Dein Name - Navid Kermani - E-Book

Dein Name E-Book

Navid Kermani

4,6

Beschreibung

Am 8. Juni 2006 beginnt Navid Kermani sein neues Buch, und es wird einer der ungewöhnlichsten Romane unserer Zeit. Hier schreibt einer über alles, was es zu wissen gibt über sein Leben und das Leben überhaupt: die Gegenwart und die Vergangenheit seiner Familie, die Erinnerung an gestorbene Freunde und die mitreißende Lektüre Jean Pauls und Hölderlins. Die Geschichte seines Großvaters, der von Nahost nach Deutschland ging, wird zum Herzstück des Romans. Immer wieder drängt sich dem Romancier der entscheidende Moment dazwischen: der des Schreibens. „Dein Name“ ist ein Roman, der das Privateste ebenso in den Blick nimmt wie die Geschichte, in der wir leben - ein Buch, das unser Bild der Gegenwart nachhaltig verändern wird.

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Hanser E-Book

Navid Kermani

DEIN NAME

Roman

Carl Hanser Verlag

Der Autor dankt der Villa Massimo für das Jahresstipendium 2008, dem Kulturwissenschaftlichen Kolleg Konstanz für ein Fellowship im Sommer 2009 sowie der Stiftung Mercator für das Senior Fellowship am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen seit Oktober 2009.

ISBN 978-3-446-24403-0

2. E-Bookversion Dezember 2014

© 2011 Carl Hanser Verlag München

Alle Rechte vorbehalten

Redaktion: Christian Döring

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Unser gesamtes lieferbares Programm

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Es ist Donnerstag, der 8. Juni 2006, 11:23 Uhr auf dem Laptop, der einige Minuten vorgeht, also 11:17 Uhr ungefähr oder, da er den Satz noch schreibt, 11:18 Uhr. Ein Schreiner, der mit achtundsiebzig Jahren so alt ist wie der Vater von Navid Kermani, hat eine Schreibtischplatte angefertigt und war so freundlich, vom Baumarkt zwei Malerböcke mitzubringen, auf die sie vorhin die Platte legten. In einer guten halben Stunde wird Navid Kermani im Rundfunk eine Reihe besprechen, die nach dem Heiligen fragt, sechs Sendungen über Sex, Barmherzigkeit, Rausch, Musik, Macht und Sterben, sechsmal das Heilige als Tuwort. Wer es ausspricht, überführt sich der Lüge, sagte er der Redakteurin gestern am Telefon. Die Erklärungen, die er sich für Lesungen zurechtlegt, verleiten in der Wiederholung dazu, sie selbst zu glauben. Im Bad seines neuen Büros, das eine Wohnung werden könnte, läuft die Waschmaschine, die der Vater vorgestern repariert hat. Der Vater wird sich über die Nachricht freuen, daß die Waschmaschine nicht mehr leckt. Die Sonne scheint auf die frisch bepflanzten Blumentöpfe des Balkons, wiewohl Navid Kermani an den nackten Füßen noch friert. Der Schreibtischstuhl, den er als Student ohne Sitzbrett beim Trödelhändler gekauft, selbständig erneuert und seitdem als einziges Mobiliar in alle seine Arbeitszimmer getragen hat, ist noch stabil genug, die Balkontür offenzuhalten. Der Rücken, genau gesagt ein Nerv rechts neben dem Brustwirbel, erlegt ihm längst teure Gesundheitsmöbel auf. Später am Tag wird das Regal geliefert, dann bringt er seine Frau zum Arzt, die letzte Woche außerdem an der Achillessehne operiert worden ist, holt die Tochter von der Schule ab und geht, wenn noch Zeit ist, ins Museum, weil er für ein Benefizbuch über ein Gemälde nachdenken soll. Neben Funk und Fernsehen nimmt auch der Kollege teil, der ihn vorgestern abend im Büro besuchte, um den literarischen Salon zu besprechen, den sie in der kommenden Spielzeit moderieren. Die organisatorischen Fragen klärt Navid Kermani morgen nachmittag mit der schönen Direktrice, die ihn vor dem Eröffnungsspiel besucht. Wüßte er bereits, daß er einen Roman schreibt, würde er an dieser Stelle eine Affäre erfinden. Noch ist Gelegenheit: Nach Jahren wieder werden sie allein sein im neuen Büro, in dem auch eine Matratze liegt. 11:31 Uhr auf dem Laptop, also 11:25 Uhr ungefähr. Er schaut ein weiteres Mal nach, ob das Bad trocken geblieben ist. Es war dumm von ihm, vorhin die Waschmaschine angestellt zu haben, denn jetzt muß er sie beaufsichtigen. Da um fünf die Putzfrau zum ersten Mal kommt, braucht er das Geschirr nicht zu spülen. Er hat sie vorhin bereits einen Block entfernt an der Tür des Hauses getroffen, in dem die Familie lebt. Sie hatte jemanden vom Flughafen abgeholt, ihren Bruder?, ihren Freund?, und gefragt, ob sie den Koffer im Hof abstellen dürfe. Er riet ihnen, den Koffer in den Flur des Hinterhauses zu rollen, damit er nicht geklaut würde. Sie spricht Spanisch mit ihm, obwohl er es kaum noch beherrscht. Er ist jedesmal stolz, wenn sie sich trotzdem verständigen. Es tut gut, wieder zu schreiben, was auch immer, Hauptsache, die Zeit vertreiben, über die er nach jedem Buch erschrickt. Er könnte die Kartons ausräumen oder die unveröffentlichten Erinnerungen seines Großvaters lesen, die ihm in die Hände gerieten, als er die Regale in seiner Wohnung leerräumte; statt dessen wartet er darauf, bis er wieder einen ersten Satz geschrieben hat. Wohl hat er dem Kollegen viel zu früh gesagt, was er sich vorgenommen, doch sich die Geschwätzigkeit schon oft bewährt, sosehr er sich zunächst ärgerte. Indem er ein Buch ankündigt, gerät er in Zugzwang, tatsächlich zu beginnen. Jetzt muß er zum Rundfunk, um das Heilige zu besprechen, obwohl die Waschmaschine noch läuft. Er wird beten, daß sie nicht das Bad überschwemmt. Sobald er kann, fährt er fort, wahrscheinlich erst heute abend, nachdem er die Tochter vom Judo abgeholt und die Frau zum Therapeuten gefahren hat. Er wird die Tochter mit ins Büro nehmen, damit sie hier schläft und er schreibt, was auch immer, Hauptsache, die Zeit vertreiben.

Den Abend vor dem Eröffnungsspiel vertändelte er, indem er die Fernbedienung für den Fernseher einrichtete und vor Freude, daß es ihm gegen alle Erwartung gelang, nach Jahren wieder das Nachrichtenjournal im ersten Kanal und anschließend einen Komödianten anzuschauen, der allerdings einen noch schlechteren Tag hatte. Ohne den Fernseher leiser zu stellen, klappte er den Laptop wieder auf und klickte sich, als die Werbung eines elektronischen Antiquariats aufleuchtete, von Buch zu Buch zu den sämtlichen Werken, Briefen und Dokumenten Friedrich Hölderlins, die er für 49,99 Euro zuzüglich Versandkosten bestellte, während er FrAndrea33 im Chat idealere Orgasmen auf dem Perserteppich bereitete, als er es in Wirklichkeit je vermöchte. Der erste Kanal strahlte bereits die Spätnachrichten aus. Navid Kermani ist müde, weil er wie jede Nacht nicht einschlafen konnte und wie jeden Morgen die Tochter zur Schule bringen mußte. Das wichtigste, nein, das vorerst einzige: die Handlung des Gedächtnisses herauszufinden, das er verrichten will. Erst danach wird er sich mit dem nächsten Problem befassen, »schlafen, wenn man müde ist, essen, wenn man hungert«, wie der Meister Baso Matsu im achten Jahrhundert die Lehre des Zen-Buddhismus zusammenfaßte. Aus Gründen, die er zu benennen sucht, gefällt ihm der Anfang. Setzen Seelenreisen stets in metaphysischem Schmerz ein, wäre seine nur die gewöhnlichste Not, die Liebe am Boden, zugleich die Frau schwer erkrankt, so daß der Gedanke an Trennung nicht ausgesprochen werden darf, das gemeinsame Kind allein zu versorgen, fehlende Anerkennung, tiefgreifende Selbstzweifel, finanzielle Engpässe, Lohnarbeiten, die Tage von Terminen zerstückelt, die er nicht selber festlegt. 10:51 Uhr auf dem Laptop, also Viertel vor ungefähr. Weil er es gestern nicht mehr geschafft hat, muß er heute ins Museum, um sich für ein Gemälde zu entscheiden. Seine Augen brennen von der Müdigkeit oder vom Heuschnupfen, der ihn letztes Jahr zum ersten Mal plagte. Dieses Jahr mußte er nur zwei Tabletten nehmen, heute dann wahrscheinlich die dritte. Allerdings war er dieses Jahr auch noch nicht im Bergischen Land, wo er die umgebaute Scheune einer ehemaligen Weberei angemietet hat, unten Küche und Bad, darüber ein Dachboden vollständig aus Holz, schräge Wände, Ausblick auf Wiesen und Kühe. Heute wollte die Familie fahren, aber da die Frau mit ihrem Gips einen unabweisbaren Grund vorwies, verhindert zu sein, bleibt die Familie doch in Köln und schaut das Eröffnungsspiel mit Freunden auf der Terrasse. Er selbst wäre trotz des Heuschnupfens gefahren, um die Tochter zu belügen, daß sie wieder eine Familie sind. Letztes Jahr verschwanden die Pollen, die ihm zusetzen, Anfang oder Mitte Juni von einem auf den anderen Tag, auf den er dieses Jahr also nur warten müßte, um sich wieder aus der Stadt herauszutrauen. Er wollte nur fahren, gesteht er sich ein, damit die Frau wieder nein sagen mußte. Aufs Klo muß er noch, danach stöpselt er das Kabel in die Buchse und lädt ein weiteres Mal die E-Mails herunter. Im Radio läuft Beethoven, Klavierkonzert, das erste, zweite, dritte oder vierte. Normalerweise hört er keine Musik, wenn er schreibt. Diesmal stört es ihn nicht. Die Bücher sind schon eingeräumt, jetzt fehlen noch die Unterhosen.

Der Vater hat gestern auf dem Anrufbeantworter die Nachricht hinterlassen, daß die Tante krank sei. Indem Navid Kermani mit einem Satz, den er später ebenso streichen wird wie alle Namen außer von Toten und von Dichtern, indem er erklärt, wer diese Tante ist, wendet er sich an einen Leser. Noch einen Absatz zuvor dachte er daran sowenig wie in den Tagebüchern des Heranwachsenden, der sie in der Schublade einschloß. Allein das Bewußtsein, daß den Satz einmal ein anderer lesen wird, verändert ihn, deshalb der Impuls, die Tante mit Namen und wesentlichen Charakterzügen vorzustellen. Es ist kein Tagebuch. Ein Gedächtnis will dauern, auch wenn niemand daran teilhaben wird. Für wen auch immer will Navid Kermani festhalten, was auf Erden geschieht. Er meint nicht die Ereignisse des Tags, die bei einem Autor, der nichts mehr zu Papier bringt, aus einem neuen Regal oder einer Radiosendung bestehen mögen, auch nicht den Alltag eines Manns, dessen Frau ein Pflegefall und dessen Ehe ein Pflichtanteil geworden ist. Schon der Heranwachsende hatte kein Bedürfnis, in seinem Tagebuch Chronik zu führen, und als Vater vergißt er bei Ausflügen und Urlaubsfahrten notorisch die Kamera. Die Schmierzettel wirft er später fort, sie dienen nur dazu, die Handlung zu finden für das Gedächtnis, das er verrichten will. Aus Furcht, schon bald der Tante einen Namen geben zu müssen, zögert er den Anruf hinaus. Immerhin erwähnte der Vater, daß sie vormittags nicht erreichbar sei. Wenn sie selbst zum Arzt gehen kann, liegt sie jedenfalls nicht im Sterben. Andererseits muß es dringend sein, wenn sogar der Vater ihn bittet, in Teheran anzurufen. Die Eltern sind sonst unsentimental bis zur Erbarmungslosigkeit, wenn es ums Altern anderer Leute geht. Er kann die Frage nicht unterdrücken, wann er die Eltern bedenken wird und ob den Vater oder die Mutter zuerst. Die Tochter drängt am Telefon, er solle sie endlich abholen, um mit ihr ins Freibad zu gehen. Viertelstunde noch, sagt er. Zehn Minuten setzt sie durch. Er muß sich beeilen. Ich will den Roman nicht schreiben.

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