Die Stille zwischen Himmel und Meer - Kati Seck - E-Book
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Die Stille zwischen Himmel und Meer E-Book

Kati Seck

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Beschreibung

Die Nordsee im Herbst. Nirgendwo ist der Himmel weiter, die Luft klarer und das Meer beeindruckender. Genau deswegen ist Edda hierhergekommen. Aber die junge Frau ist nicht wie andere Touristen. Sie fürchtet sich vor dem endlosen Himmel und dem unbeherrschten Meer. Doch sie ist fest entschlossen, sich ihrer Angst zu stellen und dem Himmel ins Gesicht zu lachen. Gerade erst am Meer angekommen, begegnet sie einem Mann, der genau wie sie mit seiner Vergangenheit kämpft. Eine Begegnung, die beide verändern wird ...

Poetisch, gefühlvoll und ergreifend - ein Buch für alle, die sich schon einmal verloren gefühlt haben



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Seitenzahl: 337

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

PROLOG

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

Epilog

Danksagung

Über das Buch

Nirgends hörst du dein Herz deutlicher als in der Stille zwischen Himmel und Meer Die Nordsee im Herbst. Nirgends ist der Himmel weiter, die Luft klarer und das Meer beeindruckender. Genau deswegen ist Edda hierhergekommen. Aber die junge Frau ist nicht wie andere Touristen. Sie fürchtet sich vor dem endlosen Himmel und dem unbeherrschten Meer. Sie ist jedoch fest entschlossen, sich der Angst zu stellen und dem Himmel ins Gesicht zu lachen. Hier begegnet sie einem Mann, der genau wie sie mit seiner Vergangenheit kämpft. Eine Begegnung, die beide verändern wird …

Mit unverwechselbarer Stimme und erstaunlicher Eindringlichkeit zeichnet Kati Seck den Weg einer jungen Frau nach, die gegen alle Widerstände für ihre Lebensfreude kämpft Poetisch, gefühlvoll und ergreifend – ein Buch für alle, die sich schon einmal verloren gefühlt haben.

Über die Autorin

Kati Seck wurde am 8. Juni 1987 in Hachenburg geboren. Dort lebt und arbeitet sie auch heute noch, wenn es sie nicht mit Hund und wenig Gepäck ans Meer zieht. Als Katharina Seck veröffentlicht sie bereits Bücher in anderen Genres, mit »Die Stille zwischen Himmel und Meer« legt sie nun aber ihr persönlichstes Buch vor. Die Autorin hat einen großen Teil ihrer Kindheit in Krankenhäusern verbracht und kennt das Gefühl, durch äußere Zwänge ebenso wie durch Ängste eingeschränkt zu sein. Diese Erfahrung macht auch ihre Protagonistin Edda, wenngleich auf ganz andere Weise. Mit unverwechselbarer Stimme und beeindruckender Eindringlichkeit zeichnet Kati Seck den Weg einer jungen Frau nach, die gegen alle Widerstände für ihre Lebensfreude kämpft.

Kati Seck

Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: U1berlin/Patrizia Di Stefano

Unter Verwendung von Motiven von © 123RF.com und

© getty-images: Jose Manuel Espinola Aguayo | EyeEm

eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-4767-8

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

PROLOG

Vor sieben JahrenDer eine Tag

Ich kauerte auf dem Rücksitz eines Polizeiautos und kniff jedes Mal krampfhaft die Augen zu, wenn der Wagen eine Straßenlaterne passierte. In der Dunkelheit der Nacht leuchteten die Lampen wie Milchstraßen in der unendlichen Leere des Universums.

Vorne unterhielten sich die beiden Polizeibeamten, die mich vor zwei Stunden von dort weggeholt hatten. Sie hatten mich in eine Decke gewickelt, aber meine Zähne klapperten trotzdem. Dabei war es nicht kalt. Die Sommernacht war lau, der graue Asphalt glänzte dunkel, und es roch nach etwas Schwerem, das mir das Atmen beinahe unmöglich machte. In mir selbst war alles gefroren, als hätte ich in eisigem Wasser gebadet, dessen Kälte sich bis in mein Herz fraß.

Vorsichtig wagte ich es, die Augen zu öffnen, als der Lichterschein hinter meinen Lidern verebbte. Die Häuser waren verschwunden, dafür gab es jetzt rechts und links nur noch Nacht und Bäume. Weit über mir hing der Vollmond und warf sein fahles Dämmerlicht auf die Umgebung. Die dunklen Flecken auf seiner Oberfläche erinnerten an ein Gesicht, das lächelte, und ich zwang mich, ruhiger zu atmen.

Je länger wir fuhren, umso mehr entspannte ich mich. Ich starrte einfach den Mond an, unentwegt. Er verharrte an der gleichen Stelle, als wolle er mir folgen, egal, wie schnell die Wälder an mir vorbeirauschten oder wie oft sie ihn vor meinen Blicken verbargen.

Das Auto raste. Der Mond blieb. Ich starrte zu ihm auf, immerzu auf den Mond, um den Himmel auszublenden, denn so viel Raum konnte ich nicht ertragen.

»Wie alt ist das Mädchen nochmal?«, hörte ich einen der Männer fragen.

»Siebzehn.«

»Und wie lange war sie da unten …« Er verstummte.

»Zwölf Jahre.«

Eine Wolke verdeckte den Mond. Ich sah nur noch einen silbernen Schimmer hinter den dünnen Wolkenrändern glimmen.

Ich zog mir die Decke über den Kopf, damit der Himmel nicht über mir zusammenbrach, und presste die Handflächen auf meinen Mund.

1.

GegenwartOktober

»In drei Kilometern links halten und in Richtung …«

Ich stellte die monotone Frauenstimme leiser, die mir seit fünf Stunden aus dem Navigationsgerät entgegentönte.

Noch etwas über eine Viertelstunde bis zum Zielort, zeigte die Routenberechnung an. Keine Stauwarnung, keine Baustellen. Ich war um fünf Uhr morgens losgefahren, um dem schlimmsten Verkehr zu entgehen, aber zu dieser Jahreszeit trieb es außer mir ohnehin nicht mehr viele Besucher in den hohen Norden. Die Zeit, im Sand zu liegen und sich in Träume zu flüchten, die man nach dem Sommer wieder vergaß, war vorüber.

Jetzt, wo ich bald da war, schlug das schlechte Gewissen, das mich den ganzen Weg begleitet hatte, allmählich in nervöse Anspannung um. Meine Mutter war gegen diese Reise gewesen. Sie hatte die Idee von Anfang an für sinnlos gehalten, sogar für gefährlich. In den ersten Wochen hatte sie sich geweigert, auch nur ein Wort davon zu hören.

»Willst du dir das wirklich antun?« Aufgeregt war sie vor ein paar Stunden neben mir auf und ab gelaufen, während ich meinen kleinen Fiat mit Koffern und Taschen vollgestopft hatte. Von der frühen Uhrzeit – am Horizont zeigte sich noch nicht einmal eine Ahnung des Sonnenaufgangs – hatte sie sich nicht abschrecken lassen.

»Ja, Mama. Wir haben das doch oft genug durchgekaut. Ich muss das einfach machen. Für mich.«

»Aber du kennst dort doch niemanden. Wer soll dir helfen, wenn …«

Ich hatte meine Ungeduld und die leise Angst, dass sie womöglich recht hatte, heruntergeschluckt und meine Mutter umarmt. Für sie war es fast ebenso schwer, loszulassen, wie für mich, zu gehen.

»Es sind nur fünf Stunden Autofahrt. Zwischen uns liegen keine Welten. Wenn irgendetwas ist«, ich klopfte mit den Fingerknöcheln gegen das Blech meines Wagens, »dann bin ich im Nullkommanix wieder hier.«

Mit dem Versprechen, mich zu melden, sobald ich heil angekommen war – und auch sonst mindestens zweimal täglich –, war ich losgefahren und hatte den Regen, der Mainz in eine Stadt aus grauen Wohnbauklötzen und sich spiegelndem Asphalt verwandelte, hinter mir gelassen. Nach gut zwei Stunden Fahrt ging die Sonne auf, trocknete die Straßen und ließ meine Angst verschwinden, bei Nässe und Dunkelheit einen schrecklichen Unfall zu verursachen.

Zumindest das Wetter schien es gut mit mir zu meinen.

Bei der nächsten Ausfahrt setzte ich den Blinker und verließ die Autobahn. Mein Herz begann schneller zu schlagen, als ich mich auf einer kleinen Landstraße wiederfand. Vor mir öffnete sich eine Welt, die ich bisher nur aus Fernsehreportagen und Bildbänden kannte. Ich dachte immer, so sattgrün, wie die Wiesen darin dargestellt wurden, könnten sie in Wahrheit niemals sein. Die endlosen Felder schienen sich von der Heuernte erholt zu haben, und das Gras beugte sich im Wind.

Ich kurbelte das Fenster herunter, um den Geruch der frischen Weiden einzulassen, und zerrte meine Wollmütze vom Kopf. Die Luft war kühl und verursachte Gänsehaut auf meinen nackten Unterarmen. Aber sie war so klar und mit einem feinen salzigen Duft durchzogen, dass ich so tief einatmete, wie ich nur konnte. Der Luftzug blies meine Haare wirr durcheinander, und ich musste lachen. Es war einer dieser seltenen kurzen Augenblicke, in denen ich selbst nicht mehr wusste, warum ich eigentlich so nervös gewesen war.

Denn das mit der Nervosität war so eine Sache: Nach all den Jahren, die ich mit Therapien, Psychologen, Reden und Verarbeiten, Reden und Weinen, Reden und Reden und Reden verbracht hatte, wusste ich im Grunde meines Herzens, dass ich überlebensfähig war; dass ich in die Welt hinausgelassen werden konnte, ohne hilflos in ihr unterzugehen. Aber zwischen dem Wissen, etwas tun zu können, und es dann tatsächlich zu tun … Dazwischen lagen manchmal noch ganze Universen.

Das Navi lotste mich durch einige überschaubare Ortschaften mit höchstens ein paar hundert Einwohnern. Die Dörfer ähnelten einander, mit den Reetdachhäusern, die mich an Hobbithöhlen erinnerten. Die Büsche und Wildpflanzen in den Vorgärten wucherten wild in die Höhe und ließen die Schilfdächer manchmal nur erahnen. Und ganz weit hinten, wo der blaue Himmel ein wenig heller wurde, schien es, als schwebte ein grauer Schleier über dem Boden: das Meer.

Ich war zum allerersten Mal in meinem Leben am Meer.

Das Navi befahl mir schließlich, in eine kleine Seitenstraße abzubiegen.

Um zwölf Uhr war ich mit Hilde Baltruweit verabredet, der Vermieterin des Häuschens, in dem ich während meines Urlaubs wohnen wollte. Wie gut, dass ich kaum frei gemacht hatte, bis ich mich letzten Monat entschied herzukommen. Denn nun verbrauchte ich beinahe meinen ganzen Jahresurlaub auf einmal. Meine Chefin war mir mit ihrem typisch mitleidigen Lächeln begegnet, als sie meinen Urlaubsbogen abgezeichnet hatte – ich hatte ihr angesehen, dass sie sich fragte, ob ich die Sache wirklich durchziehen würde. Ich konnte es ihr nicht einmal verübeln, schließlich war ich als das Mädchen bekannt, das nichts zu Ende brachte, nicht einmal einen einfachen Urlaub, geschweige denn einen Job. Ich war das Mädchen ohne Vergangenheit und das Mädchen ohne Zukunft.

Zur Zeit bereitete ich mich auf eine Ausbildung als Erzieherin vor, nachdem ich verschiedene Praktika ausprobiert hatte. Seit ein paar Monaten absolvierte ich ein Freiwilliges Soziales Jahr im Kindergarten, und abends jobbte ich und reinigte verwaiste Büroräume. Floristin und Bürokauffrau waren nichts für mich gewesen. Ich hatte einen schwarzen Daumen, und Papier mochte ich nur zum Lesen. Mit Kindern hingegen konnte ich umgehen, weil ich mich bei ihnen nie verstellen musste. Bei ihnen fühlte ich mich nie so klein wie unter Gleichaltrigen.

Skeptisch starrte ich auf den Bildschirm der elektrischen Karte. Sie wies mich an, in wenigen Metern auf einen Feldweg abzubiegen, der beunruhigend ländlich wirkte. Der Boden war hier nicht einmal mehr asphaltiert. Bald wurde der Weg so schmal, dass ich nur vorwärts schleichen konnte.

»Das ist nicht dein Ernst«, murmelte ich, während ich das Auto im Schneckentempo über die unbefestigte Fahrbahn lenkte. Es gab kaum genug Platz, um den Schlaglöchern auszuweichen, die von den nächtlichen Schauern mit Wasser gefüllt waren. Krampfhaft umklammerte ich das Lenkrad und kniff die Augen zusammen, als sich hinter der nächsten Biegung eine winzige Siedlung zeigte. Zwischen knorrigen Bäumen und hochgewachsenen Gräsern standen in der Abgeschiedenheit des Dorfrandes zwei dunkelrote Reetdachhäuser säuberlich nebeneinander. Der Weg führte an den beiden Häusern und einem kleinen Parkplatz vorbei und schlängelte sich dann einige hundert Meter zwischen Wiesen und mit Strandhafer bewachsenen Dünen hindurch, um weit hinten am Strand zu enden.

Ich hielt vor der Tür des Hauses, in dem ich laut Adresse die nächsten vier Wochen wohnen sollte, und stieg aus. Die Luft war frisch, obwohl die Sonne spätherbstlich warm auf meinen Kopf schien. Ich schmeckte einen vagen Anflug von Salz auf der Zunge. Das Meer wurde von den beiden Häusern verdeckt, sodass ich nur eine Ahnung davon erhaschen konnte. Aber ich wusste, es war da, wenn ich ein paar Schritte in seine Richtung machte.

Dann flog die Haustür des anderen Häuschens auf, und eine ältere Frau, die sich gerade die Hände an einem Geschirrtuch abtrocknete, kam heraus. Sie hatte rabenschwarzes Haar, durch das sich einzelne graue Strähnen zogen. Um ihre Schultern lag ein knallbunter, grobmaschiger Poncho. Hätte sie einen Besen in der Hand gehabt, hätte ich sie für eine Hexe auf dem Weg zum Blocksberg gehalten. Es fehlte nur noch der Rabe auf ihrer Schulter.

»Abraxas«, entfuhr es mir.

»Wie bitte?«

»Äh … hallo«, sagte ich. Mein Lächeln folgte etwas verspätet und sah sicherlich verkrampft aus.

Falls Hilde mich für seltsam hielt, ließ sie es sich zumindest nicht sofort anmerken. »Sie müssen Edda sein, richtig?«

Sie warf sich das Geschirrtuch über die Schulter und erwiderte mein Lächeln. Dabei erhellte sich ihr ganzes Gesicht, und um ihre Augen bildeten sich Lachfalten, bis sie von innen heraus zu strahlen schien.

Ich nickte.

»Kommen Sie rein, na los.« Sie winkte heftig, und ich bemerkte Mehlflecken auf ihrem Pullover. »Ich habe vorhin Kuchen gebacken. Apfelkuchen, den mögen Sie doch, sagten Sie.«

Wieder nickte ich und schluckte den Kloß in meinem Hals herunter. Fremde Menschen und Orte weckten in mir immer noch den Drang, wegzulaufen, zu fliehen, obwohl ich gelernt hatte, diesen Impuls zu kontrollieren. Aber diese Frau war mir nicht fremd. Nicht völlig. Wir hatten telefoniert, mehrmals sogar. Ich hatte ihr ein wenig von mir erzählt, und sie hatte offenbar nicht alles davon vergessen.

Ich folgte ihr die zwei Stufen hinauf ins Innere des Hauses.

»Ich wohne allein hier«, erzählte Hilde. »Aber die meiste Zeit des Jahres habe ich Feriengäste, es ist also selten einsam.«

Mir stieg der Duft von Schwarztee in die Nase. Auf dem Teppich im Flur räkelte sich ein schwarzer Kater, der mich gelangweilt beobachtete und dann mit gestrecktem Schwanz vor uns in die Küche spazierte.

»Na ja, ganz allein wohnen Sie nicht, oder?« Ich deutete auf den Kater.

»Achten Sie bloß nicht auf den Miesepeter.« Hilde runzelte die Stirn und scheuchte das Tier aus der Küche. Dann hängte sie das Geschirrtuch über die Heizung und holte zwei Teller aus dem Schrank. Sie hatte eine alte Küche, mit einem großen Kamin zum Heizen und einem altmodischen Herd. Darüber schwangen gusseiserne Töpfe und Pfannen kaum merklich in der sanften Brise, die durch das geöffnete Fenster hereinblies. Die Wände waren in einem zarten Fliederton gestrichen und passten zu der ausgeblichenen weißen Einrichtung und den geblümten Tassen in der Holzvitrine. Die Sitzecke, zu der Hilde mich führte, war sorgsam restauriert und erinnerte mich an den Flohmarkt mit Vintagemöbeln, den ich letztes Jahr einmal besucht hatte.

Das Schönste und zugleich Beunruhigendste aber war der Ausblick. Ich saß auf der Eckbank, ein hellgrünes Kissen mit Rosenstickereien unter mir, und starrte aus dem Fenster. Da war es. Das Meer. Es war so weit, so endlos, dass es mich ängstigen sollte. So wie mich alle Dinge ängstigen, deren Ende ich nicht sehen konnte oder die ich nicht unter Kontrolle hatte. Das Meer aber machte mir keine Angst, nicht wirklich. Es ruhte still in sich und spiegelte das Licht der am Himmel stehenden Sonne. Ein Schimmern, das mich verführte, mich auf die seichten Wellen zu legen, um mich umschmeicheln zu lassen wie von fließender Seide.

»Sie haben drüben denselben Ausblick, meine Liebe.« Hilde goss dampfenden Tee in meine Tasse und schob mir ein Stück Kuchen auf den Teller. »Das Ferienhaus ist etwas größer als mein Häuschen, und die wichtigsten Räume gehen zum Meer hinaus. Man kommt schließlich an die See, um Ruhe zu finden, nicht wahr?«

»Es ist auf jeden Fall wunderschön«, sagte ich und hob die Tasse zum Mund. Der Tee war so kräftig, dass ich beinahe das Gesicht verzogen hätte, aber Hilde sah mich gerade eindringlich an, sodass ich mich zusammenriss. Ich wollte, dass sie einen guten Eindruck von mir hatte.

»Wenn Sie irgendetwas brauchen sollten, können Sie gern jederzeit klingeln. Meistens bin ich zu Hause oder im Garten. Unter der Woche ist auch meine Enkeltochter Mia da, wenn mein Sohn und seine Frau arbeiten. Unten im Dorf sind ein Supermarkt und eine Bäckerei, wenn Sie morgens frische Brötchen essen wollen. Alles Weitere finden Sie in der nächsten Stadt, mit dem Auto ist man in fünfzehn Minuten dort.«

Hilde nahm einen Schlüsselbund von der Anrichte und legte ihn vor mir auf die Tischplatte. Ein angelaufener Eisenanker diente als Schlüsselanhänger. Als ich den leicht rostigen Geruch nach Metall wahrnahm, drehte sich mir der Magen um.

»Der Haustürschlüssel sowie der Schlüssel für eine Holzhütte hinter dem Haus, wo Sie Gartenmöbel finden. Ein Fahrrad steht da auch, wenn Sie Lust haben, zu radeln. Es gibt ein paar schöne Wege in der Nähe. Im Wohnzimmerschrank liegt eine Karte mit Tourenvorschlägen. Eine Wanderkarte gibt es auch.«

»Danke«, sagte ich leise und meinte die Schlüssel, den Tee und die unverfälschte Art, mit der Hilde mich trotz meiner Vorgeschichte behandelte. Meine Mutter hatte darauf bestanden, dass ich meiner Vermieterin erklärte, wer ich war und was es mit diesem Urlaub auf sich hatte. Das gesamte Telefongespräch über hatte meine Mutter neben mir ausgeharrt und mich mit Argusaugen beobachtet, damit ich kein Detail ausließ. Es war eben dieser sorgende Blick, mit dem sie mich seit Jahr und Tag bedachte, der mir mittlerweile die Luft zum Atmen nahm. Wir wussten es beide, und nur deswegen hatte ich am Ende doch gehen dürfen.

Ich steckte die Schlüssel hastig in meine Handtasche und warf noch einmal einen Blick auf das Meer. Die Flut trieb die Wellen zum Ufer, wo sie gegen den Strand schlugen. Wasserperlen stoben hoch, und ich hielt den Atem an, für einen flüchtigen Moment nur, in dem das Wasser dort oben in der Luft innezuhalten schien. Es war schön. Aber es war auch … zügellos.

Sieh genau hin, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf. Das meinen sie, wenn sie davon sprechen, dass die Zeit stillsteht.

Ich atmete langsam aus. »Wie weit geht das Meer zurück, wenn Ebbe ist?«, wollte ich wissen.

Hilde folgte meinem Blick aus dem Fenster. »Etliche Kilometer, Sie können das Wasser dann gar nicht mehr sehen. Wenn Sie allein ins Watt wollen, müssen Sie sich unbedingt einen Tidekalender besorgen, und Sie sollten auf keinen Fall zu weit gehen. Oder Sie machen erstmal eine geführte Wanderung, es gibt hier in der Region einige Anbieter.«

Ein Teil von mir wünschte sich, hinauszugehen, einfach loszulaufen und einen Ort zu erreichen, an dem nie zuvor jemand war. Bei dem Gedanken schauderte ich. Watt. Ich hatte im Internet Fotos davon gesehen: brauner Schlamm, Krebse, glitschige Algen und Muscheln, auf die man trat, wenn man nicht achtgab. Ich würde lieber am Ufer sitzenbleiben und dem Meer dabei zusehen, wie es einfach schön war und in sich ruhte.

»Wenn Sie mir das hier noch unterschreiben würden, hätten wir den Papierkram hinter uns.« Hilde schob ein Stück Papier in mein Sichtfeld, mit der Unterschrift darauf bestätigte ich die Aushändigung der Schlüssel. Ich nahm den Kugelschreiber, den sie mir entgegenhielt, und setzte meinen Namen auf die gestrichelte Linie. Im Schreiben hatte ich immer noch nicht so viel Übung, wie es in meinem Alter üblich sein sollte. Meine Schrift war ungelenk und wie die eines Kindes. Das war einer Arbeitskollegin einmal herausgerutscht, bevor sie die Hand vor den Mund geschlagen hatte.

»Ich schätze, Ihrer Mission steht nun nichts mehr im Weg, Edda. Genießen Sie Ihren Urlaub. Überschätzen Sie sich nur nicht. Das Meer hat schon manchen verschluckt und nicht mehr hergegeben.«

Für einen Moment verlor sich Hildes Blick in der Ferne, und ich dachte an hinterlistige Meerjungfrauen, die mit ihrer Schönheit mutige Seemänner in den tiefen Ozean lockten. Während ich das Wogen der Wellen betrachtete, verstand ich diese Sehnsucht, die das Meer erweckte und doch niemals stillen konnte.

Wir standen gleichzeitig auf, aber ich war schon fast aus der Küche hinaus, bevor Hilde hinter der Bank hervorgekommen war. »Ich finde schon allein raus, vielen Dank«, warf ich ihr über die Schulter zu.

Ihr Kater stand auf dem Treppenabsatz, als habe er auf mich gewartet. Mit seinen gelben Augen starrte er mich durchdringend an.

Dann trat ich nach draußen.

Ich hatte nicht bemerkt, wie sich das Wetter verändert hatte. Der Wind trieb nun vom Land her Wolken auf das Dorf zu, und die dunklen Ungetüme schwebten drohend wie giftige dunkelgraue Ausdünstungen über mir. Ich spürte die Schwere der Wolken, die sich mit Regen vollgesogen und die Farbe von Dreck und Abgasen in sich aufgenommen hatten. Sie hingen so tief, dass ich mich ducken wollte. Mühsam erinnerte ich mich an alles, was ich in den letzten Jahren gelernt hatte.

Du hast die Kontrolle, Edda. Nur du. Niemand sonst. Der Himmel wird nicht über dir zusammenbrechen, wenn du es ihm nicht befiehlst.

Und doch, genau das schien er tun zu wollen. Ich hob vorsichtig das Kinn, um einen Blick nach oben zu wagen.

»Hey du«, rief eine helle Stimme hinter mir.

Ich fuhr herum. Ich hatte niemanden kommen hören, aber auf einmal stand ein kleines Mädchen vor mir und neigte den Kopf. Zwei rotblonde Zöpfe hingen über ihre Schultern, und ein wenig erinnerte sie mich an Pippi Langstrumpf, obwohl ihr die Sommersprossen fehlten und sie stattdessen eine Brille mit dicken Rändern auf der Nase trug.

»Bist du die Neue?« Mit der ausgestreckten Hand wies sie auf das Ferienhaus.

Ich nickte beklommen. Über uns rumpelte es bedrohlich. Ein Grollen, das tief aus der Kehle eines Raubtiers zu kommen schien und vom Himmel in hundertfachem Echo zurückgeworfen wurde. Eigentlich wollte ich in diesem Augenblick nichts lieber als wegzulaufen. Aber ich konnte das Mädchen nicht einfach stehenlassen. Das wäre unhöflich gewesen.

»Ich bin Mia. Wie heißt du?«, fragte sie.

Über dem Meer blitzte etwas auf.

»Wie heißt du?«, wiederholte Mia ihre Frage beharrlich.

»Edda.« Ich versuchte, gelassen zu wirken, und ging zum Wagen, um meine Reisetaschen aus dem Kofferraum zu holen.

»Edda?« Sie sprach meinen Namen seltsam aus, so ganz anders als andere Menschen, bis er fremd in meinen Ohren klang.

»Genau.« Ich nickte. »Der Name kommt aus Island.« So genau wusste das zwar niemand, aber ich mochte die Vorstellung, dass mein Name von dieser rauen Insel stammte.

»Island?« Mias Miene verzog sich, während sie nachdachte. Dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Ponys! Es gibt Ponys aus Island, oder?«

Ich musste lächeln. »Ja, die gibt es tatsächlich. Klein und struppig und zäh. Ein bisschen wie du.«

Wieder blitzte es über dem Meer, diesmal erschreckend nah. Fast hätte ich die Henkel der Taschen losgelassen. Schnell verschloss ich den Wagen. Ich wollte nur die Haustür öffnen und über die Schwelle treten und dann, endlich, in Sicherheit sein. In einer kleinen behüteten Welt, in der ich genau wusste, was als Nächstes geschah.

»Hast du Angst?«, fragte das Mädchen verwirrt.

»Ja«, flüsterte ich.

»Aber wovor denn? Vor dem Gewitter?«

Meine Kehle war so eng, dass ich kaum ein Wort hervorbrachte.

»Vor dem Himmel.«

2.

In dem Haus roch es nach Leben.

Erinnerungen durchdrangen das Gemäuer, schlichen durch jede Fuge und strömten aus Fotos von früheren Urlaubern auf den Regalen und aus vollgeschriebenen, zerfledderten Gästebüchern. Es waren nicht meine Erinnerungen, und dennoch fühlten sie sich vertraut an.

Ich knipste das Wohnzimmerlicht an und trug meine Taschen über die Schwelle. Mit einem erschöpften Seufzen ließ ich sie zu Boden fallen. Mia war im Haus ihrer Großmutter verschwunden. Sie hatte mir hoch und heilig versichert, dass sie das Gewitter fortblasen würde, bis es sich über dem Meer zu tausend fusseligen Wolkenbäuschen zerstreute. Wenn sie Pippi Langstrumpf auch nur ein bisschen ähnelte, hegte ich keinen Zweifel, dass sie es tatsächlich versuchen würde.

Der Wohnraum war riesig. Hier könnte auch eine kleine Familie problemlos Urlaub machen. Auf der einen Seite waren eine gut ausgestattete Kochnische und eine Essecke aus massiver Eiche untergebracht. Ich riss nacheinander die Schubladen der Küchenschränke auf und entdeckte in einer ein geschwungenes Besteck, das mich an die Barockzeit erinnerte. Eine schwarze Sofagarnitur stand in der anderen Ecke des Raumes, umrahmt von den hohen Wänden. Unzählige Kissen waren darauf verteilt, eins war auf den dunklen Parkettboden gefallen. Daneben war ein Kamin mit dunkelroten Fliesen und ein gusseisernes Gestell, an dem ein Schürhaken und eine verrußte Bürste baumelten. Meine Mutter hätte gesagt, dass der Raum zu düster und zu beseelt von alten Zeiten war, um gute Laune zu verbreiten, aber ich mochte ihn. Alles war sauber und gepflegt, auf dem schwarzen Flachbildfernseher befand sich kein einziges Staubkorn. Ich konnte mir gut vorstellen, wie sich heller Sand auf dem dunklen Boden abheben würde, wenn man ihn vom Strand hereinschleppte, oder wie die untergehende Sonne den Raum in tieforangefarbenes Feuer tauchte.

In einer Abstellkammer fand ich Unmengen Putzzeug, außerdem weiche Wolldecken und Bettbezüge zum Wechseln. Im ersten Stock gab es zwei Schlafzimmer mit jeweils einem angrenzenden Bad. Beide waren gleich geschnitten, nur spiegelverkehrt. Sie waren auch gleich eingerichtet: ein Doppelbett, ein Kleiderschrank und so niedrige Dachschrägen, dass ich mir nachts garantiert den Kopf anschlagen würde, wenn ich aufschreckte. Neben dem Schrank führte eine Tür zum Balkon, den man von beiden Zimmern erreichen konnte. Bunte Blumen, die ich nicht kannte, blühten in Kästen, die am Geländer befestigt waren, und verbreiteten ihren herbstlich süßen Duft, der schon flüchtig nach Vergänglichkeit roch.

Obwohl es mittlerweile regnete, trat ich auf den Balkon und rückte die beiden Stühle zur Seite, deren weiß lackierte Beine so verschnörkelt waren, dass Hilde sie gewiss auf einem Flohmarkt erstanden oder vielleicht noch von ihren Eltern geerbt hatte. Man merkte ihnen die Jahre und den Verschleiß an. Dann beugte ich mich vor und stützte meine Ellenbogen auf das Geländer. Ich wollte das Meer ansehen, wurde aber vom Himmel abgelenkt, der lastenschwer über dem Wasser hing und seinen grauen Dreck hineinspucken wollte. Eine Gänsehaut überzog meine Arme.

Ich zuckte zusammen, als es wieder donnerte, und ging zurück. Ich zog die Balkontür hinter mir zu und die Vorhänge vor. Dann packte ich meine Taschen aus und räumte säuberlich ein Kleidungsstück nach dem anderen in den Kleiderschrank. Isolde, meine andere Mutter, war eine Ordnungsfanatikerin gewesen. Wenn meine Klamotten nicht millimetergenau übereinander lagen, hatte sie meinen gesamten Schrank geleert, sodass ich wieder von vorne beginnen musste. Seitdem taten mir Unordentlichkeiten körperlich weh, selbst wenn niemand mehr prüfend hinter mir stand. Ich fühlte ihre Missbilligung trotzdem wie einen Bluterguss zwischen meinen Rippen sitzen.

Auf den Nachttisch stellte ich das Foto von meiner richtigen Mutter und mir. Wir saßen darauf nebeneinander auf einer Bank im Park, einen Sicherheitsabstand von zehn Zentimetern einhaltend. Zu viel Nähe war damals, vor fünf Jahren, als das Foto aufgenommen worden war, noch eine Belastung gewesen, die unsere zerbrechliche Beziehung nicht ertrug. Aber wir sahen uns äußerlich so ähnlich, dass ich es mir immer wieder gern ansah.

In meiner Tasche befand sich noch ein anderes Foto. Ich hatte es heimlich aufgenommen, im letzten Sommer, als ich mit meinem besten Freund Jan und seinem schwarzen wasserverrückten Labrador am See gewesen war. Die beiden schwammen am Ufer entlang, während ich auf dem steinigen Waldboden saß, die Kamera immer griffbereit, weil ich den richtigen Augenblick nicht verpassen wollte. Irgendwann ging die Sonne unter und färbte das Wasser leuchtend rot. Zarte Wellenkreise verloren sich irgendwo im Nichts, als ich Jan fotografierte, während er mit gerunzelter Stirn in den Sonnenuntergang starrte, Wassertröpfchen auf seinen Brillengläsern. Später, als er mich trotz meines Widerwillens ins Wasser gezogen hatte, küsste er mich.

Bis zu diesem Tag hatte ich die Liebe mit all ihren Facetten nur aus dem Fernsehen gekannt. Oder aus Büchern. Die schönste, die aufrichtigste und leidenschaftlichste Liebe fand man immer in Büchern. Vielleicht war ich deshalb nicht wirklich darauf vorbereitet gewesen, und danach war es mit uns kompliziert geworden.

Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte jetzt nicht an Jan denken. Die leeren Taschen brachte ich in das andere Schlafzimmer und ging nach unten, um den Fernseher einzuschalten und mich von dem Gewitter abzulenken, das nun mit aller Macht hereingebrochen war. Ich wusste, dass ich bald in die Stadt fahren musste, um einzukaufen, aber bei dem Wetter widerstrebte es mir. Hilde hatte glücklicherweise etwas Brot und ein paar Grundnahrungsmittel für mich besorgt, sodass ich heute Abend nicht würde hungern müssen.

Doch gleichzeitig wusste ich, dass ich genau deswegen hier war: um keine Ausreden mehr zu finden, das Haus nicht zu verlassen – ob wegen des Wetters oder wegen zu vieler Menschen oder der Möglichkeit, dass etwas passierte, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Ich hatte mir fest vorgenommen, meine Ängste vor dem Himmel, vor der Weite, vor den Menschen zu überwinden. Es war ja nicht so, dass ich all diesen Dingen nicht gegenübertreten konnte, aber es kostete mich jedes Mal eine Unmenge an Kraft. Das wollte ich nicht mehr.

Ich wollte frei sein.

Und wo konnte man freier sein als am Meer, wo man über die Wellen rennen und die Wolken mit ausgestreckten Armen auseinanderwirbeln konnte?

***

Vor 13 JahrenFebruar

Ich pustete den Staub von den Büchern.

Die dünnen Flocken tanzten im kalten Licht der Schreibtischlampe. Es sah ein wenig aus wie Schnee, jedenfalls stellte ich ihn mir so vor.

»Edda! Hab ich dir nicht gesagt, du sollst aufräumen? Das sieht ja wieder aus wie im Saustall hier. Warum machst du eigentlich nie das, was ich dir sage?« Isoldes Stimme war gereizt und schrill, was nie ein gutes Zeichen war.

Schnell fuhr ich mit dem Ärmel über die Buchdeckel, um den letzten Staub zu entfernen. »Ich habe Mathe gelernt«, sagte ich entschuldigend. Zum Beweis deutete ich mit dem Zeigefinger auf das Übungsheft, das aufgeschlagen auf meinem Tisch lag. Zugegeben, die Tischplatte quoll über vor Büchern, losen bekritzelten Blättern und Stiften. Aber immer, wenn ich Isolde erklären wollte, dass ich zu wenig Platz hatte, mit diesem winzigen Tisch und einem einzigen Kleiderschrank, wurde sie wütend.

Sie wurde immer wütend, wenn ich über etwas klagte, das mir fehlte. Und das schien immer mehr zu werden, je mehr ich las und je mehr ich die Welt im Radio verstehen konnte.

»Mama, wann kann ich in die Schule gehen?«, fragte ich hoffnungsvoll.

»Noch nicht.«

Noch nicht. Damit war die Diskussion beendet, wie am gestrigen Tag und an dem davor und an all den Tagen, die ich nicht mehr zählen konnte.

Isolde knipste die große Deckenlampe an, und es wurde hell. Ich hasste die Neonlampe, die ein so kaltes Licht abstrahlte, dass ich mich am liebsten unterm Bett verkrochen hätte. Ich mochte das dämmrige Licht meiner Schreibtischlampe viel lieber.

Isolde setzte sich auf mein Bett und klopfte auf die Stelle neben sich. Gehorsam stand ich auf, um mich neben sie zu setzen. Mein Pullover rutschte am Rücken etwas hoch. Ich war schon seit einem Jahr aus ihm herausgewachsen. Aber neue Kleidung gehörte auch zu diesen Noch-nicht-Dingen.

Sie legte den Arm um mich, während ich in die Matratze einsackte. Die dunklen Ringe unter ihren Augen zeugten von schlaflosen Nächten. Ihr Griff war so fest, dass es schwer war, mich nicht zu versteifen.

»Du verstehst das doch, kleine Edda, nicht wahr? Du verstehst, dass du noch nicht alt genug bist, um rauszugehen, oder? Die Welt ist so gefährlich, viel zu gefährlich für ein Kind. Überall lauern Gefahren und böse Männer und Monster. Hier bist du sicher, nur hier bei mir. Sag mir, dass du es verstehst!«

Ich nickte. Ihre Finger gruben sich in meine Schultern, und ich biss mir auf die Innenseite der Wange, um still zu bleiben. Es tat weh. Sie tat mir weh.

»Edda, du weißt doch, dass du mit mir sprechen sollst. Dieses unausstehliche Schweigen hast du nicht von mir.« Ihre Stimme war um eine Oktave in die Höhe gerutscht.

»Ich verstehe es.«

Isolde fuhr über mein Haar, zerzauste es und presste mich an sich. »Du weißt, wie sehr ich dich liebe, oder? Du spürst es doch?«

»Ja, Mama.«

Wenn ich Mama zu ihr sagte, glaubte sie mir. Dann war sie ruhig. Sie atmete gleichmäßiger. Ihre Haut war nicht mehr so grau und fleckig.

Für eine Weile jedenfalls.

3.

GegenwartOktober

In meinen Träumen war es laut.

Ich zog mir das Kissen über den Kopf und rollte mich auf die andere Seite. Ein leises Seufzen entwich mir. Trotz der einen Spalt breit offenen Balkontür und der kühlen Luft im Zimmer war mir wohlig warm. Die Wärmflasche, die ich mir am Abend mit ins Bett genommen hatte, war noch nicht ganz abgekühlt. Aber in meinen Träumen hatte etwas gelärmt. Ein Hammerschlagen oder ein Feuerwerk wie dieses eine Jahr an Silvester. Es war so laut gewesen, dass ich es sogar tief unten im Keller gehört hatte. Das Radio war damals eingeschaltet gewesen, und ich hatte den Countdown am Brandenburger Tor in Berlin verfolgt und bitterlich geweint, weil die Erinnerungen an meine Eltern damals noch viel frischer gewesen waren als später. Die Türspalte hatte ich mit meiner Bettdecke zugestopft, damit Isolde nicht anhand der Lautstärke bemerkte, dass ich noch wach war. Den Ton möglichst leise geschaltet und mit der Geräuschkulisse der Raketen im Hintergrund hatte ich versucht, mir vorzumachen, mitten unter den feiernden Menschen zu sein. Bei meinen Eltern. Es hatte nicht geklappt.

Ich blinzelte, als ich allmählich aufwachte. Aber der Lärm, den ich meinen Träumen zugeordnet hatte, verstummte nicht. Irgendwo klopfte es vehement. Es dauerte einige Sekunden, bis ich verstand, dass das Klopfen von der Haustür kam. Gab es denn keine Klingel? Oder hatte ich so fest geschlafen, dass ich sie nicht gehört hatte? Müde rappelte ich mich auf und warf einen Blick auf den runden Wecker neben dem Bett: 10:16 Uhr. Ich erschrak. So lange hatte ich schon ewig nicht mehr geschlafen.

Ich riss die Bettdecke zur Seite, und sofort zog die Kälte meine nackten Beine hoch. Selbst Schuld, dachte ich. Wenn man auch immer das Fenster offen stehen haben muss, selbst im tiefsten Winter. Ich konnte den Gedanken an Räume, die mich von allen Seiten lückenlos umschlossen, immer noch nicht gut ertragen. Ein offener Spalt war ein Schlupfloch, das stete Wissen, dass es einen Weg nach draußen gab. Dass ich dieses draußen häufig genauso unerträglich fand, änderte daran nichts. Manchmal fühlte ich mich wie ein Vogel in einem Käfig, dessen Türen offen standen. Nur waren meine Flügel noch gebrochen und wollten nicht recht heilen.

Weil es unten weiterhin beharrlich an der Tür klopfte, schlüpfte ich in meinen Morgenmantel und zog den Gürtel um die Taille fest. Dann lief ich auf bloßen Füßen die Treppen hinab. Die Fliesen im Flur waren bitterkalt, und ich bereute, keine Hausschuhe mitgenommen zu haben. Dabei hatte ich mir extra eine Liste angelegt. Im Internet gab es Vordrucke. Eine Sammlung von Dingen, die man bloß nicht vergessen sollte, wenn man in den Urlaub fuhr. Die Hälfte davon lag wahrscheinlich noch zu Hause auf meinem Bett.

Ich drehte den Schlüssel herum und zog die Tür auf. Hilde stand in ihrem bunten Poncho vor mir und hielt mir etwas entgegen. Eine Tüte vom Bäcker.

»Guten Morgen, Edda.« Sie betonte das vorletzte Wort und schnaubte leise. Ich konnte sie förmlich denken hören – Die Jugend von heute. Schläft zu lang und zu viel – und musste mir ein Kichern verkneifen. »Ich habe Ihnen frische Brötchen aus dem Dorf mitgebracht. Als Willkommensgruß sozusagen. Wird also nicht zur Tradition, gewöhnen Sie sich nicht dran.« Sie drückte mir das raschelnde Papier entgegen, aus dem es nach noch warmen Brötchen duftete.

»Danke«, sagte ich erfreut.

»Haben Sie in der ersten Nacht gut geschlafen?«, erkundigte sie sich, während sie versuchte, unauffällig an mir vorbeizuspähen.

»Auf jeden Fall. Das Rauschen des Meeres ist zum Einschlafen besser als jeder Radiosender. Man muss sich nur daran gewöhnen.«

»Aha. Jaja, das dauert seine Zeit. Aber irgendwann überhört man das, auch die kreischenden Möwen. Die werden von Jahr zu Jahr schlimmer, diese Viecher. Letztes Jahr haben sie tatsächlich eine Frau an den Haaren … Na ja, ist nicht so wichtig.« Hilde unterbrach sich und sah mich nun gespannt an, als erwartete sie eine Antwort von mir.

Mir wurde heiß. Innerlich ging ich den Katalog an Benimmregeln durch, den ich irgendwann einmal angelegt hatte. Als Hilfe. Damit ich in solchen Situationen, in denen ich plötzlich nicht mehr wusste, was mein Gegenüber von mir erwartete, nicht so schnell in Panik ausbrach. »Ehm, kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«, fragte ich schließlich zögerlich, auch wenn mir das nicht richtig vorkam. Mit mir im Morgenmantel, mit nichts als einem schmuddeligen Schlafshirt drunter. Und ich wusste noch nicht einmal, ob überhaupt Kaffee da war, schließlich war ich noch nicht einkaufen gewesen.

Aber Hilde schüttelte hastig den Kopf. »Nein, nein.« Sie trat von einem Fuß auf den anderen und schien aus irgendeinem Grund nervös zu sein. Das passte gar nicht so recht zu dem Bild, das ich mir gestern von ihr gemacht hatte. Sie machte nun mich nervös.

»Verstehen Sie die Brötchen mehr als einen erbärmlichen Bestechungsversuch«, sagte sie schließlich und rückte ihren Poncho gerade.

Ich starrte sie ratlos an.

»Sie müssen verstehen, die Technik und ich, wir haben’s nicht so miteinander. Der Rechner hat manchmal so seine Macken.«

Mit Rechner meinte sie vermutlich einen Computer, schlussfolgerte ich.

»Das kenne ich«, murmelte ich. Unter meinen Händen hegten elektrische Geräte den Drang, sich tot zu stellen oder hinter schwarzen Monitoren zu verstecken. »Brauchen Sie Hilfe?«

Wahrscheinlich würde ich ihrem Computer nur den letzten Todesstoß versetzen, aber ich wollte meine Unterstützung dennoch anbieten.

Wieder schüttelte sie den Kopf. »Es tut mir so leid«, murmelte sie. »Ich habe das Ferienhaus doppelt vergeben. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass mir das furchtbar peinlich ist. So etwas ist mir noch nie passiert. Genauer gesagt habe ich dieses Onlinedingens zum ersten Mal benutzt, und es ist direkt schiefgegangen.«

Im ersten Moment war ich sprachlos, und Angst jagte durch meinen Körper. Ich sah mich schon Koffer packen und den Heimweg antreten, bevor mein großes Abenteuer überhaupt begonnen hatte. Nicht gescheitert an mir, sondern von der Technik überlistet.

»Oh«, brachte ich heraus. »Was … was bedeutet das konkret?«

Hilde zupfte unruhig an einem Faden, der sich aus ihrem Überwurf gelöst hatte. »Ich möchte Sie nicht vergraulen, Edda, verstehen Sie mich da nicht falsch. Sie haben zuerst gebucht, und das würde ich auch nicht übers Herz bringen. Aber der andere Gast …« Sie holte tief Luft, als müsse sie sich wappnen. »Er kommt aus Bayern. Zwischen seinem Heimatort und diesem Haus liegen fast tausend Kilometer. Das ist eine halbe Weltreise, wenn Sie mich fragen.«

Ihre Stimme hatte einen hohen, atemlosen Ton angenommen. Das konnte nur eins bedeuten, oder? »Sie meinen, er ist bereits hier? Das wollen Sie doch eigentlich sagen, richtig?«, fragte ich.

»Eigentlich wollte ich das sagen, ja«, bestätigte Hilde meinen Verdacht. Ihr schwarzer Dutt leuchtete im hellen Sonnenlicht, das beinahe vergessen machte, wie das Gewitter in der Nacht über Land und Meer getobt war. Ich hatte nur darauf gewartet, von dem Sturm nach Oz geflogen zu werden. Oder ins Wunderland. In einen Wind des Vergessens mit einem Drink in der Hand, der mich noch kleiner machte, als ich mich ohnehin fühlte.

Ich zog den Gürtel des Morgenmantels wie eine schützende Hülle aus Samt so eng um meine Hüften, dass ich kaum noch atmen konnte.

»Und jetzt?«, fragte ich.

»Hm«, brummte Hilde und verjagte ihren schwarzen Kater, der sich an unseren Beinen vorbei in mein Haus drängen wollte. Er fauchte.

»Gibt es keine anderen Ferienwohnungen hier? Oder Hotels? Iglus?« Ich wollte die Stimmung auflockern.

»Alle belegt. Sie müssen verstehen, in diesem Dorf haben wir nicht viele Unterkunftsmöglichkeiten, und er will unbedingt im Ort bleiben … Ich habe schon herumtelefoniert. Das war der erste Gedanke, den ich heute Morgen hatte.« Nun wirkte sie so unglücklich, dass sich mein Magen schmerzhaft zusammenzog, weil selbst mir das nicht entgehen konnte. Ich kannte diese Miene von früher, wenn ich mich mit meinem Kellerspiegelbild unterhalten hatte.

»Na ja«, murmelte ich lahm. »Es gibt ja zwei Schlafzimmer, nicht wahr?«

Augenblicklich hellte sich Hildes Gesicht so sehr auf, dass sie mir womöglich um den Hals gefallen wäre, wenn ich nicht die Brötchentüte im Arm gehalten hätte.

»Ach Kind, Sie würden mir solch einen Gefallen tun … Wenigstens so lange, bis ich eine andere Unterkunft gefunden habe. Sie könnten die Tage selbstverständlich kostenfrei an Ihren Urlaub dranhängen, wenn Sie möchten.«

»Ich hoffe, Selbiges gilt auch für mich«, sagte eine eisige Stimme hinter Hilde. Dann tauchte ihr Besitzer neben meiner Vermieterin auf. Ein Mann mit hagerem Gesicht und harten dunkelblauen Augen, die so gar nicht zu den Lachfältchen darum herum passen wollten. Diese Augen sind zwei Löcher, schoss es mir durch den Kopf. Zwei blaue Löcher, die das Universum verschlingen und mich gleich mit. Tief durchatmend streckte ich ihm meine Hand entgegen, die er geflissentlich ignorierte.

»Da bucht man Urlaub, um allein zu sein, und findet sich in einer WG wieder.«

Spätestens jetzt stellte ich fest, dass ich seine Stimme nicht mochte. Sie war nasal. Der Mann verstümmelte die Wörter, die er fast schon ausspie, und verschandelte die Sprache, mit der man doch so viel anstellen konnte.

Hilde trat einen Schritt zur Seite, und plötzlich verdunkelte sein Schatten den Hauseingang. Es war nur ein menschlicher Umriss, kaum einen ausgestreckten Arm breit, aber als ich die Tür zur Gänze öffnete, um Platz zu machen, hatte ich das Gefühl, dem leibhaftigen Unglück gerade Eintritt in mein Haus gewährt zu haben. Der Mann hatte etwas an sich, das mich dazu bringen wollte, nach draußen in die Sonne zu laufen.

»Wurde auch Zeit«, sagte der Mann. »Sebastian Winkler.«

»Ich bin Edda«, stellte ich mich vor.

Und dann standen wir da.

Zu zweit fremd.

4.