Wolfgang Hohlbeins Wyrm. Secret Evolution - Dieter Winkler - E-Book

Wolfgang Hohlbeins Wyrm. Secret Evolution E-Book

Dieter Winkler

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Beschreibung

Angst und Schrecken verbreiten sich in der Stadt, als plötzlich die U-Bahn-Tunnel einstürzen und ein riesiger Schlund ins Nichts sich öffnet. Im Zentrum der unerklärlichen Ereignisse steht David, der in dem unterirdischen Labyrinth gefangen ist. Können seine Freunde ihn aus den Trümmern retten? Warum plagen ihn seltsame Visionen über ein fremdes Mädchen? Und was verbirgt sich hinter all jenen winzigen wurmähnlichen Lebewesen, die aus dem Schlund kriechen? David und seine Freunde müssen ums nackte Überleben kämpfen und sich einem namenlosen Schrecken aus der Tiefe stellen.

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Wolfgang Hohlbeins Wyrm – Secret Evolution Ein Roman von Dieter Winkler

Vollständige E-Book-Ausgabe

1. Auflage 2013

ISBN 978-3-492-96442-5

© 2013 Piper Verlag GmbH, München Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München Umschlagmotiv: Andrea Barth, Guter Punkt unter Verwendung von Motiven von Shutterstock Creative Consultant: Wolfgang Liemberger Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

TEIL 1DAVID

Es war warm. Warm und feucht, fremd und doch vertraut. Es zog ihn an, es stieß ihn ab. Er wälzte sich im Bett hin und her, verschwitzt und unruhig. Seine Seele wanderte durch Gänge, durch Schläuche, die in ständiger unregelmäßiger Bewegung waren, durch Tunnel, die kein oben und kein Unten zu kennen schienen. Sein Herz schlug im Rhythmus seiner Schritte, sein Atem ging stockend.

Das Mädchen neben ihm streckte die Hand nach ihm aus. Er hätte die Geste gerne auf gleiche Art erwidert. Aber das ging nicht.Er hatte das Gefühl, sich immer weiter von der schmalen, fast durchscheinend zarten Mädchengestalt fortzubewegen, ihr dabei gleichzeitig aber auch näher zu kommen. Alles an ihr war vertraut und doch fremd. Er spürte ihren Schmerz, als wäre es der seine. Und er war sich sicher: Auch sie spürte seinen Schmerz.

Dann wurden seine Gedanken fortgeweht, und als er sich verzweifelt zu dem Mädchen umdrehte, sah er, dass es kein Gesicht hatte. Dort, wo die Augen hätten sein sollen, war etwas anderes. Ihr Gesicht verschwamm zu einer konturlosen Form, zu etwas noch nie Gesehenem, sodass es sein Blick nicht einfangen konnte.

Er hätte aufschreien können vor Qual. Hinter dem Mädchen bewegte sich eine Masse, sie begann zu pulsieren und zu vibrieren. Endlose, dünne Tentakel zuckten hervor, erstarrten, als sie das Mädchen berührten, krümmten sich, liefen in zitternden Bewegungen aus. Ein unerträglicher Gestank nach Fäulnis und Verwesung drang in seine Nase und biss sich in seiner Lunge mit unsichtbaren, spitzen Zähnen fest.

David lief los. Seine Füße versanken in grünlichgrauem Schleim, seine Arme ruderten sinnlos nach Halt suchend, aus seinem Mund drang ein stummer Schrei. Das Mädchen blieb hinter ihm zurück und war doch die ganze Zeit neben ihm und mit ihm die Tentakel, die das düstere Licht zerschnitten und so in Aufruhr waren, dass sein Blick sie nicht einfangen konnte.

»David!«

Es war mehr ein Aufstöhnen als ein Schrei. Aber er traf David bis ins tiefste Mark. Obwohl er nichts anderes wollte, als immer weiterzulaufen, nur weg von hier, raus aus der bedrückenden Enge und hinein in das Licht, das irgendwo vor ihm sein musste – obwohl er sich nichts sehnlicher wünschte, verweigerte ihm seine Seele den Gehorsam und seine Beine ihren Dienst.

Er hielt mitten im Lauf inne, wollte sich zu dem Mädchen umdrehen. Doch dazu kam es nicht mehr. Etwas schoss von hinten an ihn heran, wand und schlängelte sich um seinen Hals und drückte ihm die Kehle zu. Und dann hörte er nur noch sich selbst schreien …

01

»Schnell, sonst erwischen sie uns noch!«

In Janas Stimme hallte blanke Panik wider. David verstand nicht, was ihre Freundin mit den dunklen Augen und der langen schwarzen Mähne so aufgeschreckt hatte. Es war nicht das erste Mal, dass die Bullen hinter ihnen her waren. Der Wettlauf zwischen Sprayern und Ordnungshütern gehörte mittlerweile fast zur Tagesordnung in ihrem Viertel … doch bislang hatten die Devil Writer ihren Verfolgern immer eine lange Nase gedreht.

Das würden sie auch diesmal schaffen.

»Die erwischen uns nicht, Jana«, sagte Maya. Sie wollte Jana am Handgelenk greifen und weiter in den Schatten des Hinterhofs ziehen, aber das hochgewachsene Mädchen wehrte sich und streifte ihre Hand auf eine Weise ab, die verdeutlichte, wie aufgebracht es war.

»Wir müssen weiter«, zischte Jana. »Sofort!«

Maya schüttelte entschlossen den Kopf. »Ganz ruhig. Erst mal überlegen, ob wir nicht …«

Mit finsterem Blick machte Jana einen Schritt auf die Freundin mit dem frechen Kurzhaarschnitt zu. Da sie fast einen Kopf größer als die zierliche Maya war, sah es aus, als würde eine junge Mutter ihr widerspenstiges Kind maßregeln. »Los jetzt! Quassle nicht, lauf!«

Maya wich zwei, drei Schritt zurück, tiefer in den Hof hinein. »Keine Sorge. Die erwischen uns nie. Dazu sind die einfach zu blöd – und wir zu schlau.«

David wollte die Situation mit ein paar Worten entschärfen, da schob ihn sein bester Kumpel Nico grob beiseite und packte Maya ungeduldig an den Armen. »Wenn wir so schlau sind, verschwinden wir besser sofort von hier!«

»Aua«, fauchte Maya. »Du tust mir weh!«

Nico schien ihre Worte gar nicht wahrzunehmen. »Ich habe ein ganz übles Gefühl!«, presste er zwischen den Zähnen hervor. »Ein ganz übles Gefühl …« Er ließ Maya los und starrte einen Moment wie benommen zu Boden, bevor er wieder hochsah und nun David fast flehend anblickte.

David wollte ihn beruhigen und ließ es dann doch. In Nicos Augen war ein Flackern zu erkennen, das dort nicht hingehörte. Er und Jana hatten vorhin zurückgeblickt, in die Richtung, aus der ihre Verfolger kommen mussten; in das Durcheinander von schäbigen Mietskasernen und ungepflegten Reihenhäusern, die vor dem Hintergrund der nahen City mit ihren Wolkenkratzern, bunten Lichtreklamen und Sendemasten wie Fremdkörper wirkten. Was hatten sie dort gesehen, dass beide so außer sich waren?

»Ein ganz übles Gefühl …«, wiederholte Nico noch einmal wie in Trance.

»Was meinst du damit?«, fragte David jetzt, geradezu besorgt, was ihn selbst erschreckte.

Nico schüttelte nur den Kopf, tauschte dann einen verzweifelten Blick mit Jana aus, woraufhin beide voller Angst einmal mehr in die Richtung zurücksahen, aus der sie gekommen waren.

Nicos merkwürdiges Verhalten rüttelte an Davids sorgfältig gepflegtem Schutzpanzer, hinter dem er all das verbarg, was niemanden etwas anging; noch nicht einmal seine drei Freunde, die für ihn wichtiger als alles andere auf der Welt waren. Jana und Maya waren die einzigen Mädchen, denen er sich bis zu einem gewissen Grad anvertrauen konnte, und Nico mochte er schon allein deshalb, weil er ihn mit seinem ruhigen Charakter immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholte. Aber so, wie er jetzt vor Aufregung zappelte: Das war doch nicht der Nico, den er kannte. Und schon gar nicht war es seine Art, ein Mädchen so unwirsch anzufahren, wie er es bei Maya getan hatte.

Nicht, dass das Maya einschüchtern könnte. Als David in ihre Richtung sah, rieb sie sich zwar gerade die Oberarme, an denen Nico sie unnötig hart angepackt hatte. Aber sie tat es eher beiläufig, so als wäre sie mit ihren Gedanken schon wieder ganz woanders. Als sie Davids Blick bemerkte, huschte ein kleines Lächeln über ihre Züge, und sie erwiderte ihn mit schief gelegtem Kopf. Dabei blitzte es kurz in ihren Augen auf, bevor sie David auf einer Art zunickte, die ihn verwirrte. Typisch Maya eben. Bei jedem anderen Mädchen hätte er gedacht, dass es etwas von ihm wollte. Aber nicht so bei ihr, der härtesten Parcours-Läuferin der Stadt. Maya war hübsch und durchgeknallt, und David hatte in all den Jahren, die er sie nun kannte, noch nie bemerkt, dass sie sich ernsthaft für einen Jungen interessiert hätte.

Ganz im Gegensatz zu Jana. Die interessierte sich sehr wohl für Jungen, leider immer nur für andere. Und in diesem Moment schien sie Davids Anwesenheit nicht einmal wahrzunehmen. Es versetzte ihm einen Stich, als er sie jetzt im Profil betrachtete, leicht nach vorne gebeugt wie ein scheues Reh, das Witterung aufgenommen hatte, oder eher wie eine Raubkatze, die auf die günstige Gelegenheit zum Angriff wartete.

Während Maya von ihrer Statur her klein und zierlich war, war Jana fast so groß wie David. In seinen Augen glich ihr Profil dem einer klassischen Schönheit, einer antiken Göttin. So auch in diesem Moment, wie sie sich eine Strähne ihres lang herabfallenden, leicht gewellten Haares aus der Stirn strich. Und selbst noch, als sie plötzlich mit ihrer Hand nach oben schnellte, um dann mit ihren langen schlanken Fingern wie beiläufig über ihren Nacken zu wischen. Als sie ihre Hand wieder senkte, sah David, dass sie eine Mücke erwischt hatte, die nun zu Boden trudelte. Mit dem Hacken eines Fußes zerquetschte Jana sie, ohne dabei in ihrer Konzentration nachzulassen, die einzig und allein in Richtung City gerichtet war.

»Wir müssen uns ein Versteck suchen«, murmelte Nico, ohne sich zu David umzudrehen.

David zwang sich, seinen Blick von Jana loszureißen und einen klaren Gedanken zu fassen. »Also gut«, sagte er schließlich. »Lasst uns von hier verschwinden. Falls wir uns verlieren, treffen wir uns …«

Janas Hand schnellte erneut in die Höhe, aber diesmal war es keine Mücke, die sie aufgeschreckt hatte. »Da sind sie!«, rief sie. »Seitenstraße auf 3Uhr!«

Sie und Nico zogen sich augenblicklich in den Hof zurück. Maya jedoch – typisch Maya eben – wirbelte herum, nahm Anlauf und sprang dann so kraftvoll ab, wie andere es nur mithilfe eines Trampolins geschafft hätten. Sie kam auf einem Maueraufsatz auf, der sie um zwei Kopflängen überragte.

»Wahnsinn«, murmelte Nico, und er hatte recht damit. Es war Wahnsinn, was Maya aus ihrem auf den ersten Blick noch so kindlich wirkenden Körper herausholen konnte. Und es war Wahnsinn, mitten am helllichten Tag ein Hochhaus für eine Sprayaktion zu entern und zu glauben, anschließend ungestraft davonzukommen.

Maya rannte ein Stück den schmalen Grat entlang auf die dunkle Mauer mit dem abgeblätterten Verputz zu, die den Hinterhof wie eine Burgmauer umschloss, federte ab, krallte sich in die Wand … und zog sich mit der Eleganz einer Raubkatze hinüber.

Einen Moment später war sie verschwunden.

»Na also, geht doch«, Nico atmete erleichtert aus. »Nichts wie hinterher. Wenn wir es über die Straße versuchen, schnappen sie uns gleich.«

David machte einen Schritt auf Nico zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Alles in Ordnung?«

Nico nickte knapp. »Ja … nur …« Er schüttelte den Kopf. »Egal. Wir müssen verschwinden.«

David widersprach nicht. Da war jetzt etwas in Nicos Blick, das ihn noch mehr erschreckte als sein unwirsches Verhalten Maya gegenüber. Aber nicht, weil er sich um seinen Freund sorgte. Sondern weil er spürte, wie sein eigener Schutzpanzer immer mehr Risse bekam. Und etwas in ihm aufstieg, was er für gewöhnlich in unruhige Nächte verbannte. Ein beängstigendes Gefühl. Nicos und Janas offensichtliche Panik hatte ihn stärker berührt, als er sich hatte eingestehen wollen … jetzt übermannte ihn etwas, das ihm den Atem zu nehmen drohte.

Das Mädchen aus seinen Träumen. Schmal, dunkelhaarig. Und auf schreckliche Art gesichtslos.

Die schmale Gestalt kam auf ihn zu, bewegte sich wie eine Schlafwandlerin und trotzdem zielstrebig durch den dunklen, vielfach gewundenen Gang, den hin und her schwankenden Schlauch, den fürchterlichen Ort seiner tiefsten Ängste und verborgensten Sehnsüchte. Sie kam immer näher, hielt beständig auf ihn zu, und hinter ihr waren deutlich die zuckenden Bewegungen wie die der Tentakeln zu sehen …

Nein! Er versuchte das Gefühl der Panik abzuschütteln, das ihn auch diesmal bei dieser Vision überkam. Tief in seinem Innersten war er sich sicher, wusste er, dass er dieses Mädchen kannte, dass es Teil seiner dunklen Vergangenheit war.

Gewaltsam zwang er seine Gedanken an einen anderen Ort, in eine andere Zeit, zurück ins Hier und Jetzt. Es gelang ihm nur im Ansatz. Er konnte sich nicht vollständig auf seine aktuelle Umgebung konzentrieren, nicht auf Jana, Nico und Maya. Seine Gedanken drängten mit aller Kraft weiter fort, jetzt in die Richtung seiner gegenwärtigen Erinnerungen. Sie rissen damit seine Aufmerksamkeit nun auch weg von dem Mädchen, das auf einer anderen Ebene weiterhin beharrlich auf ihn zukam, und führten ihn zu dem Versicherungspalast der Atlas KG zurück …

Sie waren die Straße entlanggegangen, hungrig auf irgendetwas, das ihre Lust aufs Sprayen befriedigen konnte. Schließlich hatte ein im Sonnenlicht spiegelndes Gebäude ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen, vor dem ein überdimensioniertes Gerüst aufgebaut war.

Es war einer der Bauten, die für krumme Finanzgeschäfte und Verschwendungssucht standen. Obwohl das zu großen Teilen glasverspiegelte Gebäude in vollkommen tadellosem Zustand war, turnten eine Handvoll Blaumänner auf dem Gerüst herum und machten sich an chromglänzenden Abdeckungen zu schaffen. Während Davids Blick abschätzend über die Konstruktion wanderte, legten die Arbeiter ihre Werkzeuge nieder und begannen, die bei jeder Bewegung laut scheppernde Metallkonstruktion hinabzusteigen.

Nico blieb stehen und legte die Stirn in Falten. »Seht ihr, was ich gerade sehe?«

»Dass die gerade Mittag machen?«, fragte Maya.

»Mittag?« David grinste breit. »Ich persönlich habe keinen Hunger, sondern eher Appetit auf etwas ganz anderes.« Er klopfte auf Mayas Umhängetasche. »Ich sehe, du bist für alle Fälle gerüstet.«

»Immer doch.« Maya öffnete ihre Umhängetasche gerade so weit, dass David die Spraydosen erkennen konnte, die sie dort verstaut hatte. Er griff nach einer mit schnelltrocknendem und hochdeckend rotem Kunstharzlack. »Das passt doch. Die Farbe knallt und ist sofort trocken.«

Mayas Finger glitten wie zufällig über Davids Hand, und als er aufsah, war da einmal mehr dieser ganz besondere Maya-Glanz in ihren Augen. »Lass mich das alleine durchziehen, David«, sagte sie. »Ich werde dir beweisen, dass ich hier ein noch durchgeknallteres Ding als im Hauptbahnhof abziehe …«

»Kommt gar nicht infrage«, protestierte Jana, bevor David auch nur den Mund aufmachen konnte. »Wir ziehen das gemeinsam durch – oder gar nicht!«

»Gar nicht gibt’s für mich nicht«, erwiderte Maya trotzig und umklammerte Davids Hand, als wolle sie ihn nie wieder loslassen.

»Na, dann ist ja alles gesagt«, meinte Nico. »Jetzt oder nie, Leute!«

David nickte, zog seine Hand zurück und atmete tief aus. »Von mir aus können wir.«

Es waren keine weiteren Worte mehr nötig. Aus sicherer Entfernung beobachteten die Devil Writer, wie auch der letzte Bauarbeiter das Gerüst räumte und alle in Richtung der nächsten Dönerbude verschwanden. Dann ein absichernder Blick in die Runde, eine kurze geflüsterte Verständigung, und sie alle vier setzten sich in Bewegung, sie enterten das schwere Metallgerüst – und das direkt vor den Augen zufälliger Passanten sowie im hellen Tageslicht.

Also war Eile geboten. Sie kletterten blitzschnell hoch und vermieden es dabei, nach unten zu sehen. Die beste Tarnung war Selbstverständlichkeit. Daher flitzten sie ohne einen Halt nach oben zum achten Stock durch, bis sie direkt vor der protzigen Leuchtschrift der Versicherung standen.

Jetzt waren sie so weit oben, dass schon jemand den Kopf in den Nacken legen musste, um sie zu entdecken – vorausgesetzt, sie machten keinen unnötigen Lärm. Und das hatten sie nicht vor.

»Was ist der Plan«, fragte Jana. »Wenn wir den kompletten Schriftzug übersprühen, werden sie sofort eine Hetzjagd auf uns veranstalten.«

»Sollen sie ruhig«, murmelte Maya. »Dafür setzen wir ein klitzekleines Zeichen unserer Genialität.«

Klitzeklein? David hätte von Anfang an wissen müssen, dass die Devil Writer eine Kategorie »Klitzeklein« gar nicht in ihrem Programm hatten. Das bewies nun die Erinnerung daran, wie sie in schwindelerregender Höhe auf dem Baugerüst gestanden hatten, Maya ihre abgegriffenen Sprayflaschen herausgeholt hatte, um dann in die Hocke zu gehen und sie vor sich auf den schwankenden Bohlen abzustellen; die Erinnerung an den Wind, der sie dort oben umtost hatte, und an den Klang ferner Sirenen, die sie zur Eile angetrieben hatten; die Erinnerung, wie sie in null Komma nichts das mindestens acht Meter breite Logo der Atlas KG so verunstaltet hatten, bis es nicht mehr zu entziffern war …

Doch all diese Bilder verblassten jetzt schlagartig. Und mit ihnen das Hochgefühl, das für gewöhnlich stunden-, wenn nicht sogar tagelang nach einer gelungenen Sprayaktion anhielt.

Etwas war heute anders. Nicht nur, weil sie mit ihrer riskanten Aktion das Tor zu einer neuen Dimension in ihrem persönlichen Sprayer-Wahnsinn aufgestoßen hatten; sondern auch, weil David immer stärker von der undefinierbaren Angst überschwemmt wurde, die offensichtlich seine Freunde Nico und Jana schon komplett erfasst hatte.

Und spürte, dass es … näher kam.

Er hätte nicht sagen können, was Es war. Aber er spürte deutlich, dass sich etwas um sie zusammenzog, seit Wochen schon. Und es kam näher. Sein Magen war verkrampft – und er bemerkte den gleichen stechenden Schmerz hinter seinen Schläfen, der ihn immer dann quälte, wenn er mal wieder morgens nach einem besonders heftigen Angsttraum verschwitzt und außer sich vor Panik hochschreckte …

… nachdem er in das Antlitz eines Mädchens geblickt hatte, das die Hand nach ihm ausstreckte und die Lippen öffnete, um seinen Namen zu rufen.

»Wir müssen nicht über die Mauer«, sagte Jana. »Hier ist ein Durchschlupf.«

David nickte, ohne wirklich verstanden zu haben. Der Albtraum war in den letzten Tagen immer schlimmer geworden, Nacht für Nacht. Und wenn er jetzt schon in den Tag hinüberkroch, würde er ihn irgendwann einholen in der Realität.

»David?«, fragte Nico. »Was ist los? Warum kommst du nicht endlich?«

»Ich komme schon«, murmelte David benommen. »Ich will nur sehen, mit wem wir es zu tun haben.« Er schob sich ein Stück vor, gerade weit genug, dass er um die Ecke spähen konnte.

Da waren sie, ihre Verfolger. Drei Männer, die gerade hinter einem lindgrün gestrichenen Sechzigerjahre-Apartmenthaus hervorschossen. David hatte erwartet, dass sie Phantasieuniformen einer Security-Firma trugen, und er hätte sich nicht gewundert, wenn es Streifenbullen gewesen wären, die sich an ihre Fersen geheftet hätten. Aber all das traf nicht zu.

Sie hatten alle drei militärisch knappe Bürstenhaarschnitte, trugen unauffällige sportlich legere Kleidung sowie verspiegelte Sonnenbrillen, und ihre Bewegungen waren so kraftvoll und elegant wie von den Typen, die ständig in irgendwelchen Kampfsportschulen trainierten. Sie hätten einem Hollywood-Blockbuster entsprungen sein können, in dem sie die knallharte Vorhut einer Spezialeinheit darstellten – oder die skrupellosen Handlanger eines international operierenden Geheimdienstes.

David hatte wortwörtlich das Gefühl, im falschen Film zu sein. Was wollten diese drei Spinner von ihnen?

»Komm endlich«, Nico zupfte an seinem Arm, »lass uns abhauen.«

David nickte wortlos, drehte sich zu seinem Freund um und stürmte los. Verfolgt auch von der bösen Ahnung, dass sie mit ihrer Sprayaktion geradewegs in ein Wespennest gestoßen waren.

*

»Ruhe, verdammt noch mal!« Susan, mit ihren neunundzwanzig Jahren eine attraktive Frau – bis auf den harten Zug um ihren Mund –, umklammerte mit festem Griff das Lenkrad ihres uralten Polos. Die Kinder benahmen sich heute mal wieder schrecklich. Aber das war ja kein Wunder. Jeden beschissenen Freitag das gleiche Theater. Wenn am Ende der Arbeitswoche sowieso schon bei allen die Nerven blank liegen.

Sie hasste es, dann auch noch das von Kohlsuppe und Hundekot verpestete Treppenhaus mit ihren überdrehten Kindern zu betreten, die knarrende Holztreppe bis in den fünften Stock hochzueilen und auf die versiffte Klingel zu drücken. Noch viel mehr aber hasste sie es, wenn sie daraufhin schlurfende Schritte hörte, nur um wenig später ihrem Exmann gegenüberzustehen, der die Tür mit der Geschwindigkeit eines Einhundertzwanzigjährigen aufzog und sie mit leerem Blick anglotzte.

»Ist es schon wieder so weit?«, fragte er. Jedes Mal. Der Suff hatte nicht nur seine Leber ruiniert, sondern auch die eine oder andere Gehirnzelle davongeschwemmt. Wie hatte sie diesen Idioten nur heiraten können?

Wildes Gebrüll von der Rückbank riss sie aus ihren Gedanken. »Giiiib daaaas her!«, schrie Robbie, und Brit brüllte etwas zurück, das Susan nicht verstand.

Sie warf einen Blick in den Rückspiegel. Robbie, der Fünfjährige, hatte seinen Schokoladenmund zu einer bösen Grimasse verzogen, und in den Augen seiner ein Jahr jüngeren Schwester flackerte blanke Mordlust. »Wenn ihr nicht sofort Ruhe gebt, geht ihr die komplette nächste Woche ohne Nachthupferl ins Bett«, drohte sie.

Robbie streckte ihr die Zunge raus, und Brit rollte mit den Augen. So etwas taten sie nie, außer das Wochenende bei ihrem versoffenen Vater stand an.

»Hört mal«, begann Susan mühsam beherrscht, »so geht das nicht …«

Der Rest ihres Satzes ging im wilden Hupen eines Lastwagens unter. Als Susan erschrocken nach vorne blickte, erkannte sie, dass sie gerade im Begriff war, die Mittellinie zu überfahren und einen entgegenkommenden Lastwagen zu rammen. Sie kurbelte verzweifelt am Lenkrad, und der Polo schoss von der Straßenmitte wieder zurück auf den rechten Rand zu. Ein älterer Mann hechtete mit all seiner verbleibenden Kraft panisch zur Seite, dann hatte Susan den Wagen wieder in ihrer Gewalt.

»Verdammt noch mal!« Sie schlug voller Wut aufs Lenkrad. »Jetzt reicht es aber! Wollt ihr, dass ich uns alle umbringe, nur weil ihr euch die Köpfe einschlagen müsst?«

»Das ist mein Hase!«, tobte Brit unbeeindruckt. »Den hab ich von Papa bekommen!«

Robbie antwortete nicht, sondern quietschte laut auf, vermutlich, weil ihn seine Schwester mal wieder in den Oberschenkel gekniffen hatte. Susan hätte am liebsten eine Vollbremsung hingelegt, aber das war auf einer Ausfallstraße eine ganz schlechte Idee. Sie musste sich zusammenreißen. Brit saß links im Kindersitz, Robbie rechts. Dazwischen war fast ein Meter Platz. Sie konnten einander nur erreichen, wenn sie sich ganz weit vorbeugten, und auch dann reichte es nur für einen Knuff oder einen Hieb mit einem Stofftier.

Also aufs Fahren konzentrieren und alles andere ausblenden.

Sie stellte das Autoradio an und regelte die Lautstärke so hoch, dass die billigen Lautsprecher ihrer Rostlaube schepperten. Highway to Hell von AC/DC. Das passte.

*

Die meisten Menschen bewegen sich recht schwerfällig in zwei Dimensionen, David und seine Freunde dagegen leichtfüßig in drei Dimensionen. Sonst wären sie wohl auch schon längst mal geschnappt worden.

Die kleine drahtige Maya hüpfte von der schmalen Mauer herunter, über die sie gerade mit artistischer Geschicklichkeit gerannt war, und kam gut drei Meter tiefer in einem Innenhof auf, den zu betreten strengstens verboten war. Es gab eine Menge Notausstiege und Belüftungsschächte in der Stadt, von deren Existenz die meisten U-Bahn-Fahrgäste nicht die geringste Ahnung hatten; das machten die Freunde sich zunutze.

Maya sprang jetzt auf das Geländer eines solchen Notausstieges und glitt so schnell daran herab, dass es aussah, als würde die muffige Dunkelheit des Kellerschachtes sie verschlingen. Jana und Nico folgten ihr, nur David verharrte noch einen Moment länger.

Er blickte zurück. Kein Durchschnittsbulle und schon gar kein Security-Mann war bislang in der Lage gewesen, ihnen zu folgen, wenn sie Wände hochsprangen, über Geländer hechteten, die Entfernung von einem Dach zum anderen mit einem waghalsigen Sprung überwanden oder ganze Treppen mit einem Satz herunterflogen, nur um dann mit vollem Tempo weiterzuhetzen.

Ihre drei Verfolger hätten also nicht mehr da sein dürfen.

Aber … David kniff die Augen zusammen und spähte gegen die untergehende Sonne in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren … tauchte da nicht gerade ein Schatten aus dem Hauseingang auf? Ein Typ in unauffällig auffälliger Kleidung mit Sonnenbrille, der genau in seine Richtung sah?

»Die Tür ist auf!«, rief ihm Jana von unten zu. »Nun komm endlich!«

David zögerte keinen weiteren Sekundenbruchteil. Er sprang hoch, wirbelte mitten im Flug herum und landete direkt vor dem obersten Treppenabsatz im Eingangsbereich des Notausstiegs. »Lauft weiter«, rief David, während er die Betontreppe mit Riesensätzen herunterhetzte. »Sie sind uns immer noch auf den Fersen!«

Die anderen warteten nicht auf ihn. Sie waren schon tief in den Tunnel eingedrungen, der sich hinter der schweren Metalltür verbarg.

David lief um sein Leben. Er war schon so oft hier gewesen, dass ihm die merkwürdig halligen Geräusche, das diffuse Licht der Notbeleuchtung und der muffige Geruch so vertraut waren wie das Innenleben seines PCs. Als die schwere Eingangstür hinter ihm ins Schloss fiel, hatte er schon längst die nächste Treppe erreicht, die zum Arbeitstunnel führte.

Erst als er zu der darauffolgenden Abzweigung des Schachtes kam, begriff er, dass er einen Fehler begangen hatte: Er hatte eine andere Richtung als seine Freunde gewählt. Sein Herz hämmerte mit harten Schlägen. Als er sich umdrehte, fiel sein Blick auf eine weiter nach unten führende Abzweigung, die ihm bislang noch nie aufgefallen war.

Langsam ging er auf sie zu. Auf seiner Zunge lag plötzlich der Geschmack von Eisen und Schimmel, eine unangenehme Mischung, die ihn fast würgen ließ. Eine verrostete Eisenmatte lag mitten im Weg, Glasscherben knirschten unter seinen Schuhen und die sowieso schon unangenehm abgestandene Luft schmeckte zunehmend bitterer. Es herrschte eine verstörende Stimmung hier. Das leicht bläuliche Licht der Notbeleuchtung wich etwas anderem, einem flackernden Widerschein, der von überall und nirgends herzukommen schien. Er hätte auf der Raumstation von tintenfischartigen Aliens gelandet sein können und sich dort wahrscheinlich heimischer gefühlt als in diesem Teil ihrer Unterwelt. Alles hier war … fremdartig, jedoch auch auf eine falsche, krankmachende Art vertraut.

Und dann wusste David plötzlich, woran ihn das hier erinnerte: an die Albträume, die mit der Vision des Mädchens verknüpft waren, an die dort herrschende bedrückende Stimmung, das Gefühl der Enge, die Vorahnung, dass etwas ganz Schlimmes passieren würde. Er konnte sich nur sehr undeutlich an die Details der Träume erinnern, dafür aber umso deutlicher an das Gefühl, in etwas Fürchterliches, etwas Endgültiges und völlig Verdrehtes tief unter der Erde geraten zu sein. Etwas unendlich Altes und auf verdrehte Weise Lebendiges, das sich zwar seinem Verständnis entzog, aber beständig um ihn herum war und seine Fühler gierig nach ihm ausstreckte um ihn mitzuziehen in eine Welt, die nicht die seine war und es doch werden konnte – nein, werden wollte, werden wollte, werden wollte!

Alles in ihm schrie danach, umzudrehen und zurückzukehren zu den anderen, nicht weiterzugehen. Er versuchte sich zu beruhigen. Hier konnten ihm höchstens ein paar Ratten oder herabfallende Steine gefährlich werden, aber niemals Menschen, die im Untergrund Schutz vor den Schrecken der Realität suchten, Penner oder Junkies, die sich im Vergleich zu ihm so langsam bewegten wie Fußballer in Zeitlupe. Und schon gar keine gesichtslosen Mädchen, die ihm beharrlich folgten. Und keine Albträume. Niemals!

»He, David?«, hörte er Janas Stimme. »Wo steckst du?«

Davids Gedanken wanderten kurz zu Jana, und die aufsteigende Panik wich etwas anderem. Er entspannte sich nicht wirklich, und doch stahl sich ein leichtes Lächeln auf seine Lippen.

Jana war schon etwas Besonderes. Auf dem Baugerüst hatte sie die Haare zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden, was David weit weniger gefiel, als wenn sie sie offen trug wie gerade noch während ihrer Verfolgungsjagd; er liebte ihre dichte schwarze Mähne, die ihr Gesicht so eindrucksvoll umrahmte, und er liebte die Art, wie sie sich bewegte, die kleinen Gesten, mit denen sie ihre Worte unterstrich oder sich durchs Gesicht fuhr. David war schon lange an Jana interessiert, und eine Zeit lang hatte er das Gefühl gehabt, dass auch Jana ihm mehr als nur freundschaftliche Gefühle entgegenbrachte. Aber wenn dem so gewesen war, dann hatte er es anscheinend versäumt, zur rechten Zeit den richtigen Schritt zu machen.

Vielleicht lag es an dem Mädchen aus seinen Angstträumen. Er glaubte nicht einmal, dass ihm die Unbekannte selbst Angst machte, sondern vielmehr die bedrückende, Luft abschnürende Atmosphäre der Traumfetzen, in denen sie immer wieder die Hauptrolle spielte. In jedem Fall war er sich sicher, dass ihn mit dieser zarten Gestalt etwas verband, das er nicht in Worte zu fassen vermochte – und vielleicht auch gar nicht wollte. Es war ein starkes, ihn beinahe vollständig ausfüllendes Gefühl, aber es verpuffte, sobald er die Füße aus dem Bett schwang und zum Fenster eilte, um es aufzureißen und morgendliche Frischluft hineinzulassen.

Und was danach übrig blieb, war nichts weiter als ein schaler Geschmack und das Gefühl, einen fürchterlichen Verlust erlitten zu haben. Das hatte er schon öfters erlebt. Aber nicht jedes Mal war es dabei geblieben, er hatte auch schon weit Schlimmeres durchgemacht: eine Begegnung mit unbeschreiblichen Kreaturen, für die es keine Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit zu geben schien.

»Bist du hier, David?«, riss ihn Nicos Stimme aus seinen Gedanken.

David antwortete nicht. Er war vollkommen verwirrt. Die innere Stimme, die ihm zugeschrien hatte zu verschwinden, wich zunehmend einem Gefühl von Zuversicht. Trotz seiner Angstträume hatten ihn dunkle Gänge und tiefe Stollen schon immer angezogen. Es war etwas Einschmeichelndes an der Dunkelheit und Enge, dem Geruch nach Moder, Fäulnis und abgestandener Luft, den Wänden, die ihn wie dicke Federbetten umhüllten. All das hatte etwas abartig Vertrautes. Obwohl er auch jetzt immer noch angespannt und voller Furcht war, konnte er sich dem Sog dieser Macht kaum entziehen. Etwas zog ihn immer weiter, tiefer in die Unterwelt und gleichzeitig in die Welt seiner Träume, etwas, das an die Pforte seines Bewusstseins kratzte ohne wirklich um Einlass zu bitten.

Noch nicht. Aber vielleicht schon sehr bald.

Er wusste nicht, woher dieser Gedanke kam. Aber wenn er etwas mit seinen Träumen und geheimen Sehnsüchten zu tun hatte, dann würde er das herausfinden. Und das tatsächlich schon sehr bald, dessen war er sich sicher.

David erreichte den Eingang einer erstaunlich großen Halle. Alles sah … merkwürdig aus … Merkwürdig und uralt. Spinnweben hingen über nackten, teilweise komplett dahinter verborgenen Halterungen für Kunststoffbänke und Fahrgastinformationstafeln, und durch rissig gewordene, von der Halle abgehende Tunnelwände stachen rostige Eisenträger wie Finger von Riesen hindurch, die man hier vor langer Zeit beerdigt hatte. In den Pfützen auf dem unebenen Boden hatte sich brackiges Wasser gesammelt, von dem ein ätzender Geruch ausging, der David in die Nase biss. In der Mitte führte eine unfertig wirkende Betontreppe nach unten, daneben erstreckte sich eine leere Rampe, die sicherlich für die Konstruktion einer Rolltreppe gedacht gewesen war und nun eher einer Abschusseinrichtung für Flugabwehrraketen ähnelte.

Es hätte eine Szenerie aus einem seiner Albträume sein können. Und vielleicht war sie das auch. Vielleicht geschah jetzt wieder das, was er als Kind erlebt hatte, mal fast beiläufig und ein paar Mal mit so brutaler Kraft, dass seine Seele wie unter harten Fausthieben zu zerbrechen gedroht hatte.

Damals waren seine Träume aus dem Schattenreich der Phantasie ausgebrochen und in seine ganz persönliche Wirklichkeit hinübergekrochen. So wie zu der Zeit, als er noch ein ganz kleiner Junge gewesen war und die Grenze zwischen Vision und Realität so brüchig wie eine angeschlagene Fensterscheibe. Der Schrecken hatte sich damals in seine Gedanken und Gefühle eingenistet, und er hatte ihn keine Sekunde mehr zur Ruhe kommen lassen. Später dann hatte er gelernt, sich einen dicken Schutzpanzer zuzulegen, und schließlich hatte er sogar Freunde gefunden.

Der ferne Widerhall von Stimmen riss David in die Wirklichkeit zurück. Er legte den Kopf schief, um angestrengt zu lauschen. Irgendwo in der Ferne hörte er das typische Geräusch einer anfahrenden U-Bahn, die sich einem riesigen Wurm gleich durch den Untergrund schlängeln würde. In der Nähe tropfte etwas im Rhythmus leiser Dance Music, unterbrochen von dem Seufzen und Stöhnen der altersschwachen, offensichtlich schon vor Ewigkeiten aufgegebenen Anlage. Und dann hörte er das Geräusch leichter, federnder Schritte, kaum wahrnehmbar aber eindeutig.

Er kannte diese Schrittgeräusche nur zu gut: Jana und die anderen.

Eigentlich hätte er sich sofort umdrehen müssen, um zurück zu seinen Freunden zu laufen. Aber das konnte er nicht. Er war doch gerade erst eingetaucht in diese fremdartige, morbide und unheilige Welt, und er war sich sicher, dass sie mit jedem Schritt hinein noch viel seltsamer und erschreckender werden würde.

Grünlich grau, Düsternis, ein Geräusch wie das seines eigenen Herzschlags; wohlige Wärme, Geborgenheit, Vertrauen und Zugehörigkeit; das Wissen, warten zu müssen, lange und fast ewiglich, bis er wieder aufgenommen wurde im Schoß der Seinen.

Er hätte nicht sagen können, was diesen (und schon sein Leben lang ähnliche Gedanken) auslösten. Aber er spürte die Macht, die sie über ihn hatten.

Eine Macht, die nichts Menschliches verkörpert.

Warum nur dachte er solchen Unsinn? Diese Frage drängte David, nach einer Antwort zu suchen. Auch warum er sich manchmal – und gerade auch jetzt wieder – so seltsam benahm. Und was das alles mit seinen Albträumen zu tun hatte; und mit dem Mädchen seiner Phantasie, zu dem er sich so sehr hingezogen fühlte.

Er zögerte. Hinter ihm waren seine Freunde, unter ihm lockte das Unbekannte. Ohne wirklich zu begreifen, was er da tat, setzte er sich wieder in Bewegung und ging weiter hinein ins Dunkel, direkt auf die riesige Öffnung im Boden vor ihm zu.

Wie Ausdünstungen der Hölle stieg stickige und modrige Luft aus den Eingeweiden der Unterwelt nach oben, begleitet von neblig grünen Schwaden, die ihm zunehmend die Sicht erschwerten. Doch mit jedem weiteren Schritt konnte er klarer erkennen, dass die Resthelligkeit von unten kam, die ihn seine Umgebung schemenhaft erkennen ließ: eine seltsam verkantet wirkende Rolltreppe, die mitten hinein in die verwirbelten Schwaden unter ihm führte; davor eine halb verrottete Absperrung und blind gewordene Schaukästen, deren Kunststoffglas teilweise gewaltsam zerschmettert worden war. Erst als er die Rolltreppe schon fast erreicht hatte, wurde ihm klar, auf was er hier gestoßen war: auf einen der aufgegebenen U-Bahnhöfe, über die im Internet so gut wie keine Informationen zu finden waren.

David wusste lediglich, dass einige wenige Teilabschnitte der U-Bahn gar nie erst in Betrieb genommen worden waren, während man andere schon nach Kurzem wieder stillgelegt hatte. Die Stadt schwieg zu diesem Thema, als schäme sie sich, dafür Unmassen an Geld und Energie verschwendet zu haben, obwohl es letztlich Niemandem zunutze geworden war.

Er sah sich kurz nach hinten um. Von seinen Freunden war weder etwas zu sehen noch zu hören. David hätte noch immer umkehren und nach ihnen suchen können, und ein Teil seines Inneren wollte auch nichts anderes. Trotzdem ging er noch immer weiter hinein ins Ungewisse und prüfte mit dem rechten Fuß die Tragfähigkeit der altersschwachen Rolltreppe, um sie dann langsam und fast bedächtig hinabzusteigen. Das Metall gab merkwürdige Geräusche von sich, nicht nur ein Knirschen und Quietschen, sondern auch einen Klang, der einem menschlichen Stöhnen ähnelte. David gruselte es. Sein Blick war nun noch wachsamer, und seine Hände verkrampften sich, aber noch immer war er nicht bereit, umzukehren.

Bis er schließlich den eigentlichen Bahnhof erreichte.

Er sah gespenstisch aus. Ein kleiner Teil der ursprünglichen Notbeleuchtung funktionierte noch und brannte, so als habe man das alles hier seinerzeit fluchtartig verlassen. Der Lichtschein der wenigen, grünlich trüb flackernden Lampen reichte jedoch nicht aus, um den unterirdischen Bahnhof in seiner Gänze erkennen zu lassen. Auf David wirkte er gigantisch, so als habe er keinen Anfang und kein Ende. Bänke und Informationstafeln sahen im Zwielicht wie kauernde, auf Beute lauernde Ungeheuer aus.

»Das gefällt mir nicht«, flüsterte jemand hinter ihm.

Es war Maya, die es wieder einmal geschafft hatte, sich lautlos wie eine Raubkatze heranzuschleichen. Hinter ihr tauchten jetzt auch seine beiden anderen Freunde so plötzlich aus der schummrig grünen Dunkelheit auf, als wären sie hierhin gebeamt worden.

David starrte alle drei fassungslos an. »Wo kommt ihr denn plötzlich her?«

Keiner seiner Freunde gab ihm eine Antwort. Nico bückte sich stattdessen, hob eine wenig appetitlich aussehende Metalldose auf, betrachtete sie kurz und legte sie dann mit angeekeltem Gesichtsausdruck wieder ab. »Oben habe ich frische Fußspuren im Staub gefunden, und an der Wand klebte etwas, das wie eine kleine Videokamera aussah. Aber ich glaube, das war ein Sensor.«

»Ein Sensor?«

»Ja«, antwortete Nico. »Ein Blinke-Blinke-Sensor. Da war jedenfalls noch Saft drauf. Aber«, er gab der Metalldose einen Kick, sodass sie scheppernd davonflog, »hier unten habe ich keine Spuren mehr finden können. Und es liegt auch nur Uralt-Müll rum. Hier unten war schon seit einer Ewigkeit keiner mehr.«

David hatte Mühe, den Worten seines Freundes zu folgen. Normalerweise hätte schon alleine der Begriff »Sensor« genügt, um mit Nico alle möglichen Spekulationen über den ehemaligen Sinn und Zweck solcher Entdeckungen auszutauschen. Jetzt hatte er für all das keinen Sinn.

»Hast du etwa keinen Sensor gesehen?«, fragte ihn Nico. »Und keine Fußspuren?«

David schüttelte den Kopf. Wenn er ehrlich war, dann hatte er auch gar nicht auf solche Dinge geachtet. »Ihr habt wohl den anderen Eingang genommen«, wich er aus.

Nico drehte sich halb um und deutete nach hinten. »Wir kommen von dort. Ich schätze, das ist mal ein Nebeneingang gewesen.«

»Ein Nebeneingang von was?«, fragte Jana.

»Von dem, wonach es aussieht«, antwortete Nico. »Von einem aufgegebenen Bahnhof.« Er deutete auf den dunklen U-Bahn-Tunnel, der mehr zu erahnen als zu sehen war. »Wäre schon spannend zu wissen, wohin die Gleise führen.«

David nickte. »Ganz deiner Meinung. Lasst es uns erkunden.«

Ehe er selbst richtig wusste, was er vorhatte, war er schon an der Bahnsteigkante. Er blickte in die konturlosen Schatten, ein fließendes Hin und Her von Dunkelgrau bis hin zu einer Schwärze, die das letzte schummrige Licht vollständig in sich aufzusaugen schien. Dazu ein Gestank, als verwese dort irgendetwas. Während er in das Wallen und Gären starrte, ohne irgendwelche Details ausmachen zu können, und während er sich fragte, warum sie nicht sofort von hier verschwanden, trat er noch näher an die Bahnsteigkante heran.

Nun mach schon!

»Nein!«, schrie Maya, die plötzlich neben ihm war und offensichtlich ahnte, was er vorhatte. »Tu es nicht!«

Sie streckte die Hand nach ihm aus, erreichte ihn aber nicht mehr.

David sprang auf die Gleise in die Dunkelheit hinab. Etwas quiekte und sauste davon. Er hoffte, dass er nicht mitten in einem Rattennest gelandet war.

»Habt ihr Taschenlampen dabei?«, fragte er.

»Ja, ich«, antwortete Nico sofort. Seine Stimme klang besorgt, aber er verzichtete darauf, David eine Standpauke zu halten. »Meine kleine ›SunFire‹.«

»Dann sollten wir uns stärkere Lampen besorgen, und später noch mal wiederkommen«, sagte Maya. »Und du kommst da erst mal wieder raus, David!«

»Quatsch«, widersprach David und streckte die Hände vor. »Ich stehe ganz sicher auf den Gleisen.« Er lachte leise auf. »Das hätte ja auch anders ausgehen können. Hier hätten Trümmer liegen können. Und wenn ich richtig Pech gehabt hätte, wäre ich in ein tiefes Loch gefallen …«

Er brach irritiert ab. Vielleicht bildete er sich das auch nur ein, aber er hatte das Gefühl, als ob seine Fingerspitzen kribbeln würden, je weiter er seine Arme dem grauschwarzen Wallen entgegenstreckte. Zumindest stieß er auf keinen Widerstand. Und auch das Quieken hatte sich nicht wiederholt.

»Warum etwas auf die lange Bank schieben, was man sofort erledigen kann?«, sagte er gegen sein eigenes Unbehagen an. »Wir sollten jetzt gleich gucken, wohin uns die Gleise führen.«

Jana legte den Kopf in den Nacken und lachte leise auf. »Da hast du natürlich recht. Schließlich lebt man nur einmal.« Ihre Panik vor den Verfolgern schien vollständig verpufft zu sein.

Sie lief auf die Bahnsteigkante zu, versetzte Maya einen freundschaftlichen Schubs, der sie fast aus dem Gleichgewicht brachte, und war mit einem Sprung neben David. »Puh.« Sie hielt sich die Nase zu. »Das stinkt ja hier erbärmlich!«

»Das kannst du wohl laut sagen«, murmelte David.

Er war bereits losgegangen. Mit jedem vorsichtigen Schritt, den er tat, zog sich die grauschwarze Dunkelheit ein Stück weiter vor ihm zurück, als flöhe sie vor ihm. Aber vielleicht hatte das auch mit Jana zu tun, denn als sie ihn eingeholt hatte, umspielten die Schatten gerade noch ihre Knöchel, hatten sich ansonsten aber so weit verflüchtigt, dass sie jetzt die schnurgerade Gleisspur vor sich klar erkennen konnten.

»Siehst du das da?« David deutete nach vorne. »Da scheint eine Nische zu sein. Entweder eine Abzweigung oder ein Nothalt.«

»Oder auch was ganz anderes.« Jana strich sich während des Gehens eine Haarsträhne aus der Stirn, und David begriff, dass sie noch immer ihre Haare offen trug. Etwa wegen ihm? »Das sollten wir uns auf jeden Fall genauer ansehen.«

»Ich halte das ganz und gar nicht für eine gute Idee«, brummte Nico. Er begann, auf der Bahnsteigkante neben ihnen herzulaufen, dicht gefolgt von Maya, die für gewöhnlich die Mutigste war, jetzt aber nur stinksauer wirkte. »Das ist viel zu gefährlich.«

»Hast du etwa Angst, uns könnte ein Zug entgegenkommen?«, spottete David. Jana kicherte. »Das könnte dann wohl nur ein Geisterzug sein, oder?«

»Spinner«, zischte Maya. »Ihr beide seid solche Spinner. Und jetzt kommt da wieder hoch, verdammt noch mal!«

Jana warf David einen kurzen Blick zu. »Was meinst du? Sollen wir unseren Ausflug auf später verschieben?«

David schüttelte nur stumm den Kopf. Er spürte den Sog der Tiefe. Dort vor ihm im Tunnel war … etwas. Und er musste dorthin, koste es ihn, was es wolle.

Er musste endlich wissen, was mit ihm los war. Und hier unten schien er der Lösung dieses Rätsels beständig näher zu kommen.

Nico und Maya waren gezwungen stehen zu bleiben, als sie das Ende des Bahnsteigs erreichten. »Jetzt reicht’s mir«, sagte Maya trotzig. »Dann komme ich jetzt eben zu euch runter.«

David wollte mit einer spöttischen Bemerkung antworten. Aber die blieb ihm im Hals stecken, als er schmerzhaft gegen etwas stieß, das mitten im dunklen Schatten des gewölbten Tunnels auf den Gleisen lag. »Autsch!«, fluchte er. »Was ist das denn?«

»Wahrscheinlich dein Geisterzug«, spottete Nico, während er sich so weit wie möglich vorbeugte und dabei an dem Haltegriff festhielt, der am Ende des Bahnsteiges angebracht war. Der Strahl seiner Taschenlampe strich über die Gleise und blieb auf einem deformierten Metallkasten hängen, der dalag, als wäre er vom Hammer eines Riesen zerschmettert worden. »Oder besser gesagt: ein Getränkeautomat. Zieh mir doch bitte eine Cola, ja? Ich habe Durst.«

David hatte schon keine Zeit mehr zu antworten, kletterte stattdessen über den zerschlagenen Automaten, in dem es ganz leise, aber dafür umso unheimlicher summte, und blieb ein Stück weit dahinter neben der inzwischen vorausgegangenen Jana stehen. War dort vor ihnen eine Gleisgabelung? Er war sich nicht sicher, glaubte jedoch zu spüren, dass der Tunnel sich wieder öffnete.

»Dieser Getränkeautomat«, hörte er Maya hinter sich sagen, gerade als er weitergehen wollte, »mit dem stimmt doch etwas nicht. Ist da etwa noch Strom drauf? Da leuchtet doch irgendetwas.«

David blieb widerwillig stehen.

»Und er brummt wie ein Kühlschrank in seinen letzten Atemzügen«, pflichtete Nico Maya bei.

»Ja klar!«, rief David über die Schulter zurück. »Hier gibt es zwar keine Geisterzüge, dafür aber Geisterkühlschränke!«

Sein Kommentar hätte ironisch klingen sollen, aber das leichte Zittern in seiner Stimme zerstörte den Effekt. Egal. Er hatte keine Zeit, er musste Jana hinterher, die bereits wieder losgegangen war.

»Was das hier wohl mal war?«, fragte sie.

Ihre Stimme wurde von der nun wieder kompakten Dunkelheit genauso verschluckt wie sie selbst: ein zierliches schwarzhaariges Mädchen in schwarzen Jeans und einem hauteng anliegenden dunklen T-Shirt, das sich nicht von seiner Umgebung abhob.

David streckte die Hände vor und ging in die Richtung, in der er Jana vermutete.

»Warte, ich leuchte euch«, rief Nico wie aus weiter Ferne. »Die ›Sunfire‹ schafft gebündelt mindestens dreißig Meter …«

Der Lichtkegel von Nicos Taschenlampe wanderte heran, riss Jana aus der Dunkelheit … und mit ihr ihre Umgebung, die trotz der Betonstruktur wie ein mittelalterliches Gemäuer wirkte. Alles war alt, modrig und muffig, die gewölbten Wände wie auch die Decke, von der es beständig tropfte.

»Das ist komisch«, murmelte Jana. Sie streckte die Hand aus und deutete auf die Wand vor sich. »Siehst du das?« In ihrer Stimme schwang nun wieder eine aufsteigende und noch mühsam unterdrückte Panik mit. »Die Wand ist total bröcklig. So als würde sie gar nicht zu dieser Scheißanlage hier unten gehören.«

David schwieg betroffen. Er wusste nicht, was Jana sah … oder zu sehen glaubte. Das, was sich da vor ihm auftat, war jedoch eindeutig mehr als nur eine bröcklige alte Wand. David spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten, und sein Atem begann plötzlich zu flattern. Die Mauer vor ihm sah aus, als wäre sie von innen heraus zerfressen, oder schlimmer noch, als würden dort Tausende winziger Ameisen herumwimmeln, oder …

»Würmer«, stieß David hervor. »Tausende winzige Würmer!«

»Was?«, fragte Jana verwirrt. »Würmer? Wo siehst du denn hier Würmer? Hier ist doch nichts weiter als diese morsche alte Wand.«

David schüttelte verzweifelt den Kopf. »Nein. Erkennst du es denn nicht?« Er wollte einen Schritt auf die Wand zumachen, aber ein Geräusch hinter ihm schreckte ihn auf.

»Verdammt, jetzt kommt zurück!«, fluchte Nico. »Da … da ist irgendwas!«

Seine Stimme hallte dumpf und dunkel von den Tunnelwänden wider. David wirbelte jetzt ebenfalls panisch herum, um zu seinem Freund zurückzusehen. Im Schein von Nicos Taschenlampe tanzten winzige fadenähnliche Gebilde auf dem grauen Beton des Fußbodens, so als erwachten sie im kalten Licht der LEDs zu einem gespenstischen Eigenleben. David verschluckte sich fast an seiner eigenen Spucke bei diesem Anblick.

Hier stimmte irgendetwas ganz und gar nicht. Und er musste herausbekommen, was es war. Er nickte Jana bemüht zuversichtlich zu, drehte sich dann wieder um und ging weiter auf die Wand zu, ganz langsam. Unter seinen Schuhen knirschte zermalmter, fast pulverisierter Beton, und er hörte, wie Jana hinter ihm scharf die Luft einsog.

»Du verdammter Idiot!«, fauchte Nico. »Komm sofort zurück!« Der Lichtkegel seiner Taschenlampe machte einen Hüpfer, als nun auch Nico von der Bahnsteigkante hinunter auf die Gleise sprang, mit einer eleganten Bewegung über den zerschmetterten Getränkeautomaten hechtete und auf sie zulief. »Schluss mit diesem blöden Indiana-Jones-Spielchen! Da ist ein Riesenloch in der Tunneldecke! Und die kommt jeden Moment runter! Wollt ihr euch umbringen?«

In jeder anderen Situation hätte David nach oben gesehen. Aber nicht in dieser. Das Wimmeln und Krabbeln vor ihm auf der grauen Wand hatte zwar etwas unglaublich Abstoßendes, gleichermaßen aber auch etwas Vertrautes. Es löste ein Gefühl in ihm aus, als würde er mitten hinein in die irritierenden Träume sehen, die ihn in den letzten Wochen geplagt hatten, als täte sich ein Fenster in sein eigenes Innerstes auf und offenbarte ihm Dinge, an die er sich im wachen Zustand sonst niemals erinnert hätte. Wie hypnotisiert hielt er weiter auf die Tunnelwand zu, streckte die Hand aus …

»Jetzt reicht’s mir«, fauchte Maya. »Jetzt komm endlich zurück, David …«

Und Nico schrie jetzt: »Ihr alle drei kommt sofort wieder zurück! Das ist hier kein Spaß mehr!«

Das Wuseln vor David veränderte sich. Erst nahm es zu, wurde hektischer, ein Ineinander- und Auseinanderkriechen, das ihm in seiner abstoßenden Fremdartigkeit den Atem verschlug … dann wurde es langsamer, erstarrte, als würde die Lebensenergie von einer unbekannten Kraft aus den winzigen wurmähnlichen Fäden gesaugt.

Davids Finger waren nur noch ein paar Handspannen von dem ersterbenden Gewimmel entfernt, als er erkannte, auf was er da eigentlich starrte. Es war ein vergilbtes, eingerissenes Plakat, das im Laufe der Jahre fast vollständig mit der Wand verschmolzen war.

David ließ die Hand sinken, fingerte nach seinem Handy. Er musste dieses merkwürdige Plakat fotografieren, musste herausbekommen, was es mit den wirren Dingen zu tun hatte, die ihn bis in den Schlaf verfolgten. Ganz langsam nahm er das Handy hoch, sah auf den Bildschirm … und erstarrte.

Er sah das Mädchen aus seinen Träumen …

02

»Energie!«

Tom Wilkens lehnte sich in seinem schweren, ergonomisch geformten Stuhl zurück und trommelte ungeduldig auf den Armlehnen. Er kam sich ein bisschen wie ein Raumschiffkommandant vor, der gerade den Start seines Schlachtkreuzers befohlen hatte. Das kam davon, wenn man einen fünfundzwanzigjährigen abgedrehten Gamer und Rollenspieler damit beauftragte, die Welt der Mobile Phones zu erweitern, indem man ihr nun auch den Untergrund ihrer wunderschönen Stadt einverleibte, dachte er spöttisch. Und all das nur, damit Kids und Muttis künftig ebenfalls in tief fahrenden U-Bahnen ohne Verbindungsabbrüche telefonieren und übereifrige Krawattenträger das mobile Internet bis zum Zusammenbruch traktieren konnten.

»Kleinen Moment noch«, erwiderte Angy, der einzige Lichtblick in Toms ödem Arbeitsalltag; Typ herb, aber attraktiv und auf eine Art anziehend, die ihn immer mal wieder verstohlene Blicke in ihre Richtung werfen ließ. »Ich muss schnell noch ein letztes Mal überprüfen, ob die Sensoren auch wirklich alle funktionieren, die unser Trupp in dem U-Bahn-Stollen angebracht hat.«

Tom warf einen Blick auf den Computer vor sich. Dem Programm »Sensoria«, das er zur Auswertung der Sensoren-Signale geschrieben hatte, hatte er ganz bewusst die Anmutung einer Steuerungssoftware für militärische Einsätze verliehen und dabei auf jeden Schnickschnack verzichtet. Das zahlte sich jetzt aus. Es war äußerst einfach, die verschiedenen Parameter im Auge zu behalten, und so brauchte er noch nicht einmal zwei Sekunden, bis er sich davon überzeugt hatte, dass alle Sensoren mit voller Leistung arbeiteten.

»Da ist nichts zu überprüfen«, sagte er. »Alle siebenundzwanzig Sensoren funktionieren einwandfrei.«

»Und die Videokameras?«, fragte Angy.

»Welche Videokameras?«, gab Tom irritiert zurück.

»Die wir da unten angebracht hätten, wenn uns Dr.Kaiser nicht in letzter Sekunde den Etat dafür gestrichen hätte«, sagte Angy ärgerlich. Sie ahmte die tiefe Stimme und den bestimmten Tonfall ihres gemeinsamen Vorgesetzten nach. »Was wollen Sie mit Videokameras? Ich glaube kaum, dass sie damit Strahlung aufzeichnen können.«

Tom seufzte. »Ja, was wären wir ohne unseren Kaiser. Aber wo das jetzt mit den Sensoren geklärt ist …«

»Muss ich noch die Sendeleistung feinjustieren.«

»Warum das?«, fragte Tom irritiert. »Ich dachte, es wäre alles in Ordnung.«

Angys Blondschopf tauchte zur Seite weg, und dann erfüllte ein hochfrequentes Piepsen den Raum, während sie ihre Finger über die Tastatur des Sendecomputers fliegen ließ. »Ist es ja auch. Aber Feinjustieren muss sein. Wenn das Experiment schiefgeht, reißt uns unser Kaiser höchstpersönlich den Kopf ab.«

Tom zuckte mit den Schultern. »Mag sein.« Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Soll ich dir helfen?«

»Nee, ich komme schon klar«, murmelte Angy konzentriert. »Ist ja schließlich Routine.«

Nun, Routine war das, was sie vorhatten, sicherlich nicht. Aber er ahnte, dass es nichts brachte, wenn er die zu sturen Alleingängen neigende Angy jetzt weiter drängte. Daher ließ er seine Gedanken stattdessen zu seinem eigenen privaten Kontrollraum schweifen, in den er sich heute Abend nach der Auswertung ihres Experiments verziehen würde. Er hatte sich schon oft ausgemalt, wie Angy darauf reagieren würde, wenn er ihr sagte, was er nach Feierabend so trieb …

»Na, du wirst doch nicht …«, begann Angy.

Tom schreckte aus seinen Gedanken auf. »Was werde ich nicht?«

Angy winkte ab. »Nicht du. Sondern dieses blöde Steuersystem von dem Sender … Aber warte …« Angys Blondschopf tauchte wieder in Toms Blickfeld auf. »Jetzt habe ich ihm die richtigen Flötentöne beigebracht.«

»Und das heißt …?«

»Dass wir loslegen können.«

Tom nickte erleichtert. »Also dann: Energie!«

Angy musterte Tom mit einem Blick, den er nicht einordnen konnte. »Ich gebe volle Power auf die Richtantenne«, sagte sie, bevor er eine entsprechende Frage stellen konnte. »Das wird da unten alles wegpusten, was allergisch auf Strahlung ist.«

Ende der Leseprobe