Vielleicht bleibe ich für immer - Regula Fuchs - E-Book

Vielleicht bleibe ich für immer E-Book

Regula Fuchs

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Beschreibung

Als Mia das Grundstück mit dem verfallenen Haus und dem heruntergekommenen Garten in ihrem ägyptischen Heimatort betritt, ahnt sie noch nicht, welche Geheimnisse sich hier verbergen. Immer deutlicher kommen ihre Kindheitserinnerungen zu ihr zurück. Sie trifft auf Orte und begegnet Menschen, die in ihrem frühen Leben eine Rolle gespielt haben. Stück für Stück entdeckt sie die ganze grausame Wahrheit. Aber die Liebe besiegt die Schatten der Vergangenheit und öffnet Mia die Türe zu einer wunderbaren Zukunft. Eine Geschichte von Liebe, Schuld und Vergebung und der Suche nach dem großen Glück.

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Für meine Tochter Nora, die mich immer motiviert und immer an mein Buch geglaubt hat.

Flieg so hoch, wie deine Träume dich tragen.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

1

Der Unterwasser-Kuss

Ich rannte aus dem gekühlten Wohnzimmer in den drückend heissen Nachmittag hinaus. Die Sonne schien und der Himmel war strahlend blau. Meine Beine fingen an zu Tanzen, als die warme Luft auf meine Haut traf. Meine Mutter war schon im Pool und lächelte mir zu. Ich sprang zu ihr ins warme Wasser. Ich tauchte unter und schwamm, bis meine Lungen nach Luft lechzten. Erst dann tauchte ich wieder auf. Meine Mutter lächelte. Sie gab mir mit der Hand ein Zeichen, unser Geheimzeichen. Gleichzeitig tauchten wir unter und gaben uns einen Kuss. Lachend und pustend tauchten wir aus dem Wasser auf.

Das Flugzeug verlor an Höhe und die Passagiere wurden gebeten, ihre Sitzlehnen gerade zu stellen, die Tische hochzuklappen und sich für die Landung anzuschnallen. Es war ein ruhiger Flug und während der Pilot sich bei seinen Gästen bedankte, dass sie Edelweiss gewählt hatten, steuerte das Flugzeug die Landebahn von Sharm-el-Sheikh an. Mia räkelte und streckte sich. Obwohl der Flug nur vier Stunden gedauert hatte, war sie vom Sitzen ganz steif geworden. Sie schaute aus dem Fenster. Unter ihr erstreckte sich die Wüste des Sinais. Soweit sie blicken konnte, sah sie rote Felsen und Steine, Strassen, die nicht zu enden schienen. Da drehte sich das Flugzeug ab und zog eine Runde übers Meer. Glitzerndes blaues Wasser wurde an den Uferzonen von grellem Türkis unterbrochen. Ein paar Schiffe, kleine weisse Punkte, zogen Wellen ins ruhige Wasser.

Mia war gespannt auf das fremde Land. Gleichzeitig rumpelte es in ihrem Bauch und sie musste sich beherrschen, nicht dauernd an ihren Fingernägeln zu kauen, wie sie es immer tat, wenn sie nervös war. Sie war noch nie alleine gerreisst. Und schon gar nicht für lange Zeit in ein fremdes Land. Ihre Freunde hatten ihr angeboten, sie während den Ferien zu begleiten. Aber Mia hatte abgelehnt. Sie wollte sich so viel Zeit nehmen, wie sie brauchte und nicht nach dem Zeitplan anderer funktionieren müssen. Sie hatte drei Monate Semesterferien, genug Zeit also. Mia streckte sich noch einmal und band ihr langes dunkelblondes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen. Sie holte ihre Sonnenbrille hervor, überprüfte kurz ihr Aussehen im Glas und steckte sich die Brille in ihr dichtes Haar. Da in den letzten Wochen in der Schweiz frühsommerliche Temperaturen geherrscht hatten und Mia schon viel Zeit draussen an der Sonne verbracht hatte, hatte ihre Haut ein sattes braun angenommen. Mia packte ihr Buch, ihr Handy und ihren Kopfhörer in die Tasche und schaute wieder aus dem Fenster, als der Flieger auch schon rumpelnd zum Stehen kam.

Im Flugzeug begann das gewohnte Durcheinander nach der Landung. Alle Passagiere standen gleichzeitig auf und drängten sich in den Flugzeuggang. Gepäckstücke wurden herausgeholt und die Fluggäste gingen zu den Ausgängen. Mia blieb noch einen Moment sitzen und beobachtete die Passagiere. Als sich das Flugzeug langsam leerte, stand sie auf und folgte der Masse nach draussen. Sie trat durch die Türe und die sengende Hitze der ägyptischen Mittagsonne schlug ihr entgegen. Was für ein tolles Gefühl. Mia schaute zum Himmel, schloss die Augen und liess sich das Gesicht von der Sonne wärmen.

Sie war so plötzlich stehen geblieben, dass der junge Mann hinter ihr nicht mehr rechtzeitig stoppen konnte und mit ihr zusammenprallte.

„Ups, sorry“, meinte er und grinste. Mias Sonnenbrille war von dem Zusammenstoss runtergefallen und der Junge bückte sich, um sie aufzuheben. Mia folgte ihm und den restlichen Passagieren in den Flughafenbus, der schon auf sie wartete. Nach einer kurzen Fahrt im Bus betraten sie die Flughafenhalle. Sie ging zur Passkontrolle. Ein gut betuchter Mann sass hinter einer Glasscheibe und winkte sie heran. Der begutachtete ihren Pass ein paar Minuten sehr genau, lächelte dann und reichte ihn Mia zurück. „Willkommen in Ägypten“, meinte er noch, als er sich schon den nächsten Gästen zuwandte. Mia ging zur Gepäckausgabe weiter. Sie fand das Laufband vier, auf dem das Gepäck ihres Fluges ankommen sollte. Die ersten Koffer drehten bereits ihre Runden und Mia stellte sich dazu. Sie sah den blonden Jungen, der ihr vorhin ihre Brille gereicht hatte erst, als er direkt neben ihr auftauchte und sie angrinste.

„Und, Koffer schon gefunden?“, wollte er wissen.

„Nein.“

„Ich auch nicht.“ Er lachte: „Sonst würden wir ja wohl kaum noch hier stehen. Ich bin übrigens Mike.“ Er streckte ihr die Hand entgegen.

„Mia“, antwortete sie knapp und wollte sich schon abwenden. Aber er fragte:

„Bist du zum ersten Mal in Sharm-el-Sheikh, Mia?“ Als Mia nickte, fuhr er fort: „Gute Wahl! Es wird dir gefallen. In welchem Hotel bist du untergebracht?“

„Ich wohne nicht in einem Hotel. Ich habe hier ein Haus.“ antwortete Mia.

„Du bist zum ersten Mal in Sharm-el-Sheikh und hast ein Haus hier?“

„Das ist eine lange Geschichte“, sagte Mia schwach. Sie hatte keine Lust, es ihm zu erklären. Zum Glück sah sie in diesem Moment ihren Koffer auf dem Laufband. „Da kommt mein Koffer. Ich geh dann mal“, meinte Mia schwach und griff nach ihrem Koffer. Mike grinste sie erneut an.

„Na dann schöne Ferien. War nett dich kennenzulernen.“

Mia hatte sich bereits abgewandt, als ihr ein Gedanke kam. Sie verlangsamte ihr Tempo, bis Mike sie eingeholt hatte und fragte dann:

„Du scheinst dich in Ägypten gut auszukennen. Kannst du mir sagen, wie ich mich am besten verständigen kann? Ich spreche nämlich kein Arabisch.“

„Du sprichst kein Arabisch?“, Mike machte ein ernstes Gesicht. Er sah aus, als wäre Mia wirklich nicht zu helfen. Dann aber verzogen sich seine Mundwinkel zu einem Grinsen: „Ist doch kein Problem. Hier sprechen alle Englisch. Du wirst schon durchkommen“, meinte er zuversichtlich „und mit deinem Aussehen auch überleben!“ Er zwinkerte ihr lachend zu.

Sie hatten den Ausgang erreicht und traten in die Sonne hinaus. Ein weisser Bus stand vor dem Gebäude und zwei junge Araber stiegen aus. Sie traten beide auf Mike zu und begrüssten ihn freundschaftlich. Die Jungs klatschten sich ab und umarmten sich herzlich. Mia stand etwas abseits und beobachtete sie. Bevor Mike zu den beiden ins Auto stieg, drehte er sich nochmals zu Mia um.

„Sollen wir dich ein Stück mitnehmen?“, wollte er wissen.

„Ist schon okay.“ Mia schüttelte den Kopf. Mike winkte ihr noch zu und der Bus mit den drei Männern fuhr davon.

Mia hätte sich ohrfeigen können! Weshalb war sie bloss nicht mitgefahren. Sie hätte sich ihren blöden Stolz besser für ein anderes Mal aufgespart. Sie hatte sich mit Mike an ihrer Seite deutlich mutiger gefühlt. Jetzt musste sie schauen, wie sie alleine weiterkam. Sie trat auf die Strasse hinaus und setzte ihre Sonnenbrille auf. Es dauerte keine zehn Sekunden und Mia war von fünf Taxifahrern umringt, die alle gleichzeitig an ihrem Koffer zogen und auf sie einredeten. Von wegen, alle sprachen Englisch. Mia verstand kein Wort. Einer der Taxifahrer schien das Rennen gemacht zu haben und lud Mias Gepäck in einen alten, dunkelblauen Peugeot. Mia setzte sich hinten ins Auto. Sie nannte dem Mann ihre Adresse und das Taxi fuhr los.

Zuerst fuhren sie auf der Hauptstrasse. Zu ihrer Rechten erstreckte sich die Wüste, zu ihrer Linken reihte sich ein Hotel ans nächste. Wunderschöne Anlagen mit Blumenbeeten und Palmen säumten die vierspurige Strasse. Sie kamen an Einkaufszentren, kleinen Freizeitsparks und Casinos vorbei; ein echtes Ferienparadies. Das Meer konnte Mia nirgends entdecken. Die Fahrt ging gut zwanzig Minuten, als der Fahrer einen Hügel hinauf steuerte. Er fuhr auf der Klippe bis ganz ans Ende und lenkte das Auto dann in eine Nebenstrasse. Da hielt er an.

Etwas unsicher stieg Mia aus und stand wenig später alleine mit ihrem Koffer vor einem Anwesen. Sie hatte sich vorgestellt, dass sie sich an etwas erinnern würde, wenn sie erst da war. Aber so war es nicht. Sie fühlte sich bloss total einsam und war sich sicher, diesen Ort noch nie zuvor gesehen zu haben.

Langsam öffnete sie das Tor und betrat unsicher das Grundstück. Ihr Puls raste und die Hitze schien ihr plötzlich unerträglich. Langsam schritt sie durch einen von weissen Torbogen überdachten Korridor. Das Haus, ein weisses Gebäude mit runden Kuppen und Toren, war in einem Halbkreis um einen Vorplatz gebaut. Von Fotos wusste Mia, dass dies einmal ein traumhaftes Anwesen gewesen war. Jetzt waren die Fassaden vom Wüstensand braun geworden, die Farbe blätterte von den Fensterrahmen, die Glastür, die zum Garten führte, hatte ein Loch, das mit Plastikfolie geflickt worden war und die hölzerne Pergola, die mit Beduinenteppichen überdeckt sicher einmal herrlichen Schatten gespendet hatte, war heruntergekommen, die Teppiche verbleicht und zerrissen. Das Haus sah aus wie eine Ruine. In der Mitte des runden Gebäudes sah Mia ein kreisförmiges Loch mit einem Durchmesser von etwa fünf Metern. Dies war früher einmal ein Schwimmbecken, erkannte sie.

Das Haus lag in einem Garten, der genauso verwildert war, wie das ganze Anwesen. Vereinzelte Plamen standen noch da, verdorrtes Gras und einige ausgetrocknete Büsche säumten den Weg. Der Garten führte auf eine steinerne Klippe hinaus, etwa zwanzig Schritte und Mia stand an einem steilen Abhang, unter ihr ein kleiner Sandstand und das Meer. Das Wasser glitzerte und Mia konnte die türkisfarbenen Stellen erkennen, an denen die Riffe lagen. Mia war überwältigt vom Anblick, der sich ihr bot. Hier an der Klippe ging ein warmer Wüstenwind, der die Hitze erträglicher machte. Mia schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern. Diese Ruine war also mal ihr zuhause gewesen? Sie wusste es nicht mehr. Alles was ihr in den Sinn kam, war ihre geliebte Grossmutter. Sie hatte ihr viele Fotos von hier gezeigt. Ihre Augen hatten dabei gestrahlt. Sie war so stolz auf ihren wunderschönen Garten, in dem einfach alles zu wachsen schien; pinke Bougainvillea, saftige Palmen, duftender Jasmin, weisse Frangipani und vieles mehr. Einmal hatte sie sogar Bananen aus ihrem Garten mit nach Hause gebracht. Mia hatte ihre Grossmutter sehr geliebt und jetzt hier ganz alleine an diesem Ort, vermisste Mia sie schrecklich.

Mia drehte sich um und schaute auf das verkommene Haus und den trostlosen Garten. Wie sollte sie hier ihre Ferien verbringen? Am liebsten hätte sie losgeheult, so einsam und verlassen fühlte sie sich. Dann aber straffte sie ihre Schultern. Ihre Grossmutter hatte diesen Platz geliebt, sie würde ihm wenigstens eine Chance geben.

Gedankenverloren stand Mia an der Klippe und schaute auf das Wasser hinaus. Die Sonne senkte sich hinter den Sinai Bergen und es wurde schnell dunkel. Bald würde es Nacht sein.

Als Mia hinter sich Schritte hörte, drehte sie sich um. Ein Mann mit dunkler Haut, schwarzen Haaren und einem nachthemdartigen Kleid stand vor ihr.

„Sie sind Miss Mia?“, fragte der Mann in sehr gebrochenem Englisch. „Mr. Marsouk hat gesagt, sie kommen. Willkommen in Ägypten. Mr. Marsouk kommen bald selber.“

Mia schüttelte dem Mann die Hand und stellte sich vor. Das musste Ali sein, der Mann, der das Haus bewachte und hier zum rechten schaute. Ihre Grossmutter hatte ihr von ihm erzählt. Sein Gehalt, so klein es auch war, stand auch auf der Abrechnung, die ihre Grossmutter monatlich von ihrem Hausverwalter, Mr. Marsouk, bekommen hatte.

Ali deutete ihr, sie solle ihm folgen und es schien, als wolle er ihr das Haus und den Garten zeigen, als ein zweiter Mann auf sie zutrat. Er war gross, schlank, hatte dunkelbraune Haut und schwarzes, kurzes Haar. Er trug eine Buntfaltenhose und ein weisses Leinenhemd, dessen oberster Knopf offenstand. Er sah aus, als wäre er gerade einem Laufsteg entstiegen. Mia schätzte ihn auf etwa dreissig, was sie sehr erstaunte. Wenn das der Verwalter des Grundstücks ihrer Grossmutter war, so hatte sie ihn sich viel älter vorgestellt.

Der junge Mann streckte Mia die Hand entgegen und stellte sich als Hisham Marsouk vor. Dabei schaute er Mia so direkt in die Augen, dass sie sich zwingen musste, wegzublicken. Seine Augen waren blau und standen in starkem Kontrast zu seinem dunklen Teint. Hisham schien sich sehr wohl über die Wirkung seiner Augen bewusst zu sein, denn sein Mund verzog sich zu einem winzigen Grinsen, dass Mia noch stärker erröten liess. Nachdem Hisham Mia begrüsst und willkommen geheissen hatte, schlug er vor, ihr zuerst einmal ihr neues zuhause zu zeigen. Er erklärte ihr, dass das ganze Grundstück, der Garten, das Haus aber auch die Klippe, auf der sie standen, ihrer Grossmutter gehört hatten und mit deren Tod nach ägyptischem Gesetz jetzt in Mias Besitz übergegangen seien. Er führte sie durch den Garten zurück zum Haus.

„Leider ist der Garten und das Haus in den letzten Jahren kaum bewohnt und auch wenig gepflegt worden. Ich bin sicher, mit ein wenig Arbeit, wird hier wieder eine wunderschöne Oase entstehen“, meinte Hisham, als sie an den vertrockneten Palmen und dem dürren Gras vorbeigingen. „Auch das Haus selber ist leider in schlechtem Zustand. Ich hoffe sehr, dass wir dies zusammen wieder zum Besten biegen können.“ Bei diesen Worten schaute Hisham Mia wieder direkt in die Augen und Mia war sicher, dass er das Wort „zusammen“ ganz bewusst betont hatte. Sein Blick liess ihr schon wieder die Knie weich werden. Sie riss sich zusammen. Für diesen Model-Typ hatte sie wirklich keinen Nerv. Wenn sie sich umschaute, hatte sie sich um dringendere Probleme zu kümmern. Dennoch schmeichelte ihr seine Aufmerksamkeit.

Zuerst führte Hisham Mia auf die Rückseite des Hauses und über eine Wendeltreppe hinauf aufs flache Dach. Hier oben ging eine angenehme Brise und man hatte einen unglaublichen Ausblick aufs Meer und den Hafen, der in der nächsten Bucht lag. Mia sah die Lichter der Boote, die im Hafen lagen und staunte über die Weite, die sie von hier überblicken konnte. Einen Moment standen sie auf dem Dach, jeder in seinen Gedanken versunken. Dann meinte Hisham:

„Komm, ich zeige dir jetzt das Innere des Hauses.“

Hisham öffnete die Terrassentüre und liess Mia eintreten. Sie stand in einem grossen Raum mit weissen Fliessen, hohen Decken und Torbogen. Die Fenster reichten vom Fussboden bis zur Decke und würden sicher viel Tageslicht in den Raum lassen. Jetzt im schummrigen Licht der Deckenlampe, wirkte der Raum aber nur schmutzig und verlassen. Rechts vom Hauptraum ging ein Torbogen in die Küche. Mia schaute sich um, war aber auch hier entsetzt von all dem Dreck und dem Gerümpel, der überall rumlag. Die Fliegengitter an den Fenstern waren verrissen, die Marmorplatte der Küchenabdeckung war zersplittert, die Türen an den Schränken hingen schief und als Mia etwas genauer hinschaute, sah sie eine fingergrosse Kakerlake, die sich gerade hinter einem Möbelstück versteckte. Mia bekam eine Gänsehaut. Sie ekelte sich, versuchte aber sich zusammenzureissen. Hisham führte sie durch einen weiteren Torbogen in den hinteren Teil der Wohnung. Da gab es ein grosses Badezimmer. Die Waschbecken waren braun vom Dreck, die Duschwanne hatte einen Riss und der Spiegel war heruntergefallen und zerbrochen.

Über eine steinerne Wendeltreppe ging es in den oberen Stock. Da gab es nach hinten hin ein Schlafzimmer und ein weiteres Bad. Der vordere Teil der Wohnung bestand aus zwei geräumigen Schlafzimmern mit einem Balkon, der zum Meer hinausführte. Die Balkontüre liess sich nicht öffnen, aber in der Dunkelheit hätte Mia die Aussicht sowieso nicht gesehen. In den Zimmern standen zwei alte Betten und ein paar alte Schränke. Mia fühlte sich erschöpft und ausgelaugt. Am liebsten wäre sie davongelaufen. Was sollte sie nur hier! Ein tolles Erbe wirklich! Ihr Entschluss war schnell gefasst: sie würde das Haus so schnell wie möglich verkaufen und lieber heute als morgen wieder abreisen. In einer Woche konnte sie schon im nächsten Flugzeug nach Hause sitzen. Hier wollte sie nicht länger bleiben als unbedingt nötig. Als sie ein Rascheln hörte und zur Decke blickte, sah sie dicht über sich eine grosse, sandfarbene Echse. Mit ihren kugelrunden Augen schaute sie Mia an. Vor Schreck und Ekel zuckte Mia zusammen. Hier würde sie keine einzige Nacht verbringen. Hisham, der direkt hinter ihr stand, bemerkte ihre Beklommenheit. Beschützend legte er die Hand auf ihren Arm.

„Das ist bloss eine Eidechse. Sie tut dir nichts. Du musst dich nicht fürchten.“ Er stand jetzt ganz nahe hinter ihr und als sie sich umdrehte, versank ihr Blick in seinen blauen Augen. Etwas zu lange standen sie dicht beieinander, bevor sich Mia losriss und sich abdrehte.

Mia war völlig durcheinander. Was sollte sie jetzt tun? Sie konnte die Nacht unmöglich in diesem Haus verbringen. Als ob Hisham ihre Gedanken gelesen hätte, fragte er:

„Kann ich dir helfen, das Zimmer etwas herzurichten, damit du deine Sachen hineinbringen kannst? Danach können wir irgendwo etwas essen gehen. Du musst doch sicher hungrig sein. Dann können wir uns auch gleich über das weitere Vorgehen, was das Haus betrifft, unterhalten.“

Mia war müde und der Hunger war ihr vergangen. Aber sie wollte auch unter keinen Umständen alleine in dieser Wohnung sein. Deshalb antwortete sie:

„Okay, aber kannst du mir bitte vorher helfen eine Matratze aufs Dach zu tragen. Ich werde die Nacht draussen auf dem Dach verbringen. Morgen schaue ich dann weiter.“ Wenn Hisham erstaunt war, so liess er sich nichts anmerken. Sie suchten sich eine Matte aus. Mia öffnete einige Schranktüren und suchte nach etwas, dass sie als Decke verwenden konnte. Zu ihrer Erleichterung fand sie zuletzt ganz hinten im Schrank auch noch ein Fliegennetz. Glücklich über ihren Fund, atmete sie einmal tief durch. Sie nahm die Sachen und hievte sie mit Hishams Hilfe aufs Dach. Zusammen bezogen sie das Bett mit einem weissen Bettlaken und hängten das Fliegengitter an den Holzbalken über ihrem Schlafplatz. Sie legte die Decke auf die Matte und spannte das Fliegengitter sorgfältig um ihr Nachtlager. So würde sie vor Insekten und allem, was sonst noch so rumkrabbelte, geschützt sein. Sie dachte daran, im Haus nach einer Taschenlampe zu suchen, entschied aber, dass das Licht, der nahe gelegenen Strassenlampe, hell genug war. Zur Not hatte sie ja noch die Taschenlampe auf ihrem Handy. Ihre Sachen stellten sie erstmals ins Haus. Sie würde auch nicht darum herumkommen, das Bad im Haus zu verwenden. Sicherheitshalber überprüfte sie noch die Lichtschalter, damit sie später nicht alleine in einer dunklen Wohnung stand. Ein Kloss sass ihr immer noch in der Kehle aber wenigstens wusste sie nun, wo sie würde schlafen können. Der Platz war zwar nicht perfekt aber lieber draussen schlafen, als alleine in dieser dreckigen Wohnung mit all den Kakerlaken und Echsen eingesperrt zu sein.

Hisham fuhr der Klippe entlang, drehte das Auto dann nach rechts und fuhr zum Meer hinunter. Dort hielt er an und sie stiegen aus. Er führte Mia in ein Restaurant, dass so in den Hang gebaut war, dass die Gäste einen wunderschönen Blick aufs Meer hatten. Der Steg, der über das Wasser führte, war mit orientalischen Lampen beleuchtet und verlieh dem Ganzen eine romantische Stimmung.

Sie setzten sich an einen Tisch in der Ecke. Ein Kellner brachte ihnen die Karten und als Mia sich in all den orientalischen Gerichten nicht richtig entscheiden konnte, schlug Hisham vor, für sie beide zu bestellen. Während sie assen, erzählte Hisham Mia von seinem Beruf als Anwalt, berichtete, wie er Mias Grossmutter kennengelernt hatte und erzählte Geschichten aus seinem Leben. Er war ein amüsanter Unterhalter. Der Fisch, der Hisham für sie bestellt hatte, schmeckte wunderbar und Mia entspannte sich sichtlich. Sicher tat auch der Rotwein, den sie tranken, ihren Teil dazu. Nach dem Essen setzten sie sich in die Bar, direkt am Meer. Um die runden kleinen Tische lagen mit Beduinen Teppichen ausgelegte Kissen und Mia stiess der Geruch vom Tabak einer Wasserpfeife in die Nase. Als der Kellner kam, bestellten sie für Mia ägyptischen Tee und für Hisham ein Bier. Ein Angestellter kam mit einer Wasserpfeife an ihren Tisch und als Hisham nickte, legte er glühende Kohle in einen kleinen Behälter und liess die Wasserpfeife neben ihnen stehen. Hisham nahm einen kräftigen Zug und die Flasche begann zu blubbern.

„Hast du schon mal Wasserpfeife geraucht?“, wollte Hisham von Mia wissen? Als sie den Kopf schüttelte, reichte er ihr das Mundstück der Pfeife. „Ist viel weniger stark als eine Zigarette. Wasserpfeife gehört hier in Ägypten einfach dazu.“

Mia hatte noch nie geraucht. Sie nahm nur einen kleinen Zug und musste husten. Hisham begann zu lachen und Mia gab ihm die Pfeife zurück.

„Ich glaube es ist besser, wenn ich einfach den süssen Geruch des Tabaks in der Luft schnuppere.“ Mia lehnte sich in ihrem Kissen nach hinten und beobachtete den Sternenhimmel. Erst heute Morgen war sie aus der Schweiz abgereist und jetzt sass sie hier bei geschätzten fünfundzwanzig Grad unter dem Sternenhimmel des Sinais.

„Woran denkst du?“, flüsterte Hisham, der sich auch im Kissen nach hinten gelehnt hatte und sein Kopf dadurch ganz nahe an ihrem lag. Mia drehte sich in seine Richtung und wieder waren da seine blauen Augen, in denen sie zu versinken schien. Schnell rutsche sie ein wenig von ihm weg, konnte aber nicht verhindern, dass ihr die Röte ins Gesicht schoss.

„Es ist schön hier“, antwortete sie ein wenig verlegen. Aber Hisham suchte schon wieder ihren Blick und meinte:

„Du bist schön, Mia.“

In diesem Moment fuhr ein weisser Bus in ziemlichem Tempo Richtung Meer und hielt mit quietschenden Bremsen direkt vor der Bar. Die Türen wurden aufgerissen und mehrere Männer stiegen aus dem Auto. Mia war froh für die Ablenkung und beobachtete, wie die Männer Tauchflaschen und Kisten mit Tauchmaterial aus dem Auto hoben. Als alles ausgeladen war, fuhr das Auto davon und die drei Taucher machten sich daran, die Tarierwesten und Lungenautomaten an den Flaschen zu befestigen. Als dies geschafft war, kamen sie rüber in die Bar und setzten sich an einen Tisch. Als der letzte der Gruppe an ihnen vorbeiging, blieb er stehen und grinste Mia an.

„Hi Mia. Hätte nicht gedacht, dich so schnell wiederzusehen.“ Sprach er sie auf Schweizerdeutsch an. Mit einem Blick auf Hisham fügte er grinsend hinzu: „Scheinst dich auch schon gut eingelebt zu haben.“

Mia blickte zu dem blonden Jungen mit den vielen Sommersprossen im Gesicht auf und als sie sein fröhliches Grinsen sah, musste sie auch lächeln. Sie hatte Mike zuerst gar nicht erkannt! Er trug jetzt Shorts und T-Shirt und hatte ein Cap ins Gesicht gezogen. Mike winkte seine Freunde zu ihnen hinüber und zu Mia meinte er:

„Ist doch okay, wenn wir uns zu euch gesellen?“ Mike stellte Mia und Hisham seine beiden Kumpels Hatem und Tamer vor. Die Jungs setzten sich an ihren Tisch und diskutierten lebhaft. Hisham dagegen wurde immer ruhiger und zog an seiner Pfeife. Es stellte sich heraus, dass Mike als Tauchlehrer arbeitete und hier vier Monate bei seinen Kumpels in der Tauchschule aushelfen würde. Da Mike schon länger nicht mehr getaucht war, hatten sie ihm angeboten, auf einen Nachttauchgang zu gehen, damit er nicht bis morgen warten musste, um seinen Kopf unter Wasser zu kriegen, wie sie es nannten.

„Bist du schon mal getaucht?“ wollte Mike von Mia wissen. Er sprach sie jetzt in Englisch an, damit alle es verstanden.

„Ja, ich habe in Italien einen Tauchkurs gemacht und habe dann ab und zu mit meiner Mutter in den Ferien getaucht“, antwortete Mia.

„Dann komm doch einfach mit!“, meinte Mike spontan. „Wir haben eine Kiste zu viel dabei. Hatems Freundin wollte eigentlich auch tauchen, ist dann aber kurzfristig ausgestiegen. Die Sachen dürften dir passen.“

Mia blicke kurz zu Hisham hinüber. Mike schien nicht aufgefallen zu sein, dass sich dessen Blick verdüstert hatte. Schon seit die Taucher hier aufgekreuzt waren, war seine Haltung etwas angespannt. Seine Augen trafen Mias, vorauf hin diese, das Angebot zum Tauchen dankend ablehnte. Tamer, ein dunkler Typ mit kurzem schwarzen Haar, tief schwarzen Augen und einem kräftigen Oberkörper, der bis dahin noch kaum etwas gesagt und Mia keines Blickes gewürdigt hatte, stand auf:

„Kommt Jungs, schauen wir, dass wir ins Wasser kommen.“ Höhnisch fügte er hinzu: „Bevor Mike noch weitere Mädchen anbaggert. Bin ja nicht zum Arbeiten hier.“

Mia und Hisham schauten den drei Tauchern zu, wie sie ihre Flaschen schulterten, mit Flossen an den Füssen Richtung Meer watschelten und im Wasser versanken. Bald sah man nur noch die Strahlen ihrer Taschenlampen unter dem Wasser.

Es war spät geworden und Mia war müde. Sie drängte Hisham zum Aufbruch. Hishams Laune hatte sich seit dem Auftauchen der Taucher deutlich verschlechtert. Immer noch übellaunig meinte er:

„Wir haben noch gar nicht darüber gesprochen, wie es mit dem Haus weitergehen soll? Hast du schon Pläne, was du mit deinem Erbe anfangen willst?“, wollte Hisham von Mia wissen.

„Ich habe keine Ahnung“, meinte Mia. „Lass mich mal hier ankommen. In ein, zwei Tagen weiss ich sicher mehr. Ich werde mich bei dir melden. Wahrscheinlich müssen wir schauen, wie wir das Haus möglichst schnell verkaufen können.“

2

Die Lieblingspuppe

Ich sass am Tisch und hörte, wie meine Mutter in der Küche mit den Pfannen hantierte. Neben mir sass Deborah, meine Lieblingspuppe. Auch sie hatte einen kleinen Teller vor sich. Die Räume im Haus waren von Sonnenlicht durchflutet. Ich trug eine Schuluniform, die mir an den Hüften so weit war, dass wir sie mit einem Gurt zusammenschnüren mussten. Grüne Bluse, grüner Rock, Strümpfe bis zu den Knien.

Ich hörte, wie meine Mutter in der Küche sang. Dann kam sie mit einer Pfanne dampfendem Haferbrei zu mir an den Tisch. Sie füllte mir und Deborah duftenden Brei in unsere Schalen und setzte sich für einen Moment zu uns. Dann ging sie wieder in die Küche und packte mein Lunchpaket. Eine Tür im oberen Stock ging auf, man hörte Schritte und das Singen meiner Mutter erstarb.

Mia erwachte früh morgens um sechs Uhr. Sie hatte erstaunlich gut geschlafen. Nachdem sie sich in der Nacht, als Hisham sie nach Hause begleitet hatte, nicht hatte dazu durchringen können, alleine in das verfallene Haus reinzugehen, hatte sie sich die Zähne neben ihrem Nachtlager auf dem Dach notfallmässig mit einer Flasche Wasser geputzt, sich die Shorts ausgezogen und war so unter ihr Mückengitter geschlüpft. Sie hatte befürchtet, nicht einschlafen zu können. Sie fürchtete sich, ganz alleine auf dem Dach. Nur das Wissen, dass Ali vor dem Haus sass und es bewachte, liess sie dann die Augen schliessen. Sie war in einen tiefen Schlaf gefallen und erst wiedererwacht, als die Sonne ihr ins Gesicht schien. Sie setzte sich auf und das erste, was sie sah, war das blaue Meer und ein paar Boote, die schon zur frühen Stunde aufs Meer hinausfuhren. Die Luft war schon warm und die Vögel zwitscherten. Mia lächelte. Sie musste daran denken, was vor ihr lag und ihre Fröhlichkeit war schlagartig verflogen. Sie musste sich heute wohl oder übel wieder in dieses Haus begeben und sich überlegen, was damit geschehen sollte.

Sie schlüpfte in ihre Shorts und ging nach unten in den Garten. Ali hatte einen Besen in der Hand und war dabei, den Weg zu wischen. Der Besen war so alt, dass er kaum noch Borsten hatte und Ali sich die Arbeit auch gleich hätte sparen können. Sie nahm sich vor, im bei der nächsten Gelegenheit, einen neuen Besen zu besorgen. Ali begrüsste Mia mit einem Lächeln. Er ging in den Garten und kam mit einer weissen Blüte zurück, die er ihr unter die Nase hielt. Sie duftete himmlisch. Ali lächelte erneut und widmete sich wieder seinem Besen. Mia ging durch den Garten zur Terrassentüre und betrat die Wohnung. Als erstes wollte sie eines der oberen Zimmer so herrichten, dass sie wenigstens ihre Sachen verstauen konnte. Sie ging die Treppe hinauf und trat in den sonnendurchfluteten Raum. Kurz entschlossen entschied sie, zuerst einmal all das Gerümpel zu entsorgen, der hier herumlag. Wie lange war das Haus wohl leer gestanden? Mia wusste, dass ihre Grossmutter früher mehrmals im Jahr hier gewesen war, aber seit sie vor Jahren krank geworden war, stand die Wohnung leer.

Mia ging hinunter in die Küche und suchte nach einem Abfalleimer. Sie fand ein paar alte Plastiktüten und machte sich daran, aufzuräumen. Da lagen zerrissene Bettlaken, eingetrocknete Putzmittel, abgelaufener Insektenspray, verstaubte Lampen, Kerzenstummel, Tauchflossen und Taucherbrillen und noch vieles mehr. Mia füllte mehrere Säcke mit Kleinzeug und schleppte diese auf den Vorplatz. Dann rief sie Ali. Mit Händen und Füssen erklärte sie dem verwunderten Angestellten, dass er ihr helfen solle die grösseren Sachen nach unten zu tragen. Gemeinsam schleiften sie die alten Gegenstände auf den Vorplatz. Mia sortierte die Sachen nach Abfall und Dingen, die sie vielleicht noch flicken konnte. Eine alte orientalische Lampe, deren Sockel verstaubt und verbogen war, landete auf der Seite mit Dingen, die mit etwas Wasser und Putzmittel, vielleicht noch verwendet werden konnten, ein abgesessenes Sofa und mehrere kaputte Matratzen landeten auf der anderen Seite. Sie schraubten Schränke und Betten auseinander, zerlegten kleinere Möbel und schleppten alles nach draussen. Gegen Mittag wurde es immer heisser. Mia merkte, dass sie hungrig und durstig war. Sie mussten eine Pause einlegen und etwas zu essen und zu trinken besorgen. Ali, dem der Schweiss von der Stirn tropfte, war froh, dass er sich in seine Hütte zurückziehen konnte. Er brauchte dringend eine Verschnaufpause.

Mia trat auf die Strasse hinaus und überlegte in welche Richtung sie gehen wollte, als ein Junge auf sie zutrat.

„Hallo. Du musst meine neue Nachbarin sein“, begann er das Gespräch in perfektem Englisch. „Ich habe dich schon den ganzen Morgen gehört. Scheint, als ob hier mal jemand zum rechten schaut.“ Er streckte Mia die Hand entgegen. „Ich bin Samir. Willkommen in Ägypten.“ Samir lächelte Mia an und sie stellte sich ebenfalls vor. Samir erklärte ihr, dass er hier wohne und noch nie jemanden ausser Ali auf dem Grundstück gesehen habe. Deshalb war er natürlich neugierig, als plötzlich Leben einzog. Er hatte den Wachmann seines Mehrfamilienhauses gefragt, der natürlich von Ali schon alle Einzelheiten kannte und so hatte man ihm erzählt, dass die Enkelin der verstorbenen Besitzerin eintreffen würde.

„Ich habe dich vorhin ein wenig beobachtet. Wo soll der ganze Gerümpel hin, den du auf den Vorplatz geschleppt hast?“

„Das meiste muss weg“, erklärte Mia. „Das Haus ist eine richtige Müllhalde. Wenn ich hier mehr als ein paar Tage verbringen soll, muss ich zuerst einmal aufräumen. Mich graust es, wenn ich die Wohnung nur betrete.“

Samir lachte. Seine Haut war hellbraun und man hätte ihn durchaus für einen Europäer halten können, wären da nicht seine pechschwarzen Augen und seine dunklen Haare gewesen. Er war gross und dünn und wirkte in seinen blauen Short und den dünnen, langen Beinen ein wenig schlaksig. Es fiel Mia schwer, sein Alter zu schätzen. Sie nahm an, dass er nicht viel älter als sie selbst sein konnte.

„Wenn ich dir mit etwas behilflich sein kann“ bot er an, „dann sag es einfach.“

„Wie gesagt, ich wohne im Haus gleich nebenan. Meine Wohnung liegt im zweiten Stock. Ich wollte einfach unbedingt aufs Meer sehen können, auch wenn ich mir die vier Wände eigentlich gar nicht leisten kann.“ Er lachte wieder.

Mia würde das Angebot gerne annehmen. Sie hatte heute Morgen nämlich schon gemerkt, wo sie Hilfe brauchte. Ali sprach fast kein Englisch und sie würde einen Übersetzer brauchen.

„Ich komme gerne darauf zurück. Ich werde dich als Informationsbüro einsetzen müssen. Jetzt zum Beispiel suche ich zuerst einmal einen Supermarkt. Ich bin am Verhungern.“

„Kein Problem. Ich kenne mich aus. Wenn du willst, kann ich dich begleiten.“

Samir führte Mia die Strasse entlang und bog dann rechts in ein Wohngebiet ein. Mia nützte die Gelegenheit und fragte:

„Wo kann ich eigentlich all den Müll hinbringen? Gibt es so etwas wie eine Müllabfuhr?“

„Leider nein, aber nicht weit von hier ist ein Müllplatz. Du kannst deine Sachen dahin bringen. Wenn du willst, kann ich meinen Onkel bitten, dass er mir seinen Lieferwagen ausleiht. Dann kann ich dich fahren.“ Mia war nicht gerne auf andere angewiesen. Aber was konnte sie anderes tun, als seine Hilfe anzunehmen? Wenn sie wirklich etwas aus diesem Haus machen wollte, musste sie jede Gelegenheit nutzen, die sich ihr bot.

Samir zeigte Mia den Einkaufsladen. Sie betraten den kleinen, weissen Raum. Zu beiden Seiten stand eine Türe weit offen und in der Mitte hing ein grosser Ventilator. Die Ladenfläche war mit Regalen vollgestellt, auf denen die unterschiedlichsten Lebensmittel ausgestellt waren. Es war nur ein kleiner Markt, der Mia entfernt an den kleinen Tante-Emma-Laden erinnerte, bei dem sie früher manchmal mit ihrer Mutter eingekauft hatte. Mia suchte sich ein paar Dinge zusammen. Käse, Pasta, Tomatensauce, Milch, Joghurt und ein paar Kekse. Dann packte sie auch noch Putzmittel, Schwämme und diverse andere Reinigungsmittel auf die Theke. Sie wandte sich an Samir:

„Gibt es hier kein Gemüse oder Früchte zu kaufen?“, wollte sie wissen.

„Klar, aber da müssen wir in ein anderes Geschäft. Komm mit.“ Sie bezahlte ihre Einkäufe und folgte Samir in den Gemüseladen gleich um die Ecke.

Der Raum war nicht viel grösser als im Supermarkt und Mia staunte über das Angebot. Alles war hier so anders als zu Hause. Holzkisten mit Datteln, Orangen, Trauben, Kartoffeln, Tomaten, Gurken, Kohl und vielem mehr waren zu Türmen aufeinandergestapelt und über der Kasse hingen ganze Bananenbüschel. Es roch irgendwie süsslich und doch erdig. Mia suchte ein paar Sachen aus und legte sie auf den Tresen. Sie erstand sogar ein paar frische Erdbeeren. Ein Mann an der Kasse mass ihre Einkäufe mit einer Waage ab, die Mia nur noch aus der Brockenstube kannte. Er legte die Früchte auf die eine Waagschale und legte auf der anderen Seite so viele Gewichtsteine dazu, bis sich die beiden Schalen die Waage hielten. Mia schmunzelte, als sie ihm zuschaute. So etwas würde sie in der Schweiz nirgends mehr finden.

Als sie die Früchte und das Gemüse bezahlt hatte, führte Samir sie noch in die Bäckerei, in der Mia frisches Fladenbrot kaufen konnte. Das Brot kam direkt aus dem Backofen und duftete so lecker, dass Mia sich ein noch warmes Stück in den Mund steckte. Als sie noch Wasser kaufen wollten, winkte Samir ab. Er werde Ali sagen, dass er Wasser für Mia besorgen solle. Der sei stärker als sie und würde ihr das Wasser schon ins Haus tragen.

Vier Tage lang schleppte Mia zusammen mit Ali weiter Dinge aus dem Haus. Als die Schlafzimmer erst einmal leer waren, ging es im Badezimmer weiter, dann kamen die anderen Räume dran. Die Küche stellte sich als richtige Herausforderung heraus. Zum einen, weil dieser Raum voll mit hunderten von Dingen war, zum anderen, weil Mia immer beurteilen musste, was nur schmutzig und was nicht mehr zu verwenden war. Sie sortierte säuberlich alle Dinge aus. Teller, die noch ganz waren, Pfannen, die nur geputzt werden mussten, neben Schüsseln und Gläsern, die einen Sprung oder eine Delle hatten. Der Vorplatz des Hauses wurde immer voller. Samir hatte sein Versprechen gehalten und war bereits am nächsten Abend mit dem Lieferwagen seines Onkels vorbeigekommen. Gemeinsam beluden sie die Ladefläche und fuhren mit dem Gerümpel zur Müllhalde. Samir besuchte Mia und Ali auch öfters tagsüber und half, wo gerade Not am Mann war. Vor allem bei den ganz schweren Gegenständen war Mia froh, dass die zwei Männer ihr halfen.