Weiße Maria - Hanna Krall - E-Book

Weiße Maria E-Book

Hanna Krall

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Beschreibung

Hanna Krall kehrt zu einer autobiographischen Urszene zurück: Eine jüdische Mutter sucht für ihre Tochter Taufpaten und wird von einem christlichen Ehepaar abgewiesen, das in der Kirche im Angesicht Gottes nicht lügen kann. Die Reporterin geht auf Spurensuche; sie möchte herausfinden, was aus den als Taufpaten vorgesehenen Eheleuten wurde. In einer Kombination von persönlichen Erinnerungen und historischer Recherche rekonstruiert die Autorin das Schicksal ihrer Protagonisten. Es geht um Henker und Opfer, Deportationen, Säuberungsaktionen, Denunziationen, kurz darum, was Menschen Menschen angetan haben - vor dem Krieg, während des Krieges und danach. Ihrer Poetik getreu erschafft Hanna Krall aus vielen Einzelschicksalen ein mosaikartiges Bild und ermöglicht somit auch neue Einsichten in die polnische Zeitgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg.

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Inhalt

Vorweg

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Vierter Teil

Anmerkungen

Zur Autorin

HANNA KRALL WEISSE MARIA

 

 

Aus dem Polnischen

von Bernhard Hartmann

 

 

Verlag Neue Kritik

 

 

 

 

Die polnische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Biała Maria« im Verlag »Świat Książki« in Warschau.

 

 

Der Verlag dankt dem »Book Institut – 

the ©POLAND Translation Program«

für die Förderung der Publikation.

 

 

© 2011 by Hanna Krall

Alle deutschsprachigen Rechte Verlag Neue Kritik

Die Printausgabe erschien 2014 im Verlag Neue Kritik

© für die E-Book-Ausgaben Verlag Neue Kritik 2015

Umschlag Barski & Hüneke unter Verwendung

einer Fotografie von Johanna Polgar

E-Book Erstellung Madeleine Schmorré

ISBN 978-3-8015-0506-6 (epub)

ISBN 978-3-8015-0507-3 (mobipocket)ISBN 978-3-8015-0508-0 (pdf)

 

VORWEG

 

STATIONEN EINES BUCHES1

 

Als ich mit der Arbeit an meinem letzten Buch anfing, wusste ich von einem bestimmten Ereignis: Während des Krieges hatte es eine Taufe geben sollen, die dann aber doch nicht stattfand. Und ich wusste von einem bestimmten Paar – einer Frau und einem Mann, sie hatten die Taufpaten sein sollen. Diese guten, netten und gläubigen Leute wurden nicht Taufpaten des jüdischen Mädchens. Nicht, weil sie die Deutschen oder die polnischen Nachbarn gefürchtet hätten. Sie fürchteten Gott. Sie hätten eine erfundene Geschichte erzählen müssen. Sie hätten lügen müssen.

Sie sagten nein. Das Mädchen bekam keinen Taufschein und kein neues Versteck.

Das war, was ich wusste.

Jahre später beschloss ich, nach diesen Leuten zu suchen.

Die Adresse fand ich ohne große Mühe, sie waren nach dem Krieg nach Westpolen gezogen, in eine Stadt, die früher deutsch gewesen war.

Die Nachbarn sagten mir, sie seien tot – die Frau seit zwanzig Jahren, der Mann seit dreißig, aber alle würden sich an sie erinnern, denn sie hätten ein Telefon gehabt und die Leute telefonieren lassen. Das Telefon hätten sie bekommen, weil der Mann Offizier des Sicherheitsdienstes gewesen sei.

Die Akten des Sicherheitsdienstes befinden sich im Institut für Nationales Gedenken. Ich bekam die Akte des Mannes und erfuhr, dass es seine Aufgabe gewesen war, Deutsche aus den Westgebieten auszusiedeln.

Die Akte war sorgfältig gepflegt worden, und so las ich von einer Familie, die er hätte aussiedeln sollen – der Familie des Grafen Erich von Z., eines Künstlers und Malers. Sie wurde nicht ausgesiedelt, weil der Sicherheitsdienstoffizier sich mit dem deutschen Grafen anfreundete, ihm das Aufenthaltsrecht für Polen verschaffte und seine Tochter aus Deutschland holte. Wegen dieser Freundschaft wurde der Offizier der Spionage bezichtigt, verhaftet und aus dem Dienst entlassen.

Nach dem Sicherheitsdienstoffizier, dem Grafen und seiner Tochter kam Milena Jesenská zu mir. Das war in Meran. Ich war zu einer Autorenlesung dort. Ich war gern dorthin gefahren, nicht zuletzt weil einst auch Marek Edelman und Jacek Kurońs Ehefrau Grażyna nach Meran wollten. Jacek saß als Aktivist der demokratischen Opposition im Gefäng­nis, weil in Polen Kriegsrecht herrschte, und Grażyna war todkrank.

Edelman lebt nicht mehr, Kuroń und seine Frau auch nicht, aber in Meran gibt es noch die Pension, in der Franz Kafka seine ersten Briefe an Milena schrieb.

In einem Buch über Milena Jesenská las ich, dass sie kurz vor Kriegsbeginn half, Juden und Sozialisten über die grüne Grenze nach Polen zu bringen. Diese Leute transportierte in seinem vornehmen Cabriolet ein gewisser Graf von Z., ein naher Cousin jenes Grafen, des Malers, den der Sicherheitsdienstoffizier nicht aussiedelte.

Nach den polnischen Taufpaten, dem deutschen Grafen und der tschechischen Milena kam Krzysztof Kieślowski. Das war nichts Besonderes, er taucht immer auf, wenn ich nicht weiß, wie ich ein Buch beenden soll.

Dieses Mal schickte er mir einen doppelten Oberleutnant. Ich weiß auch, warum. Ich hatte an seinen »Zwei Leben der Veronika« herumgenörgelt – der Film sei konstruiert, unrealistisch, so etwas gebe es im echten Leben nicht. Es gab aber zwei Oberleutnante gleichen Namens. Beide dienten in der Polnischen Armee – jener, die mit der Roten Armee nach Polen kam. Merkwürdigerweise wussten sie nichts voneinander, wie auch Kieślowskis Veronikas nichts voneinander wussten. Und wie im Film starb einer der beiden, er wurde im Krieg von unbekannten Tätern erschossen. Der zweite lebte weiter und wurde Professor am Polytechnikum.

Dieser zweite, lebende Oberleutnant machte sich unerwartet in meinem Buch breit, und zwar wegen seiner Tante und ihres Mannes. Dieser Mann war im zaristischen Russland Revolutionär gewesen und im bolschewistischen Stellvertreter von Felix Dserschinski. Er wurde 1937 in der Sowjet­union erschossen, seine Frau mit den Ehefrauen anderer »Vaterlandsverräter« ins Lager geschickt. Nach der Rückkehr aus der Verbannung wartete sie auf ihren Mann, weil sie bis zuletzt nicht glauben wollte, dass er tot war.

Den Haftbefehl für diesen Onkel unterschrieb ein anderer jüdisch-polnischer Kommunist, einer der Chefs des NKWD. Bald darauf wurde auch er verhaftet. Die Geschichte wiederholte sich: der Mann wurde erschossen, die Frau kam ins Lager … Diese Frau war eine der beiden Allilujew-Schwestern, die andere Schwester war Stalins Ehefrau …

Und so weiter.

Verbannte, Erschossene, Aussiedler, Wartende …   Sie wollen nicht verschwinden. Sie sind da und verlangen hart­näckig nach Gegenwart. Sie verlangen nach Erinnerung.

 

Postscriptum

Ich schrieb drei Teile, das Buch wurde fertig und kam in die Buchläden.

Nach ein paar Tagen bekam ich einen Brief: Ob ich wisse, wer Stanisław Sojczyński gewesen sei (sein Name taucht in meinem Buch auf einem Totenschein auf). Ich wusste es nicht. Die Verfasserin des Briefes erklärte mir, er sei Partisan gewesen, nach dem Krieg sei er im Untergrund geblieben und habe gegen die Kommunisten gekämpft. Die Briefschreiberin war Tochter des Staatsanwaltes, der für Sojczyński die Todesstrafe gefordert hatte.

Abends rief der Maler Paweł Różewicz an. Ob ich wisse, wer Sojczyński … Er sei Anführer der Partisaneneinheit seines Onkels, des Dichters Tadeusz Różewicz gewesen. Der Onkel habe ihn verehrt.

Am Morgen – Todesurteil, am Abend Verehrung …

Ich musste über Sojczyński schreiben.

Sojczyński hatte eine schöne Verbindungsagentin. Die Verbindungsagentin verlangte in der Haft nach einem Anwalt.

Ich musste über den Anwalt schreiben.

Der Anwalt hatte eine Nichte …

Und so weiter.

Ist »Weiße Maria« womöglich ein Buch, das nie endet?

1 Der Text stammt aus der Dankrede für den »Europäischen Literaturpreis«, den Hanna Krall 2012 erhalten hat. Er wurde als Vorwort zu diesem Buch leicht gekürzt und um das Postscriptum ergänzt.

 

Erster Teil

 

 

DAS ACHTE GEBOT

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. DIE MUTTER

Hast du vielleicht ein falsches Zeugnis? – wolltest du wissen. (Du hast gern solche Fragen gestellt. Hast du einen anständigen Kommunisten? Einen Illusionisten? Einen Antikommunisten?)

Diesmal ging es um ein Gebot. Das achte, hast du hinzugefügt. Du sollst kein …

Natürlich hatte ich eins. Wie gemacht für deinen Film1.

Über eine Frau und einen Mann, die am Kopfende eines Tisches standen …

Nein. Über eine Mutter, die ihnen gegenüberstand, mit gehörigem Abstand, denn der Tisch war lang.

Nein, auch nicht. Über das Mädchen, das die Mutter an der Hand hielt …

Oder doch über die Frau und den Mann. Beide freundlich, wohlwollend, in mittlerem Alter, die Frau trug ein Goralentuch um die Schultern, geblümt und mit Fransen umsäumt.

Der Tisch war mit etwas Weißem bedeckt, einer Decke oder einem Tuch.

 

 

Die Mutter wollte sich nicht setzen. Sie sah die Hausherren abwartend an, das Paar am Ende des Tisches, aber es war zu sehen, immer deutlicher war zu sehen, dass die beiden es nicht eilig hatten.

Sie wissen ja, begann die Frau, wir sind gläubige Menschen …

(Die Mutter nickte. Ernst und respektvoll.)

Und hier müsste man lügen.

Noch dazu in der Kirche. Vor Gottes Antlitz.

Sie müssen …

Sie spielte mit den Fingern an den Fransenspitzen.

Sie müssen uns verstehen.

Ihr Name (eine Handbewegung in Richtung des Mädchens).

Und ihr Vorname (wieder eine Handbewegung).

Warum ein so großes Mädchen, warum erst jetzt, und was ist mit dem Vater? Was sagen wir, wenn der Priester nach dem Vater fragt?

Alles erfunden, alles, und noch dazu in der Kirche …

Sie sprach immer wirrer, immer nervöser, Sie müssen …

Sie brauchte es nicht zu wiederholen, die Mutter hatte gleich begriffen. Sie waren gläubige Menschen, sie konnten nicht lügen, es würde keinen Taufschein geben.

Sie verabschiedete sich.

Sie gingen die Treppe hinunter.

Sie blieben auf der Straße stehen.

Sie standen da.

Wie lange konnte man mitten auf der Straße stehen bleiben? Mit einem Haar, das die Mutter an diesem Morgen besonders sorgsam gebleicht hatte, Strähne für Strähne, und das im Licht des Sommertags noch gelber, tödlich gelber leuchtete als sonst. Ganz zu schweigen von den Augen, wie lange konnte man … Komm, flüsterte das Mädchen. Komm. Nun komm schon.

Wäre das was?

Klar, hast du erfreut gesagt. Aber … Du hast eine Pause gemacht, die Brille abgenommen und nach einer Zigarette gegriffen.

Aber …?

Da muss noch etwas gewesen sein.

Ja? Was denn?

Ich weiß nicht.

Da war nichts.

Du hast nicht locker gelassen: Doch, da muss noch etwas gewesen sein, wir wissen nur nicht was.

Ihr habt dann die Gestapo hinzugefügt – du und dein Drehbuchschreiber. Für alle Fälle. Und natürlich die Heimatarmee2. Der Hausherr ist beim Diversionskommando. Die Leute, zu denen sie mit dem Taufschein gehen sollen, arbeiten für die Gestapo, die Taufpaten und – schlimmer noch – die ganze Untergrundbewegung könnten auffliegen. (Die Information ist falsch, niemand arbeitet für die Gestapo, aber das stellt sich erst heraus, als es zu spät ist.)

Für euch war die Sache klar.

Ihr habt euer Drehbuch geschrieben.

Neben der Gestapo habt ihr noch einen Vormund hinzugefügt, er hält das Mädchen an der Hand. Die Mutter habt ihr weggelassen. Ihr habt entschieden – du und dein Drehbuchschreiber –, dass es Abend war. »Es ist Abend, es ist kalt, das Mädchen friert.«

Es war nicht Abend, es war Tag. Straßenbahnen, Rikschas, viele Passanten und gelbes Haar.

Es gab auch keinen Tee, aber sei’s drum, du wolltest welchen, also meinetwegen. Bei dir stehen Teetassen auf dem Tisch (aus gutem Porzellan, aber jede anders, wie du schreibst). Trink noch etwas Tee, ermuntert die Hausherrin die Kleine.

 

Neulich lief der »Dekalog« noch einmal im Fernsehen, der achte Teil. Zu einer guten Sendezeit, gleich nach einem Konzert am Strand von Rio de Janeiro.

Wieder habe ich mich gewundert. Konntest du nicht glauben, dass Gott der Grund war? Das Mädchen hat es geglaubt. Ich weiß es, denn ich kannte die Kleine recht gut.

 

2. DIE TAUFPATEN

Lies laut.

Quid petis ab eccl … ecclesia … Das sagt der Priester. Und wir: Die Taufe. Auf Polnisch.

Was heißt – die Taufe?

Dass sie die Taufe begehrt. Weil er fragt, was sie von der Kirche begehrt.

Wer?

Na sie, sie wird doch getauft. Fides quid … Das sagt der Priester. Was gibt dir der Glaube.

Was gibt er?

Das ewige Leben. Das sagen wir.

Und der Priester spricht die ganze Zeit nur zu ihr?

Sie wird getauft, also spricht er zu ihr.

Dann soll sie doch selbst antworten.

Sie darf nicht. Bis sieben sprechen die Paten, wie für einen Säugling. Falls die Eltern tot sind, übernehmen die Paten alles.

Alles?

Fürsorge, Erziehung. Alles. Hat der Priester gesagt.

Können wir das nicht ablesen?

Nein, der Priester möchte das nicht. Aber im Notfall sagt der Küster vor.

Der Küster ist also auch dabei?

Er muss. Dann fragt er sie nach dem Teufel. Widersagst du dem Satan? Ich widersage. Sprich mir nach.

Ich widersage.

Und all seiner Bosheit?

Ich widersage.

Und all seinen Verlockungen? Und dann tauft er sie. Und gibt uns die Taufkerze und …

Warte. Wie ist er?

Wer?

Der Küster. Hat er Fragen gestellt?

Er hat sich gewundert: Warum so spät. Warum lasst ihr sie erst jetzt taufen? Ich habe ihm erklärt, der Vater wäre Atheist gewesen, und der Großvater, hat er gefragt, war der auch Atheist? Und ob nicht Mutter und Großmutter dafür hätten sorgen können, dass das Kind getauft wird?

Das hat er gefragt?

Ja. Der Organist auch. Nach der Mutter. Er wird sie ins Taufregister eintragen. Er hat damit geprahlt, dass er Kalligraphie gelernt hat … Willst du hören, wie es weitergeht? Wir nehmen die Kerze und der Priester sagt: Christus, das Licht der Welt, hat dieses Kind erleuchtet. Es soll als Kind des Lichtes leben, sich im Glauben bewähren und dem Herrn und allen Heiligen entgegengehen, wenn er kommt in Herrlichkeit … Das ist hübsch. Wenn wir Kinder hätten, würden wir sie auch so schön taufen lassen … Warum sagst du nichts?

Ich denke nach.

Worüber?

Dass, wenn die Eltern … Der Vater ist schon fort, die Mutter kann jederzeit … Bleibt sie dann für immer bei uns?

Für immer. Sagt der Priester.

Warum sagst du nichts?

Wir werden sie in der Sakristei taufen lassen, unter dem Kreuz. Das Kreuz reicht bis zur Decke, mit der ganzen klaren Christusfigur. Ich habe das Gesicht betrachtet. Die Füße. Ist es recht, vor Ihm so zu lügen? Sie begehrt weder die Taufe, noch glaubt sie an die Kirche, nicht einmal ihren richtigen Namen sagt sie. Weißt du wenigstens, wie sie wirklich heißt?

 

So könnte es gewesen sein.

So hätten sie auch in deinem Film miteinander sprechen können, man hätte nur die Realien der Besatzungszeit dazu­tun müssen. Das schwache Licht einer Karbidlampe, Brot mit Salz und ein paar Tropfen Öl, verdunkelte Fenster, dein Drehbuchschreiber weiß doch, wie das geht.

Was soll’s, es wird keinen anderen Film mehr geben.

 

3. MAREK

Sie (die Kleine) wohnte bei ihnen – ein paar Tage? Zwei, drei Wochen? Sie wachte nachts auf und wusste wieder nicht, wo sie war und wie man zum Bad kam. So groß und macht noch ins Bett, wunderte sich am Morgen die Hausherrin. Und doch war es nicht schlecht. Im Schrank war ein Spalt, dahinter eine Nische, man konnte sich hinsetzen. Dort versteckte sie sich, wenn Fremde kamen. Eines Tages kam ein Mann. Er klopfte nicht. Vielleicht hatte er einen Schlüssel, vielleicht hatten die Hausherren die Tür nicht abgeschlossen. Eher einen Schlüssel. Er bemerkte sie sofort. Er hatte noch nicht den Mantel abgelegt, die Hand noch am Türgriff, und sah sie schon an. Schließlich schob er den Riegel vor – und lächelte.

Guten Tag, sagte er.

Sie schwieg.

Er wiederholte: Guten Tag, ich bin Marek …

Sie stand auf.

Sie ging an dem Mann vorbei und …

War das möglich? Diese Person, die nie weinte im Versteck, nie hustete, dieses vernünftige sechsjährige Mädchen … Was tat sie? Sie stieg in den Schrank!

Vor einem Fremden!

Sie schob die Kleider auseinander, um den Eingang zu finden! Nein, sie hatte keine Angst. Sie ärgerte sich. Mehr noch, sie war wütend. Denn bitte, wie benahm sie sich nur, und das auch noch vor Leuten. Wie eine Idiotin. Nicht genug, dass sie sich hatte überraschen lassen, jetzt versteckte sie sich auch noch. Was würde er von ihr denken? Dass sie dumm war. Vor Wut und Scham begann sie zu weinen. Man hörte ihr Weinen aus dem Schrank, durch die Mäntel, die vom Bügel gerutscht waren … Beruhige dich, sagte Marek und befreite sie von den Kleidern. Beruhige dich, Mädchen …

 

Die neuen Hausherren wollten den Taufschein sehen. Die vorigen hätten Taufpaten sein sollen. Den Rest kennst du: ein Mann und eine Frau am Kopfende des Tisches, der Tisch mit etwas Weißem bedeckt …

 

4. * * *

Ja, es geht nicht der Reihe nach, das weiß ich selbst.

Es müsste heißen – »Ich bin Marek.«

Dann das Gespräch über die Taufe.

Dann – »Hast du vielleicht ein falsches …«

Muss es denn der Reihe nach gehen?

Dann stell es um.

 

5. KRZYSZTOF W.

… über den Taufpaten.

Er sei furchtsam gewesen.

(War er nicht.)

Nein? Hat er nicht Gott gefürchtet?

(Ach so, Gott. Den vielleicht …)

Ich wüsste gern, wann mehr? Als er sich auf Lüge und Taufe einließ oder als er die Taufe absagte?

Oder hat er ganz einfach Angst bekommen, er würde sie nicht mehr los?

(Diese kleine schielende Schwarzhaarige mit den großen, entsetzten Augen …)

So ist’s nun mal. Sobald sich einer mit einer jüdischen Angelegenheit befasst, kommt er nicht mehr sauber aus der Sache heraus. Er kann nur zuschauen, wie das Unglück in der Familie beginnt. Nur zuschauen, was noch auf ihn einprasselt. Soll er’s nur versuchen …

Soweit dein Namensvetter, ein Regisseur übrigens, ein Kollege vom Fach.

 

6. J. S., DER TAUFPATE

Du hattest recht, da war noch etwas.

Die Partisanen, wie sich herausstellte. Thermitgranaten und Sonderaufgaben. Nicht die Heimatarmee, im Gegenteil, die Kommunisten.

Thermitgranaten? Sprengladungen mit Spätzündern, sie versteckten sie in deutschen Armeezügen, die an die Front fuhren. Über die Sonderaufgaben weiß ich immer noch nichts. Er hat davon erzählt, als er nach dem Krieg zu den Kombattanten wollte. Sie haben ihn aufgenommen, er hatte erstklassige Papiere: einen handgeschriebenen Brief vom Brigadegeneral, einem Kommandeur des polnischen Heeres. »Ich kenne J. S., er ist unserer Sache ergeben«, schreibt der General. »Er kann bei der Miliz oder bei der Sicherheit in den Westgebieten von Nutzen sein.«

 

7. * * *

J. S. war in den Westgebieten von Nutzen. Auf Wunsch des Brigadegenerals. (Den man Marek nannte, das war sein Deckname während des Kriegs.)

 

8. J. S. (FORTSETZUNG)

Zuerst gelobte er: gewissenhaft seine Pflicht zu erfüllen, Befehle getreu zu befolgen, Geheimnisse zu bewahren und in seinem Verhalten den Prinzipien von Ehre, Anstand und sozialer Gleichheit zu folgen. (Der Text wurde ihm vorgelegt, er musste nur unterschreiben.)

Dann bekam er: zwei Offiziersuniformen – aus Cheviot und aus Gabardine, Schuhe aus Chrom- und Juchtenleder, einen Sackleinengürtel und eine Ledermappe. Fußlappen bekam er keine, weder für den Sommer noch für den Winter, in der Rubrik Fußlappen steht: Ansteckadler, ein Stück.

Man übertrug ihm den deutschen Abschnitt, Deutsche und Autochthone. Die Deutschen siedelte er aus, bei den Autochthonen passte er auf, dass sie nicht den Einflüsterungen des Feindes erlagen. Ab und zu verhörte er Leute von der Heimatarmee. Einer jungen Heimatarmistin verriet er, er trage zwar den ungekrönten Adler an der Mütze, den echten bewahre er aber auf. Es werde die Zeit kommen, da er ihn wieder tragen werde, versicherte er dem Mädchen, griff tief in seine Schublade und holte einen gekrönten Adler hervor.

Die Heimatarmistin wollte gern für die Sicherheit arbeiten. J. S. riet ab. Hör zu, Kleine, sagte er, vergiss es, es reicht, dass einer von uns hier ist. Was ein Spezialagent mit dem Kryptonym S-10 in einem Sonderbericht beschrieb.

Sieben Jahre später wurde J. S. verhaftet.

Wegen Erich von Z., um den er sich im deutschen Abschnitt gekümmert hatte.

 

9. DER GRAF