Dem Herrgott zuvorkommen - Hanna Krall - E-Book

Dem Herrgott zuvorkommen E-Book

Hanna Krall

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Beschreibung

In einer meisterhaften literarischen Montage konfrontiert Hanna Krall den stellvertretenden Kommandanten des Warschauer Ghettoaufstandes von 1943, Marek Edelman, mit dem heutigen Herzchirurgen Marek Edelman. Vergangenheit und Gegenwart fließen ineinander, die Todgeweihten des Ghettos erscheinen neben herzkranken Patienten des Lodzer Krankenhauses, die Kampfgefährten Edelmans neben seinen Medizinerkollegen. Eher zögernd und unwillig berichtet Edelman mit der ihm eigenen Distanz und Ironie über das Ghetto. Als einer von Vierhunderttausend hatte er als Zwanzigjähriger den Abgrund menschlicher Erniedrigung erlebt und das Elend unzähliger Namenloser mit angesehen. Mit vier Gleichaltrigen hatte er im April 1943 den Aufstand im Warschauer Ghetto ausgerufen. Es wäre tröstlich, den Kampf der Aufständischen zu zelebrieren, aber Edelman weigert sich, den Aufstand zu einem Mythos werden zu lassen, der die Demütigung und Vernichtung der Juden mit einem strahlenden Glanz der Glorie verdecken könnte. Kompromisslos bleibt er den Menschen verbunden, deren Weg zum »Umschlagplatz« er verfolgt hat und deren Tod er nicht verhindern konnte. Hanna Krall vermag der bodenlosen Trauer (literarisch) standzuhalten, die in einem Land, das zum Friedhof des europäischen Judentums wurde, in besonderer Weise präsent ist. In vielen Passagen geht dieses Buch weit über den dokumentarischen Wert eines einmaligen persönlichen Berichtes hinaus und wird zum Kommentar der »condition humaine«.

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Hanna Krall

 

Dem Herrgott zuvorkommen

 

Aus dem Polnischen

von Hubert Schumann

 

Mit einem Essay

von Tzvetan Todorov

 

Verlag Neue Kritik

 

»Dem Herrgott zuvorkommen« beruht auf der 1979 im Verlag Volk und Welt erschienenen deutschsprachigen Erstveröffentlichung. Der Text wurde für die vorliegende Ausgabe überarbeitet und entsprechend der letzten polnischen Fassung erweitert. Eine weustdeutsche Ausgabe des Werkes ist 1980 unter dem Titel »Schneller als der liebe Gott« erschienen.

 

Bei dem im Anhang abgedruckten Essay von Tzvetan Todorov »Voyage à Varsovie« handelt es sich um den Prolog zu seiner Studie »Face à l’extrême« (Paris 1991). Der Text wurde von Hubert Schumann ins Deutsche übertragen. Wir danken dem Verlag Editions du Seuil für die Abdruckgenehmigung.

 

 

© Hanna Krall 1977

Alle deutschsprachigen Rechte Verlag Neue Kritik 1992

Die E-Book-Ausgabe folgt der 3. Auflage der Printausgabe von 1993

© Todorov-Essay by Editions du Seuil 1991

© für die E-Book-Ausgaben Verlag Neue Kritik 2015

Umschlag Helmut Schade Frankfurt am Main

ISBN 978-3-8015-0566-0 (epub)

ISBN 978-3-8015-0567-7 (mobi)

ISBN 978-3-8015-0568-4 (pdf)

www.neuekritik.de

 

Inhalt

Text

Anhang

Klappentext

»Du hattest an jenem Tag einen flauschigen roten Wollpullover an. ›Einen herrlichen Pullover‹, sagtest du noch, aus Angorawolle. Ein sehr reicher Jude hatte ihn hinterlassen…‹ Zwei Lederriemen kreuzten sich mitten auf der Brust, und daran trugst du eine Handlampe. ›Lass dir erzählen, wie ich aussah!‹ sagtest du zu mir, als ich nach dem 19. April fragte…«

»Das habe ich gesagt?–Es war kühl. Im April sind die Abende kühl, vor allem wenn man nicht ausreichend ernährt ist. Darum trug ich den Pullover. Es stimmt, ich hatte ihn in den Sachen eines Juden gefunden. Eines Tages hatte man sie aus dem Keller geholt, und ich nahm mir den Angorapullover. Es war gute Qualität. Der Mann besaß einen Haufen Geld, vor dem Krieg hatte er dem Nationalen Verteidigungsfonds ein Flugzeug oder einen Panzer gespendet.

Ich weiß, dass du solche Geschichten magst. Sicher habe ich es deswegen erwähnt.«

»O nein. Du hast es erwähnt, weil du etwas zeigen wolltest. Nüchternheit und Gelassenheit. Darum ging es.«

»Ich rede einfach so, wie wir alle damals über diese Dinge gesprochen haben.«

»Also der Pullover, über Kreuz die beiden Riemen…«

»Setze noch zwei Revolver hinzu. Die gehörten zum Schick–an diesen beiden Riemen. Wir glaubten damals, jemand brauche nur zwei Revolver, dann habe er alles.«

»Der 19. April: Schüsse weckten dich, du zogst dich an…«

»Nein, noch nicht. Die Schüsse hatten mich geweckt, aber es war kalt. Außerdem war die Schießerei weit weg, es gab noch keinen Grund aufzustehen.

Um zwölf habe ich mich angezogen.

Ein Bursche war bei uns, er hatte von der arischen Seite Waffen gebracht. Er sollte gleich wieder zurück, aber es war zu spät. Als die Schießerei anfing, sagte er, seine kleine Tochter sei im Kloster in Zamość, er wisse, dass er das hier nicht überleben würde, ich aber würde durchkommen und solle mich nach dem Krieg um diese Tochter kümmern. Ich sagte: ›Schon gut, red jetzt keinen Quatsch.‹«

»Und?«

»Was ›und‹?«

»Ist es dir gelungen, die Tochter zu finden?«

»Ja, das ist gelungen.«

»Hör zu, wir haben ausgemacht, dass du erzählen wirst, nicht wahr? Es ist immer noch der 19. April. Es wird geschossen. Du hast dich angezogen. Der junge Mann von der arischen. Seite spricht von seiner Tochter. Was war dann?«

»Wir gingen los, weil wir uns in der Nachbarschaft umsehen wollten. Als wir einen Hof überquerten, waren dort mehrere Deutsche. Eigentlich hätten wir sie töten sollen, aber darin waren wir noch nicht geübt. Außerdem hatten wir ein bisschen Angst. So haben wir sie also nicht getötet.

Drei Stunden später verstummten die Schüsse.

Es wurde still.

Unser Gelände war das sogenannte Ghetto der Bürstenfabrik: das Gebiet zwischen den Straßen Franciszkańska, Świętojerska und Bonifraterska.

Das Fabriktor war vermint.

Als am nächsten Tag die Deutschen anrückten, lösten wir den Kontakt aus, an die hundert wird es erwischt haben. Das musst du übrigens irgendwo nachprüfen, ich weiß es nicht mehr genau. Überhaupt erinnere ich mich an immer weniger. Von jedem meiner Patienten könnte ich dir zehnmal soviel erzählen.

Als die Mine hochgegangen war, bildeten sie eine Schützenkette, um uns anzugreifen. Das gefiel uns. Wir waren vierzig, sie hundert, eine ganze Kolonne in Gefechtsordnung, und sie hielten sich geduckt. Man sah, sie nahmen uns ernst.

Gegen Abend schickten sie drei Mann mit gesenkten Maschinenpistolen und einer weißen Armbinde. Sie riefen, wir sollten die Waffen niederlegen, dann würden sie uns in ein Sonderlager schicken. Wir schossen auf sie; in Stroops Berichten habe ich diese Szene später wiedergefunden: Sie, die Parlamentäre, tragen eine weiße Flagge, und wir, die Banditen, eröffnen das Feuer. Übrigens haben wir keinen einzigen getroffen, aber das ist unwichtig.«

»Was soll das heißen–unwichtig?«

»Wichtig war einzig und allein, dass geschossen wurde. Das musste gezeigt werden. Nicht den Deutschen. Die konnten das besser. Der Welt mussten wir es zeigen, dieser anderen Welt, die nicht die deutsche war. Die Menschen haben immer geglaubt, das Schießen sei das größte Heldentum. Darum haben wir geschossen.«

»Wieso habt ihr ausgerechnet diesen Tag, den 19. April, dazu bestimmt?«

»Nicht wir, sondern die Deutschen haben das getan. An diesem Tag sollte die Liquidierung des Ghettos beginnen. Von der arischen Seite wurde uns telefonisch mitgeteilt, man bereite alles vor, die Mauern seien schon umstellt. Am Abend des 18. versammelten wir uns bei Anielewicz, alle fünf, der ganze Stab. Ich war mit meinen zweiundzwanzig Jahren wohl der Älteste, Anielewicz war ein Jahr jünger. Insgesamt, zu fünft, brachten wir es auf hundertzehn Jahre.

Viel wurde dort nicht mehr geredet. ›Wie sieht es aus?‹–›Jetzt sind aus der Stadt die Anrufe gekommen.‹ Anielewicz übernimmt das zentrale Ghetto, seine Stellvertreter–Geller und ich–die Bürstenfabrik und die Werkstätten von Toebbens.–›Na, auf morgen dann!‹ Nur dass wir uns verabschiedeten, was wir bis dahin nie getan hatten.«

»Warum ist gerade Anielewicz Kommandeur geworden?«

»Er wollte es so gern, da haben wir ihn gewählt. In seinem Ehrgeiz war er etwas kindlich, aber sonst begabt, belesen und voller Vitalität. Vor dem Krieg hatte er im Stadtteil Solec gewohnt. Seine Mutter handelte mit Fischen, und wenn sie sie nicht los wurde, schickte sie ihn nach roter Farbe, er musste die Kiemen färben, damit sie frisch aussahen. Er hatte immer Hunger. Als er aus dem Steinkohlenrevier kam und wir ihm zu essen gaben, schirmte er den Teller mit der Hand ab, damit ihm keiner etwas wegnahm.

Er hatte viel jugendlichen Eifer, viel Feuer, nur eine ›Aktion‹ hatte er vorher nie erlebt Er hatte noch nie gesehen, wie auf dem Umschlagplatz Menschen verladen wurden. Und so etwas–mit ansehen zu müssen, wie vierhunderttausend Menschen ins Gas geschickt werden–, das kann einen kaputtmachen.

Am 19. April trafen wir uns nicht. Erst am Tag darauf sah ich ihn wieder. Er war ein anderer Mensch geworden. Celina sagte: ›Weißt du, das ist gestern mit ihm geschehen. Er saß da und wiederholte nur: Wir werden alle umkommen…‹ Nur einmal kam wieder Leben in ihn: Als wir von der AK1 die Mitteilung erhielten, wir sollten im nördlichen Teil des Ghettos warten. Wir wussten nicht genau, worum es ging, übrigens kam nichts dabei heraus, den Jungen, der dort hingegangen war, verbrannten sie auf der Miła bei lebendigem Leibe. Den ganzen Tag hörten wir ihn schreien. Was meinst du, kann das noch jemanden beeindrucken: ein verbrannter junger Mann nach vierhunderttausend Verbrannten?«

»Ich glaube, dass ein verbrannter junger Mensch einen größeren Eindruck macht als vierhunderttausend, vierhunderttausend aber wiederum einen größeren als sechs Millionen. Ihr wusstet also nicht genau, worum es ging…«

»Er dachte, es käme Verstärkung, und wir redeten auf ihn ein: ›Hör schon auf, dort ist totes Gelände, da kommen wir nicht durch.‹

Weißt du was? Ich denke, im Grunde seines Herzens hat er an einen Sieg geglaubt.

Freilich, vorher hat er nie darüber gesprochen. Im Gegenteil. ›Wir gehen in den Tod‹, rief er, ›es gibt keine Umkehr, wir sterben für die Ehre, für die Geschichte…‹ Dergleichen Dinge sagt man ja in solchen Fällen. Aber heute meine ich, dass er die ganze Zeit über eine kindliche Hoffnung in sich trug.

Er hatte ein Mädchen, Mira, ein hübsches, hellhaariges, gutherziges Mädchen.

Am 7. Mai waren sie zusammen bei uns auf der Franciszkańska.

Am 8. Mai, auf der Miła, erschoss er zuerst sie, dann sich selbst. Jurek Wilner hatte gerufen: ›Sterben wir gemeinsam!‹ Lutek Rotblat erschoss Mutter und Schwester, dann begannen alle zu schießen, und als wir hinüberkamen, fanden wir nur wenige am Leben. Achtzig hatten Selbstmord begangen. ›So hat es sich auch geziemt‹, sagte man uns danach. ›Ein Volk ist gestorben und mit ihm seine Soldaten. Ein symbolischer Tod.‹ Dir gefallen solche Symbole sicherlich auch?

Ein Mädchen war dabei, Ruth. Siebenmal schoss sie auf sich selbst, ehe sie traf. Ein hübsches großes Mädchen mit pfirsichfarbener Haut, aber sechs wertvolle Patronen sind uns ihretwegen verlorengegangen.

An dieser Stelle ist jetzt eine Grünanlage. Ein Hügel, ein Stein, eine Aufschrift. Bei schönem Wetter kommen die Mütter mit ihren Kindern hierher, am Abend die Burschen mit ihren Mädchen. Eigentlich ist das ein Gemeinschaftsgrab, denn wir haben sie nie geborgen.«

»Du hast vierzig Soldaten gehabt. Ist euch nie der Gedanke gekommen, es ebenfalls zu tun?«

»Nein, das durfte man nicht tun. Auch wenn es ein sehr gutes Symbol war. Man opfert sein Leben nicht für Symbole. Für mich gab es da keinen Zweifel. Jedenfalls die zwanzig Tage nicht. Ich war imstande, jemandem in die Fresse zu schlagen, wenn er hysterisch wurde. Ich war überhaupt zu allerlei imstande damals. Fünf Mann im Kampf zu verlieren und keine Gewissensbisse zu haben. Mich schlafen zu legen, während die Deutschen Löcher bohrten, um uns in die Luft zu sprengen–ich wusste einfach, dass wir nichts dagegen tun konnten. Erst als sie um zwölf zum Mittagessen abrückten, taten wir rasch das Nötige, um wegzukommen. (Ich regte mich nicht auf–sicher deshalb, weil eigentlich nichts passieren konnte. Nichts Größeres als der Tod, denn schließlich war es stets nur um ihn gegangen, nie um das Leben. Vielleicht hatte das alles dort gar nichts Dramatisches. Das Drama beginnt, wenn du eine Entscheidung treffen kannst, wenn etwas von dir abhängt. Dort aber war alles von vornherein entschieden. Jetzt, im Krankenhaus, geht es um das Leben–und ich muss jedes Mal meine Entscheidung treffen. Jetzt rege ich mich viel mehr auf.)

Und noch etwas konnte ich. Einem Jungen, der mich um eine Adresse auf der arischen Seite gebeten hatte, konnte ich sagen: ›Dazu ist nicht die Zeit. Dafür ist es zu früh.‹ Stasiek hieß er… Siehst du, an den Familiennamen erinnere ich mich nicht. ›Marek‹, hatte er gesagt, ›dort gibt es doch einen Ort, wo ich hingehen könnte…‹ Sollte ich ihm sagen, dass es keinen solchen Ort gab? Ich sagte: ›Dafür ist es zu früh…‹«

»Konnte man über die Mauer hinweg auf die arische Seite schauen?«

»Ja. Die Mauer reichte nur bis zum ersten Stock. Vom zweiten sah man schon die Straße drüben. Wir sahen ein Karussell und Leute, wir hörten die Musik und hatten entsetzliche Angst, dass diese Klänge uns übertönen und diese Leute uns nicht bemerken würden, dass überhaupt niemand auf der Welt aufmerksam würde–auf uns, diesen Kampf und die Toten…

Wir hatten Angst, diese Mauer könne so hoch sein, dass nichts, keine Nachricht von uns, hinüber drang.

Aber aus London meldeten sie, General Sikorski habe Michał Klepfisz postum den Orden Virtuti Militari verliehen, dem Mann, der uns mit seinem Körper vor einem Maschinengewehr gedeckt hatte, damit wir fort kamen über unseren Dachboden. Er war Ingenieur, Mitte Zwanzig. Ein ungewöhnlich anständiger Kerl. Ihm war es zu danken, dass wir den Angriff abwehren konnten, und gleich hinterher kamen die drei mit der weißen Armbinde. Die Parlamentäre.

Hier habe ich gestanden, genau an dieser Stelle, nur das Tor war damals aus Holz. Der Betonpfeiler war da, die Baracke und wohl sogar diese Pappeln.

Warte mal, warum habe ich eigentlich immer auf dieser Seite gestanden?

Ach so, von dort drüben kam ja die Menge. Ich hatte wohl Angst, dass sie mich mitnehmen könnten.

Damals war ich Bote im Spital, und das war meine Arbeit: am Tor zum Umschlagplatz zu stehen und die Kranken herauszuführen. Unsere Leute fischten heraus, wer gerettet werden musste, und ich brachte ihn als Kranken von hier fort.

Ich kannte keine Rücksicht. Eine Frau flehte mich an, ihre vierzehnjährige Tochter wegzubringen, aber ich konnte nur eine Person mitnehmen, und so nahm ich Zosia, denn sie war unsere beste Melderin. Viermal habe ich sie herausgeholt, und jedes Mal wurde sie wieder geschnappt.

Einmal trieben sie die Leute an mir vorbei, die keine Lebensnummern hatten. Die Deutschen hatten diese Nummern ausgegeben und den Empfängern versprochen, dass sie am Leben blieben. Das ganze Ghetto kannte damals nur ein Ziel: eine Nummer zu bekommen. Später aber holten sie auch die mit den Nummern.

Danach hieß es, die Arbeiter der Fabrik hätten das Recht zu leben–dort wurden Nähmaschinen gebraucht, also glaubten die Leute, eine Nähmaschine könne ihnen das Leben retten, und zahlten dafür jeden Preis. Aber dann holten sie auch die mit den Maschinen.

Schließlich ließen sie bekanntmachen, es werde Brot geben. Jeder, der sich zur Arbeit melde, erhalte sechs Pfund Brot und dazu Marmelade.

Hör mal, mein Kind. Weißt du, was Brot damals für das Ghetto war? Wenn du es nämlich nicht weißt, dann wirst du nie verstehen, wie Tausende von Menschen freiwillig kommen und mit diesem Brot nach Treblinka fahren konnten. Keiner hat das bisher begreifen können.

Hier haben sie es verteilt, an dieser Stelle. Längliches, braun gebackenes Roggenbrot.

Und weißt du was?

Die Leute gingen, ordentlich in Viererreihen, nach diesem Brot und anschließend in die Waggons. Es waren so viele, dass sie Schlange standen, zwei Transporte mussten jetzt täglich nach Treblinka abgefertigt werden–und dennoch fassten auch die nicht alle, die sich meldeten.

Und wir–wir wussten davon.

Im Jahre 42 hatten wir Zygmunt, einen Kollegen, losgeschickt, damit er in Erfahrung brachte, was mit den Transporten geschah. Er fuhr mit den Eisenbahnern vom Danziger Bahnhof. In Sokolów sagten sie ihm, hier gabele sich die Strecke, der eine Zweig führe nach Treblinka, ihn befahre täglich ein mit Menschen beladener Güterzug, der leer zurückkomme, Lebensmittel würden dorthin nicht geliefert.

Zygmunt kam ins Ghetto zurück, wir schrieben in unserer Zeitung darüber–es wurde nicht geglaubt. ›Seid ihr verrückt geworden?‹ sagten sie, wenn wir sie zu überzeugen versuchten, dass man sie nicht zur Arbeit transportierte. ›Würde man uns denn noch Brot geben, wenn wir umgebracht werden sollen? Meint ihr denn, dass sie so viel Brot vergeuden würden?‹

Die Aktion dauerte vom 22. Juli bis zum 8. September 1942, sechs Wochen. Diese ganzen sechs Wochen stand ich am Tor. Hier, an dieser Stelle. Vierhunderttausend Menschen habe ich das Geleit gegeben. Dabei sah ich denselben Betonpfeiler, den du jetzt siehst.

In der Berufsschule dort war unser Spital. Es wurde am 8. September liquidiert, am letzten Tag der Aktion. Im Obergeschoss gab es mehrere Säle mit Kindern. Als die Deutschen das Parterre betraten, schaffte es die Ärztin, allen Kindern Gift zu geben.«

»…«

»Da siehst du, dass du nichts von alldem begreifst. Sie hat sie schließlich vor der Gaskammer bewahrt, das war außergewöhnlich, und für die Menschen war sie eine Heldin.

Die Kranken lagen auf dem Fußboden und warteten, bis man sie in die Waggons verlud, die Schwestern suchten ihre Väter und Mütter heraus und gaben ihnen Spritzen. Nur für ihre nächsten Angehörigen hatten sie das Gift aufbewahrt–sie aber, jene Ärztin, gab ihr Zyankali fremden Kindern!

Ein einziger hätte laut die Wahrheit sagen können: Czerniaków. Ihm hätten sie geglaubt. Aber er hat Selbstmord begangen.

Das war nicht in Ordnung: wenn schon sterben, dann mit Feuerwerk. Dieses Feuerwerk war damals sehr nötig–und wenn schon sterben, dann mussten die Menschen vorher zum Kampf aufgerüttelt werden.

Eigentlich machen wir ihm nur das allein zum Vorwurf.«

»›Wir‹?«

»Ich und meine Freunde. Diese Toten. Wir werfen ihm vor, dass er sein Sterben zur Privatsache gemacht hat.

Wir wussten, dass man in aller Öffentlichkeit sterben musste, vor den Augen der Welt.

Wir hatten verschiedene Ideen. David sagte, wir alle, die wir noch im Ghetto verblieben waren, sollten uns auf die Mauer stürzen, auf die arische Seite dringen, uns auf den Wällen der Zitadelle niederlassen, der Reihe nach, einer hinter dem anderen, und warten, bis die Gestapo uns mit Maschinengewehren umstellt und Reihe für Reihe erschießt.

Esther wollte das Ghetto in Brand stecken, damit wir alle mit ihm zusammen verbrennen. ›Mag der Wind unsere Asche verwehen‹, sagte sie, und damals klang das nicht pathetisch, sondern ganz nüchtern.

Die Mehrheit war für den Aufstand. Die Menschheit hat sich ja darauf geeinigt, dass das Sterben mit der Waffe schöner ist als das ohne Waffen. Also fügten wir uns dieser Konvention. Zweihundertzwanzig waren wir in der ŻOB2 damals noch. Kann man das überhaupt einen Aufstand nennen? Es ging darum, sich nicht abschlachten zu lassen, wenn die Reihe an uns kam.

Es ging nur darum, die Art des Sterbens zu wählen.«

Dieses Interview wurde in verschiedene Sprachen übersetzt und empörte die Leute aufs äußerste. Herr S., ein Schriftsteller, schrieb ihm aus den Vereinigten Staaten, er habe ihn in Schutz nehmen müssen und zu diesem Zweck schon drei lange Artikel verfasst, um diese Entrüstung zu beschwichtigen. Und der Titel lautete: »Bekenntnisse des letzten Kommandeurs des Warschauer Ghettos«.

In Französisch, Englisch, Jiddisch und anderen europäischen Sprachen schrieben die Leute an die Zeitungen, dass er alles seiner Größe entkleidet habe. Am meisten aber hatten es ihnen die Fische angetan. Die Fische, denen Anielewicz die Kiemen rot angemalt hatte, damit seine Mutter sie in Solec als frische Waren feilbieten konnte.

Anielewicz–der Sohn einer Hökerin, der Fischkiemen färbt. Das hatte noch gefehlt. Jener Schriftsteller hatte also keine leichte Aufgabe, aber auch ein Deutscher aus Stuttgart schrieb einen netten Brief.

»Sehr geehrter Herr Doktor«, schrieb dieser Deutsche, der während des Krieges als Wehrmachtsoldat im Warschauer Ghetto gewesen war, »ich habe dort viele Leichen auf den Straßen gesehen, viele Körper, die mit Papier zugedeckt waren, ich weiß noch, wie entsetzlich das war, wir sind beide Opfer dieses furchtbaren Krieges, könnten Sie mir zur Antwort ein paar Worte schreiben?«

Selbstverständlich, hat er geantwortet, es wäre ihm sehr angenehm, und er verstehe ausgezeichnet die Gefühle des jungen deutschen Soldaten, der zum ersten Mal mit Papier zugedeckte Leichen sieht.

Die Geschichte mit Herrn S., dem Schriftsteller, hat ihn gleich an die USA-Reise im Jahre 63 erinnert. Dort hatte er eine Zusammenkunft mit Gewerkschaftsführern. Er weiß es noch: ein Tisch mit etwa zwanzig Herren, gespannte, ergriffene Gesichter–die Bosse von Gewerkschaftsverbänden, die während des Krieges Geld gespendet haben, Geld für das Ghetto, Geld für Waffen.

Der Vorsitzende begrüßte ihn, die Diskussion begann. Über das Erinnerungsvermögen, das menschliche Gedächtnis. Was das eigentlich sei, und ob die Errichtung eines Gebäudes der Aufstellung eines Denkmals vorzuziehen sei. Dilemmas literarischer Natur. Er nahm sich sehr zusammen, damit ihm keine unpassende Bemerkung herausrutschte wie: »Was macht das denn heute noch aus?« Er hatte kein Recht, ihnen Verdruss zu bereiten. Vorsicht, sagte er sich, pass auf, sie haben schon Tränen in den Augen. Sie haben Geld für Waffenkäufe gespendet und sind zu Präsident Roosevelt gelaufen, um ihn zu fragen, ob all die Geschichten wahr sind, die über das Ghetto erzählt werden. Du musst also nett zu ihnen sein…

(Das war sicher nach einem der ersten Berichte, die »Wacław« verfasst hatte, gleich nachdem ihn Tosia Goliborska im Tausch gegen ihren Perserteppich bei der Gestapo ausgelöst hatte. Den Mikrofilm mit dem Bericht hatte ein Kurier in seinem plombierten Zahn befördert, er war über London in die USA gelangt, aber es war ihnen schwergefallen, an die Tausende zu glauben, die auf den Umschlagplatz getrieben, an die Tausende, die zu Seife verarbeitet wurden, und sie waren zu ihrem Präsidenten gegangen, um ihn zu fragen, ob man solche Sachen ernst nehmen durfte.)

Also war er sehr nett zu ihnen gewesen, hatte es zugelassen, dass die Rührung sie übermannte, dass sie von Gedenken und Gedächtnis sprachen. Und nun hatte er allen so weh getan: »Kann man das überhaupt einen Aufstand nennen?«

Wir müssen auf die Fische zurückkommen. In der französischen Übersetzung, in der Wochenzeitung »L'Express«, waren das keine Fische, sondern du poisson, und die Mutter Anielewiczs, diese jüdische Hökerin aus Solec, hatte un petit pot de peinture rouge gekauft. Kann man sowas überhaupt ernst nehmen? Ist ein Anielewicz, der den Kiemen (les ouies) ein wenig peinture rouge auflegt, überhaupt noch Anielewicz?

Das erinnert an den Versuch, englischen Vettern von der Großmutter zu erzählen, die während des Warschauer Aufstands 1944 verhungert ist. Diese fromme alte Frau bat kurz vor ihrem Tod um etwas zu essen, es brauchte ja gar nicht koscher zu sein, sagte sie, sie nähme auch ein Schweinskotelett.

All das musste den englischen Vettern natürlich auf englisch erzählt werden, also bat die Großmutter nicht um ein Kotelett, sondern um ein pork-chop, und da war sie zum Glück gleich nicht mehr jene alte Frau, die im Sterben lag. Zum Glück–denn nun ließ sich von ihr schon ohne Hysterie berichten, mit der Gelassenheit, mit der man bei einem kultivierten englischen Dinner eine ergreifende Geschichte erzählt.

Aber sie beharrten darauf, dass es doch der wahre Anielewicz war. Der mit der peinture rouge. Etwas muss ja wohl daran sein, wenn so viele Leute darauf beharren. Und wenn sie schreiben, solche Sachen dürfe man von dem Kommandeur nicht erzählen.

»Hör zu«, sagt er, »wir müssen jetzt aufpassen. Wir werden die Worte sehr sorgfältig wägen.«

»Aber ja.«

»Wir werden die Worte sehr sorgfältig wägen und uns bemühen, die Leute in nichts zu verletzen.«

Eines Tages kommt ein Anruf von Herrn S., dem amerikanischen Schriftsteller. Er ist in Warschau. Er hat Antek und Celina getroffen, möchte aber mit ihm persönlich sprechen.

Jetzt wird es Ernst. Denn es kann einen kaltlassen, was die ganze Welt zu sagen hat, aber die Meinung von zwei Menschen darf man nicht missachten, und diese beiden sind eben Antek und Celina. Er war Stellvertreter von Anielewicz, Vertreter der ŻOB auf der arischen Seite, und hatte das Ghetto kurz vor Ausbruch des Aufstands verlassen. Sie war die ganze Zeit bei ihnen, vom ersten Tag an, und sie verließ das Ghetto mit ihnen durch die Kanäle.

Antek hatte bisher geschwiegen. Und nun kommt Herr S. und sagt, er hätte ihn vor einer Woche gesprochen.

Ich habe den Eindruck, dass Edelman vor dieser Begegnung ein bisschen nervös ist. Unnötigerweise, wie sich herausstellt. Herr S. sagt, Antek versichere ihn seiner Freundschaft und Hochachtung, bis auf gewisse Einzelheiten billige er das gesamte Interview.

»Bis auf welche Einzelheiten?« fragte ich Herrn S.

Antek hat zum Beispiel gesagt, sie seien beim Aufstand nicht zweihundert gewesen. Sie waren mehr, fünfhundert, sechshundert sogar.

(»Antek behauptet, ihr seid sechshundert gewesen. Vielleicht korrigieren wir diese Zahl?«

»Nein«, sagt er. »Wir waren zweihundertzwanzig.«

»Aber Antek will es, Herr S. will es, alle wollen es so sehr, dass ihr ein paar mehr gewesen seid… Korrigieren wir es?«

»Das hat doch nichts zu sagen.« Er ist wütend. »Könnt ihr denn alle wirklich nicht begreifen, dass das nichts mehr zu sagen hat?«)

Aha, und noch etwas. Selbstverständlich. Die Fische.

Nicht Anielewicz hat sie gefärbt, sondern die Mutter. »Notieren Sie sich das«, sagt Herr S., der Schriftsteller. »Das ist nämlich sehr wichtig.«

Ich komme auf das Problem zurück, die Worte mit Besonnenheit zu wägen.

Drei Tage nachdem er das Ghetto verlassen hatte, kam Celemeński und führte ihn vor die Vertreter der politischen Parteien, die seinen Bericht über den Aufstand hören wollten. Er war der einzige vom Stab der Aufständischen, der noch am Leben war, und überdies Stellvertreter des Kommandeurs, also machte er seine Meldung: »In diesen zwanzig Tagen hätte man mehr Deutsche töten und mehr der Unseren retten können. Aber die Ausbildung war unzureichend und damit die Fähigkeit der Gefechtsführung. Außerdem haben auch die Deutschen gezeigt, dass sie kämpfen können.«

Die Zuhörer schauten einander in tiefem Schweigen an. Endlich sagte einer: »Man muss ihn verstehen, das ist kein normaler Mensch. Das ist nur noch der Rest von einem Menschen.« Wie sich zeigte, hatte er nicht gesprochen, wie es sich gehört hätte.

»Und wie hätte es sich gehört?« fragte er.

Voller Hass und Pathos, schreiend–nur der Schrei allein ist imstande, all das auszudrücken.

Also taugte er von Anfang an nicht zum Redner, denn er konnte nicht schreien. Und er taugte auch nicht zum Helden, denn in ihm war kein Pathos.

Was für ein Pech.

Der einzige, der überlebt hatte, taugte nicht zum Helden.

Seit er das begriffen hatte, hielt er taktvoll den Mund. Lange, ziemlich lange, dreißig Jahre. Und nachdem er endlich doch wieder gesprochen hatte, lag es klar auf der Hand, dass es für alle besser gewesen wäre, er hätte sein Schweigen bewahrt.

Zu der Begegnung mit den Vertretern der Parteien war er mit der Straßenbahn gefahren. Zum ersten Mal seit dem Verlassen des Ghettos fuhr er Straßenbahn, und dabei ging etwas Schreckliches in ihm vor.

Er sehnte sich danach, kein Gesicht zu haben.

Nicht aus Furcht, jemand könne stutzig werden und ihn verraten. Sondern weil er spürte, dass er ein abstoßendes, schwarzes Gesicht hatte. Ein Gesicht von dem Plakat Juden–Läuse–Flecktyphus. Und alle stehen um ihn herum und haben helle Gesichter. Sie sind hübsch und ruhig. Sie können ruhig sein, denn sie wissen, sie sind blond und schön.