wurde dann die zehnjährige „Polytechnische Oberschule“ für alle eingeführt, an die sich zwei Jahre „Erweiterte Oberschule“ anschließen konnten.  
3) Wolfgang Leonhard: Die Revolution entläßt ihre Kinder, Milovan Djilas: Die neue Klasse, Orwell: 1984. Dabei hatte der gestrenge DDR-Zoll zur gleichen Zeit ein englisch-sprachiges Penguin-Taschenbuch von „1984“ an mich durchgehen lassen, als man für die Weitergabe eines deutsch-sprachigen Exemplars noch inhaftiert werden konnte. (Übrigens soll die DDR-Kulturbürokratie in den 80er Jahren sogar über eine DDR-Ausgabe des berühmten Werkes von Orwell nachgedacht haben.)  
4) „Dritter Weg“: damals gedachtes Gesellschaftsmodell zwischen westlichem Kapitalismus und sowjetischem Sozialismus. Vor allem in sozialdemokratischen Milieus hielten sich damals solche Vorstellungen. Vgl.: Dr. Siegfried Heimann: Die Sonderentwicklung der SPD in Ostberlin 1945–1961. Expertise für die Enquetekommission des Deutschen Bundestages: Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur, S. 19.  
5) Wie die Führungen anderer osteuropäischer Länder auch. Den Anstoß hatte der XXII. KPdSU-Parteitag im Herbst 1961 mit seiner erneuten Kritik an Stalin und dessen Politik gegeben.  
6) Bernsteins Aufsatzfolge in der „Neuen Zeit“, aus der sein umstrittenes Buch „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ hervorging, und Kautskys „Die Diktatur des Proletariats“.  
7) In der Erstausgabe von 1922. Mit der Einleitung von Paul Levi. (Zu den DDR-Absurditäten damals hatte gehört, dass ein Philosophie-Assistent, wie er uns erzählte, dieses Bändchen ohne „Giftschein“ in einer wissenschaftlichen Bibliothek der DDR nicht erhalten hatte, eine russisch-sprachige Übersetzung des Luxemburg-Textes aber ohne Probleme.)  
8) Karl Marx: Debatten über Preßfreiheit. MEW, Bd. 1, S. 54. Ich zitiere diesen Satz – trotz der MEGA – immer noch am liebsten aus meinem bunt angestrichenen Band von damals.  
9) Ebenda, S. 51  
10) Weil Lenin für seinen Typ von Diktatur, die Diktatur einer Partei mit festgefügtem ideologischen Korsett, von Marx den Begriff „Diktatur des Proletariats“ entlehnt hatte, der die Herrschaft einer sozial bestimmten Gruppe beinhalten sollte, meinen heutige Marx-Gegner allzu gern, dass Marx ein geistiger Vorläufer von Lenin gewesen sei.  
11) „Dogmatisch“ war damals im DDR-Politsprech eine Bezeichnung für Menschen, die besonders auffällig an dem klebten, was sie in der Stalin-Zeit und auch noch danach als „Marxismus-Leninismus“ erlernt hatten.  
12) Ich bekam z.B. Biermanns „Drahtharfe“ von einer französischen Kommilitonin mitgebracht.  
13) Wenn ein Westverlag in den 60ern zu Beginn der Messe von einem in der DDR begehrten Buch mehrere Exemplare in seinen Ausstellungsregalen hatte, gähnte dort zu Messeende oft völlige Leere. Diese Bücher waren, die westdeutschen Verlagsmitarbeiter hatten regelmäßig weggeschaut, von ostdeutschen Messebesuchern inzwischen „umgeeignet“ worden.  
14) Ich z.B. diskutierte Elemente zu einer Reform des existierenden „Sozialismus“ mit meinem Kommilitonen Lothar Bisky oder dem Physiker Stefan Welzk, der im Sommer 1968 über das Schwarze Meer in den Westen flüchtete. Letzterer lieh mir u.a. auch Kolakowskis „Mensch ohne Alternative“.  
15) Da alle fünf Jahre ein KPdSU-Parteitag stattfand, also auf 10 Jahre. Dieser Vorschlag ist mittlerweile in China realisiert worden. Die osteuropäischen kommunistischen Führungen übernahmen aus den USA aber lieber Elemente der Wahlparteitage der Republikaner und Demokraten: sorgfältige Auswahl der „Diskussions“-Redner durch die Parteiführung, Redaktion von deren Reden durch die Parteiführung vor dem Halten der Rede usw.  
16) Nur im neuen Parteiprogramm der KPTsch vom Frühjahr 1968 wurde eine Einheit von politischen und wirtschaftlichen Reformen angestrebt.  
17) Ohne die Kohlegruben im neu erschlossenen „Kuss-Bass“ hätten nach der deutschen Besetzung des „Don-Bass“ aus dem Eisenerz des Urals z. B. nicht mehr die vielen T 34 hergestellt werden können.  
18) Das klang für mich auf Grund meiner Erfahrungen in der „Produktion“ höchst plausibel. War in meinem ehemaligen Betrieb doch 1960 ein Produktionsablauf neu eingeführt worden, nach dem dort vor der Überführung des Betriebes in eine SAG (Sowjetische Aktien-Gesellschaft) schon produziert worden war. Er ermöglichte eine deutliche Senkung des Produktionsaufwandes.  
19) Zu den unsinnigsten Dogmen, die DDR-Studenten Anfang der 60er Jahre noch erlernen mussten, hatte gehört, dass im „Sozialismus“ alle Produktion „unmittelbar gesellschaftlich“ sei, ihre Erzeugnisse sich also nicht erst auf einem Markt zu bewähren hätten. Die bekannte Folge: Lagerbestände bei unverkäuflichen Waren bei gleichzeitigem Mangel an von der Bevölkerung gewünschten. Marxistisch denkenden Ökonomen war in den 60ern – manchen nur vorübergehend – klar geworden, dass in einer modernen, hochgradig arbeitsteilig produzierenden Wirtschaft der Austausch nur über einen intelligent regulierten Markt erfolgen kann. Reguliert bedeutete für meinesgleichen damals allerdings immer: Reguliert nicht durch eine Bürokratie, sondern durch Gesetz und Justiz.  
20) Wie das Beispiel der heutigen staatlichen Landesbanken zeigt, wäre so etwas nicht nur für Unternehmen in „sozialistischem Eigentum“ angebracht gewesen.  
21) Im Kulturbereich war ich z.B. darauf gestoßen, dass Freiberufler nur zwei Steuerklassen kannten: einen Regelsatz von 20% auf ihre Honorare und einen Ausnahmesatz von 10% bei sehr niedrigem Einkommen.  
22) Wie zugleich „sozialistisch“ und „freiheitlich“ meinesgleichen damals dachte, zeigt z. B. mein Studentenstück von 1968 „Die Fragen und die Freiheit“. In: Torsten Hilse/Dieter Winkler (Hg.): Die Fragen und die Freiheit. Schubladentexte aus der DDR. Berlin 1999  
23) 1969 hatte ich auf einem westdeutschen Rundfunksender von einem ehemaligen Mitarbeiter Ota Šiks in fehlerfreiem Deutsch hören können, dass die Sowjetunion und ihre Führung in einigen Jahren vor der gleichen Notwendigkeit von Reformen stehen würden wie die ČSSR 1967/68  
24) Allerdings war Ende der 60er Jahre noch keinesfalls zu vermuten, dass der Bruch vieler Nomenklaturakinder mit dem „Realsozialismus“ und dem Gewäsch ihrer Eltern vom „neuen sozialistischen Menschen“ ein Vierteljahrhundert später so weit gehen würde, dass sie statt eines Reformsozialismus in „ihren“ Ländern einen brutalen Kapitalismus einführen und dabei vor allem die ehemaligen Staatsbetriebe mit Tricksereien ganz rasch in ihre höchst privaten Hände überführen würden.  
25) Ich habe bis heute die Phantastereien zweier junger Ostberliner in einer S-Bahn nach Pankow Anfang März 1990 nicht vergessen, mit denen sie sich für die ihrer Meinung nach zu erwartenden Folgen einer Wahl Helmut Kohls am 18. März jenes Jahres begeisterten: Wie hoch ihre Nettoeinkommen bei westdeutschem Arbeitslosengeld und ostdeutschen Mieten künftig sein würden und welchen schweren Westwagen sie sich davon wann würden leisten können. „Wahnsinn“ nannten sie, was tatsächlich Wahnvorstellungen waren.  
26) Die westdeutsche Marktwirtschaft machte nach dem „Beitritt“ eine weitere gewichtige Wandlung durch: Die Politik sah ihre Aufgabe nicht mehr vorrangig darin, gleiche Rahmenbedingungen für miteinander im Wettbewerb stehende Unternehmen zu setzen, sie veränderte diese Rahmenbedingungen dahingehend, dass sie selbst Marktteilnehmer wurde. Die Politik trat in einen Wettbewerb um die Ansiedlung von Unternehmen bzw. um ein Wohlgefallen von „Investoren“. Und denen musste sie dann folgerichtig gute und bessere „Standortbedingungen“ bieten, also niedrigere Steuern und Löhne. In der Folge dieses „Umbaus“ der sozialen Marktwirtschaft konnte die nur Aspekte ihres sozialen Charakters verlieren.  
27) 

2. Die Sechziger

In den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war ich

Arbeiter (vom September 1960 bis zum August 1962)

Student (vom September 1962 bis zum Juli 1967)

Absolvent (ab September 1967)

Als im Herbst 1960 im VEB Drehmaschinenwerk Leipzig mein bisheriges Wissen und Denken und die Realität der „sozialistischen Praxis“ verschärft aneinander gerieten, glaubte ich – wie andere Menschen vor mir und nach mir auch – mich mit dieser Situation in einem Tagebuch auseinandersetzen zu sollen. Wegen beträchtlicher Konflikte mit meinen SED-Kommilitonen im 1. Studienjahr Geschichte/Marxismus-Leninismus führte ich das Tagebuch danach weiter: das ganze Jahrzehnt hindurch.

Die Notizen aus den ersten Studienjahren sind bei einem westdeutschen Freund verloren gegangen, dem ich sie für die „Zeit danach“ zur Aufbewahrung mitgegeben hatte. Andere Teile des Tagebuchs, selbst durch mich heute kaum mehr entzifferbar, habe ich nach dem Tod meiner Mutter 1991 in deren Möbeln wiedergefunden. Bei ihr in Merseburg und später Halle hatte ich sie vor einer möglichen Hausdurchsuchung bei mir in Leipzig und danach Berlin verbergen wollen. Einige weitere Texte hatte nach meinem Umzug nach Berlin eine Bekannte in Leipzig auf ihrem Boden versteckt.

Wie die bereits in den „Schubladentexten aus der DDR“ von mir abgedruckten Texte stammen auch diese hier von einem höchst unwichtigen ehemaligen Bürger der DDR. Sie weisen gerade damit, glaube ich, nicht nur auf Stimmungen und Meinungen bei mir, sondern auch in dem Milieu, dem ich damals angehörte.

2.1 Arbeiter

1960

Dezember 60

So wie Ludwig XIV. einst: Der Staat bin ich, heute Walter Ulbricht: Die Arbeiterklasse bin ich.

1961

11. 2. 61

Ein Stück Stange aus dem Betrieb mitgenommen. Über das, was aus der Tasche herausguckte, habe ich einen Strumpf drübergesteckt. Der Betriebsschutz sagte nichts.

Spruch für einen Funktionär: „Ich schwöre und gelobe … das richtige Parteibuch in der Tasche zu haben.“

13. 2. 61

Disput mit einem Philosophiestudenten. Er war der Meinung, in 50 Jahren ist mit dem Kapitalismus Schluss.

14. 2. 61

Hatte Nachtschicht. Polsterte meine Eidechse aus und las zwei Stunden in der Härterei.

16. 2. 61
17. 2. 61

Kadergespräch. Zeigte mich als Beherrscher der politischen Phrase. Gab zum Moskauer Manifest der Kommunistischen und Arbeiterparteien eine – akzeptierte – Meinungsäußerung, ohne dieses Manifest gelesen zu haben. Danach auf der Polizei Anträge für die Westdeutschlandreise von mir und meiner Großmutter geholt.

21. 2. 61
23. 2. 61

Diskussion bei einem Kulturangestellten der Stadt. Der: In dem Schlager „Einmal nur die Heimat sehen“ würde sich Revanchismus zeigen.

25. 2. 61
6. 3. 61

Erfahre Betriebsgeheimnis: Voriges Jahr stand eine Maschine (Drehbank) aus unserem Betrieb als Exponat auf der Technischen Messe. Sie konnte aber keinen Probelauf zeigen, weil in ihr noch einige Rädchen fehlten.

Unser Kaufmännischer Direktor, Parteimitglied, rauchte eine Westzigarette. Ein junger Arbeiter spöttisch: „Diese Zigarette wurde von Arbeitern hergestellt. Er raucht ein Produkt westdeutscher Arbeiter.“

Arbeiterdelegation aus Westdeutschland im Betrieb. Ihre Mitglieder bekamen in der Kantine natürlich ein besseres Essen als wir.

7. 3. 61

Las auf der Buchmesse in einem Buch über Walter Rathenau: Die Bourgeoisie müsse die intelligenteren Kräfte aus der Arbeiterklasse herausziehen, um sie in die herrschende Klasse aufzunehmen.

8. 3. 61
Zweite Märzhälfte (im Westen)

Wenn die westdeutsche Hausfrau nicht Geld genug hat, die vielen schönen Sachen in den Läden zu kaufen, so findet die ostdeutsche Hausfrau nicht schöne Sachen genug in ihren Läden, für die es sich lohnt, Geld auszugeben.

Beide deutschen Staaten streiten sich, der einzig rechtmäßige zu sein. Und dabei sind beide Kinder des „Tausendjährigen Reiches“.

Sah heute den amerikanischen Film „Verdammt sind sie alle“. Ja, verdammt zum Untergang ist die kapitalistische Ordnung. Aber es ist keine bessere da. Oder besinnt sich der östliche Kommunismus auf die positiven Traditionen der Arbeiterbewegung? Schwitzt er die Krankheit des Stalinismus aus? Nach dem XX. KPdSU-Parteitag erhoffte man das. Es wurden aber nur die schlimmsten Eiterbeulen gestochen. Hoffen wir auf eine positivere Entwicklung.

Die Überlegenheit der westdeutschen über die ostdeutsche Wirtschaft beruht darauf, dass ein Läufer, der an den Freund Blut spenden muss, nun einmal weniger Leistungskraft besitzt als der, der von seinem Freund Dextropurspritzen bekommt.

Es ist merkwürdig, dass zur Macht gekommene Diener gerade die unsinnigsten Gewohnheiten ihrer Herren nachahmen. Wollte ein Adliger im Feudalismus seine Bedeutung zeigen, so zählte er sämtliche Titel und Adelsprädikate auf, über die er verfügte. Wird ein kommunistischer Führer öffentlich angekündigt, werden alle Funktionen und Mitgliedschaften in Komitees, Räten, Kommissionen, Körperschaften aufgerufen.

Die Grundlage des allgemeinen Wohlstandes in der Bundesrepublik soll der Kredit sein, den jeder jedem gewährt.

Nach 1945 gingen in beiden Teilen Deutschlands gewaltige Veränderungen vor sich. Im Westen blieb der Inhalt, und die Form änderte sich. Im Osten änderte sich der Inhalt. Und die Form blieb.

4. 4. 61

Hörte W. v. Knoeringen im Bayrischen Rundfunk zu „Mehr Gerechtigkeit“. Er sprach in Tönen, die bei jungen Kommunisten wirken, weil er unsere Fragen anspricht und beantwortet.

6. 4. 61

Ich verstehe jetzt, warum Jesus das Geißeln gegen den Hochmut erfand. Weltverbesserer müssen sich geißeln.

7. 4. 61

Versammlung: Ab nächsten Sonnabend kämpfen wir, die Transportbrigade, um den Staatstitel „Brigade der sozialistischen Arbeit“.

12. 4. 61

Ein Arbeiter: Die einzige wirkliche Verbesserung, die nach 1945 in der DDR eingetreten sei, wäre, dass begabte Arbeiterkinder studieren können.

15. 4. 61

Die Jugendbrigade „15. Jahrestag der Gründung der SED“ nahm den Kampf um den Staatstitel „Brigade der sozialistischen Arbeit“ auf. Anwesend zum offiziellen Teil waren der Parteisekretär des Betriebes, der BGL-Vorsitzende, der Produktionsdirektor, der FDJ-Sekretär. Am Schluss des inoffiziellen Teils waren alle voll. Ich musste mithalten. Vertrug es aber.

18. 4. 61

Ein anderer künftiger Student sagte mir, dass ich im Brechtschen Sinne ein Verbrecher wäre, wenn ich den FDJ-Funktionär spielen würde, obwohl ich doch andere Überzeugungen hätte. Ich: Das täten bei uns doch 90%. Und ich wäre noch vor einem Jahr aus Überzeugung FDJ-Funktionär gewesen.

Bei Bekannten erzählte ein Arbeiter über seine Sowjetunion-Jahre, vor allem seine Lagerhaft. Der Vater meines Freundes: Wenn das alles stimmen würde, habe sein ganzes bisheriges Leben keinen Sinn gehabt.

20. 4. 61

Die Masse braucht Brot und Frieden, die Oberschicht Denkfreiheit dazu.

22. 4. 61

Hörte Teil des Rundfunkstreitgespräches zwischen Bucerius, Eisler und Schnitzler. Schnitzler war erstaunlich schweigsam.(Es handelte sich um ein Rundfunkstreitgespräch im DDR-Rundfunk mit dem Verleger der Wochenzeitung „Die Zeit“ und den DDR-Journalisten Gerhard Eisler und K. E. v. Schnitzler)

25. 4. 61

Diederich Heßling ist nur der Untertan der wilhelminischen Epoche. Aber nicht der Untertan an sich. Der wandelt sich ständig und taucht immer wieder in neuer Gestalt auf.(Diederich Heßling ist der „Held“ in Heinrich Manns Roman „Der Untertan“)

Der FDJ-Sekretär unseres Betriebes erklärte, dass sich auch eine um den Staatstitel „Brigade der sozialistischen Arbeit“ bemühende Brigade keine eigenen 1.Mai-Losungen ausdenken dürfe. Die Losungen würden in unserer Demokratie prinzipiell von „oben“ gestellt.

27. 4. 61

Einerseits spiele ich die offizielle Politik mit, andererseits mache ich gelegentlich zweideutige Bemerkungen.

29. 4. 61

Fand eine Veröffentlichung von mir an der Wandzeitung, die nicht von mir stammte. Nahm sie herunter und zerriss sie. Erfahre, dass den 1. Mai nicht bezahlt bekommt, wer nicht mitmarschiert.

Denke an Heidelberg vorigen Monat: Als ich von der Autobahn kam, trat ich in eine Märchenwelt; moderne Architektur und Farbenfreude bezauberten mich. Der andere Teil Deutschlands war mir völlig fremd und neu.

N. ist jetzt Kandidat der Stadtleitung der FDJ. Glaubt, dass der Sozialismus siegen wird. Lehnt aber unfähige Funktionäre in ihren Stellungen ab.

1. 5. 61

Erster Mai erstmals ohne Hochgefühl. Mit ehemaliger Oberschule mitmarschiert. Im Betrieb hätten sie mich möglicherweise aus der FDJ herausgeschmisssen, weil ich mit Schlips und ohne Blauhemd gekommen war.

15. 5. 61

Öffentliches Parteilehrjahr. Der Produktionsdirektor: Ich weiß, die Wirtschaftsfunktionäre sind zur Zeit wieder an allem schuld.

19. 5. 61

Gewerkschaftswahlen. Man musste das Mitgliedsbuch vorzeigen, bekam einen Stempel hinein, wurde auf einer Liste abgehakt. Alles an dem gleichen langen Tisch, an dessen Rand dann auch noch eine Urne stand, in die man den Zettel mit den Namen der Kandidaten steckte. Einige Kollegen nahmen einen ebenfalls auf dem Tisch liegenden Rotstift und strichen einige Namen auf der Liste durch.

Abends traf ich einen Freund aus Grundschulzeiten, jetzt Offiziersschüler. Der: Im Westen würde man die Schlagkraft der Volksarmee stark überschätzen. Sie hätten viele Schwierigkeiten im Politunterricht. Und er habe bei Vorgesetzten Schwierigkeiten, weil er bekennender Holzhammerpolitiker wäre. Er weiß nicht, dass Sparta, als es die Hegemonie in Griechenland besaß, keine kulturellen Leistungen hervorgebracht hatte.

27. 5. 61

Philosophiestudent: Als Ulbricht 1958 auf dem V. Parteitag seine Ökonomische Hauptaufgabe herausbrachte, dachte ich, 1961 muss im Westen die große Krise ausgebrochen sein. Sonst ist die Überholung des Westens nicht zu erreichen.(Ziel der „Ökonomischen Hauptaufgabe“: eine Überholung der Bundesrepublik bei wichtigen ökonomischen Kennziffern pro Kopf der Bevölkerung)

2. 6. 61

Diskussion über „Unabhängigmachung vom Westen“. In einem anderen Leipziger Maschinenbaubetrieb sollen einige Maschinen nicht fertig werden, weil in ihnen Schrauben fehlen, die früher aus dem Westen kamen.

7. 6. 61

Sowjetischer Soldat: „Russische Soldaten gut, russische Offiziere schlecht.“

Kollege: Lösung der Westberlinfrage heißt Lösung des Problems Westflucht.

Im Feudalismus waren nur Mitglieder des Adels Mitglieder der herrschenden Klasse. Im Sozialismus hat jeder kluge Mensch, der auf eine eigene Meinung verzichtet, die Möglichkeit, Mitglied der herrschenden Parteikaste zu werden. Aber auch hier sind „revolutionäre Traditionen“ in der Familie von beträchtlichem Einfluss auf die Karrierechancen.

10. 6. 61

Einem Kollegen war ein Zimmer als Wohnraum versprochen worden vom Betrieb. Er bekam aber keines. Er hat im Betrieb geschlafen: im Umkleideraum.

Im 11. Schuljahr hatten wir Oberschüler darüber diskutiert, warum es im Westen kaum Kommunisten unter den Arbeitern geben würde. Ich erklärte damals: Die deutschen Kommunisten sind entweder in den KZs umgekommen oder heute im Osten. Die vielen Karrieristen hier fielen uns allerdings auch da schon auf.

11. 6. 61

Ein Genosse, linientreu ansonsten, klagt über die Behandlung, die sein Sohn bei der Armee erfährt: Wie einst bei der Wehrmacht.

Bei Handel und Versorgung sieht es derzeit so aus, dass, wenn ein privater Ladeninhaber sein Geschäft aufgibt, dieses nur an die HO oder den Konsum vergeben wird. Privatleute dürfen nicht mehr ran. HO und Konsum haben aber keine Leute. Läden stehen leer.

12. 6. 61
13. 6. 61

Neues Berlin-Memorandum der Sowjetunion. Der Westen sagt, wir beharren auf unseren Rechten. Andere führen schon Rückzugsgespräche. Für sie gibt es nur eine Westberlin-Frage.

Der Kommunismus sieht vor, monotone und schwere körperliche Arbeit abzuschaffen, und die Unterschiede zwischen körperlicher und geistiger Arbeit verschwinden zu lassen. Meine Betriebspraxis zeigt anderes. Sie zeigt die Verachtung monotoner und schwerer Arbeit durch die Funktionäre (manche!) und der Arbeiter, die sie ausführen.

Ich begreife die Menschen, die vom Kapitalismus enttäuscht sind, die an dessen Stelle das Ideal eines Zeitalters der Humanität setzen wollen, das sie Sozialismus nennen. Sie sind zu beneiden, weil sie noch Ideale haben, weil sie noch etwas haben, dem sie Kraft und Verstand opfern können. Sie sind zu bemitleiden, wenn der Zeitpunkt des Erkennens kommt, dass all ihr Tun nicht das ersehnt Gute hervorgebracht hat. Mir sagte ein alter Genosse, als ich ihm meine ketzerischen Ideen vorlegte und er nicht umhin konnte, die Tatsachen als wahr anzuerkennen: „Das kann nicht sein. Du greifst die Ideale meines Lebens an. Das will ich nicht mehr hören.“ Diese Leute erkennen nicht, dass das, wofür sie ihr Leben eingesetzt haben, wofür sie Arbeitslosigkeit, „Schwarze Listen“, KZs ertragen haben, nicht das Zeitalter der Freiheit und des Glücks für alle ist. Den Jungen, die im offiziellen, zensierten und uniformierten Dogma erzogen werden, ist das Wort und seine Auslegung sowieso tabu. Ehrliche Jungkommunisten brechen mit der Führung, oder sie ziehen sich von der Politik zurück. Einige wenige schweben in den Höhen des reinen Denkens, sie werden nicht ernst genommen, die große Masse der Jungfunktionäre aber wird zur „Neuen Klasse“ in ihrer typischen Erscheinungsform: immer gehetzt und gejagt von neuen Linien und Kampagnen, nichts mit voller Begeisterung tuend, mit abgenutzten Vokabeln sich und andere antreibend, untereinander stets intrigierend. Ein sinnloses Leben, das nur durch die Sonne von Privilegien ein wenig aufgehellt wird.

Ein Kollege Dreher erzählte mir, er wäre Unteroffizier und Waffenmeister bei der NVA gewesen. Wie schön sei das gewesen: den ganzen Tag Gewehre zählen, ein wenig putzen und ansonsten nichts tun.

Man macht bei uns immer soviel Aufhebens über sowjetische Produktionserfolge. Es wird betont, die Sowjetunion stünde an zweiter Stelle in der Weltproduktion. Es ist aber merkwürdig, dass sie nicht an zweiter Stelle im Lebensstandard steht.

19. 6. 61

Die Funktionäre besitzen kein Privateigentum an den Produktionsmitteln. Gab es im alten Orient (Ägypten, Mesopotamien) nicht auch soetwas wie Staatseigentum an Produktionsmitteln und trotzdem eine herrschende Klasse mit Unterdrückerfunktionen? Brecht fragt in den Fragen seines lesenden Arbeiters: In den Geschichtsbüchern stünden die Namen von Königen, doch wer baute wirklich? Aber auch bei uns stehen in den Geschichtsbüchern nach den Bezeichnungen der baulichen Großvorhaben vor allem die Namen von Funktionären.

Ich erfahre von einer Funktionärsdelegation, die in Moskau war. Sie hörten, dort gäbe es keine Nachtlokale. Nachtlokale seien nur etwas für Kapitalisten und Parasiten.

20. 6. 61

Erfuhr heute aus dem NDR, dass Stalin nach seinem Sieg ganze Völkerschaften zwangsumsiedeln ließ. Von den Wolgadeutschen war mir die Zwangsumsiedlung schon bekannt. Noch vor zwei Jahren hätte ich diese „West-Nachricht“ als Hetze abgetan.

21. 6. 61

Unterhielt mich mit … Wir kamen zu dem Schluss, dass unsere Wirtschaft in den nächsten Jahren einen echten Aufstieg nicht erwarten lasse, und dass man Leuten, die abhauten, nicht übelnehmen könne, wenn sie das sinkende Schiff verlassen.

Die Menschheit hat sich immer nach einer Gesellschaftsordnung voll echter Humanität gesehnt. Aber es kam immer nur wieder eine neue Zeit der gesellschaftlichen Differenzierung. Immer wieder lebten einige wenige auf Kosten der großen Masse, wobei die Wenigen jedes Mal sagten, dies sei die einzig gute und beste aller Ordnungen. Und jedes Mal sahen die Massen eine üppig gedeckte Tafel für die Wenigen und einen weniger verführerischen Tisch für sich.

Es gibt keine ideale Staatsordnung. Der Sozialismus, der sie werden sollte, brachte eine Negierung seiner eigenen Ziele. Es entstand aus der Unzufriedenheit der früher untertänigen Schichten eine neue herrschende Klasse. Aber der Sozialismus beseitigte nicht die Unzufriedenheit.

Es gibt zwei Kriterien für die Zufriedenheit mit dem sozialen Dasein: erstens die materielle Lage und zweitens die geistige Freiheit. Beim zweiten Punkt gibt es derzeit ein Plus des Westens. Man ist nicht gezwungen, jeden idiotischen Gedankensprung mitzumachen, nur weil er von der politischen Führung gemacht wird. Man kann verstummen. Es ist also das System des Westens, obwohl es auf großer ökonomischer Ungleichheit basiert, solange es aber eine gewisse materielle Sicherheit gibt wie derzeit, der Diktatur des Ostens vorzuziehen.

Ein alter Arbeiter, früher SPDler: „Die lassen mich nur nicht nach England zu meinem Sohn, damit ich dort nicht nachsehe im Grab von Karl Marx, wie oft der sich seit seinem Tod umgedreht hat.“

22. 6. 61

Eine Revolution, eine ökonomische oder politische Umwälzung ist zu erwarten, sobald sich eine herrschende Schicht geistig und materiell abkapselt, sobald sie die Brücken zwischen sich und der Masse des Volkes zerstört. Solange ein ständiges personelles Fließen von einer Klasse zu den anderen durch keine engen Kastenschranken gehemmt wird, bleibt eine Gesellschaft lebensfähig. Wenn sie sich vom Wollen und Wünschen des Volkes, dessen Interessen isoliert, hebt sie den Zweck ihres Daseins als Führungsschicht des Volkes auf. Im 20. Jahrhundert wurde diese These durch die Oktoberrevolution und den ungarischen Herbstaufstand 1956 bewiesen.

23. 6. 61

Paul Fröhlich (1. Bezirkssekretär der SED): Kein Zurückweichen vor gegnerischen Meinungen. Die Wirtschaft störfrei machen, aber keine Einschränkung der Konsumgüterproduktion. Überall unbedingte Planerfüllung. Nicht ganz so kleinlich bei der Erteilung von Gewerbescheinen für private Einzelhändler sein.

24. 6. 61

Man kritisiert bei uns negative Erscheinungen im Westen, die doch auch bei uns noch da sind: z.B. Hakenkreuzschmierereien. Die gelangen nur nicht in die Öffentlichkeit.

25. 6. 61

Kurz nach seinem Beginn fing ich an, den „Freiheitssender 904“ zu hören. Ich höre ihn, wie viele andere ostdeutsche Jugendliche, um legal westliche Musik zu hören.

28. 6. 61

Einstündige Versammlung im Betrieb über die Fragen der Steigerung der Arbeitsproduktivität. Der Betrieb hat keine Plangröße erfüllt. Die Arbeitszeit der Produktionsarbeiter wurde nur zu drei Vierteln durch Produktionsarbeit ausgelastet. Die Ausfallstunden für staatsbürgerliche Betätigung seien ständig stark angestiegen. Das Verhältnis der Produktionshilfskosten zu den Produktionskosten ist insgesamt gestiegen. Der Betrieb hat noch einige zigtausend Stunden einzusparen. Sämtliche Arbeiter sind aufgerufen, die Produktion zu verbessern und zu vereinfachen. Der Betrieb wollte ein neues Kesselhaus bauen. Die Kessel sind auch gekommen, die Baukapazität aber wurde gestrichen. H. meint: Wenn Arbeiter etwas kaputt machen, sagt man Sabotage, aber wenn oben falsch geplant wird, was sagt man da? Die ökonomischen Schwierigkeiten müssen unerhört sein.

1. 7. 61

Führte Napoleon alte Adelstitel wieder ein, so führten auch Stalin u.a. kommunistische Herrscher alte Uniformen, Titel, Rangbezeichnungen wieder ein. Ein Unterschied jedoch: Benannte Napoleon seine Marschälle und Getreuen nach Städten und Orten, so gab Stalin Städten und Orten die Namen von sich und seinen Getreuen.

3. 7. 61

Bekamen als Ferienaushilfe einen Studenten von der Außenhandelshochschule in Berlin. Er erzählte, in Dresden hätten Oberschüler einen Straßenbahnerstreik organisieren wollen, zwei seien verhaftet worden, aus Solidarität wäre die ganze übrige Klasse in den Westen geflohen. Als Student wohnt er im Internat, habe ein Westberlin-Verbot und dürfe auch keine anderen Verbindungen in den Westen haben. Unter den Studenten seien auch „Bonzen“, die, wenn sie fachlich schlecht sind, auf jeden Fall durch die Prüfung gebracht werden. Da müsse man eben etwas „mitmimen“.

6. 7. 61

In der letzten Woche war Berlin auch bei den Arbeitern Hauptdiskussionsobjekt. Meinung: Sollte die Sowjetunion ihr Ziel erreichen, hat unsere Bevölkerung nichts mehr zu lachen.

7. 7. 61

Heute machte die Parteileitung statt einer Sitzung Sport: Kugelstoßen, Keulenweitwurf, 100-m-Lauf, Völkerball. Die z.T. dick gewordenen Funktionäre hatten es schwer. In der Leitung u.a. Kaderleiter, Produktionsdirektor. Letzterer sehr ordinär – Witze flogen hin und her – für seinen Posten.

10. 7. 61

Arbeiter: Er wolle nur noch soviel arbeiten, dass es fürs Essen und Wohnen reiche. Für seinen Mehrverdienst bekomme er ja nichts (Auto).

11. 7. 61

Bei uns im Betrieb waren polytechnische Schüler im letzten Jahr. Ein Mädchen, das politische Witze erzählte und vom sozialistischen Staat nicht besonders eingenommen war: „Im Westen möchte ich auch nicht sein.“ Warum ist die Jugend heute relativ interesselos an Ideologien? Anscheinend hat Gustave Le Bon doch nicht recht, dass die Erfahrungen der vorigen Generation für die folgende wertlos seien.

16. 7. 61

In Westdeutschland findet sich eine gewisse Selbstgefälligkeit. Ein deutsches Erbübel. Man fühlt sich dort wohl im neuen Gewande. Obwohl der alte Adam überall durchguckt.

BGL-Zusammensetzung bei uns: 24 Mitglieder:

9 Arbeiter

5 Meister/Abteilungsleiter

4 Angestellte

4 Ingenieure

2 hauptamtliche Funktionäre

(nur 7 sind nicht in der Partei).

Ein unsichtbares Spinnennetz von ungeschriebener Macht – man weiß nicht, wie es Anstöße registriert. Es ist so fein gesponnen, dass man es nicht erkennen kann, auch wenn man von seinem Dasein weiß.

Mitte Juli 61

Die Kugel, die unser Schicksal verkörpert, scheint sich mit täglich zunehmender Geschwindigkeit einem Ziel zu nähern. Und tatsächlich kann es nicht mehr lange so weiter gehen. Wir wissen, dass diese Kugel mit der Kollektivierung ins Rollen kam, dass alle Versuche, ihren Lauf zu stoppen, ihr nur neue Energie gaben, und wir wissen nicht, wohin sie laufen wird. Ich stehe mitten auf der Grenze und gehöre niemandem an. Aber in dem schmalen Stück Niemandsland kann ich nicht bleiben.

17. 7. 61

Kollege war zum Empfang einer sowjetischen Delegation abkommandiert. Alle sollten in den Ruf ausbrechen: „Es lebe die unverbrüchliche Freundschaft zwischen dem großen Sowjetvolk und dem deutschen Volk.“

18. 7. 61

Mitteilung vom Amt für Zoll und Kontrolle, dass man „Sunday-Express“, „Le Soir“, „New York Times“ in einer Sendung an mich beschlagnahmt habe.

Arbeiter, der aus dem Westen stammt: 32 Meister in unserem Betrieb, z. T. seien sie „Pfeifen“. Auch wenn man davon Ahnung hätte, könnte man diesen Betrieb nicht rentabel machen. Dafür müsste man den „Saustall“ mit seinen vielen Funktionären ausmisten. Er will wieder „nach Hause“. Ein anderer Kollege: Er hätte eine besser bezahlte Stelle in einem anderen Betrieb annehmen wollen. Es gelang nicht, weil dieser Betrieb hier ihn nicht habe verlieren wollen.

21. 7. 61

George Sch., bei NVA: „Wenn wir den Freiheitssender 904 hören, lachen wir immer.“

24. 7. 61

Ich fragte mich oft, warum können wir hier nicht sachlich und objektiv über Ereignisse und Tatsachen im Westen urteilen. Erklären konnte ich es mir erst, als ich lernte, dass auch wir eine herrschende Klasse haben, die aus Selbsterhaltungstrieb lügen und verleumden muss.

27. 7. 61

Kollege hat Kennedys Rede gehört. Selbst er mit seinen geringen politischen Kenntnissen war stark beeinflusst.

Ein verantwortlicher Funktionär gab „Ratschläge“ für die FDJ-Arbeit: Die Jugendlichen in einzelne Interessengruppen aufspalten. Arbeitsgemeinschaften und Interessengruppen bilden. So können wir an sie herankommen.

Hörte kürzlich eine Rede von Wolfgang Leonhard. Staunte, dass auch er „die Zonenmachthaber“ sagte.

28. 7. 61

Diskussion über Westberlin. Ein Funktionär: Wir werden Westberlin zumachen. Dann müssen die Amis usw. bei der DDR erbitten, nach Westberlin fahren und fliegen zu dürfen. Dann kontrollieren wir in Tempelhof, wer da an- und wegkommt. Allerdings müssen wir dann Westberlin mit versorgen. Die Bundesrepublik ist dann Ausland. Dorthin darf dann nur ein bestimmter Personenkreis reisen. Wenn wir ganz Berlin haben, wird sich manches ändern. Dann werden wir nicht mehr alles dulden, was wir jetzt noch erlauben müssen.

Bekannte (Intelligenz) verstehen nicht, warum der Westen nicht mit Ulbricht verhandelt. Er existiert. Ein Realpolitiker mit klarem Ziel müsse Tatsachen ins Auge sehen.

29. 7. 61

Ich sollte heute für die Partei geworben werden.