Ein Stern über dem Sinai - Regula Fuchs - E-Book

Ein Stern über dem Sinai E-Book

Regula Fuchs

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Beschreibung

Anna wurde als Baby in England adoptiert. An ihrem 20. Geburtstag erfährt sie, wer ihre leiblichen Eltern sind und macht sich auf die Suche nach ihren Wurzeln. Ihre Reise führt Anna in den Sinai, wo ihre Eltern gelebt haben. Sie gräbt immer weiter in der Vergangenheit und stößt auf ein gefährliches Geheimnis.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

1

Es war schon weit nach Mitternacht, aber Anna dachte nicht daran, ins Bett zu gehen. Heute hatte sie den zwanzigsten Geburtstag gefeiert und ihre Eltern hatten ein grosses Überraschungsfest für sie organisiert – eine wunderschöne Feier! Sie schaute in den Garten hinaus, zu den Tischen und Bänken, die sie nach dem Essen ziemlich achtlos auf eine Seite des Rasens geschoben hatten, um unter den grossen Pappelbäumen Platz zum Tanzen zu machen. Ihre Eltern hatten den ganzen Tag damit verbracht, Tische aufzubauen, genügend Bänke und Stühle anzuschleppen und den ganzen Garten zu schmücken. Ihr Anwesen war gross und ein idealer Ort für eine Geburtstagsparty. Ihre Mutter hatte Lampions in die Bäume gehängt, die zahlreich den schön gemähten Rasen säumten. Die Blumenbeete ihrer Mutter schienen an diesem Abend ganz besonders schön in allen Farben zu leuchten. Als es dunkel wurde, stand der Mond am Himmel und die Sterne funkelten. Und ihre Freundin meinte sogar eine Sternschnuppe gesehen zu haben. Der Abend war einfach toll gewesen. Sie hatten gegessen, geplaudert und bis in die tiefe Nacht hineingetanzt.

Anna sass auf dem Sofa und dachte über den Abend nach. Wie hatte sie es genossen, ihre engsten Freunde versammelt zu haben. Seit sie alle von der Schule abgegangen waren und jeder seinen eigenen Weg ging, trafen sie sich nicht mehr so oft wie früher. Anna hatte sich für ein Jurastudium an einer nahen gelegenen Universität entschieden und konnte weiterhin zuhause bei ihren Eltern wohnen. Annas Wunsch war, einmal Richterin an einem hohen Gericht zu sein. Sie hatte schon immer einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und ihre Eltern hatten diesen zusätzlich gefördert. Aber nun wollte sie erst einmal die langen Semesterferien geniessen und nicht an Lehrbücher denken.

Anna erinnerte sich daran, wie glücklich ihre Eltern heute gewesen waren. Sie sah ihren Vater vor sich, wie er den Kuchen mit den zwanzig Kerzen in den Garten getragen hatte. Seine Augen hatten vor Freude geglänzt. Er hatte sie in den Arm genommen und ihr ins Ohr geflüstert, wie stolz er auf sie sei! Annas Eltern hatten ihr nie verschwiegen, dass sie nicht ihre leiblichen Eltern waren und dennoch waren es für Anna die besten und liebsten Eltern, die sie sich nur vorstellen konnte. Sie war als Baby zu ihren jetzigen Eltern gekommen und von klein auf in dieser Familie aufgewachsen. Wer ihre leiblichen Eltern waren, hatte sie nicht interessiert. Warum auch? Sie hatte Eltern, die ihr alles gaben, was sie brauchte, Liebe, Zuneigung, Vertrauen. Anna dachte wieder an ihren Vater und wie er sie ins Wohnzimmer gerufen hatte, als die Gäste gegangen waren. Er hatte sie gebeten, sich zu ihm aufs Sofa zu setzen.

„Anna, es gibt da etwas, das ich dir zeigen will. Deine Mutter und ich haben kaum mit dir über deine leiblichen Eltern gesprochen, aber wir haben versprochen, dir an deinem zwanzigsten Geburtstag etwas zu übergeben.“

„Was soll das Dad?“, hatte Anna erstaunt gefragt. „Ich hatte ein wunderschönes Fest und bin müde. Lass uns doch einfach schlafen gehen. Morgen ist auch noch ein Tag und wenn du mit mir über meine leiblichen Eltern reden musst, dann hat das auch Zeit bis morgen.“ Aber ihr Vater hatte nicht so schnell nachgegeben.

„Lass mich ausreden, Anna. Es gibt etwas, das du haben sollst.“ Ihr Vater hatte ihr einen Koffer überreicht, der jetzt vor ihr auf dem Tisch lag. Ein Koffer, der ihrer Mutter gehört hatte, ihrer leiblichen Mutter. Die Dinge, die darin seien, gehörten jetzt ihr, hatte ihr Vater erklärt. Ihre Eltern hatten den Koffer zwanzig Jahre aufbewahrt, ihn aber nie geöffnet. Sie wussten immer, dass sie ihn Anna übergeben würden – an ihrem zwanzigsten Geburtstag.

Anna betrachtete den Koffer auf dem Tisch. Eine Spannung war über sie gekommen. Würde der Inhalt des Koffers ihr einen Einblick geben, wer ihre leibliche Mutter gewesen war? Wollte sie dies überhaupt wissen? Wieso sollte sie sich nach so langer Zeit für eine Frau interessieren, die sie nicht einmal gekannt hatte? Und doch wurde sie neugierig. Was würde der Inhalt des Koffers ihr über ihre leibliche Mutter erzählen? Alles, was sie von ihr wusste, war, dass sie bei einem Flugunglück ums Leben gekommen war. Die Maschine war von Ägypten aus gestartet und bei der Landung in England hatte die Maschine Feuer gefangen. Ihre Mutter wurde sofort in ein Krankenhaus gebracht, war aber später ihren starken Verbrennungen erlegen. Anna hatte das Unglück überlebt. Weil ihre leibliche Mutter keine Verwandten hatte und Annas Vater nicht aufgespürt werden konnte, hatten die Behörden Anna zur Adoption freigegeben. Sie war am ersten Juli, einen Monat nach ihrer Geburt, zu ihren Adoptiveltern gekommen. Ihre Familie feierte jedes Jahr sowohl Annas Geburtstag wie auch den 1. Juli. Für ihre Eltern war dies der schönste Tag in ihrem Leben und sie wollten sich jedes Jahr wieder an ihr Glück erinnern. Als Kind war ihr das natürlich nur recht gewesen. Wer sonst hatte schon zweimal im Jahr Geburtstag?

Anna schaute wieder auf den Koffer vor sich. Sie hatte noch nicht den Mut gehabt, ihn zu öffnen. War es ein Verrat an ihren jetzigen Eltern, wenn sie plötzlich Interesse an der leiblichen Mutter zeigte? Andererseits hatten ihre Eltern ihr den Koffer ja gegeben. Anna nahm ihn und öffnete vorsichtig den Deckel. Das erste, was ihr in die Hände fiel, war ein grosses, rotes Fotoalbum. In Annas Bauch begann es zu kribbeln, so nervös war sie. Sie schlug das Fotoalbum auf und der Blick auf das grosse Foto, raubte ihr für eine Sekunde den Atem. Das Foto zeigte eine junge, hübsche Frau mit blauen Augen und braunem Haar, das von der Sonne fast blond geworden war. Die Frau hatte ein faszinierendes Lachen. Anna wusste sofort, dass das ihre Mutter war. Es war, als würde Anna in einen Spiegel schauen. Annas Haar und ihre Haut waren zwar nicht so hell, wie bei der Frau auf dem Bild und ihre Augen waren nicht blau, sondern schwarz. Dennoch sah sie dieser Frau unheimlich ähnlich. Und was sie am meisten verwirrte: Sie hatten beide das gleiche Lachen.

Anna schaute das Bild lange an. Annas Freunde und Bekannten waren immer wieder von ihrem Lachen fasziniert gewesen. Ob es ihrer Mutter auch so ergangen war? Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich mit ihrer richtigen Mutter ein wenig verbunden. Ein seltsames Gefühl. Die plötzliche Verbundenheit verstärkte auch ihre Neugier. Sie blätterte weiter. Die erste Serie Bilder stammten wohl von einem Urlaub, den ihre Mutter mit ihrer besten Freundin Timea verbracht hatte. Anna erkannte Tante Timea in ihren jungen Jahren. Ihre Tante war die Einzige, die eine Verbindung zu Annas leiblicher Familie herstellte. Als Anna nach dem Tod ihrer Mutter zur Adoption freigegeben wurde, hatte Tante Timea bei der Auswahl der neuen Eltern mitgeholfen und darauf bestanden, mit Anna in Kontakt zu bleiben. Anna liebte Tante Timea sehr. Leider hatten sie in den letzten Jahren immer seltener Kontakt. Tante Timea zog mit der ganzen Familie in eine andere Stadt, als ihr Mann dort eine Stelle angenommen hatte. Das war jetzt gut zehn Jahre her. In den ersten Jahren hatten sich Anna und Tante Timea noch öfters getroffen. Seit ihrem letzten Besuch musste es aber schon rund zwei Jahre her sein. Anna betrachtete Tante Timea und ihre Mutter auf den Bildern, wie sie fröhlich in ihren knappen Bikinis am Strand posierten oder sich im Sand an der Sonne räkelten, und sie merkte, wie sehr sie Tante Timea vermisste. Sie wollte Tante Timea bald besuchen. Das wäre eine gute Gelegenheit, mehr über den Urlaub auf den Bildern und ihre Mutter zu erfahren. Sie blätterte weiter. Die Bilder zeigten Leute, die Anna nicht kannte. Auf einem Bild sass ihre Mutter mit einer älteren Frau auf einem Sofa. Ob das ihre Grossmutter war? Von Tante Timea wusste sie, dass ihre Grossmutter gestorben war, bevor ihre Mutter nach Ägypten zog. Sie hatte ihr auch erzählt, dass sich ihre Mutter in Ägypten in einen Einheimischen verliebt hatte und mit ihr, Anna, schwanger geworden war. Anna schaute sich die weiteren Bilder an. Würde sie ein Bild ihres leiblichen Vaters finden? Vielleicht ein gemeinsames Foto von ihrer Mutter und ihrem Vater? Auf den hintersten Seiten des Albums fand sie einige Bilder von arabisch aussehenden Männern, wusste aber nicht, ob einer davon ihr Vater sein könnte. Sie sah keinem der Männer irgendwie ähnlich, und einen anderen Anhaltspunkt hatte sie ja nicht. Erneut nahm sie sich vor, Tante Timea möglichst bald zu besuchen und mit ihr die Bilder anzuschauen. Anna legte das Album beiseite und blickte aus dem Fenster. Draussen hatte es angefangen zu regnen. Wie schnell sich doch das Wetter in England ändern konnte. Anna liebte es, wenn ein Gewitter aufzog und es blitzte und donnerte. Sie stand auf, ging zum Fenster und schaute eine Weile in den Regen hinaus. Ihre Gedanken waren bei ihrer Mutter. Ob sie dieses Wetter auch gemocht hatte? Wahrscheinlich nicht, sie hatte ja lange in Ägypten gelebt und dort regnete es kaum. Sie musste die Sonne und die Wärme geliebt haben. Anna überlegte, ob sie ihrer Mutter überhaupt ähnlich war. Aufgrund des Fotos konnte sie nicht leugnen, dass sie eine grosse äusserliche Ähnlichkeit hatten, aber hatten sie auch sonst Gemeinsamkeiten? Wie war sie, als sie in Annas Alter war? Wie hatte sie ihren zwanzigsten Geburtstag gefeiert? Was wäre, wenn sie noch leben würde? Hör auf, mit diesen trüben Gedanken, ermahnte sie sich streng. Sie legte das Fotoalbum in den Koffer zurück und schaute, was sich sonst noch im Koffer befand. Sie nahm ein blaues, schmuckloses Kästchen heraus, in dem sie verschiedene Briefumschläge fand. Sie öffnete einen Brief und schaute auf das Datum. Mai 1988 – zwei Jahre bevor Anna geboren wurde. Sie blätterte die Seiten durch, wollte den Brief aber nicht jetzt lesen. Dazu war sie zu aufgewühlt. Im Koffer lagen noch ein altes Strandtuch und ganz zuunterst zwei kleine Schmuckschachteln. Die eine war in blauen Samt gefasst und hatte eine arabische Inschrift in Gold. Der Name des Juweliers, dachte Anna, und öffnete sie. Sie fand darin einen goldenen Ring, der in der Mitte einen in Gold gefassten, blauen Stein trug. Anna kannte sich mit Steinen nicht aus. Ihre Freundin hatte jedoch lange einen gleichen Stein an einer Kette getragen, deshalb wusste sie, dass es ein Lapislatsuli war. Ein goldener Ring mit einem grossen blauen Stein. Ob er ein Geschenk für meine Mutter gewesen war? Das zweite Kästchen war weinrot und etwas grösser. Als Anna es öffnete, fand sie darin einen zweiten Ring und eine goldene Halskette mit einem Anhänger. Sie nahm die Kette aus der Schachtel und betrachtete den Anhänger. Es war ein seltsamer, goldener Schlüssel. Anna legte die Kette in die Schachtel zurück und nahm den Ring in die Hand. Auch dieser war aus Gold, ziemlich breit und mit ägyptischen Schriftzeichen verziert. Der Ring gefiel ihr. Sie steckte ihn an den Finger und erschrak. Plötzlich fühlte sie sich ihrer Mutter ganz nah. Ihr wurde bewusst, dass es kein Zurück mehr gab. Die Jahre in der sie ihre Herkunft ignorieren konnte, waren vorbei. Anna war ihrer leiblichen Mutter zu nahe gekommen. Sie wollte herausfinden, wer ihre Mutter gewesen war.

Peter Smith sass aufrecht in seinem Bett. Auch er konnte nicht schlafen. Neben sich hörte er seine Frau Silvia tief atmen. Sie war sofort eingeschlafen, als sie zu Bett gegangen waren. Peter hingegen sass schon über eine halbe Stunde im Bett und starrte ins Dunkle.

War es richtig gewesen, Anna diesen Koffer zu geben? Jetzt hatte er wenigstens seinen Teil der Abmachung gehalten. Seine Gedanken gingen zurück in die Vergangenheit, zurück zu dem Tag, als er Timea Bodin zum ersten Mal getroffen hatte. Silvia und er hatten die Hoffnung auf ein eigenes Baby schon lange aufgegeben. Auch alle Versuche, ein Kind zu adoptieren, waren bis zu diesem Zeitpunkt gescheitert. Dann, eines Nachmittags, hatte ihn ein guter Freund angerufen und zu sich in die Arztpraxis gebeten. Da hatte er auch Timea zum ersten Mal gesehen. Sie hatte einen rot orangen Mantel getragen und starrte Peter aus tiefverweinten Augen an. In der Tasche, die sie bei sich trug, hatte sie ein Baby – Anna!

Die Abmachungen waren schnell getroffen. Timea hatte sich im Vorfeld genauestens über die Familie von Peter Smith erkundigt und wusste praktisch alles über ihn. Schweren Herzens hatte sie sich von dem Kind getrennt, nicht ohne das Versprechen zu bekommen, mit dem Kind in Kontakt bleiben zu dürfen. Sie übergab Peter einen Koffer und er musste beteuern, dem Mädchen die Sachen der Mutter am zwanzigsten Geburtstag zu übergeben. Olivia, die Mutter des Babies, war Timeas beste Freundin gewesen und es fiel ihr unendlich schwer, das Kind wegzugeben.

Doch sie wusste, dass sie dem Kind nie ein so gutes Zuhause bieten könnte, wie Peter und Silvia. Sie vertraute darauf, dass die Smiths gut für das Kind sorgen würden. Eine Hintertür hatte sie sich offengelassen, sie wollte das Aufwachsen des Kindes miterleben. In früheren Jahren war Timea oft zu Besuch gekommen und hatte auch viele Nachmittage mit Anna verbracht. Anna wusste, dass Timea eine gute Freundin ihrer Mutter gewesen war. Dennoch hatte das Kind kaum nach ihrer leiblichen Mutter gefragt. Und Timea selber hat das Thema nicht angeschnitten – dies war auch ein Teil der Abmachung.

Obwohl Peter wusste, dass er versprochen hatte, Anna den Koffer an ihrem zwanzigsten Geburtstag zu übergeben, hatte er dabei doch ein schlechtes Gefühl. Was war in dem Koffer drin? Timea hatte ihm zwar versichert, dass es nur einige kleine Besitztümer Olivias seien. Aber was würde der Koffer in Anna auslösen? Würde sich dadurch etwas zwischen Anna und ihnen verändern?

Noch eine andere Frage brannte in Peters Kopf. War es richtig gewesen, Anna im Glauben zu lassen, ihre leibliche Mutter sei bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen? Silvia und Peter hatten Anna in Bezug auf ihre Herkunft immer die Wahrheit gesagt. Sie wusste, dass sie adoptiert war, dass ihre Mutter Engländerin und ihr Vater Ägypter war. Sie wusste, dass ihre Mutter kurz nach Annas Geburt bei einem Flugzeugunfall ums Leben gekommen war. Von Annas leiblichem Vater hatten sie nie etwas gehört. Timea hatte damals gesagt, es sei für den Vater in Ordnung, das Kind zur Adoption freizugeben und Peter hatte nicht nachgefragt.

Peter dachte wieder an die Lüge, die sie Anna all die Jahre erzählt hatten. Aber wie hätte Peter seinem Kind erklären können, dass seine Mutter eine Versagerin gewesen war? Wie hätte ein junges Mädchen verstehen sollen, weshalb sich seine Mutter das Leben genommen hatte, wo sie doch gerade ein Baby zur Welt gebracht hatte.

Würde Anna die Wahrheit herausfinden und wenn ja, würde sie ihnen die Lüge verzeihen? Würde sie einsehen, dass alles nur zu ihrem Besten geschehen war. Er hatte Angst, Angst, dass die Liebe seiner Tochter getrübt werden könnte. Er sah Anna vor sich, wie sie im Wohnzimmer geblieben war und wusste, dass sie den Koffer öffnen würde. Wie sie sich wohl dabei fühlte? Er wollte aufstehen und zu ihr gehen und doch wusste er, dass er sie jetzt alleine lassen musste.

Erst als er sah, dass im Wohnzimmer das Licht ausging und er Annas Schritte an seinem Zimmer vorbeigehen hörte, legte er sich hin und versuchte zu schlafen.

2

Sie kam auf ihn zu. Das Gesicht voller Blut, die Augen geschwollen und aufgesprungen, die Arme gebrochen und nach hinten gebogen. Schleppend näherte sie sich. Nun war sie nur noch wenige Zentimeter von ihm entfernt. Ihr Gesicht verzog sich zu einem Lachen, das But rann aus ihren Augen….

Nassgeschwitzt schreckte Samah aus dem Schlaf auf. Wieder, wie in so vielen Nächten zuvor, war er von seinem eigenen Schrei aufgewacht. Er knipste das Licht an. Das grelle Licht der kahlen Lampenbirne, die an der Decke hing, blendete ihn. Erst da wurde ihm bewusst, dass er alleine in seinem Zimmer war. Wieder hatte er nur geträumt.

Samah sass im Bett und sah sich um. Sein Zimmer war klein, hatte weisse Wände, eine weisse Decke und weissen Plattenboden. Er hatte diese Wohnung vor einiger Zeit gemietet, weil er für sich alleine keine grössere Wohnung brauchte. Seit ihn seine letzte Freundin verlassen hatte, war er alleine geblieben und die zwei Zimmer, das Bad und die Küche reichten ihm. Im Bad gab es eine Dusche, eine Toilette und ein kleines Spülbecken. Alles Standardware von Luxe, einfach und weiss. Wenn er duschte, verspritzte das Wasser den ganzen Raum. Auch die Küche bot wenig Luxus: ein Spülbecken, ein alter Gasherd und kaum genügend Platz, um etwas zuzubereiten. „Aber so haben auch Mäuse und Kakerlaken wenig Platz, sich auszubreiten“, dachte Samah. Ihm war das egal. Hauptsache er hatte ein Bett und eine Dusche. Er stand auf und ging ins Bad. Es war heiss im Zimmer. Er liess sich das kalte Wasser der Dusche über Gesicht und Körper laufen und dachte darüber nach, wie lange er diese Alpträume schon hatte. In den ersten Jahren nach ihrem Tod war es noch nicht so schlimm gewesen. Samah hatte diese Träume zwar auch, aber nur selten. In den letzten fünf Jahren häuften sie sich jedoch und waren zeitweise so regelmässig, dass er es vor seiner damaligen Freundin kaum verstecken konnte. Die Schreie habe sie sich eingebildet, wich er aus, er sei einfach nur aufgewacht. Aber mit der Zeit glaubte sie ihm nicht mehr. Zum Glück war er jetzt alleine und musste nicht mehr den fragenden Blicken ausweichen.

Er trocknete sich ab und frottierte sich die langen, krausen Haare, die von der Sonne ganz ausgebleicht waren. Wenn ihn seine Mutter so sah, konnte sie es nicht lassen, immer wieder davon anzufangen, was sein Vater von solchen Haaren gehalten hätte. Aber auch das war ihm egal. Er arbeitete auf und im Meer und war den ganzen Tag an der Sonne. Die Sonne war hier in der Wüste besonders stark und niemand konnte sich vor ihren Strahlen schützen. Sein Vater hätte das verstanden, wäre er noch am Leben gewesen.

Samah ging zurück ins Bett und zog das weisse Leinentuch über sich. Eigentlich war es viel zu heiss im Zimmer für eine Decke und doch gab sie ihm ein beschützendes Gefühl. Er versuchte, die Gedanken an den Traum zu verdrängen und an etwas Anderes zu denken. An die Frau, die heute im sexy roten Minirock bei ihm in der Tauchschule gewesen war. Ob etwas daraus werden könnte? Gewiss, redete er sich ein. In den Jahren, in denen er nun schon in diesem Touristenort arbeitete, hatte er die Macht seines Charmes kennengelernt. Er dachte an die schönen, langen Beine und versuchte dabei einzuschlafen. Das grelle Licht der Lampenbirne liess er brennen.

Die Sonne schien durchs Fenster als Anna erwachte und den Wagen ihrer Mutter wegfahren hörte. Sie stand auf, schlüpfte in ihre Hausschuhe und ging runter in die Küche. Auf dem runden Tisch in der Küche hatte ihre Mutter einen Zettel hinterlassen: Bin im Büro, komme heute Abend nicht spät. Wenn du etwas brauchst, rufe mich an. Ich liebe dich, Mam!

Als Anna fünfzehn war, hatte Silvia Smith wieder angefangen zu arbeiten. Anna störte das nicht. So hatte sie das Haus manchmal für sich alleine. Gerade heute war sie sehr froh darüber. Mit einer Schale Cornflakes ging sie in ihr Zimmer zurück, setzte sich aufs Bett und nahm den Koffer mit den Sachen ihrer leiblichen Mutter unter dem Bett hervor. Wie schon am Abend zuvor, durchfuhr sie dabei ein seltsames Gefühl. Sie spürte eine tiefe Verbundenheit zu einer Frau, die sie nicht kannte. Es war, als ob diese Frau ihre tiefsten Geheimnisse vor ihr ausbreiten würde und sie wünschte sich, alles über sie zu erfahren. Anna nahm das rote Fotoalbum aus dem Koffer und schaute sich die Bilder nochmals an. In diesem Moment fasste sie einen Entschluss. Sie schloss das Buch, legte es in den Koffer zurück und ging zum Kleiderschrank. Sie musste Tante Timea sehen. Sie hatte einen freien Tag vor sich. Weshalb sollte sie nicht zu ihr fahren? Wenn sie sich beeilte, könnte sie den nächsten Zug erwischen und zum Mittagessen bei Tante Timea sein. Vielleicht hätten sie beide nach dem Essen etwas Zeit, sich zu unterhalten. Es gab plötzlich so vieles, das Anna wissen wollte. Schnell schlüpfte sie in ihre Jeans und ein T-Shirt und nahm noch einen etwas wärmeren Pulli aus dem Schrank. Dann raste sie ins Badezimmer, putzte die Zähne, wusch sich das Gesicht und kämmte die Haare. Schon war sie fertig. Anna war schon fast aus der Türe, als ihr in den Sinn kam, dass sie ihren Eltern eine Nachricht hinterlassen musste. „Ach was“, dachte Anna dann. „Ich kann später im Zug eine SMS schicken. Sie sind ja nicht vor heute Abend wieder zu Hause und bis dahin bin ich auch zurück.“ Anna nahm ihr Fahrrad und radelte Richtung Bahnhof. Sie schloss ihr Fahrrad mit einer dicken Kette ab und ging zum Billettschalter. Ihr Zug würde in einer Viertelstunde ab Gleis drei fahren. Also noch genug Zeit, sich an der Snackbar gegenüber vom Bahnhof einen Orangensaft zu holen.

Anna setzte sich in ein Abteil ganz vorne, schlug ihr Buch auf und begann zu lesen. Anderthalb Stunden später hielt der Zug und sie stieg aus. Auf einem Plan orientierte sie sich, welchen Bus sie nehmen musste. Als sie bei der angegebenen Bushaltestelle ausstieg, kam ihr die Gegend wieder bekannt vor. Diese Strasse gerade aus, dann links am Feinkostladen vorbei und dann nur noch die Strasse entlang. Und schon stand Anna vor Tante Timeas Haus. Es war ein schönes, weisses Haus mit freundlichen Vorhängen an den Fenstern. In der Einfahrt lagen Kinderfahrräder, Plastikautos, Puppenwagen, Rollschuhe und lauter weitere Dinge rum. Auch Tante Timeas alter roter Fiat stand vor der Garage. Sie musste also zuhause sein. Anna wurde plötzlich unsicher. Sie freute sich zwar darauf Tante Timea wiederzusehen, fragte sich aber, ob sie sich hätte anmelden sollen. Was, wenn sie ungelegen kam? Aber da half jetzt alles Überlegen nichts mehr, jetzt war sie da und würde auch klingeln. Die Türe ging auf und ein kleiner, dunkelhaariger Junge mit grossen Augen stand vor ihr. Das musste Lukas sein. Sie hatte ihn zum letzten Mal gesehen, als er noch ein Baby war. Natürlich konnte sich Lukas nicht mehr an sie erinnern.

„Hallo, Lukas?“ Der kleine Junge sah sie mit grossen Augen an. „Ist deine Mama da? Kannst du sie bitte mal rufen?“ Als Lukas sich nicht regte, nahm ihn Anna bei der Hand, drehte ihn um und sagte:

„Komm Lukas, wir gehen rein und schauen, ob wir deine Mutter finden.“ Da kam Tante Timea auch schon um die Ecke:

„Lukas, wolltest du nicht die Türe öffnen? Wer ist denn da?“ Als sie Anna sah, blieb sie stehen. Die beiden Frauen musterten sich. Tante Timea sah immer noch genau gleich aus. Ihre langen braunen Haare hatte sie nach hinten gebunden. Sie trug einen farbigen Rock und dazu ein grelles, grünes Oberteil. In die Haare hatte sie ein grünes Tuch geflochten. Timea schloss Anna in die Arme.

„Kind, ist das schön, dich zu sehen.“ Sie drückte sie und drückte sie und wollte gar nicht mehr loslassen. Anna kannte diese stürmischen Umarmungen und fühlte sich plötzlich wieder ganz wohl. Wie hatte sie nur einen Moment daran zweifeln können, dass Timea sich freuen würde!

Tante Timea bat Anna in die Küche. Da duftete es schon lecker nach Gemüsesuppe. Tante Timea setzte Wasser auf den Herd und nahm etwas aus dem Kühlschrank.

„Möchtest Du etwas zu trinken?“ Timea stellte Anna ein Glas Limonade auf den Tisch und wendete sich wieder ihrer Arbeit zu. Lukas hatte sich unterdessen ins Wohnzimmer zu seinen Autos verzogen.

„Anna, Liebes, es stört dich doch nicht, wenn ich noch schnell etwas fürs Mittagessen vorbereite? Christina und Pete werden bald mit einem riesigen Hunger aus der Schule kommen. Sobald wir gegessen haben, werden wir in Ruhe Zeit zum Plaudern haben. Schön, dass du da bist.“ Tante Timea lachte sie mit ihren lieben Augen an. „Und jetzt erzähl mal, wie es dir so geht!“ Anna setzte sich an den runden Küchentisch, trank ihre Limonade und fing an zu erzählen. Sie berichtete von ihrem Studium, von den Semesterferien und erzählte, wie es ihrer Familie ging. Als Christina und Pete kurze Zeit später zur Haustüre hereinstürzten, stand Anna auf und half Tante Timea den Tisch zu decken. Bald sassen sie alle am Tisch, verschlangen Suppe, Würstchen und selbstgebackenes Brot, lachten und erzählten. Sie hatten einander so lange nicht mehr gesehen, dass es wirklich viel zu berichten gab. Timea erzählte Geschichten von den Kindern und von der neuen Arbeit ihres Mannes. Als sie alles verdrückt hatten, durften sich die Kinder noch ein Eis aus der Kühle nehmen und verzogen sich zum Spielen. Timea legte Wasser auf und begann, Kaffee zu kochen. Anna half ihr, den Tisch abzuräumen. Als sie beide bei einer Tasse Kaffee und selber gebackenen Ingwerplätzchen sassen, fragte Tante Timea:

„Anna, sag mir, du bist doch nicht einfach so zu einem Besuch gekommen. Gibt es einen speziellen Grund? Liegt dir etwas auf dem Herzen?“

„Ja, Tante Timea, du hast recht, es gibt einen Grund, weshalb ich dich so Hals über Kopf besuchen komme. Ich wollte mit dir über meine Mutter sprechen – meine leibliche Mutter.“

„Über deine Mutter“, wiederholte Timea und schaute Anna an. Sie sagte einen Moment gar nichts. Anna hatte das Gefühl, noch etwas hinzufügen zu müssen und begann zu erklären:

„Weisst du, ich habe gestern die Fotos angeschaut, die im Koffer meiner Mutter waren und…“ Anna verstummte.

„Du hast also den Koffer bekommen. Tja, eigentlich hatte ich immer gehofft, dass du einmal etwas über deine Mutter erfahren willst.“ Tante Timea begann zu erzählen: „Deine Mutter war, wie du weißt, meine beste Freundin. Wir waren unzertrennlich, schon als Kinder. Es gab kein Mensch auf dieser Erde, der mir besser hätte zuhören können als deine Mutter. Sie war etwas ganz Besonderes. Alle Leute hat sie in ihren Bann gezogen. Wenn deine Mutter lachte, dann schien die Sonne. Sie hatte aber auch einen festen Willen, das kann ich dir sagen. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann musste es so geschehen. Manchmal machte sie uns alle ganz verrückt damit!“ Tante Timea lachte. „Deine Mutter war so ein guter Mensch! Ich habe sie über alles geliebt.“

„Bitte Tante Timea, erzähl mir mehr über meine Mutter. Weshalb ging sie nach Ägypten? Wo hat sie meinen Vater kennengelernt? Wie hat sie gelebt? Was hat sie gearbeitet? Was mochte sie und was ärgerte sie?“ Timea schaute Anna nur ruhig an.

„Anna, ich kann dir diese Fragen nicht alle beantworten. Wenn ich es tun würde, dann wären es nur Worte. Wenn du deine Mutter wirklich kennenlernen willst, dann folge ihren Spuren. Geh ins Land, das sie so sehr geliebt hat. Lerne die Leute kennen, die sie so stark beeindruckt haben. Schau dir den Sternenhimmel an, unter dem sie sich in deinen Vater verliebt hat. Dann wirst du deine Mutter kennenlernen, weil du sie fühlen wirst. Ich selber gehe einmal im Jahr zurück in diese Gegend, gehe in die Sinai-Wüste, schaue mir die Sterne an und spüre den Geist deiner Mutter. Sie ist da und zeigt mir den Weg, hilft mir, meine Probleme zu lösen und gibt mir Kraft, wenn ich mutlos bin. Genauso, wie sie es früher immer getan hat. Mädchen, wenn du wirklich wissen willst, wer deine Mutter war, dann fahr nach Ägypten. Mit Hilfe der Briefe und den darin erwähnten Personen wirst du sicher deinen Weg finden.“

3

„Es ist jetzt gerade zwölf Uhr dreissig und ich bin soeben aus dem Spital zurückgekommen. Die erste Gelegenheit, dir zu schreiben! Es tut mir leid, dass ich am Telefon etwas seltsam war, aber ich war gerade erst aufgewacht, als du angerufen hast und es waren noch viele andere Leute im Zimmer. Dennoch war dein Anruf das Beste, was mir in den letzten drei Tagen passiert ist und das Zweitbeste, was mir überhaupt passieren konnte, da ich ja nicht mit dir zusammen sein kann. Meine Tage im Spital waren ziemlich normal. Die Operation war in Ordnung und die Chemotherapie nichts Besonderes. Das Ding, das sie an meiner Brust befestigt haben, ist riesig und man kann es sogar durch meinen Pullover noch sehen. Es tut auch ein bisschen weh, aber ich werde damit leben können.