Deine Farben an meinem Himmel - Regula Fuchs - E-Book

Deine Farben an meinem Himmel E-Book

Regula Fuchs

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Beschreibung

Als Aidan nach Ägypten reist, um dort eine Heilerin zu treffen, glaubt er nicht daran, dass irgendetwas seine Krankheit noch heilen könnte. Auf wunderschöne Weise findet er zu sich selber und erfährt wie Liebe, Freude und Dankbarkeit das Leben verändern und schliesslich auch Wunder vollbringen können.

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Die Welt ist der Spiegel deiner inneren Überzeugungen. Du kannst nur erfahren, was du auch für möglich hältst. «Laura Malina Seiler»

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

1

Aidan

Sie sassen alle an dem grossen, alten Holztisch und taten so, als wenn nichts wäre. Sie plauderten, gaben vor, fröhlich zu sein. Sie wollten den Eindruck erwecken, als ob dies ein Urlaub war, so, wie sie ihn viele Jahre zuvor hier verbracht hatten. Aber sie alle wussten, dass dies nicht der Fall war. Aidan wusste es, seine zwei Brüder Tristan und James wussten es und natürlich wussten es auch seine Eltern. Okay, wenn er seinen kleinen Bruder James beobachtete, konnte er fast an Normalität glauben. James war noch klein, in zwei Monaten würde er sechs Jahre alt werden. Für ihn war die Welt noch in Ordnung. Er erzählte gerade von seinem Spaziergang zum Fluss und wie er mit dem Kindermädchen Schiffchen gebaut und sie ins Wasser geworfen hatte.

Aidans Gedanken schweiften ab. Er erinnerte sich an all die wunderbaren Sommer hier im Engadin, in der Schweiz. Das grosse Steinhaus mit der bemalten Fassade hatte er schon immer sehr gemocht. Es gehörte schon seit Generationen seiner Familie. Mindestens einmal im Jahr waren sie von Boston, wo er aufgewachsen war, nach St. Moritz in Urlaub gefahren. Es war ein Paradies für Kinder. Keine Autos, keine Strassen, keine Hochhäuser, keine überfüllten Einkaufszentren, nur Wälder und Wiesen, Berge, Seen und Flüsse. Rundherum Natur, so schön wie er es sich nur vorstellen konnte. Sie hatten stundenlang das Wasser in Bächen gestaut, hatten Feuer gemacht und Würste an langen Zweigen gebraten, waren in den Wäldern herumgestreunt und hatten Baumhütten gebaut. Es war eine schöne Zeit. Sein älterer Bruder Tristan war nur knapp zwei Jahre älter als er und so hatten die Jungs immer einen Spielkameraden. Der vierzehn Jahre jüngere James war der Nachzügler in der Familie. Er war noch ein Baby, als die beiden grösseren Brüder ihre Ferien hier in Freiheit genossen.

Aidan bemerkte, wie seine Mutter Mirka ihn beobachtete. Er musste sich bemühen, wenigstens ein paar Bissen herunter zu bekommen. Sonst machte sie sich noch mehr Sorgen. Er wusste, dass sie Kate, die Haushaltshilfe, angewiesen hatte, eines seiner Lieblingsessen zu kochen. Dies kam in den letzten Monaten so oft vor, dass sich ihm schon beim Geruch nach Spaghetti Carbonara der Magen zusammenzog. Tapfer nahm er sich noch ein wenig der Nudeln auf die Gabel und steckte sie sich in den Mund.

«Wollen wir nach dem Essen einen Spaziergang am Fluss machen?», schlug Mirka vor und schaute Aidan erwartungsvoll an. Er wollte sie nicht enttäuschen.

«Ich würde mich gerne ein wenig hinlegen. Ich bin ziemlich erschöpft. Können wir den Spaziergang auf morgen verschieben?», fragte er deshalb in leisem Ton.

Sein Vater sprang sofort ein und versuchte die Situation zu retten.

«Es war ein langer Tag und die Reise war anstrengend.», meinte er. «Wir beide können ja noch ein paar Schritte tun. Lass die Kinder zuerst mal ankommen und sich ausruhen. Morgen ist auch noch ein Tag.»

Richard lächelte seiner Frau zu. Aidan hatte selten erlebt, dass sein Vater nicht souverän über einer Situation stand. Nichts konnte ihn je erschüttern. Er war durch und durch Geschäftsmann, hatte die Lage immer unter Kontrolle, wusste was zu tun und zu sagen war. Herr jeder Lebenslage. So war es auch nicht erstaunlich, dass er schon in jungen Jahren in die Fussstapfen seines Vaters getreten war und das Familienunternehmen übernommen hatte. Unter seiner Leitung war das Unternehmen zu einem weltweiten Imperium gewachsen. Jeder in der Baubranche kannte das amerikanische Grossunternehmen, das sich mit Energieanlagen einen Namen gemacht hatte. Aidan bewunderte seinen Vater für dessen Stärke. Er hatte eine beispielshafte Art, Probleme sachlich und pragmatisch anzugehen und er dachte in Lösungen. Probleme gab es für ihn keine; es gab nur Herausforderungen, die zu lösen waren. Diese Einstellung hatte ihn sein Leben lang begleitet und dahin gebracht, wo er heute stand. Aidans Gedanken verfinsterten sich, wenn er daran dachte, dass er es war, der seinen Vater in den letzten Monaten dazu gebracht hatte, Verletzlichkeit zu zeigen. Er wusste, dass er manche der Sorgenfalten im Gesicht seines Vaters zu verschulden hatte.

Nach dem Essen lag Aidan alleine in seinem Zimmer. Tristan schaute sich mit James im grossen Wohnzimmer einen Film an und seine Eltern waren spazieren gegangen. Er öffnete das Fenster und schaute den Bäumen zu, die sich im Wind bewegten. Auf den hohen Bergen, welche er aus seinem Zimmer sehen konnte, lag noch Schnee. Aidan dachte daran, dass er den nächsten Schnee wohl nicht mehr erleben würde. Er wusste, dass seine Familie es nicht akzeptierte, wenn er so dachte. Alle, seine Eltern, Geschwister, Freunde und auch die Ärzte ermutigten ihn, sagten ihm, dass er die Hoffnung nie aufgeben dürfe, dass er weiterkämpfen müsse. Aber er kämpfte schon so lange. Er hatte alles getan, was sie von ihm verlangten. All die unzähligen Untersuchungen, die Spitalbesuche, die Therapien, die Ärzte und Pfleger. Er strich sich durch seine kurzen blonden Haare und konnte fühlen, dass sie seit der letzten Chemotherapie schon wieder etwas nachgewachsen waren. Ja, dachte er betrübt, seine Haare waren nachgewachsen, aber mit ihnen auch der Krebs. Alles was sie taten, um ihn zu bekämpfen, war sinnlos. Sein Körper war befallen und es war an der Zeit, dass er sich das eingestand. Er wollte nicht über den Tod nachdenken und doch fiel es ihm immer schwerer den Gedanken zu verdrängen. Er hatte gehört, wie sein Arzt mit seiner Mutter gesprochen hatte. Der Arzt befürchtete, dass Aidan in eine Depression fallen könnte. Depression, was für ein grosses Wort. Alle Welt nahm es in den Mund, aber wussten sie, was es bedeutete? Wussten sie, wie es sich anfühlte, wenn man morgens keine Kraft fand, aus dem Bett zu steigen? Wenn man nicht mehr wusste, wie sich Freude anfühlte? Wenn der ganze Körper vor Angst zitterte und man nichts gegen diese Attacken tun konnte? Aidan hämmerte mit seinen Fäusten gegen die Wand. Er war zu jung zum Sterben. Dies konnte es doch nicht gewesen sein. Aber woher sollte er die Kraft nehmen?

Das Ganze hatte vor zwei Jahren begonnen. Aidan hatte gerade sein Studium an der juristischen Fakultät begonnen, als er immer öfter über Müdigkeit und Schwindel klagte. Sie hatten gedacht, dies käme vom Lernen, vom vielen Sport und zu wenig Schlaf. Erst als diese entsetzlichen Schmerzen in den Beinen und Hüften einsetzten, hatte er sich untersuchen lassen. Knochenkrebs, sagten die Ärzte. Die Ableger hatten sich schon überall in seinen Beinen ausgebreitet. Aidan hatte unzählige Ärzte und Spezialisten aufgesucht. Er hatte Chemotherapien mit Stammzellentransplantation, Operationen, erneute Chemotherapien und zuletzt noch die Bestrahlung über sich ergehen lassen. Aber wo immer sie einen Tumor bekämpft hatten, trat an einer anderen Stelle wieder einer auf. Aidans Familie hatte alles versucht. Sie hatten alle Experten im Gebiet Knochenkrebs ausfindig gemacht. Die besten und erfahrensten Ärzte hatten ihn operiert und behandelt, zuerst in den USA und dann in der Schweiz. Seine Eltern gaben nicht auf. Immer wieder hörten sie von neuen Medikamenten und sie liessen nichts unversucht. So waren sie vor einem Jahr nach Zürich gezogen. Sie hatten ein grosses, helles Haus in der Nähe der Uniklinik gemietet. Für James hatten sie eine internationale Schule gefunden und Tristan konnte an der technischen Fachhochschule mit seinem Studium fortfahren. Aidan war auf der örtlichen Universität eingeschrieben, er besuchte aber nur wenige Vorlesungen. Sie versuchten alle, ein normales Leben vorzutäuschen. Aber das war es nicht. Nichts war normal! Es war nicht normal, dass sie ihre Heimat verlassen hatten, es war nicht normal, dass sein Vater jetzt zwischen Boston und Zürich hin und her pendelte und es war nicht normal, dass seine Mutter all ihre Freunde zurückgelassen hatte und sich hier die Tage mit Spaziergängen und Malen vertrieb. Nichts war mehr normal. Aidan wusste, dass seine Familie ihn über alles liebte, aber manchmal fragte er sich, ob sie ohne ihn nicht besser dran wären.

Aidan erwachte. Hatte er schlecht geträumt? Wie spät war es? Er blickte auf die Uhr. Kurz vor Mitternacht. Er musste eingeschlafen sein. Er war zugedeckt und jemand hatte sein Fenster geöffnet. Er spürte die frische Bergluft, die ins Zimmer drang. Jetzt bemerkte er auch, was ihn geweckt hatte. Aus dem Wohnzimmer hörte er eine laute, verärgerte Stimme.

«Das kommt nicht in Frage! Vergiss es! Das werde ich nicht zulassen!», hörte er seinen Vater schreien. «Wir haben noch lange nicht alles versucht. Es wird sich schon eine Lösung finden. Wir lassen uns nochmals von Professor Miller beraten. Es gibt für alles eine Lösung!» Dann hörte Aidan die Stimme seiner Mutter, die leise auf ihren Mann einredete. Aidan konnte nicht verstehen, was sie sagte. Aber er wusste, dass es um ihn ging. Er zog sich das Kissen über den Kopf und hielt sich die Ohren zu. Wie lange sollte das noch so weitergehen?

Am nächsten Morgen wurde Aidan vom Gesang der Vögel geweckt. Im Zimmer war es hell und die Sonne schickte ihre Strahlen an den Vorhängen vorbei auf sein Bett. Aidan setzte sich auf, legte sich aber gleich wieder hin, als ihn die Übelkeit erfasste. Er kannte das Gefühl unterdessen nur zu gut. Tränen der Verzweiflung stiegen ihm in die Augen. Wenn es nur endlich aufhören würde. Wieder überkam ihn eine Welle der Übelkeit. Er rannte aus dem Bett ins angrenzende Badezimmer und schaffte es gerade noch rechtzeitig zur Toilette, bevor er sich übergeben musste. Er würgte und hustete. Er hörte, wie Mirka leise das Badezimmer betrat. Sie legte ihm einen Arm auf den Rücken, so wie sie es immer tat. Immer war sie da, hielt ihn und wartete, bis sein Magen sich beruhigt hatte. Als er schlotternd und zitternd auf dem Boden zusammensank, legte sie ihm ein kaltes Tuch auf die Stirn und gab ihm ein Glas Wasser. Sie half ihm aufzustehen und sich ins Bett zu legen. Dann deckte sie ihn zu und hielt ihn fest, bis sein Körper sich beruhigt hatte. Erst dann stand sie auf und ging in die Küche:

«Ich hole dir einen heissen Tee.»

Aidan lag da und starrte an die Decke. Es hatte sich gut angefühlt, hier in ihr Ferienhaus im Engadin zurückzukehren. Aber jetzt wusste er, dass er sich nur selber etwas vorgemacht hatte. Die Symptome und die Schmerzen würden ihn auch hier nicht in Ruhe lassen. Er konnte seinem Schicksal nicht entkommen. Der Arzt meinte, er müsse wieder Lebenswillen zeigen, sich an den kleinen Dingen freuen. Aber das war alles nur Gerede. Was wusste der schon von seinen Schmerzen, der Schwäche, die ihn aufzufressen drohte. Ja, er bemitleidete sich selber. Er dachte an seine Freunde zu Hause, an die Zeit, in der er täglich mit ihnen Fussball gespielt hatte. Er war ein guter Spieler. Er war beliebt. Die Mädchen standen auf ihn! Sie liebten seine blonden Haare, seine blauen Augen, seinen durchtrainierten Körper und seinen Witz. Wenn er sich jetzt so anschaute, würden sich die Mädchen bestimmt nicht mehr nach ihm umdrehen.

Die Tür ging auf und Tristan kam hereingepoltert.

«Zeit fürs Frühstück, mein Freund. Wenn du schon kotzen musst, dann doch besser mit vollem Magen!» Er lachte. «Komm schon, wir wollen heute in dem eiskalten und tiefblauen Bergsee eine Runde schwimmen. Muss dir doch beweisen, dass ich schneller bin als du!»

Tristan ging ums Bett herum, suchte im Schrank nach einem frischen T-Shirt und warf es Aidan an den Kopf. «Ich geh mal schauen, dass Kate genügend Eier in die Pfanne haut. Beeil dich Brüderchen.»

Aidan lächelte schwach. Er rechnete es Tristan hoch an, dass er wenig Rücksicht auf seine Krankheit nahm und ihn so behandelte, wie er ihn immer behandelt hatte. Es war für Tristan nicht leicht, sein ganzes Leben nach der Krankheit seines Bruders auszurichten. Obwohl seine Eltern ihm angeboten hatten, in den Staaten zu bleiben, stand es für Tristan ausser Frage, dass er seine Familie in die Schweiz begleitete. Auch wenn er manchmal ein ziemlicher Querkopf sein konnte, Aidan war froh, dass sein grosser Bruder da war. Aidan zog sich das frische Shirt über den Kopf und schlüpfte in eine Jeans, dann setzte er sich wieder aufs Bett, um ein wenig zu Atem zu kommen, bevor er sich in die Küche begab. Das Haus war wirklich etwas ganz Besonderes. Aidan liebte den Geruch von Arvenholz, den die alten Möbel verströmten. Er ging die Wendeltreppe hinunter und betrat die grosse, helle Küche. Auf der gegenüberliegenden Seite des Kochherds stand ein Holztisch und eine alte, hölzerne Eckbank. Auf der Bank waren viele farbige Kissen drapiert und der Raum wirkte äusserst einladend. Auf dem Tisch hatte Kate bereits frisch aufgebackene Semmel, Schinken, Käse, Früchte, Butter und Konfitüre hingestellt und sie war gerade dabei, Tristan und James die Teller mit duftendem Rührei und Speck zu füllen. Mirka bediente sich mit Kaffee und setzte sich dann zu den Jungs.

«Geht’s?» fragte sie, als sie Aidan erblickte. Sie musterte ihn kurz und wandte ihre Aufmerksamkeit dann wieder James zu, der ihr lautstark von seinem Traum erzählte.

Aidan setzte sich an den Tisch und nahm sich ein Brötchen. Er roch den Duft von frischem Brot. So lecker es auch duftete, ihm zog sich sofort der Magen zusammen. Damit die andern nichts merkten, griff er schnell nach dem Wasserkrug und schenkte sich einen Schluck ein. Vielleicht würde sich sein Magen ja beruhigen. Er hörte, wie seine Brüder Pläne für den heutigen Tag schmiedeten. Tristan wollte, wie er ja bereits angekündigt hatte, runter an den See. Er wollte schauen, ob er ein paar alte Bekannte traf. Richard hatte James versprochen, mit ihm fischen zu gehen. Zuerst wollten sie aber noch ins Dorf, um den richtigen Köder zu kaufen. Mirkas Blick blieb an Aidan hängen:

«Und, wozu hast du heute Lust? Willst du deinen Bruder zum See begleiten?» Aidan sah die Hoffnung in ihrem Blick und wandte sein Gesicht ab.

«Tut mir leid Mom. Ich habe noch ein Buch, das ich für die Uni lesen muss. Ich bleibe heute Morgen in meinem Zimmer.» Sie alle wussten, dass dies geschwindelt war. Aidan hatte den Stoff der Uni schon längst verpasst und würde, wenn es ihm besser ging, das Jahr wiederholen müssen. Seine Mutter nickte, meinte aber:

«Ich werde dir einen Liegestuhl in den Garten stellen lassen. Unter einer Decke wirst du an der Sonne warm genug haben. Die frische Luft wird dir guttun.»

Aidan schlief, als Tristan kurz vor Mittag vom See zurückkam. Das kalte Wasser hatte ihn erfrischt und seine Haut prickelte noch angenehm. Er blieb einen Augenblick neben Aidan stehen und betrachtete ihn düster. Dann ging er ins Haus, um sich etwas Trockenes anzuziehen. In der Küche traf er seine Mutter, die sich gerade mit einer Tasse Kaffee an den Tisch gesetzt hatte. Er nahm sich ein Glas Cola aus dem Kühlschrank und setzte sich zu ihr. Es lagen Sorgenfalten auf ihrem Gesicht. Tristan strich ihr sanft über den Rücken.

«Es tut mir leid Mom», sagte er.

«Mir tut es auch leid.» Sie schaute ihn traurig an. «Wir werden nach Ägypten reisen.»

«Nach Ägypten? Warum?», wollte Tristan wissen.

«Ich habe von einer Heilerin gehört. Sie soll grosse Erfolge haben. Sie hat schon viele Leute geheilt.» Seine Mutter brach ab und Tristan schaute sie erstaunt an. Nach einer Weile fragte er:

«Dann wissen die Ärzte keinen Rat mehr?»

Seine Mutter schüttelte langsam den Kopf.

«Was sagt Vater dazu?», wollte Tristan wissen.

«Er ist dagegen.» Sie schwieg. Die Stille zwischen ihnen war unerträglich, deshalb fragte Tristan:

«Glaubst du, sie wird ihn retten können?»

«Es ist unsere letzte Chance. Du siehst ja selber, wie ihn die Krankheit quält. Ich kann einfach nicht dasitzen und zuschauen, wie er stirbt. Es ist wenigstens eine Chance. Diese Heilerin hat schon andere Leute geheilt.» Mutters Stimme wirkte verzweifelt und Tristan wusste, dass sie sich an einen Strohhalm klammerte.

«Ich werde mit Vater reden. Und ich werde euch begleiten. Vater kann mit James hier in der Schweiz bleiben. Wenn wir erst gesehen haben, wer diese Frau ist und was sie macht, können wir weiter planen.» Seine Mutter lächelte ihm dankbar zu. «Danke Tristan», sagte sie müde. «Sie ist meine letzte Hoffnung.»

Aidan hatte eingewilligt einen Spaziergang an den See zu machen. Er fühlte sich ein wenig besser und wollte seiner Mutter den Wunsch nicht erneut abschlagen. Langsam schlenderten sie dem Waldrand entlang. Es ging ein sanfter Wind und Aidan hörte das Rauschen der Tannen. Sie überquerten eine grüne Wiese, die mit Blumen übersäht war. Mirka blieb stehen und pflückte einen bunten Strauss. James rannte mit einem Ball voraus und sie schimpfte, als er nicht aufpasste und die schönen Blumen zertrampelte.

«Aidan, hilf mir mal beim Pflücken!», befahl sie. Aber Aidan rümpfte nur die Nase und rief seinem kleinen Bruder zu, er solle den Ball zu ihm hinüber kicken. Leider zielte James so stark daneben, dass Aidan den Ball, nicht erwischte und er im nahen Bachbett landete. Jetzt hiess es einen genügend langen Ast zu finden, um den Ball wieder aus dem Wasser zu befreien. Das Ganze wurde dadurch erschwert, dass der reissende Bergbach den Ball schneller mit sich trug, als es James und Aidan recht war. Nach etwa zehn Minuten angestrengtem Fischen, mussten sie leider einsehen, dass der Ball verloren war. James begann zu weinen und Aidan versprach, ihren Vater anzurufen, damit er ihm heute Abend einen neuen Ball aus der Stadt mitbrachte.

Als sie zu Mirka zurückkehrten, war der Blumenstrauss schon so gross, dass sie ihn fast nicht mehr mit einer Hand halten konnte. Aber Aidan musste zugeben, dass er wunderschön aussah.

Der See lag tief und blau vor ihnen und glitzerte in der Sonne. Die Berge, auf deren Spitzen der ewige Schnee lag, wirkte wie im Bilderbuch. James zog die Schuhe aus und drängte Aidan es ihm gleichzutun. James Freude war ansteckend und Aidan verspürte Lust, seine Füsse ins kalte Nass zu stecken. Kaum stand er im Wasser, kam von der Seite schon der erste Angriff seines kleinen Bruders, der wild mit den Händen wedelte und versuchte Aidan nass zu spritzen. Aidan wollte gerade zurückschlagen, als ihm der Schmerz in die Beine schoss. Er musste innehalten. Es fühlte sich an, als ob ihm jemand ein Messer in die Muskeln gestossen hätte. Er holte tief Luft. Als sich der Schmerz etwas beruhigte, setzte er sich ins Gras und sackte erschöpft in sich zusammen. Seine Mutter wies James an, sich im nahen Geschäft ein Eis zu holen und setzte sich dann zu Aidan.

«Ich möchte etwas mit dir besprechen,» begann sie und schaute Aidan liebevoll und ernst an. «Eine Freundin hat mir von einer Heilerin erzählt. Es soll sich um eine sehr weise Frau handeln. Sie spricht mit dir und kann angeblich heilen. Sie hat schon vielen Leuten geholfen. Ich möchte, dass du sie besuchst.»

«Was? Eine Heilerin?», rief Aidan aus. «Bist du jetzt total übergeschnappt? Mom, ich glaube nicht an Wunderheilung! Das ist alles nur Humbug. Das sind Leute, die ihren Kunden mit schönen Geschichten das Geld aus den Taschen ziehen. Die versprechen dir alles, was du hören willst, kassieren einen hohen Preis und dann sind sie weg. Und geholfen hat es noch nie jemandem!»

«Da irrst du dich, Aidan», sagte seine Mutter ruhig. «Die Cousine meiner Freundin war schwer krank. Sie hat diese Heilerin besucht. Schon ein paar Wochen nach ihrem Besuch ging es ihr deutlich besser und heute ist sie vollständig geheilt», berichtete Mirka.

«Das glaubst du doch nicht wirklich?» Aidan schaute seine Mutter zweifelnd an. «Bitte tue mir das nicht an!»

Seine Mutter blickte Aidan streng an:

«Nur, weil du etwas nicht kennst und nicht begreifst, nur, weil es für deine Augen nicht sichtbar ist, heisst es noch lange nicht, dass es sowas nicht gibt. Aidan, wir haben euch immer zu rational denkenden, vernünftigen Menschen erzogen. Dein Vater wollte das so. Aber ich sehe das anders. Ich bin in Rumänien aufgewachsen. In meiner Kindheit hatte es Platz für das Mystische, für Hellseher, Kartenleger und das Übersinnliche. Aidan, ich bestehe darauf, dass du mitkommst und es wenigstens versuchst. Wenn du nach diesem Besuch keine Besserung spürst, lasse ich dich nach Hause. Dann übergebe ich dich wieder den Ärzten. Ich will diese Chance bekommen. Es ist mir sehr, sehr wichtig.»

Aidan konnte nicht glauben, was er da hörte. Irritiert blickte er seine Mutter an. Er sah, wie bedeutend ihr diese Sache war. Seine Mutter war es gewohnt, ihre Bedürfnisse hinter die der Familie zu stellen. Sie tat dies aus Liebe für ihren Mann und ihre Kinder. In ihrem Blick konnte Aidan lesen, dass sie in dieser Sache nicht bereit war, einen Kompromiss einzugehen. Es war ihr wirklich wichtig. Aidan seufzte tief. Er wusste, er konnte sie nicht enttäuschen.

«Und, wo muss ich hin?» fragte er.

«In den Sinai, nach Ägypten.»

2

Samira

Als Samira geboren wurde, sei die Sonne eine ganze Nacht lang am Wüstenhimmel gestanden. So berichtete es gerne ihr Grossvater, wenn er mit Freunden zusammensass und über seine Enkelin sprach. Er war stolz und obwohl die Geschichte niemand wirklich glaubte, wollte auch niemand etwas dagegen sagen. Sie spürten alle, dass Samira etwas Besonderes war. Waren es ihre tiefschwarzen Augen, durch die man in ihre Seele zu schauen schien oder einfach ihr anmutiges Wesen?

Schon ihre Geburt war anders als bei ihren Geschwistern verlaufen. Die Wehen hatten sich so kurzfristig angekündigt, dass ihre nur Mutter abwinkte, als ihr Vater sie in seinem Pickup ins eine halbe Stunde entfernte Spital fahren wollte. Sie schaute ihn mit diesem entschlossenen Blick an, den nur gebärende Mütter hatten und er wagte ihr nicht zu widersprechen, als sie ihm erklärte, dass es fürs nächste Spital zeitlich nicht reichen würde. Sie befahl ihm, ihre Mutter und frische Bettlacken zu holen. Das Kind liesse nicht mehr lange auf sich warten. Voller Zweifel und Angst war Samiras Vater gerannt, um bei seiner Schwiegermutter Hilfe zu holen. Er war kaum aus der Hütte, als die ersten Presswehen einsetzten und eine halbe Stunde später lag ein kleines, kräftiges Mädchen in den Armen seiner Frau. Samiras Vater strahlte vor Stolz, als er Samira auf den Arm nahm und sie in eine warme Decke hüllte. Es war sein sechstes Kind und doch war dieser Moment immer noch etwas Besonderes für ihn. Eine Engelseele hatte sich entschieden, die Welt zu besuchen, liebte er zu sagen.

Samira war ein einfaches und glückliches Kind. Sie lachte viel und war der Sonnenschein in den Herzen der Dorfbewohner. Schon früh sass sie bei den älteren Frauen und hörte ihnen wortlos bei ihren Gesprächen zu und manch eine der Frauen fühlte sich in Samiras Gesellschaft so wohl, dass sie ihr das Herz ausschüttete und dem Mädchen Geheimnisse anvertraute, die sonst keiner wusste. Samira sass meist nur da und hörte zu. Sie nahm die Geschichten in sich auf und durch ihre Augen kam so viel Liebe, dass sich die Sorgen in Luft aufzulösen schienen. Oftmals kam es vor, dass die Person, die Samira das Herz ausgeschüttet hatte, die Dinge nach dem Gespräch ganz anders sah, plötzlich einen Ausweg erkannte oder so ruhig wurde, dass sich das Problem von ganz alleine aus der Welt schaffte. Samira hatte eine Gabe, da waren sich alle schnell einig.

Aber Samira hatte auch eine andere Seite. Da sie mit vier älteren Brüdern aufwuchs, lernten sie und ihre ein Jahr ältere Schwester sehr schnell, sich zu wehren und sich gegen die männliche Übermacht zu behaupten. Samira rannte nicht davon, wenn ihre Brüder sie ärgern wollten. Im Gegenteil, sie kämpfte wie ein würdiger Gegner, rannte schneller als manch einer ihrer Brüder und durch ihre geschickte Art, war sie ihnen oftmals überlegen. Vor allem mit ihren zwei jüngsten Brüdern hatte sie ein enges Verhältnis. Sie waren nur ein paar Jahre älter als sie und von klein auf ihre Spielkameraden. Bevor sie in die Schule mussten oder wenn sie an den Nachmittagen Zeit hatten, spielten sie in der Wüste. Samira wollte nicht mit ihrer Schwester und ihrer Mutter im Haus bleiben. Sie kletterte lieber mit ihren Brüdern auf Berge, machte Feuer, kickte mit Blechdosen oder versuchte ihre Ziegen dazu zu bringen, Kunststücke zu machen, wie sie es einmal in einem Wanderzirkus gesehen hatte.

Jeder im Dorf hatte eine Geschichte über Samira zu erzählen. Als Samira etwa fünf Jahre alt war, passierte es, dass eine Frau kurz vor der Geburt ihres ersten