Dein fremdes Herz - Kati Seck - E-Book

Dein fremdes Herz E-Book

Kati Seck

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Beschreibung

Seit ihr Vater Hannes sie und ihre Mutter vor Jahren Hals über Kopf verlassen hat, lässt Nela nur wenige, ausgewählte Menschen in ihre überschaubare Welt. Doch dann bekommt sie ein Paket mit Briefen an ihren Vater, die dessen zweite Ehefrau Ellen kurz vor Hannes‘ Tod an ihn geschrieben hat. Durch sie erfährt Nela, dass das Herz ihres Vaters vor 15 Jahren an einen Teenager gespendet wurde.
Die Briefe stellen Nelas Leben auf den Kopf. Vor allem lässt sie der Gedanke an den Jungen, dem Hannes‘ Herz gespendet wurde, nicht los. Sie will herausfinden, wer er ist, und beginnt ihre Suche an der Ostseeküste, nicht ahnend, dass diese Reise ihr Leben verändern wird.

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Seitenzahl: 420

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungProlog1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.11.12.13.14.15.16.17.18.19.20.21.22.23.24.25.26.27.28.29.30.31.32.33.34.35.36.37.38.39.40.41.42.Zehn Monate später.Danksagung

Über dieses Buch

Kannst du einen Fremden lieben, weil ein vertrautes Herz in seiner Brust schlägt? Eines Tages findet Nela Harolds ein Paket mit alten Briefen vor ihrer Tür. Diese weisen sie an, ans Meer zu reisen und den von Schuldgefühlen geplagten Maximilian zu finden. Doch dieses Abenteuer ist besonders: Nela reist in die Vergangenheit, denn Maximilian trägt das Herz ihres verstorbenen Vaters in sich, dem sie nie verzeihen konnte, dass er sie als Kind verlassen hat. Bald erkennt Nela, dass die Briefe der Schlüssel sind – der Schlüssel zu Maximilian, seinem Herzen und ihrem Vater selbst.

Über die Autorin

Kati Seck wurde am 8. Juni 1987 in Hachenburg geboren. Dort lebt und arbeitet sie auch heute noch, wenn es sie nicht mit Hund und wenig Gepäck ans Meer zieht. Als Katharina Seck veröffentlicht sie auch Bücher in anderen Genres.

KATI SECK

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

  

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: U1berlin / Patrizia Di Stefano

Unter Verwendung von Motiven von © Remy Perthuisot / Trevillion Images und © getty-images: Zcenerio | Zied Mnif | EyeEm

eBook-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7325-6095-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

 

Für meine Eltern Heike und Volker,die für mich Vorbilder in vielen großenund kleinen Dingen sind.

 

Denn an diesem Morgen war die Stille da. Nach all den unendlich langen Tagen des Wartens war sie da. Und sie war so endgültig, dass ich wusste: Ich würde sie nie wieder brechen können.

1.

Ellen, 8. Februar 2003

Kollidierende Welten oder auch: Unser Kennenlernen. August 2001.

Hannes,

ich schreibe dir, damit ich dich und mich nicht vergesse. Ich gehe in Gedanken unsere Zeit durch, damit auch in zehn Jahren oder in fünfzig kein Detail verblasst. Kein einziges, noch so winziges. Ich will alles festhalten.

Als ich dir das erste Mal begegnet bin, dachte ich, keinen Mann auf dieser Welt könnte ich wohl weniger leiden als dich. Ich war nicht jung, das waren wir beide nicht, aber dafür ausgelassen und voller Vorfreude auf einen Abend mit Freunden, auf eine Sommernacht, auf ein Feuer nach Sonnenuntergang. Du hast in dieser Ecke des Gartens gesessen, die Sonne im Nacken, deine Miene war so mürrisch, als würde der Schatten nicht nur dein Gesicht, sondern gleich dein ganzes Wesen einnehmen.

Meine Freundin Marie sagte mir damals, du seist gar nicht so, das sei alles nur Fassade, nur eine Maske, unter der du zart und zerbrechlich bist, ein fragiles Stück Gegenwart, das sich ständig in der Vergangenheit verirrt, als wäre diese ein Labyrinth ohne Zukunft.

Und obwohl ich dich nicht mochte, war ich neugierig. Ich fragte mich: Was für eine Vergangenheit hast du, dass du dich in ihr verlieren musst, dass sie dich umschlingt wie ein Stück Seide? Kann man die Schicht von deiner Haut lösen?

Manchmal, wenn ich mein Glas Wein hob, um durch seine Oberfläche zu dir zu schauen, bemerkte ich deine Blicke, und ich wusste, dass die Antipathie gegenseitig war. Ich war dir zu laut, zu hektisch, zu fröhlich. Meine Hände waren dir zu schmutzig, zu bekleckst von den Farben meiner Malerei, meine schwarzen Haare dir zu wild und mein Kleid zu bauschig. Nichts an mir war geordnet, und genau das verabscheutest du. Ich konnte all das sehen, während dein Gesicht vollkommen regungslos war, gezeichnet von der Anstrengung, welche die Anwesenheit von vielen Menschen dir bereitete. So viele Worte, so viele Gedanken auf einem Raum, selbst wenn er keine Wände hatte …

Doch der Abend nahm seinen Lauf, und ich vergaß dich. Ich trank Wein, die Nacht brach über uns herein, und in der Dunkelheit wurdest du eins mit dem Schatten, der dich abschirmte. Die Nacht endete erst mit brechenden Klaviertönen, die mit jedem Klingen leiser wurden und im Korpus des eigenen Entstehens verhallten. Mit nackten Füßen saß ich an der Haltestelle, der letzte Bus war längst fort, aber du warst noch da und wartetest. Warum auch hätte der Bus auf mich warten sollen, wenn du es tatest?

Ich weiß noch, dass wir uns anstarrten, du, der schweigsame Mann, und ich, die Frau, um die sich die Welt ein wenig drehte und die trotzdem glücklich war.

Also dann, hast du gesagt und mir deine Autoschlüssel gezeigt, bevor mich noch ein Bus über den Haufen fahren würde. Das könne nicht angehen, du könntest mich unmöglich hier sitzen lassen.

Und ich hatte genau gewusst, dass dieser Augenblick das Ende sein konnte.

Aber er war viel mehr.

Er war der Anfang.

2.

Nela, November 2018.

Ich ließ meinen Regenschirm neben der Eingangstür des Wohnkomplexes in den Schirmständer gleiten, bevor das tropfende Wasser den ganzen Flur unter Wasser setzen konnte. Draußen regnete und stürmte es, als wollten die Wolken die Stadt vom Erdboden tilgen und sie unter einer grauen Decke aus Wasser und Nebel ersticken. Das Wetter drang einem bis in die Knochen und ins Herz, um es ganz novemberhaft klamm zu machen. Das Licht der Straßenlaternen glomm matt in der trüben Dunkelheit des Abends. Der Herbst hatte seine schönsten Tage allmählich hinter sich gebracht, nun trug er die Nächte jeden Abend etwas früher heran, bis ich das Gefühl hatte, das Tageslicht nur noch durch das Fenster des Büros der Kanzlei zu erleben. Woanders würde möglicherweise bald der Winter Einzug halten und etwas Gemütlichkeit mit sich bringen, nicht aber hier, in Nürnberg, wo der Schnee immer etwas verspätet kam.

Als ich den Korridor zu meiner Wohnung durchschritt, hallten meine Schuhabsätze laut auf dem Marmorboden wider. Aus dem Briefkasten neben dem Eingang fischte ich die Post. Dann suchte ich den richtigen Schlüssel aus dem Bund heraus und schloss damit die Wohnungstür auf. Mit dem Ellenbogen schob ich die Tür einen Spaltbreit auf, dann ging ich in die Knie, um ein Päckchen vom Boden aufzuheben. Einer der Nachbarn musste es angenommen und hierhin gelegt haben. Dennoch war ich irritiert. Ich erwartete kein Paket, ich hatte keine Bestellung aufgegeben.

Oder war es vielleicht … Mein Herz zog sich kurz zusammen. War es von Ben? Hatte er doch noch Sachen gefunden, die er mir nun zuschickte? Ich dachte, wir hätten alle Habseligkeiten, die wir in den Wohnungen, in den Leben und in den Herzen des anderen verborgen hatten, aufgespürt und daraus verbannt, sie in Kisten geschnürt und zum Besitzer zurückgeschickt. Doch auf dem Paket war ein anderer Absender angegeben. Den Namen konnte ich auf den ersten Blick nicht entziffern, auch der Ort sagte mir nichts.

Schnell huschte ich in meine Wohnung und knipste das Licht im Flur an, der beinahe nahtlos in eine riesige Wohnküche führte, die altbautypisch von hohen, gestuckten und blütenweißen Wänden gerahmt war. Meine Wohnung war nicht groß, aber sie war mein Zuhause, mein Rückzugsort, wenn die Welt sich um mich herum zu schnell drehte, wenn sie hastig und in Eile war, oder auch dann, wenn sie einmal in Splitterteile zerbrach. Helle Möbel standen im offenen Wohnraum, einige dunkle Accessoires befanden sich auf den Kommoden oder in den Vitrinen. Die Pflanzen und Blumen, die in breiten Töpfen auf den Fensterbänken oder auf dem Boden standen, waren warme Farbtupfer. An den Wänden hingen Bilder in allen Stilrichtungen, von bunt und abstrakt bis zu impressionistischen Landschaftsmalereien, und dazwischen waren einige Fotos von der Familie, von Freunden und anderen Menschen, die auf diese oder jene Weise mein Leben gekreuzt und geprägt hatten und die heute noch da waren. Sehr viele waren es nicht mehr, denn Verlust auf dem Weg gab es immer.

Ich legte Schlüssel, Handtasche und Päckchen auf ihren Platz auf der Kommode und schlüpfte dann aus meinem Mantel, den ich fein säuberlich an einen Garderobenhaken hing. Dann suchte ich mein Smartphone aus der Handtasche und nahm es zusammen mit dem Paket in die Küche. Meine Lippen fühlten sich vor Anspannung spröde an, daher holte ich mir zunächst ein Glas Wasser und trank es halbleer. Mein Magen knurrte vernehmlich, als die Flüssigkeit wohltuend durch meine Kehle rann. Ich hatte schon wieder vergessen, genügend zu essen. Das Einzige, was ich heute zu mir genommen hatte, war ein Apfel zum Frühstück. Und das war mittlerweile zwölf Stunden her.

Seit fünf Jahren arbeitete ich als Rechtsanwaltsgehilfin in einer großen Kanzlei, und mittlerweile kam es mir so vor, als bestünde mein Leben nur noch aus den weißen Wänden des sterilen Bürogebäudes, aus gehetzten Menschen, engen Terminkalendern und Aktenbergen, hinter denen ich mich für gewöhnlich versteckte.

Sieh mal aus dem Fenster, Nela, hatte Ben gesagt, da ist ein verdammtes Leben. Recht gehabt hatte er. Und dann war er gegangen, weil ich dieses Leben nicht sofort hatte sehen können, sondern nur die Arbeit und Herrn Gustav, meinen Chef und Senioranwalt der Kanzlei, der immer mehr Arbeit auf mich abwälzte, bis ich vor lauter Fristberechnungen, Klageeinreichungen, Widersprüchen und organisatorischen Ablaufplänen nicht mehr wusste, wie ich noch Zeit für ein Privatleben schaffen sollte. Aber all jene Leute, die mir sagten, dass die Arbeit zu viel Raum in meinem Leben einnahm, hatten leicht reden. Natürlich hatten sie recht, aber ich hatte auch monatlich einen hohen Betrag an das Pflegeheim zu überweisen, in dem meine Mutter untergebracht war, seit sie mit Mitte fünfzig viel zu früh an Alzheimer und zuvor schon an Depressionen erkrankt war. Diese Mischung machte den Umgang mit ihr unsäglich schwierig, dass es manchmal nicht einmal die Pflegekräfte und Ärzte schafften, sie zu händeln. Es gab niemanden, mit dem ich diese finanzielle Belastung hätte teilen können, also musste ich eben in den sauren Apfel beißen. Allein konnte ich meine Mutter unmöglich betreuen. Und wenn ich ehrlich war, wollte ich es auch nicht. Das Verhältnis zu meiner Mutter war von schwieriger Natur. Sie war kein einfacher Mensch, und irgendwann war ich es auch nicht mehr gewesen, denn wir wurden geprägt von jenen, die uns großzogen.

Ich schaltete den Backofen an und schob eine Tiefkühlpizza hinein, die ich aus der Gefriertruhe herausgekramt hatte. Ich wusste, dass es nicht gesund war, aber ich war heute zu müde, zu kochen. Außerdem herrschte im Kühlschrank gähnende Leere, da ich auch zum Einkaufen noch nicht gekommen war. Das nächste Mal, nahm ich mir fest vor, würde ich pünktlich gehen. Aber jetzt war endlich Wochenende, und ich konnte all die Dinge nachholen, die ich unter der Woche vernachlässigte oder nicht mehr geschafft hatte.

Während die Pizza im Ofen backte, warf ich einen schnellen Blick auf meine Büro-E-Mails, die ich auf dem Smartphone empfangen konnte, und ging im Kopf die Termine durch, die ich am Montag hatte oder noch ausmachen musste. Dann öffnete ich nach und nach die Post, die ich auf dem Esstisch abgelegt hatte. Werbung für einen mobilen Smartphone-Tarif, Werbung für einen neuen Stromanbieter, Versicherungsrechnungen und … Ich stutzte. Ein Schreiben von meinem Vermieter?

Zögerlich legte ich den Daumen an den Klebestreifen des Umschlags, um mit dem Fingernagel vorsichtig das Papier abzulösen. Ich erkannte sofort, dass der Brief per Einschreiben versandt worden war, und das beunruhigte mich. Ich fragte mich, was er wohl von mir wollte. Normalerweise rief er mich an, wenn es in der Wohnung etwas zu erneuern oder reparieren gab. Ich lebte in dieser Wohnung, seit ich vom Norden ans andere Ende des Landes in diese Stadt gezogen war und meine Ausbildung in der Kanzlei begonnen hatte. Sie war mein Zuhause, meine geschützten vier Wände, die mich wie die Mauern einer Festung vom Rest der Welt abschotteten. Die letzte Renovierung hatte erst vor zwei Jahren stattgefunden, seitdem strahlte die Altbauwohnung in noch schönerem Glanz als zuvor.

Ich öffnete den Umschlag und zog den gefalteten Brief heraus. Bereits auf den ersten Blick erkannte ich, dass es ein förmliches Schreiben war, was das flaue Gefühl in meiner Magengegend nur noch verstärkte. Rasch überflog ich die Betreffzeile, und mir rutschte das Herz in die Hose.

Kündigung wegen Eigenbedarf

Sehr geehrte Frau Harolds,

ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ich Ihre Wohnung (Gartenstraße 56a, Apartment 3) unter Einhaltung der gesetzlichen Kündigungsfrist zum 30. 06. 2019 kündigen muss. Die Kündigung erfolgt wegen Eigenbedarf. Die Wohnung soll künftig wie folgt genutzt werden: […]

Es folgten Begründungen, Widerspruchsbelehrungen und Worte des Bedauerns. Fassungslos starrte ich auf das Schreiben, während meine Hände langsam auf die Tischplatte sanken. Das. Konnte. Unmöglich. Sein. Ernst. Sein.

Sofort kamen mir tausend Gedanken in den Sinn, tausend Ideen, tausend Möglichkeiten. Eine Kündigung wegen Eigenbedarf bedeutete nicht, dass die Aussicht auf erfolgreichen Widerspruch völlig hoffnungslos war. Die Begründung musste hieb- und stichfest sein, und ich wusste, dass manche Vermieter den Eigenbedarf nur vortäuschten. Ich könnte einen Anwalt einschalten, ich könnte einen Mieterbund kontaktieren, ich könnte …

Ich könnte. Aber wollte ich auch? Wollte ich den Kampf eines Verfahrens, das sich möglicherweise lange hinzog und das ich am Ende ebenso gut verlieren konnte, wenn der Vermieter die Wohnung wirklich für sich selbst oder seine Familie brauchte? Wollte ich Geld und Zeit und Kraft investieren, die ich besser in die Suche nach einer neuen Wohnung stecken sollte?

Die Pizza war fertig, und ich mühte mich damit ab, sie vollständig zu essen, denn der Appetit war mir eigentlich vergangen. Nebenbei durchforstete ich das Internet nach Mietanzeigen und machte mir eine Liste an Dingen, die ich organisieren musste. Ein Umzugsunternehmen buchen, Ummeldungen bei Ämtern und Versicherungen, Postnachsendeauftrag und vor allem ein gründliches Ausmisten, bevor ich alles zusammenpacken musste. Theoretisch hatte ich für all das noch genügend Zeit, aber hier eine gute Wohnung zu finden würde schwierig werden, also fing ich besser früh genug an. Außerdem versetzte mich die Aussicht auf eine Frist, so fern sie auch noch lag, in Panik. Ich ging Probleme am liebsten sofort an, bevor sie mich irgendwann verschluckten.

Das unbekannte Päckchen aber blieb an diesem Abend vergessen.

3.

 

Am nächsten Tag strahlte die Sonne so hell, als hätte der triste Novembertag nie existiert, als hätte er nie seine schlechten Nachrichten verbreitet. Ich war früh aufgestanden, um einkaufen zu gehen und einige Zettel mit Wohnungsgesuchen in der Stadt aufzuhängen. Ich klapperte Supermärkte, die Universität, die Bibliothek und Geschäfte ab. Es wurde immer schwerer, im Internet eine passende Wohnung zu finden, denn entweder gab es unzählige Interessenten, wenn ich einmal über eine schöne stolperte, oder es waren nur Wohnungen, die längst renoviert werden müssten und dennoch für viel Geld angeboten wurden. Mir war es wichtig, in einer Wohnung zu leben, in der ich mich direkt wohlfühlte. Meine jetzige Wohnung war mir das sprichwörtliche Schloss, und das zu ersetzen würde sich ohnehin als unsäglich schwierig gestalten.

Ich zog den Schal enger um meinen Hals, um den Reißverschluss des Mantels noch etwas höher ziehen zu können. Obwohl die Sonne schien, war es kalt, und jeder noch so sanfte Windhauch brachte eisige Luft. Trotzdem liebte ich diese trockene Kälte. Sie lud dazu ein, sich in mehreren, schützenden Schichten aus Kleidung zu vergraben oder sich den ganzen Tag in der Wohnung einzuigeln, nur in Gesellschaft einer spannenden Serie oder eines Buches, in dessen Welten man ertrinken konnte. Doch heute musste ich einige Punkte auf meiner To-do-Liste abarbeiten. Jetzt aber stand eine kurze Pause auf dem Plan.

Ich bog in die Fußgängerzone ein, in der es von Menschen nur so wimmelte. Man spürte, dass die Vorweihnachtszeit nicht mehr fern war, die ersten Geschäfte hatten bereits Lichterketten und winterliche Dekoration in den Schaufenstern drapiert. Alles leuchtete in den Scheiben und spiegelte auf dem Glas ein fröhliches Leben wider. Ich mochte so viele Menschen auf einem Haufen nicht, also ließ ich mich an den Rand der Straße drängen und eilte zügig über das Kopfsteinpflaster, darauf achtend, keinen der Passanten anzurempeln, die mit riesigen Tüten aus den sich automatisch öffnenden Türen der großen Kaufhäuser liefen.

Zehn Minuten später hatte ich die lange Passage durchquert und steuerte auf ein kleines Eckcafé zu, das vor der Tür wegen des guten Wetters Tische und Stühle und zwei Heizstrahler aufgebaut hatte. Auf den Lehnen der Stühle lagen Wolldecken bereit. An einem dieser Tische saß meine Freundin Sina, mit der ich vor acht Jahren gemeinsam meine Ausbildung begonnen hatte.

Sina hatte schon einen Kaffee bestellt, wie sie es immer tat, denn sie war ganz und gar kaffeesüchtig. Das hatte sich in all den Jahren nicht geändert. Früher waren es die Gesetzestexte gewesen, die sie vom Schlafen abgehalten hatten, jetzt waren es ihre beiden kleinen Kinder.

Ich beugte mich zu Sina hinunter und umarmte sie. Die kinnlangen Locken meiner Freundin kitzelten an meinen Wangen. Früher waren sie einmal so lang wie mein eigenes dunkelblondes Haar gewesen, aber kurz vor der Geburt des ersten Kindes hatte sie sie – ganz pragmatisch wie sie war – abgeschnitten.

»Sina«, sagte ich lächelnd. »Ich bin so froh, dich zu sehen.«

»Und ich erst«, erwiderte Sina und bedeutete mir, mich neben sie in die Nähe des Heizstrahlers zu setzen, der angenehme Hitze ausstrahlte. Hier würde ich nicht frieren, das wusste meine Freundin.

»Das ist doch echter Mist«, begann Sina empört, bevor ich auch nur einen Ton sagen konnte, und ich wusste sogleich, worauf sie anspielte. Ich hatte ihr gestern Abend noch eine Nachricht mit einem Foto der Kündigung geschickt. Und Sina war nicht nur eine langjährige Freundin, sondern auch eine loyale dazu. Sie war parteiisch und stand zu ihren Freunden, weswegen sie eine wütende Schimpftirade über meinen Vermieter begann.

Ich musste lächeln. Auch wenn mein Vermieter gute Gründe dafür hatte und die Wohnung, seine Wohnung, für seine Familie brauchte … Es tat gut, dass jemand mit mir mitfühlte.

»Ziemlicher Mist«, stimmte ich ihr zu. »Aber wenigstens habe ich noch genug Zeit, mir etwas Neues zu suchen. Ich hoffe, dass es mir bis März gelingt, etwas zu finden, das nicht gerade einer Bruchbude ähnelt.«

»Ach je«, seufzte Sina. »Das wird nicht einfach. Und du weißt, dass ich dir am liebsten eine Bleibe anbieten würde, aber mit zwei Kindern … Bei uns ist immer Trubel.«

Ich nickte und lächelte dankbar. Ich wusste, dass ich, wenn es hart auf hart käme, bei Sina und ihrer Familie Unterschlupf finden würde, aber wir wussten beide auch, dass das nur eine Lösung für einige Tage sein konnte. Auf Dauer würde ich bei all dem Leben und der Hektik, die es im Familienleben der Martins gab, durchdrehen. Ich war nicht für Lärm und Durcheinander geboren, das war einfach nicht meine Welt, sosehr ich die beiden Kinder auch mochte.

Ich bedeutete Sina, einen Augenblick zu warten, dann huschte ich in das Innere des Cafés und bestellte mir einen Tee mit einem Stück Butterkuchen, den ich seit meinem ersten Tag hier vergötterte und den es sonst nirgends in der Stadt gab. Sina spendierte ich ein Stück Apfelkuchen. Auf einem Tablett trug ich vorsichtig alles nach draußen, stellte es auf dem Tisch ab und nahm dann wieder Platz. Die Wolldecke legte ich über meine Knie, denn trotz des Heizstrahlers blies der Wind kalt um meine Beine.

Sina zog ihren Teller näher zu sich, während sie die Stirn runzelte. »Hast du dir denn Gedanken gemacht, ob es dich überhaupt hier hält? Vielleicht ist das jetzt auch ein Wink des Schicksals.«

»Wie meinst du das?«, fragte ich und rührte ein Stück Kandiszucker in den dampfenden Tee.

»Ich meine, dass die Kündigung möglicherweise auch eine Chance für dich ist. Die Chance, dein Leben noch einmal zu überdenken. Du bist so sehr in deinem Trott drin, dass du gar nicht mehr merkst, dass du am Leben gar nicht richtig teilnimmst.«

Dass ich nicht richtig am Leben teilnahm. Genau das hatte auch Ben gesagt. Aber so war es doch überhaupt nicht, ich nahm am Leben teil, ständig und überall.

Oder nicht?

Ich wusste nicht recht, was ich darauf erwidern sollte. Auf der einen Seite hatte Sina recht. Ich verbrachte mein Leben in der Kanzlei, da gab es nichts schönzureden. Ich war so sehr in Staub und Akten vertieft, dass Ben gegangen war und bis auf Sina auch all die Freunde, die ich früher einmal gehabt hatte.

Dennoch. Man krempelte nicht von heute auf morgen sein Leben um. Vor allem nicht, wenn man – wie ich – ein Mensch war, der vollkommen auf Sicherheit angewiesen war, auf Struktur und Ordnung, auf einen völlig durchorganisierten Alltag. Das war meine Stärke, aufgrund derer ich meinen Job beherrschte, aber es war auch zugleich meine Schwäche, denn sobald etwas meine Planung durchkreuzte und das Leben mit seinen Menschen darin aus der Reihe tanzte, war ich heillos überfordert.

So zuckte ich nur vage mit den Schultern. »Aber was soll ich tun? Umziehen? Ganz woandershin? Mir einen neuen Job suchen? Ich habe mich all die Jahre mühsam hochgearbeitet …« Und ich brauchte das Geld.

Sina machte eine wegwerfende Handbewegung. »Neuer Job? Das wäre auf jeden Fall die allererste Maßnahme. Einen, bei dem du mal wieder Luft zum Atmen bekommst.« Sie schob sich einen Bissen Kuchen in den Mund und runzelte die Stirn. »Was ist mit deiner alten Heimat? Mit deiner Familie? Mit deiner Mutter?«

Ich stockte. Selbst mit Sina sprach ich kaum über meine Familie, was nicht daran lag, dass es sie nicht interessierte, sondern dass ich jedes Mal vom Thema ablenkte. Doch ich ahnte bereits, dass sie heute nicht lockerlassen würde.

»Meiner Mutter geht es eher schlechter als besser«, murmelte ich und nippte am Tee. Ich konnte Sina nicht in die Augen sehen. Der Anblick meiner kranken Mutter saß mir immer wie ein Stein im Magen, wenn ich daran dachte. Jedes Mal, wenn ich sie besuchte, wurden wir einander fremder. Die Krankheit riss auseinander, wovon ich nie gedacht hätte, dass man es noch mehr zerstören konnte. Unsere Bindung schien sich mit jedem Tag und jeder Woche mehr in die Vergangenheit zu verlagern, in Erinnerungen und Fotoalben, wo wir uns noch vertrauter gewesen waren. Nie vertraut genug, nie so, wie Mutter und Tochter es einander sein sollten, aber dennoch vertraut. Die Augenblicke, in denen Mathildes Verstand klar war, wurden im Laufe der Zeit selten und kostbar. Sie waren noch da, doch sie kamen und gingen, wie der Besucher eines Hauses, in dem er nicht zuhause war.

»Oh nein«, murmelte Sina mitfühlend. »Das wusste ich nicht. Tut mir echt leid, Nela. Jetzt verstehe ich auch mehr, warum du dich so abrackerst.«

Ich schob mir eine Gabel mit Butterkuchen in den Mund und ließ mir den süßen Geschmack nach unverdorbener Kindheit auf der Zunge zergehen.

»Du zahlst immer noch allein für das Heim, oder?«

Ich nickte. »Sonst fühlt sich niemand verantwortlich.« Meine Großeltern waren über die Jahre alle verstorben, außer einer Tante väterlicherseits und dem Bruder meiner Mutter, der irgendwo in Australien in einem Nationalpark arbeitete und selten von sich hören ließ, war nichts mehr von meiner Familie übrig.

Sina schob den mittlerweile leeren Teller von sich. Sie rümpfte unbewusst die Nase, um ihre Brille zurechtzurücken, eine ihrer Macken, über die ich lächeln musste.

»Und dein Vater?«, fragte sie dann leise, obwohl niemand sonst sie hören konnte. »Hat er dir damals so gar nichts hinterlassen?«

Ich zwang mich, meinen Blick auf die Tasse zu richten. Ich beschäftigte meine Hände damit, ein Zuckerpäckchen aufzureißen und seinen Inhalt in den Tee zu schütten, bevor ich Milch hinzugab und sie verrührte, bis sich alles zu einer cremefarbenen Flüssigkeit vermischte.

Mein Vater war mein größter Schwachpunkt. Nun, vielleicht nicht er selbst, vielmehr der Schaden, den er hinterlassen hatte. Das, was ich seinetwegen geworden war.

Er hatte meine Mutter und mich vor neunzehn Jahren verlassen, als ich gerade einmal zehn Jahre alt gewesen war. Er war heimlich und still gegangen, ganz überraschend und plötzlich, sodass ich den Grund nicht verstanden hatte, egal wie oft ich meine Mutter gefragt hatte. Für mich hatte es nie ein Anzeichen gegeben, keine Vorwarnung auf den Sturm, der mein Leben völlig umkrempeln und auf den Kopf stellen würde. Mein Vater war mein Ein und Alles gewesen. Wir teilten ein Wesen, wir teilten unsere Liebe zur Natur und unternahmen oft Ausflüge ans Meer, wo wir durch das Watt marschierten und die Lebewesen inspizierten. Er hatte mir gezeigt, wie sehr man das Meer lieben konnte. In diese Liebe schien sogar meine Mutter nie recht zu passen, der Wellen und Wasser zu nass, zu wild und zu dreckig gewesen waren. Diese Liebe gehörte nur uns beiden allein, so wie das Meer ebenfalls.

Manchmal fragte ich mich, ob meine Mutter Schuld daran hatte, dass mein Vater gegangen war. Aber sie hatte nie darüber reden wollen und sich, so kam es mir vor, irgendwann in ihre Alzheimererkrankung gestürzt: Weil sie ihr all die schmerzlichen Erinnerungen nahm. Weil sie es ihr unmöglich machte, sich mir gegenüber erklären zu müssen. Das hatte sie all die Jahre nie getan, erst, weil sie es nicht wollte, und dann, weil sie es nicht konnte. Und obwohl es fast zwanzig Jahre her war, dass meine Familie auf diese Weise so drastisch geschrumpft war, schwelten Trauer, Enttäuschung und Wut noch immer unterschwellig unter einer Schicht aus Struktur und Perfektionismus, unter Ehrgeiz und dem verbissenen Willen, alles allein stemmen zu können. Ich wollte mir und der Welt beweisen, dass ich auch ohne einen Vater klarkam.

Ich schüttelte den Kopf. »Nicht sehr viel. Es gab einen kleinen Geldbetrag, den mir der Notar überwiesen hat. Einen Pflichtanteil, da es kein Testament gab. Den Rest hat seine neue Ehefrau bekommen, obwohl sie wohl recht frisch verheiratet waren. Zwischen seinem Abhauen und seinem Tod lagen schließlich gerade einmal vier Jahre.«

Es kostete mich große Mühe, bei diesen Worten nicht das Gesicht zu verziehen, denn obwohl ich diese Frau nicht kannte, fokussierte ich einen Teil des langjährigen Zorns auf sie. Sie schien der Inbegriff allen Übels zu sein. Der Grund dafür, dass Hannes verschwunden und nie zurückgekehrt war, nicht zu meinem Geburtstag, nicht zu Weihnachten, nie mehr. Und mit seinem Tod war dann auch die letzte Hoffnung gestorben, dass alles nur ein schrecklicher Irrtum gewesen war.

»Also nicht genug, um die Heimkosten zu decken?«, hakte Sina nach.

Ich lachte kurz. »Ich habe das Geld damals schon aufgebraucht, als ich für die Ausbildung hierhergezogen bin. Meine Mutter konnte mich nicht unterstützen, und wegen des Erbes habe ich keine Zuschüsse bekommen.«

Der wahre Grund war allerdings gewesen, dass ich es nach dem Abitur kaum hatte erwarten können, endlich flügge zu werden und mein eigenes Leben zu beginnen, ohne das Haus, in dem ich aufgewachsen war und in dem mich noch immer alles daran erinnerte, dass wir einst zu dritt gewesen waren. Denn am Ende war es doch so: War man einmal verlassen, blieb das Gefühl an einem haften wie Pech, und so richtig wurde man es auch nie wieder los, selbst wenn man in größter Liebe alle Mauern niederriss.

Sina neigte nachdenklich den Kopf. »Ich würde es mir dennoch überlegen. Du kannst dich doch nicht entzweireißen, um dich und deine Mutter über Wasser zu halten. Du und dein Leben, ihr zählt auch.«

Ja, dachte ich, wir zählen auch. Doch sicher war ich mir da schon längst nicht mehr.

Mit zwei schweren Einkaufstüten kam ich schließlich am Mittag wieder zuhause an. Als ich die Tür zu meiner Wohnung aufschloss und die beiden unhandlichen Beutel in den Flur zur Küche wuchtete, war ich erleichtert, alles auf meiner To-do-Liste abgehakt zu haben. Nun konnte das eigentliche Wochenende beginnen, vor allem hatte ich Zeit, mich intensiver um die Wohnungssuche zu kümmern und auch die sozialen Kanäle nach Anzeigen zu durchforsten. Sina hatte versprochen, sich umzuhören, vielleicht fand sie auf diesem Wege etwas Passendes.

Ich holte die Lebensmittel aus den Beuteln und trug einen Teil davon dann in die Abstellkammer. Auch hier war alles, wie überall in meiner Wohnung, ordentlich sortiert. Lebensmittel und Vorräte reihten sich gerade und fein säuberlich geordnet nebeneinander, dann folgten Kosmetik- und Haushaltsartikel, daneben standen zwei Wasserkisten und Putzutensilien auf dem Boden. Wie es sich gehörte, war es in der Vorratskammer makellos sauber, nicht ein Körnchen Staub lag auf den Regalen.

Ich räumte die restlichen Einkäufe weg und schaltete dann den Fernseher ein, während ich die notwendigen Hausarbeiten erledigte. Dabei genoss ich die Hintergrundgeräusche, die mir das Gefühl vermittelten, nicht allein zu sein. Ich bügelte die getrocknete Wäsche, bezog das Bett wie jede Woche neu, räumte die Spülmaschine aus, die jeden Tag zweimal lief, putzte die komplette Wohnung, richtete Vasen und Bilder an den Wänden gerade, und als ich schließlich trotz meiner peniblen Argusaugen nichts mehr fand, was ich säubern oder aufräumen konnte, und nicht mehr wusste, womit ich meine ruhelosen Hände beschäftigten sollte, kochte ich mir einen Tee. Ich holte meinen Laptop und kauerte mich damit auf das Sofa. Im Fernseher lief irgendeine Musik-Casting-Show, und eine Frau mit Glatze sang so herzzerreißend schön vom Schmerz, wie man es nur konnte, wenn man ihn selbst erlebt hatte. Der Laptop brummte leise. Mein Verlauf war voll mit Suchanfragen über Wohnungsanzeigen und irgendwann … irgendwann auch Stellenangeboten. Ich bemerkte das Verstreichen der Zeit gar nicht, saß ewig über meinem Laptop gebeugt da und recherchierte. Ich scrollte durch die Ergebnisliste, klickte durch Angebote und Fotos und schrieb mir drei Telefonnummern von Anbietern auf, deren Wohnungen vielversprechend klangen. Diese würde ich später anrufen, um einige Fragen zu stellen und mir einen Besichtigungstermin geben zu lassen.

Ich spürte, wie ich endlich müde wurde, und war im Begriff, den Browser zu schließen und den Laptop auszuschalten, als mir ein Gedanke kam.

Warum hier?, hatte Sina sinngemäß gefragt.

Warum suchte ich hier nach einem neuen Zuhause, in einer Stadt, in der es nur noch meine beste Freundin gab und sonst niemanden? Warum vergrößerte ich meinen Radius nicht, gab ihm keine Grenzen vor? Warum suchte ich nicht an Orten, zu denen es mich viel mehr zog?

Unruhig wippte ich mit dem Fußballen auf dem Boden. So viele Warums, so viele Fragen, so viele Gedanken. Mein Blick wanderte ziellos durch das Wohnzimmer, bis er an dem Päckchen hängenblieb, das noch immer ungeöffnet in der Ecke lag, wo ich es gestern vergessen hatte.

Ich neigte den Kopf und schob den Laptop von meinem Schoß. Der Rest des Tees war mittlerweile erkaltet, trotzdem nippte ich daran, ehe ich auf dicken Socken über das Parkett lief und das Päckchen von der Kommode zum Sofa zurücktrug. Unterwegs versuchte ich noch einmal, den Absender zu entziffern, aber sosehr ich mich auch bemühte, ich konnte den Namen nicht lesen. Vielleicht war er auch bewusst unleserlich geschrieben worden. Ich griff mir eine Schere und schnitt die Klebestreifen auf, damit ich das Paket auseinanderfalten konnte. Es war mit mehreren Klebestreifen fest zugeschnürt, als wäre der Inhalt besonders schützenswert, sodass es einen Augenblick dauerte, bis ich es endlich öffnen konnte.

Bevor ich auch nur irgendetwas sehen konnte, nahm ich den Geruch wahr, der mir aus dem Päckchen entgegenströmte: der Geruch nach altem Papier, nach einer leichten Schicht aus Staub und vergangenen Zeiten, und die ganz feine Duftnote eines leichten, blumigen Parfums, das für meinen Geschmack zu lieblich roch.

Ich hob die oberste Lage aus zusammengeknülltem Zeitungspapier heraus, das den Inhalt, der darunter verborgen lag, während seiner Reise hatte schützen sollen. Auf einer Titelseite erhaschte ich den Namen der Regionalzeitung. Von dem Ort hatte ich noch nie gehört, und ich kannte niemanden, der aus dieser Region kam. Ich warf das Zeitungspapier neben mich und zog dann an der Folie, in welcher der schwere Inhalt eingebunden war, um ihn vor Nässe zu schützen. Behutsam schlug ich die Folie auseinander. Mir stockte der Atem. Vor mir lag ein Stapel Briefe, die allesamt jeweils in beschriftete Umschläge eingelegt, aber nicht zugeklebt waren. Meiner ersten Schätzung nach musste es sich um etwa zehn Briefe handeln. Ich fühlte über die Kanten der Umschläge, manche davon bestanden aus mehreren Seiten.

Wer nur schickte mir einen ganzen Karton voller Briefe, und vor allem warum?

Der oberste Umschlag unterschied sich von den übrigen, er war neu und blütenweiß. Mit schwungvoller, fast schon ungeduldiger Schrift stand etwas darauf:

Für Nela

Ob das vielleicht vom Absender war? Würde der Brief das Geheimnis lüften? Vorsichtig öffnete ich die Lasche und zog den gefalteten Brief heraus. Das Papier war einem einfachen Linienblock entnommen. Die Schrift war dieselbe wie auf dem Umschlag, war genauso charaktervoll, doch etwas sanfter, als hätte die Hand, die den Stift geführt hatte, mit mehr Bedacht über die Worte nachgedacht, die auf diesem Blatt Papier verewigt werden sollten. Als könnten allein diese Worte der Anfang oder das Ende von etwas sein, je nachdem, wie behutsam oder wie wild sie waren.

Und Worte, das hatte ich über all die Jahre gelernt, waren etwas so Machtvolles. Sie erschufen Kinderfantasien, sie ließen Erwachsene fliegen, wenn sie längst kein Kind mehr waren, sie formten Gesetze und Ordnung, sie brachten Träume und ganze Leben zu Papier, und manchmal auch Menschen zusammen.

Liebe Nela,

heute schreibe ich dir, weil ich endlich etwas zu Ende bringen will. Weil ich deine Anschrift nicht habe, lasse ich dir dieses Paket über den Nachlassnotar zukommen, und ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich ihn danach gefragt habe. Ich bin mir sicher, dass du kaum noch weißt, wer ich bin. Auch ich kann mich nur noch unscharf erinnern, doch aus Erzählungen weiß ich, wie du als Kind gelacht hast, wie deine Augen blitzten, wenn du wütend warst oder dich gefreut hast, und wie du still in einer Ecke saßest, ganz andächtig in ein Buch vertieft, wie du den Wind am wilden Meer genossen hast. Ich weiß das alles, weil es mir jemand erzählt hast, den wir auf ganz unterschiedliche Weise gekannt und geliebt haben, und der sich von dir und mir verabschiedet hat, auf ebenso unterschiedliche Weise.

Und doch ist er unsere Gemeinsamkeit: Er, dein Vater. Er, Hannes.

Ich hielt den Atem an, während meine Hände unwillkürlich zu zittern begannen, und zwar so heftig, dass ich den Brief kurz ablegen musste. Jetzt erst hatte ich eine vage Ahnung, von wem diese Worte wohl stammen mochten. Und ich hatte keinen Schimmer, ob ich auch nur eine einzige, weitere Silbe lesen wollte. Ein Kloß saß in meinem Hals, und ich spürte, wie er meine Kehle zuzog. Aber ich würde nicht weinen. Ich würde diesen Brief in den nächsten Papierkorb werfen, oder gleich in ein Flammenmeer.

Und dennoch … Der Sog war stark, der Sog, in die Vergangenheit zu fallen, von der ich mir immer vormachte, sie längst unter dem Mantel eines neuen Lebens begraben zu haben.

Ich weiß, dass diese Briefe vielleicht dein Leben durcheinanderwirbeln werden, dass du sie vielleicht gar nicht lesen willst, dass du dich fragst »Warum ausgerechnet jetzt?«.

Ich habe diese Briefe lange gehütet, weil sie meine Erinnerungen waren, mein Tagebuch, die Sammlung aller schönen und traurigen Momente. Sie waren mein Anker, von dem ich erst jetzt, viele Jahre später, lassen kann. Vielleicht können sie auch dir ein Anker sein. Vielleicht können sie ein klarer See sein, dem du auf den Grund schauen und in dem du Antworten finden kannst. Vielleicht können sie Worte sein, die nie ausgesprochen wurden, weil sie nun in einem Grab ruhen.

Ich schreibe dir aber nicht nur der Vergangenheit wegen. Ich schreibe dir, weil ich einen Menschen finden möchte. Ich wollte ihn schon all die Jahre finden, aber die Bürokratie macht es – sicherlich aus guten Gründen – schwer bis unmöglich. Aber ich glaube, ich habe Glück, ich glaube, ich weiß, wo er sein könnte. Und weil es mir gerade unmöglich ist, möchte ich, dass du dich auf die Reise machst. Auf eine Reise ans Meer, zu einem Mann, der dir und mir ein Fremder und zugleich ein Vertrauter sein könnte.

Der Mann, der vielleicht das Herz deines Vaters in sich trägt.

Ich hielt den Atem an. Ich überflog die letzten Zeilen mehrmals, fuhr sogar mit den Fingerspitzen darüber, als wären sie eine Täuschung, aber die Buchstaben blieben gleich und die Schrift gestochen scharf. Ich hatte mich nicht verlesen.

Sein Name ist Maximilian van Dorff, und er lebt hoch oben an der Ostsee, offenbar sehr zurückgezogen. Mit seiner Familie betreibt er ein Naturschutzgebiet mit Wildpferden und einer sehr alten Mühle und einem nicht minder alten Gutshaus.

Du findest alles, was du brauchst, in dieser Schachtel. Alle Briefe, die ich geschrieben habe, um die viel zu kurze Zeit mit Hannes irgendwie festzuhalten, außerdem meine Recherchen. Mach’ dir selbst ein Bild. Außerdem ist da noch ein weiterer Brief. Für danach. Wenn du die Reise in die Vergangenheit hinter dich gebracht hast.

Und wenn du diese Reise antreten möchtest … wenn du es wirklich tust, dann tue es für dich.

Ellen

4.

 

Da war er, der Name, der Gewissheit brachte.

Ellen.

Nur die Ahnung einer Erinnerung glomm vor meinem inneren Auge auf, die vagen Umrisse eines Gesichts, an das ich lange nicht mehr gedacht hatte. Schwarze Locken unter einem seltsamen Hut gebändigt, der aus einem anderen Jahrhundert gestammt haben musste. Wildbunte, völlig unpassende Kleidung auf einem Friedhof unter unzähligen schwarzvermummten Menschen.

Ich weigerte mich, in meiner Erinnerung eine Zeitreise zu machen, zurück an jenen verregneten Tag auf einem Friedhof im hintersten Land. Aber wie so oft ließ sich das Gedächtnis nicht diktieren, in welchen Erinnerungen man schwelgen und welche man lieber mit dem Sarg begraben sehen wollte.

Ellen. Sie war die zweite Ehefrau meines Vaters gewesen, hatte ihn kurz vor seinem Tod geheiratet, und sie hatte natürlich auch damals Hannes’ Beerdigung beigewohnt, an die ich mich nur verschwommen erinnerte. Ellen hatte mich telefonisch über den Tod meines Vaters informiert, obwohl ich nicht einmal gewusst hatte, wo er überhaupt lebte. Oder mit wem. Eigentlich hatte sie mit meiner Mutter sprechen wollen, aber sie hatte sich geweigert, den Telefonhörer anzunehmen, den ich ihr in die Hand hatte drücken wollen.

Eigentlich hatte ich damals auch nicht einmal hingewollt. Wieso auch? Ich hatte seit vier Jahren nichts mehr von ihm gehört, seit dem Tag, an dem er mit einem riesigen Rucksack gegangen war, kurz nachdem ich einen Unfall gehabt hatte und im Krankenhaus liegen musste. Vage erinnerte ich mich daran, dass meine Mutter mir noch im Krankenhaus erbost von seiner Weigerung, mir Blut zu spenden, erzählte. Ihm wäre das alles zu viel, hatte er gesagt, und er müsste sich eine Auszeit nehmen. Zelten gehen würde er. Doch aufgeschlagen hatte er dieses Zelt weit entfernt. Dieser Umstand hatte den Verlust meines Vaters noch verschlimmert. Er war nicht nur gegangen. Er war gegangen, als ich ihn so dringend gebraucht hatte, und gerade da hatte er mir den Rücken zugekehrt. Trotzdem war ich Miterbin seiner Hinterlassenschaft, und so war ich mit meinem Onkel doch zu seiner Beerdigung gefahren.

Ich las den Brief ein zweites Mal durch, ehe ich ihn zur Seite legte und mir den Rest des Stapels ansah. Da waren die alten Briefe, von denen sie gesprochen hatte, außerdem noch – in eine extra Folie gesteckt – ein Zeitungsausschnitt und ein kleinerer Brief, der nur aus wenigen Zeilen bestand. Zögernd zog ich beides aus der Klarsichthülle. Zuerst nahm ich mir das Handgeschriebene vor.

Juli 2003

Worte können nicht ausdrücken, was wir empfinden, denn mit einfacher Dankbarkeit ist es nicht getan. Wo Leben geschenkt wurde, ist zuvor Leben vergangen, das ist uns bewusst. Doch wir sind unendlich dankbar, dass unser siebzehnjähriger Junge dank Ihres Mannes eine Chance auf mehr Leben hat, auf mehr Jahre, auf mehr Glücklichsein, auf mehr Zeit am Meer und bei seinen Pferden, die er zuletzt nicht mehr sehen konnte. In den letzten Wochen war jede einzelne Sekunde mit ihm kostbar für uns. Sie haben uns noch so viele weitere Sekunden, Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte geschenkt.

Familie […]

Der Name der Familie war geschwärzt. Und obwohl ich diese Familie nicht kannte, war die tiefe Dankbarkeit in jeder Zeile greifbar. Ich griff nach dem Zeitungsausschnitt, den Ellen dazugelegt hatte. Es war ein kleiner Text aus einer regionalen Tageszeitung, der vor etwa zwei Wochen erschienen war.

Das Wunder von Hofe

Fünfzehneinhalb Jahre ist es nun her, dass der damals siebzehnjährige Maximilian v. D. sein ganz eigenes Wunder erlebte. Maximilian litt bereits von Geburt an an einem seltenen Herzfehler, der eine teure Behandlung vonnöten machte. Die gesamte regionale Bevölkerung engagierte sich seinerzeit, um der Familie mit Spenden zu einer lebenserleichternden Ausstattung, Ausflügen und Reisen zu den Orten, die Maximilian noch sehen wollte, und mehr Zeit mit ihrem Sohn zu verhelfen. Als dann endlich die rettende Nachricht kam, dass ein Spenderherz verfügbar war, atmete nicht nur die Familie, sondern ein ganzes Dorf auf. Die lebensrettende Operation erfolgte am 18. Februar 2003.

Maximilian war nicht nur damals ein Kämpfer, er ist es heute noch. Seit bereits fünfzehn Jahren trägt er das Spenderherz, das dank moderner Medikamente keine Anzeichen einer möglichen Abstoßung zeigt. Mit seiner Familie zusammen bewirtschaftet er nach wie vor das Naturschutzgebiet, in dem viele Touristen tagtäglich ein und aus gehen, um unsere raue Küstenlandschaft mit ihrer traumhaften Mühle und der wilden Pferdeherde zu bewundern. In vier Monaten feiert Maximilian wieder seinen »zweiten« Geburtstag, und wir wünschen ihm und seiner Familie noch unzählige weitere.

Mein Blick glitt mehrmals über den letzten Satz und dann zum Seitenrand, wo die Ausgabe der Zeitung und ihr Datum vermerkt waren. In vier Monaten feierte Maximilian also seinen »zweiten« Geburtstag. Ich las den Artikel noch einmal und stolperte über das Datum der Transplantation. Ich musste erst darüber nachdenken, doch dann fiel mir ein, dass das der Todestag meines Vaters gewesen war. Das war doch nur ein Zufall, oder? Mein Herz begann heftig zu klopfen, als ich den Brief mit dem Artikel verglich. All diese Hinweise. Das Datum. Die Pferde. Die Gegend. Das Meer.

Das Meer.

Der Lieblingsort von Hannes und mir, immer gewesen und seit seinem Tod nie mehr besucht. Neben dem Text befand sich ein kleines Bild, eigentlich zu klein, um wirklich Details darin erkennen zu können, aber dennoch berührte es etwas in mir. Dieses Bild war das völlige Gegenteil zu meinem jetzigen Leben, das Gegenteil von klaren Linien, Papierbergen und einem von A bis Z durchgeplanten Tagesablauf. Es zeigte eine raue Küstenlandschaft mit hohen Gräsern, die sich im Wind beugten. Etwas weiter vom Fotografen entfernt stand ein Mann, der nicht direkt in die Kamera, sondern seitlich daran vorbeiblickte, vor einer Herde stehender Pferde, welche die Köpfe aufmerksam in die Höhe streckten und lauschten. Sie schienen abzuwarten, ob der Mann sich regte, ob er nur eine einzige Bewegung vollführte, wegen der sie sich abwenden und in die Ferne davongaloppieren konnten, denn sie waren wilde Fluchttiere. Mann und Tiere ruhten in sich, jeweils auf den anderen bedacht und sich dessen bewusst. Dabei wehte eine starke Brise dem Mann die unordentlichen Haare aus dem Gesicht und entblößte sonnengebräunte Haut und dunkle Augen, die verbargen, was wohl in ihm vorging. Der Zug um seinen Mund war verschlossen und in sich gekehrt, als wolle er nicht, dass die Welt an seinen Gedanken teilnahm.

Aber die Welt, dachte ich, wollte sowieso nicht teilhaben. Das wollten höchstens ein paar splittrige Bruchstücke, ein paar wenige Menschen, die an den Grenzen der eigenen kleinen Welt lebten.

Ich las den Zeitungsausschnitt sowie den dazugehörigen Brief noch einmal, ehe ich beides unschlüssig auf meine Knie sinken ließ. Was sollte ich nun damit anfangen? Dieses Paket, das neben mir auf dem Sofa lag, enthielt so viele Fragezeichen, so viele alte Erinnerungen, die nur Wut und Enttäuschung wieder aufleben ließen, so viele unbekannte Faktoren, dass ich keine Ahnung hatte, was ich nun tun sollte. Ellen wollte, dass ich diesen Maximilian aufsuchte, dass ich … ja, was? Was sollte ich mit ihm tun? Was sollte ich ihm sagen? Dass eine Frau, die ich so gut wie gar nicht kannte und auch nicht kennen wollte, glaubte, dass er das transplantierte Herz meines Vaters in sich trug, der mich so sehr verletzt hatte? Dass mir somit eigentlich ganz gleich war, ob dessen Herz in seiner Brust schlug oder das eines Fremden, weil das eigentlich für mich ein und dasselbe war?

Eigentlich wäre es das Beste, all diese Briefe wieder in das Päckchen zu packen, es luft- und gefühlsdicht zu verpacken, damit ja keine einzige Pore der Vergangenheit mehr aus ihm entweichen konnte, und es dann wieder dorthin zurückzuschicken, woher es gekommen war. In der Hoffnung, dass Ellen es damit auf sich beruhen ließ und mich nicht noch einmal kontaktierte. Aus welchem Grund sie auch immer verhindert war, diese Reise selbst anzutreten: Dann musste sie es eben doch irgendwie selbst versuchen oder zum Telefonhörer greifen.

Entschlossen griff ich nach dem Brief der Familie und dem Zeitungsausschnitt und stopfte sie zu den anderen Briefen in den Karton zurück. Ich sprang vom Sofa auf und ging nach nebenan in mein kleines Büro, um in der Schublade meines Schreibtisches hastig nach braunem Klebeband und einer Schere zu suchen, mit denen ich das Päckchen verschließen konnte. Damit kehrte ich ins Wohnzimmer zurück und riss am Klebeband, bis ich den ersten Streifen abreißen konnte. Als der Klebstoff die Pappe des Pakets berührte, hielt ich inne.

Was hast du schon zu verlieren?, fragte eine leise Stimme in meinem Kopf.

Ich hatte so viel zu verlieren, gefühlt alles. Den Plan meines Lebens, der eigentlich keiner war, weil er nur aus Struktur, aber nicht aus Inhalt bestand, nur aus vergangenen, bitteren Erinnerungen, aber keine Aussicht auf neue, aufregende bot.

Was, wenn ich etwas tat, mit dem ich nicht einmal selbst rechnete? Wenn ich einmal aus dem Käfig ausbrach, den ich mir selbst auferlegt hatte? Wenn ich einmal den Schmerz des Verlassenwerdens, den man auch als Erwachsener nicht überwand, als Waffe nutzte, wenn ich den Zorn als Antrieb verwendete und das bisschen Mut zusammenkratzte, den ich als Kind noch besessen hatte?

Unschlüssig hielt ich den Klebestreifen zwischen den Fingern, ehe ich ihn zu einem Knäuel zusammenknüllte, das an meiner Hand hängenblieb. Vielleicht sollte ich diese Briefe erst lesen, ehe ich eine Entscheidung traf. Vielleicht sollte ich mir ein vollständiges Bild machen.

Ich schnippte den Streifen von meiner Hand. Er landete auf dem Boden; dort, wo er nicht hingehörte und er mich so lange stören würde, bis ich ihn in einen Mülleimer warf. Mühsam widerstand ich dem Drang und klappte stattdessen das Päckchen ein weiteres Mal auf. Ich holte wieder heraus, was ich eben noch hineingestopft hatte, und legte Ellens Brief sowie den der Familie zur Seite. Die nächsten Briefe wurden mit dünnen Gummibändern zusammengehalten, immer drei oder vier auf einmal. Ich löste das erste Gummiband und legte alle Briefe bis auf den obersten auf die gläserne Platte des Wohnzimmertisches. Plötzlich zitterten meine Hände wieder. Weit über neunzehn Jahre lagen zwischen der letzten Begegnung mit meinem Vater und dem jetzigen Augenblick, denn den Moment am Grab wollte ich nicht gelten lassen. Diese Briefe waren eine Möglichkeit, wieder Nähe zu ihm aufzubauen, vielleicht sogar ein paar Antworten zu finden.

Was würde ich erfahren? Wie hatten Hannes’ letzte Jahre wohl ausgesehen? Spielte ich überhaupt noch eine Rolle in seinem Leben, wenigstens eine winzige, irgendwo am Rande der Bühne, oder war ich nur ein Statist, der sich für das Große und Ganze nicht vermeiden ließ?

Auch wenn ich es nicht zugeben wollte, hatte ich Angst vor der Antwort auf diese Fragen. Und etwas anderes wollte ich mir ebenfalls nicht eingestehen: dass diese Briefe vielleicht die Macht besaßen, mich noch mehr zu zerstören, mich noch verwundbarer zu machen, sodass der Panzer aus papiernem Mauerwerk nicht mehr ausreichte, mich zu schützen.

Statt also den ersten Brief zu öffnen, zog ich den Laptop wieder zu mir heran und legte ihn auf meinen Beinen ab. Die angestaute Wärme des Geräts wanderte durch den Stoff meiner schwarzen Jeans. Zögernd öffnete ich eine Suchmaschine und gab die Anschrift ein, an der laut Ellens Brief dieser Mann mit dem transplantierten Herz wohnen sollte.

Das Erste, was ich auf der Karte sah, waren weite blaue Flächen.

Das Meer.

An meinem Herz zupfte etwas schmerzhaft. Zuletzt war ich mit meinem Vater dort gewesen, aber es war eine Ewigkeit her. Ich erinnerte mich an den klaren Wind, der meine Haare zerzaust hatte, an den Duft von Salz und Frische, an Wellen im Sturm, an Lichter, die sich im Nachtozean spiegelten. Vielleicht waren es auch nur die Sterne gewesen.

Ich war seitdem nicht mehr am Meer gewesen, obwohl es mich immer dorthin gezogen hatte, obwohl es immer wie ein Sog war, der an meinem Herzen zerrte und zerrte und zerrte, bis ich die Fersen kaum noch in den Boden stemmen konnte, um dagegenzuhalten. Obwohl meine Heimat in der Nähe des Meeres gewesen war. Aber ich wusste, der vertraute und geliebte Anblick würde zu viel Erinnerung sein.

Trotzdem war das Pochen, mit dem mein Herz nun wild zu schlagen begann, das bekannte Anzeichen der aufwallenden Vorfreude. Als wüsste mein Herz bereits, was der Kopf noch nicht wusste. Und vielleicht, dachte ich, wäre das eine passende Gelegenheit, mit der Vergangenheit ins Reine zu kommen, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Vielleicht könnte ich die Wut und die Trauer und alles Schlechte, das noch in mir brodelte, im Meer ertränken.

Um meine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, öffnete ich mein E-Mail-Programm und aktualisierte die Verbindung. Eine Mail nach der anderen kam in den Posteingang, eine ebenso unpersönlich wie die nächste. Ich klickte die Mails wieder weg. In meinen Ohren klang Wellenrauschen.

Beinahe achthundert Kilometer müsste ich reisen, sagte der Routenplaner. Achthundert Kilometer, das war für mich mittlerweile fast eine Weltreise, war ich doch seit Ewigkeiten nicht mehr aus der Stadt rausgekommen. Natürlich besuchte ich meine Mutter hin und wieder, aber die Besuche wurden seltener, weil wir einander ohnehin nicht mehr nahe waren.

Außerdem war das Naturschutzgebiet, in dem dieser Maximilian lebte, gefühlt der einsamste Ort auf dieser Welt. Es gab den Hof samt Herrenhaus, eine Mühle, die offenbar sogar bewohnbar war, und eine einzige Pension im Umkreis von mehreren Kilometern. Da ich kein Auto besaß, würde sich ein Urlaub dort als wenig praktikabel erweisen.

Überhaupt sprachen hundert Gründe gegen eine solche Reise. Sie wäre spontan, viel zu spontan, zu teuer, zu unpassend, zu nahe dran an meinem Vater, das ging einfach nicht, das war alles nicht geplant.

Und dieses eine Mal warf ich all das in den Wind.

5.

 

Die Welt rauschte an mir vorbei, als wäre sie nur ein Fixpunkt und ich in ihrer Umlaufbahn gefangen, in der ich raste, bis alles zu einer milchigen Farbmasse verschwamm. Ich war bereits seit einigen Stunden unterwegs, war mit einem ICE nach Hamburg gefahren und dort umgestiegen. Mit jeder Minute wuchs meine Aufregung.

Ich blinzelte. Die Fensterscheibe des Regionalzugs war trüb und ungeputzt, vom Atem all der Passagiere leicht beschlagen. Draußen prasselten Wassertropfen gegen die Fensterscheibe, und obwohl der Regen in der Außenwelt gefangen war, hatte ich das Gefühl, die Schwere der Luftfeuchtigkeit beinahe hier drinnen schmecken zu können.