Große Liebe - Navid Kermani - E-Book

Große Liebe E-Book

Navid Kermani

4,6

Beschreibung

Das erste Mal hat er mit fünfzehn geliebt und seitdem nie wieder so groß: Im Laufe von wenigen, viel zu wenigen Tagen erlebt ein Junge alle Extreme der Verliebtheit, vom ersten Kuss bis zur endgültigen Abweisung. Im Mikrokosmos eines Gymnasiums Anfang der 80er Jahre und vor dem Hintergrund der westdeutschen Friedensmärsche führt Navid Kermani das zeitlose Schauspiel der Liebe in ihrer ganzen Majestät und Lächerlichkeit vor. Die Schilderung der ersten Blicke, Berührungen und Abschiedsbriefe verknüpft er mit den Erzählungen der arabisch-persischen Liebesmystik. Für den Leser öffnet sich ein Gang durch irdische und göttliche Seelenlandschaften, der fast unbemerkt Kulturen und Jahrhunderte überbrückt.

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Hanser E-Book

Navid Kermani

Große Liebe

– Roman –

Carl Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-24576-1

© Carl Hanser Verlag München 2014

Umschlaggestaltung: Peter-Andreas Hassiepen, München.

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

– 1 –

Ein König reist durchs Land, in seinem Gefolge Minister, Generäle, Soldaten, Beamte, Diener und die Damen seines Harems. Am Wegrand sieht er einen alten, zerlumpten Mann kauern, einen Narren vielleicht. »Na, du würdest wohl auch gern ich sein«, ruft der König spöttisch von seinem Elefanten herab. »Nein«, antwortet der Alte, »ich möchte nicht ich sein.«

– 2 –

Das erste Mal hat er mit fünfzehn geliebt und seither nie wieder so groß. Sie war die Schönste auf dem Schulhof, stand in der Raucherecke oft nur zwei oder drei Schritte entfernt, ohne ihn zu beachten. Weil den Schülern der unteren Klassen verboten war, sich zu den Rauchern zu stellen, geschweige denn selbst eine Zigarette anzuzünden, verhielt er sich so unauffällig wie möglich, verhielt sich zwischen den breiteren Rücken wie ein blinder Passagier still. Den Kopf hob er nur an, um kurz nach den Lehrern, noch kürzer nach ihr zu schielen, die unnahbar für ihn stets den Mittelpunkt ihres Grüppchens zu bilden schien. Sowenig Hoffnung er sich machte, ihre Gunst je selbst zu erlangen, brachte ihn die Sorge dennoch um den Verstand, sie könne einem der Abiturienten, die sie umringten, mehr als nur wohlwollen. Zur Beruhigung redete er sich ein, daß sie ihre offenbar ansteckende Heiterkeit und ihre zweifellos erlesenen Worte gerecht mal diesem, mal jenem zudachte. Im Blick behielt der Junge dabei stets die Finger der Abiturienten, ob sie nicht heimlich die Hände der Schönsten berührten, ihren Rücken, gar ihren Po. Zugleich erwartete er bang, daß jemand sich umdrehte, um zu fragen, was er in der Raucherecke suchte. Mehrfach hatten ihn die Lehrer bereits vertrieben, deren ärgerlicher oder auch nur erstaunter Blick genügte, damit er sich verzog. Die Peinlichkeit ersparte er sich lieber, vor den Augen der Schönsten aus dem Pulk gezogen und zu den Gleichaltrigen verwiesen zu werden. Peinlich war dem Jungen seine Lage schon genug, da er sich einbildete, daß alle Raucher ihn beäugten, in jeder Sekunde ihn, obwohl sie ihm doch – aber hier setzte der logische Schluß aus – ihre Rücken zuwandten.

– 3 –

Weshalb denke ich seit vorgestern an den Fünfzehnjährigen, nein, weshalb schrieb ich gestern über ihn, denn gedacht habe ich seiner oft, vielleicht sogar täglich, seit ich vor dreißig Jahren der Junge war, der die Pausen in der Raucherecke verbrachte, obwohl er weder rauchte noch einen der älteren Schüler kannte, verzagt, sehnsüchtig und mit einem Herzen, das so laut schlug, daß er an manchen Tagen erschrocken seine rechte Hand auf die Brust legte? Als ich vorgestern bei dem persischen Dichter Attar die Anekdote von dem Alten las, der nicht ich sein möchte, überfiel mich der Gedanke, daß eben darin, in dem Wunsch, sich loszuwerden, meine erste, niemals größere Liebe gegründet sei. Später nämlich, später, wenn man sich gefunden zu haben meint, will man sich doch oder wollte jedenfalls ich mich behalten, bestand ich auf mir und erst recht in der Liebe. Der Leser wird einwenden, ein unbedarfter Junge sei nicht mit einem heiligen Narren zu vergleichen, der Ichverlust, den er als Pubertierender womöglich anstrebe – einmal beiseite gelassen, daß man die Pubertät gewöhnlich gerade im Gegenteil als eine Ichsuche beschreibt –, der Ichverlust grundsätzlich anderen Gehalts als auf dem mystischen Weg, gänzlich banal. In der Hoffnung habe ich gestern zu schreiben begonnen, daß ich den Leser widerlege.

– 4 –

Der Leser darf sich den Jungen nicht eigentlich befangen, verwirrt, schwachmütig vorstellen. In seiner eigenen Klasse bewegte er sich mit breiter Brust, galt manchen Mitschülern als überheblich, den Lehrern als aufmüpfig, das Wort der Eltern mißachtete er oft. Auch war er nicht ganz ohne Erfahrung, zog mit seinen langen dunklen Locken durchaus die Blicke auf sich. Mit gleichaltrigen Mädchen war er schon mehrmals »gegangen«, wie es noch hieß. Daß er mit keiner geschlafen hatte, war für das Alter nicht ungewöhnlich, beunruhigte ihn jedenfalls kaum. Sosehr ihn das Geheimnis beschäftigte, das die Vereinigung zweier Körper ihm war, ahnte er zugleich dessen Bedeutung im Leben und hatte sich vorgenommen, auf eine Verbindung zu warten, die den Namen Liebe verdiente. An die Schönste des Schulhofs dachte er nicht. Als er die Pausen bereits in der Raucherecke verbrachte, dachte er nicht im Traum oder genau gesagt ausschließlich unter der Bettdecke daran, sie jemals zu küssen, sie nackt vor sich zu sehen. So viel Wirklichkeitssinn besaß er, um zu erkennen, daß die Schönste sich nicht für jemanden interessieren würde, der noch zu jung für die Raucherecke war. Der Leser darf eine plausible Erklärung erwarten, warum es den Jungen dennoch zwischen die breiteren Rücken zog, wo er sich tatsächlich so befangen, verwirrt und schwachmütig fühlen mußte, wie ich es auf der gestrigen Seite beschrieb. Seit vier Tagen versuche ich mir den Hergang zu erklären, meine Erinnerung ähnelt hier einem Film, aus dem ein Zensor die entscheidenden Szenen herausgeschnitten hat. Ich habe vor Augen, wie der Junge in einem langen Gang, der zwei Gebäude des Gymnasiums verband, auf die Schönste zulief, wie ihre Blicke sich trafen und sofort wieder trennten, sich ein zweites und drittes Mal begegneten; ich vergesse nie das Lächeln, das er auf ihren Lippen wahrzunehmen meinte, bevor sie aus dem Sichtfeld trat; ich erinnere mich vage der süßlichen Phantasien, denen er sich auf den restlichen Metern des Gangs und noch im Unterricht überließ, ohne länger als Sekunden an die Erfüllung zu glauben, er als ihr Geliebter, sie beide Hand in Hand, die erstaunten Blicke seiner Klassenkameraden. Danach steht er im Film, den der Zensor geschnitten hat, bereits zwischen den breiteren Rücken. Nur mutmaßen kann ich, wieviel Überwindung es ihn kostete, sich in die Raucherecke zu stellen und, mehr noch: jede Pause wiederzukehren, sofern keiner der strengen Lehrer Aufsicht führte, jede Pause die Blicke zu ertragen, die über die Schultern geworfen wurden, jede Pause dem getuschelten Spott zu trotzen, den er zu hören glaubte, zwei oder drei Schritte von der Schönsten entfernt, unter dem Schattendunkel ihres Haars – gut, sie war blond – ihr Gesichtchen eine Lampe oder war auch eine Fackel, umflattert von Rabengefieder, wie der Dichter Nizami im 12. Jahrhundert über die sagenhafte Leila schrieb: »Wessen Herz hätte beim Anblick dieses Mädchens nicht Sehnsucht gefühlt? Aber Madschnun fühlte mehr! Er war ertrunken im Liebesmeer, noch ehe er wußte, daß es Liebe gibt. Er hatte sein Herz schon an Leila verschenkt, ehe er noch bedenken konnte, was er da weggab.«

– 5 –

Einmal kam Madschnun an Leilas Haus vorbei. Da er zum Himmel schaute, sagte man ihm: »Madschnun, schau nicht zum Himmel, sondern schau zur Mauer Leilas!« Er entgegnete: »Ich begnüge mich mit einem Stern, dessen Licht auf Leilas Haus fällt.«

– 6 –

Bevor ich mit der Liebe des Jungen fortfahre, muß ich auf den Gang zurückkommen, der zwei Gebäude des Gymnasiums verband. Mir ist nämlich klargeworden, daß er sich das Lächeln der Schönsten unmöglich nur einbildete, da er die winzige Lücke zwischen ihren Vorderzähnen bereits bei ihrer ersten Begegnung entdeckt, sie folglich – dreißig Jahre später gelingt der logische Schluß einwandfrei –, sie folglich im Vorübergehen ihren Mund geöffnet hatte. Wie konnte ich das vergessen! Die Zahnlücke sollte später noch so oft zum Thema werden, weil sie selbst beim Sprechen darauf zu achten schien, die Lippen nicht mehr als nötig zu bewegen, und erst recht sich zu lachen genierte. Wann immer er ihre Scham bemerkte, beschwor er wortreich die Vollkommenheit, die ihrem Gesicht ebender einzige Makel verliehe, der deshalb kein Makel wäre, sondern dem Muttermal der Geliebten in der persischen Poesie gliche. Zugleich neckte er sie, im liebevollsten Ton, suchte sie zum Lachen zu bringen, indem er beim Sprechen ihre beinah geschlossenen Lippen karikierte oder Witze erzählte, die er sich ihretwegen gemerkt, sie im Bett sanft an der Seite oder mit den Zehen an der Fußsohle kitzelte. Kamen endlich ihre Zähne strahlend zum Vorschein, eine Hand, eine Elle oder höchstens eine Armlänge von seinen Augen entfernt, strahlte er vor Glück jedesmal selbst, strahlte so kindlich begeistert und fast triumphal, daß sie ihn spätestens jetzt ohnehin angelacht hätte. Und wenn er sie küßte, ach – ich glaube noch die Wölbung zu fühlen, die ihre Zahnlücke auf seiner Zunge bildete. Er liebte das, mehr als alle Verzückungen liebte er den Moment, in dem seine Zunge ihre Zähne entlangglitt und dann plötzlich, als sei’s nicht erwartet gewesen, in den Spalt drang, dieser Moment, in dem die weiche, bewegliche Zunge den harten, glatten Schmelz an zwei Seiten spürte, und sei’s nur ein paar Millimeter tief. Wie in einem Meer versank er darin, genau das meinte Nizami doch wohl. Allerdings bin ich mit ihrer Liebe jetzt schon zu weit fortgefahren.

– 7 –

Recht überlegt, kann der Fünfzehnjährige, der ich war, die Pausen nur einige Tage, kaum mehr als eine Woche stumm in der Raucherecke zugebracht haben. Es war die Aufregung, durch die jede Minute sich länger anfühlte, es ist das Gedächtnis, das die Zeit dehnt. Nie gab die Schönste ein Zeichen, sich an die Begegnung im Gang zu erinnern, der zwei Gebäude des Gymnasiums verband, mit keinem Blick bedeutete sie ihm, sie anreden zu dürfen. Die Lücke, die ihre Schönheit vervollkommnete, bekam er schon gar nicht zu sehen. Recht überlegt, muß sie den Jungen erkannt haben, der von einem auf den anderen Tag in der Raucherecke stand, obwohl er weder rauchte noch je in ein Gespräch verwickelt war, sich wahrscheinlich also unerlaubt unter die Älteren mischte. Alle anderen Abiturienten fragten sich vermutlich nur, wer dieser Junge sei; sie hingegen wird bereits geahnt haben, daß er ihretwegen aufgetaucht war. Der Junge selbst glaubte naiv, von ihr nicht beachtet, nicht einmal bemerkt zu werden, und war folglich enttäuscht, daß allein er sich an ihre Begegnung erinnerte. Dabei konnte er nicht ernsthaft auf ihre Bekanntschaft, schon gar nicht auf eine Verbindung gehofft haben, die den Namen Liebe verdiente. Was ihn jede Pause zwischen die breiteren Rücken zog, war nur das Verlangen, sie aus den Augenwinkeln zu betrachten, bestenfalls noch die Aussicht auf einen weiteren Blick, ein weiteres Lächeln. Vermessen wäre es, schon von Verliebtheit zu sprechen, mag auch Liebe in der persischen Dichtung zwingend mit der ersten Begegnung einsetzen. Recht überlegt, war es anfangs kaum mehr als ein Kitzel, den er suchte, Mutprobe und Abenteuerlust. Später, als sie ihn schon verlassen hatte, reichte sie den Vorwurf nach, er habe sie nicht wirklich geliebt, und fügte seiner Trostlosigkeit so die Empörung noch hinzu.

– 8 –

Das ist überhaupt die Frage, die mich bedrängt, mehr bedrängen sollte jedenfalls als der Beweis mystischen Hintersinns: Ist das Gefühl des Fünfzehnjährigen, so herrlich und furchtbar es auf den folgenden Seiten explodieren wird, ist es überhaupt Liebe zu nennen, gar die größte Liebe seines Lebens, wie ich bis vorgestern überzeugt war? Jetzt muß ich doch schon den Brief erwähnen, den er vor dreißig Jahren in einer Kiste abgelegt, ohne je ihn wieder hervorzuholen. Er liegt immer noch dort, nur daß die Kiste durch einen Umzugskarton und erst letztens durch eine Holztruhe ausgetauscht wurde, liegt immer noch an seinem Platz unter allen Briefen, die er seither empfing (ich achtete beide Male darauf, die Umschläge nicht auszuschütten, sondern mit beiden Händen von unten zu greifen, damit ihre Chronologie ungefähr blieb). Soweit ich mich erinnere – vielleicht dramatisiert das Gedächtnis hier wieder –, ist der Brief eine zornige Abrechnung. Das Scheitern ihrer Liebe – wobei es in seinem Fall ja keine Liebe gewesen sei – schrieb sie allein ihm zu; er habe die Blume zertreten, er habe sich als der Kostbarkeit unwürdig erwiesen, er habe fürs Leben so viel noch zu lernen – ungefähr in der Art muß ihr Brief geklungen haben, in dem ich heute vermutlich Spuren ihrer Lieblingslektüren entdeckte. Damals verstand er kein Wort. Sie war es doch gewesen, die ihn von sich gewiesen und in der Raucherecke die anderen Abiturienten um sich postiert hatte, damit er sie gar nicht erst anzusprechen wagte, die sich am Telefon verleugnen ließ. Sie war es, die sich von einem auf den anderen Tag kalt, ohne Erbarmen, mitleidlos verhielt. Wie ein lästig gewordenes Tier hatte sie ihn vor die Tür gesetzt, so fühlte es sich für ihn an, wie einen Hund noch mit Steinen beworfen, damit er sich aus ihrer Gasse verzog (auch er hatte Lieblingslektüren). Und als er dann fortblieb – aber nur, weil er krank lag, die Schule versäumte wochenlang –, traf auch noch ihr Brief ein, eine Antwort vermutlich auf Flehschreiben, an die ich allerdings keine Erinnerung mehr habe, und erklärte ihn zum Schuldigen. Ich könnte den Brief hervorholen, die Truhe steht vom Schreibtisch nur drei oder höchstens vier Schritte entfernt im Flur. Den Umschlag habe ich noch vor Augen, gelblich oder gelb geschmückt, das weiß ich nicht, darauf mit braunem Filzstift eine weibliche Schrift, die auf den Jungen überaus erwachsen wirkte. Lieber warte ich mit der Abrechnung, bis ich von der großen Liebe erzählt.

– 9 –

»Ich selbst spüre die außerordentliche Feinheit, die man in der Liebe finden kann«, bekannte der Andalusier Ibn Arabi im 13. Jahrhundert, der bis heute als der größte aller Meister, asch-schaych al-akbar, verehrt wird. »Du empfindest starkes Verlangen, eine durchdringende Leidenschaft, die Liebe als überwältigende Macht, eine völlige Auszehrung, und du wirst daran gehindert, zu schlafen oder deine Nahrung zu genießen. Du weißt weder, in wem, noch, durch wen das geschieht. Dein Geliebter [deine Geliebte] zeigt sich dir nicht auf deutliche Art. Dies ist die köstlichste Gnade, die ich ähnlich einem Geschmack auf der Zunge als unmittelbaren Sinneseindruck erlebe.«

– 10 –

Das Gymnasium lag an einem Flüßchen, das kaum mehr bemerkt durch die Stadt rann, weiter abwärts gar unsichtbar, da von der Hauptstraße überbaut, und die Raucherecke war genau genommen keine Ecke, sondern einfach der Platz vor und hinter einer Maueröffnung, durch die man zum Ufer gehen konnte. In seiner späteren Not sollte der Junge noch oft an dem Ufer sitzen, das kein idyllischer Ort war, nur ein kurzes Stück unbefestigter Erde zwischen dem Lager einer Spedition und dem Kundenparkplatz eines Baumarkts; zu der Zeit jedoch, als er die Pausen erstmals stumm in der Raucherecke verbrachte, hatte er noch gar nicht gewußt, daß sich hinter der Schule das Flüßchen verbarg. Von seinem Platz zwischen den breiteren Rücken sah er nur die Bäume und Sträucher hinter der ziegelsteinernen Mauer, manchmal einen der älteren Schüler, der im Gebüsch verschwand oder wieder auftauchte. Als die Schönste des Schulhofs einmal nicht in der Raucherecke erschien, nutzte er die Gelegenheit, zu erkunden wohin man durch die Öffnung gelangte. Ich könnte ihm jetzt die Ahnung andichten, dort die Schönste zu finden; in Wirklichkeit hatte er sie für eine Minute gänzlich vergessen, trat durch die Öffnung, beobachtete weitere Grüppchen von rauchenden Schülern, die hier nicht mehr dicht an dicht standen, folgte einem Trampelpfad, der zwischen den Bäumen und Sträuchern entlangführte, und erreichte nach zwanzig, dreißig Schritten den schmalen Uferstreifen, der an manchen Stellen mit Gras bewachsen war. Da entdeckte er sie, einige Meter flußabwärts, fast schon am Zaun der Spedition, sah sie halb von hinten, halb seitlich, auf ihren blonden Haaren die Sonne, die zu der Jahreszeit noch nicht wärmte, jedoch ihrem Kopf mindestens in der Einbildung des Jungen so etwas wie einen Heiligenschein verlieh, sah sie auf einem Stein sitzen, ihr Profil mit der kleinen Nase, die sich an der Spitze wie eine Sprungschanze leicht aufwärts bog, die violette Cordhose nach der Mode der damaligen Zeit, ihr heller Mantel über den Knien, unterm engen Pullover ihre Brüste zwei Hügel mit Türmchen auf den Gipfeln, zwischen schmalen Fingern eine Zigarette, die sie scheinbar gedankenverloren an den Mund führte. An den Mund! Ich bilde mir ein, daß in dieser Minute, bei diesem Anblick, der einer Vision nahekam, die Schönste des Schulhofs leuchtend auf dem Stein, vor ihr das poesielose Flüßchen mit der vierspurigen Straße am gegenüberliegenden Ufer, im Rücken eine Lagerfeuerstelle mit leeren Bierdosen und Wurstpackungen aus durchsichtigem Plastik, als Kulisse die parkenden Lastwagen der Spedition – ich bilde mir ein, daß hier die stille, nicht auf Erfüllung rechnende Sehnsucht in nie gekanntes, allenfalls in seinen Lektüren beschriebenes Verlangen umschlug. Ihr Mund! Wenn er sich nur wieder öffnete für ihn, einmal nur, zu einem Lächeln erst, aber dann für einen Kuß, ja, mindestens für einen Kuß, der Plan fortan: ihr einen Kuß zu entlocken, einen einzigen Kuß. Weiter zu denken, schon an die Verbindung zu denken, die den Namen Liebe verdiente, war er zu aufgeregt, zu versessen auf sein gleichsam sportliches Ziel. Den Verstand brachte er gerade noch auf, daß er sie besser nicht an Ort und Stelle anspräche, da er doch nur stammeln und zittern würde. Sie hatte ihn noch nicht bemerkt.

– 11 –

Er war die zwanzig, dreißig Schritte zurück in die Raucherecke noch nicht sämtlich gegangen, als ihm bereits die Aussichtslosigkeit und, schlimmer für einen Fünfzehnjährigen: Albernheit seines Plans dämmerte, ausgerechnet der Schönsten des Schulhofs einen Kuß zu entlocken, die schon Auto fuhr, bald Abitur machen, danach wahrscheinlich in einer größeren Stadt studieren oder sofort ins Jenseits der Berufswelt umsiedeln würde. Nicht einmal ihren Namen hatte er in Erfahrung gebracht und wähnte sich schon als Eroberer. Zurück zwischen den breiteren Rücken, fühlte er sich noch befangener als üblich, verwirrter, schwachmütiger. Und wenn sie doch einen Freund hatte? Bestimmt hatte sie einen Freund außerhalb des Gymnasiums – einen älteren Freund, der einer Arbeit nachging oder einem Studium –, daß sie den Mitschülern ihre offenbar ansteckende Heiterkeit und ihre zweifellos erlesenen Worte gerecht zudenken konnte. Bestimmt hatte sie schon viele Freunde gehabt. So erregt er sich vorhin, keine drei Minuten war’s her, am Flüßchen ausgemalt hatte, ihren Mund, ihre Brüste, ihren Leib von Kopf bis Fuß zu berühren, so konkret quälte ihn plötzlich die Vorstellung, daß einem anderen vergönnt war, worauf er niemals die Aussicht besaß. Bis jetzt war es eher ein Spiel gewesen, eine Schrulle, ein Abenteuer. Er war, dachte er verächtlich über sich selbst, nicht mehr als ein Kind, das den Kopf ans Schaufenster eines teuren Geschäftes drückt. Den Blick gesenkt, fühlte er wieder die Augen der älteren Schüler auf sich gerichtet. Schon ihre Schuhe! Die Schüler der Oberstufe trugen schwarzglänzende Schuhe, die vorn spitz zuliefen wie in den Musikvideos jener Zeit, andere hatten Stiefel aus hellem Wildleder an, Clogs oder trotz der kühlen Temperatur Sandalen mit orthopädisch ausgewuchtetem Fußbett. Er selbst gab sich noch zufrieden mit Turnschuhen, die seine Mutter ihm kaufte. Dreißig Jahre später mag man die Bedrängnis des Fünfzehnjährigen genauso belächeln wie eine kuriose Mode, an die nur noch Photos im Familienalbum erinnern. Von dem Flüßchen zurückgekehrt, an dem er die Schönste des Schulhofs erstmals länger betrachtet, meinte er eben in den Schuhen, ich will nicht sagen: den Ausweis, aber doch ein Symbol, ein augenfälliges Merkmal des Menschheitsteils zu erkennen, dem er nicht angehörte. Diesmal trottete er schon vor der Pausenglocke in seine Klasse zurück.

– 12 –

Weil Leilas Eltern sich weigerten, Madschnun in die Nähe ihrer Zelte zu lassen, borgte er sich von einem Schäfer ein Schaffell und bat, sich unter die Herde mischen zu dürfen. Als sie an Leilas Zelt vorbeikamen, sah Madschnun sie und verlor das Bewußtsein. Der Schäfer trug ihn von den Zelten fort und schüttete ihm Wasser ins Gesicht, um seine brennende Liebe abzukühlen. Seit diesem Tag wanderte Madschnun nur mit einem Schaffell bekleidet durch die Wüste. Jemand fragte ihn, warum er keine Kleider trage. »Dem Schaffell verdanke ich es, daß ich einen Blick auf Leila werfen durfte«, antwortete Madschnun: »Kein Gewand auf Erden könnte kostbarer sein.«

– 13 –

Die Brücke hinter sich sprengte der Junge nach der Doppelstunde Mathematik, die auf die erste der beiden großen Pausen folgte. Von seinem Platz in der letzten Reihe zum Fenster hinausschauend, hatte er den Unterricht wohl gehört, aber wie man Geschnatter in einer fremden Sprache oder Verkehrsrauschen hört. Einmal hatte ihn der Lehrer angeredet, ihm offenbar eine Frage gestellt, da hatte der Junge nur einen entsetzten Blick zustande gebracht, den Mund weit geöffnet, die Lippen erstarrt. Der Lehrer hatte wohl etwas Spöttisches gesagt, der eine oder andere Mitschüler aufgelacht. In der kleinen Pause zwischen den beiden Mathematikstunden hatte der Junge die Frage seines Sitznachbarn bejaht, ob alles okay sei. Das Bild der Schönsten hatte ihm vor Augen gestanden, wie sie unten am Fluß gesessen, hinter ihr die Lastwagen, am gegenüberliegenden Ufer die vierspurige Straße: die Ausdehnung. Dann sah er sich in seiner ganz kindlichen, nun seltsam bewußt gewordenen, grell erlebten Befangenheit, seiner Verwirrung, seinem Schwachmut zwischen den großen Rücken stehen: die Einschnürung. Qabḍ wa-basṭ, »Einschnürung und Ausdehnung«, nennen die Sufis die beiden Grundzustände, in deren dialektischer Folge sich die mystische, wenn nicht alle Erfahrung vollzieht, bei Hegel ja auch die Geschichte. Ibn Arabi erkannte in qabḍ wa-basṭausdrücklich ein Vorgefühl, das die Seele von den Dingen habe, bevor diese in den Bereich der äußeren Sinne träten. Damit seien Einschnürung und Ausdehnung auch die Vorboten jedweder Liebe, noch bevor diese sich tatsächlich ereigne. Und Ibn Arabi ging noch weiter, indem er die Heftigkeit, Kompromißlosigkeit und Kopflosigkeit der jugendlichen Verliebtheit – ausdrücklich nur diese! – als vergleichbar, als verwandt, als nicht nur den Symptomen nach übereinstimmend mit dem »Ertrinken« (istighrāq) des Mystikers in der alles überflutenden Liebe des Göttlichen bezeichnete. Als die Glocke die Klasse lossprach, sprang der Junge auf und marschierte, noch während der Lehrer seinen angefangenen Satz zu Ende brachte, aus der Klasse. Wie ein Süchtiger, der rückfällig wird, meinte er sich vollständig im klaren darüber zu sein, daß er, wenn er noch einmal die Stellung zwischen den breiteren Rücken bezöge, seine Pausen so lange in der Raucherecke verbrächte, bis sein Verlangen erwidert würde. Zugleich war er wohlgemerkt ohne Hoffnung. Er war also im Begriff, eine Handlung zu tun, deren Zweck sich nach Maßgabe seines Verstandes nicht erfüllen würde. Man könnte religiös gedeutet auch sagen, daß er im Begriff war, närrisch zu werden.

– 14 –

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