Dem Zwang die rote Karte zeigen - Susanne Fricke - E-Book

Dem Zwang die rote Karte zeigen E-Book

Susanne Fricke

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Beschreibung

Dieses Buch hilft gegen Monster: Der erste altersgerechte Ratgeber für junge Menschen mit Zwangsstörungen unterstützt auch Eltern und Therapeuten beim Kampf gegen den Zwang. Zwei im Umgang mit Zwangserkrankungen erfahrene Psychotherapeutinnen informieren in unkomplizierter Sprache über die Merkmale und Therapiemöglichkeiten von Zwangsstörungen. Humorvoll, einfühlsam und mit zahlreichen konkreten Beispielen helfen die Autorinnen dabei, die Krankheit zu verstehen und zu bewältigen. Dieser Ratgeber holt die Betroffenen aus ihrer Einsamkeit und unterstützt sie dabei, Schritt für Schritt den Zwang zu vertreiben. Zusätzliche Informationen für die Eltern – die natürlich auch die Jugendlichen lesen dürfen – und Arbeitsmaterialien im Buch sowie als Download inklusive!

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Seitenzahl: 193

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»Eine Zwangserkrankung ist …

… eine Krankheit, bei der man andauerndDinge denken oder machen muss, die mannicht denken oder machen möchte, weil mansich eigentlich ziemlich sicher ist, dass sieQuatsch sind.«

Leonie, 12 Jahre, hat Waschzwänge

Zwangsgedanke:

»Ich könnte mich oder meine Familie mit Salmonellen anstecken. Dann werden wir alle krank, und ich bin schuld.«

Zwangshandlung:

Häufiges und langes Händewaschen nach einer bestimmten Abfolge

Leonie vermeidet folgende Auslöser:

Alles, was schmutzig sein könnte, z.B. öffentliche Toiletten, Essen außer Haus, Türklinken und Griffe anfassen, Kinobesuche

Tricks des Zwangsmonsters

Es übertreibt die tatsächliche Gefahr:

»Du kannst Dich jederzeit und überall mit Salmonellen anstecken! Salmonellen sind ganz gefährlich, sogar tödlich!«

Es übertreibt die Verantwortung:

»Wenn Du Dich nicht wäschst, bist Du schuld, wenn Deine Familie an Salmonellen stirbt!«

Es bietet falsche Erklärungen an:

»Wenn Du so eine Angst vor Salmonellen hast, zeigt das doch, wie gefährlich sie sind. Sonst hättest Du ja keine Angst!«

Es macht falsche Versprechen:

»Mach, was ich Dir sage, dann bekommt Ihr, Du und Deine Familie, keine Salmonellen!«

Wie ist Leonie ihre Zwänge los geworden?

Üben, üben, üben:

Auslöser wie z. B. Türöffner im Bus anfassen, ohne hinterher die Hände zu waschen, ungewaschenes Obst essen

Gegen-Sätze sagen:

»Ich glaub Dir nicht. Du übertreibst gewaltig.«

Unterstützung suchen:

Mutter

Ben, 15 Jahre, kämpft mit Wiederholungszwängen

Zwangsgedanke:

»Wenn Du an schlimme Dinge denkst, können sie tatsächlich passieren.«

Zwangshandlung:

Eine Handlung dreimal wiederholen und dabei an etwas Gutes denken. Wiederholt die Eltern fragen, ob nichts Schlimmes passiert ist.

Ben vermeidet folgende Auslöser:

Nachrichten, Bücher oder Filme, in denen schlimme Dinge passieren, Wörter wie z.B. Tod, Friedhof, Mord

Tricks des Zwangsmonsters

Es behauptet, schlechte Gedanken führen zu schlimmen Ereignissen:

»Wenn Du an deine Mutter und an einen Unfall gleichzeitig denkst, wird Deine Mutter einen Unfall haben.«

Es übertreibt die Verantwortung:

»Und Du allein bist daran schuld!«

Es macht falsche Versprechen:

»Wenn Du tust, was ich sage, passiert nichts Schlimmes und Du musst keine Schuldgefühle haben.«

Wie ist Ben seine Zwänge los geworden?

Üben, üben, üben:

»Nur noch dreimal statt zwanzigmal die Eltern fragen, ob nichts Schlimmes passiert«

Gegen-Sätze sagen:

»Ich lasse mir von Dir keine Angst einjagen. Ich bin nicht verantwortlich!«

Unterstützung suchen:

Therapeutin

Susanne Fricke und Katharina Armour

Dem Zwang die rote Karte zeigen

Ein Ratgeber für Kinder und Jugendliche und ihre Eltern

B A L A N C E ratgeber

Susanne Fricke und Katharina Armour: Dem Zwang die rote Karte zeigen

Ein Ratgeber für Kinder und Jugendliche und ihre Eltern

3., überarbeitete und aktualisierte Auflage 2021, korrigierter Nachdruck 2022

ISBN: 978-3-86739-240-2

ISBN E-Book (PDF): 978-3-86739-242-6

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-86739-245-7

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Weitere Ratgeber, Selbsthilfe-Bücher und Erfahrungsberichte unter

www.balance-verlag.de

© BALANCE buch + medien verlag, Köln 2014, 2016, 2021

Der BALANCE buch + medien verlag ist ein Imprint

der Psychiatrie Verlag GmbH, Köln.

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne Zustimmung des Verlags vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden.

Lektorat: Karin Koch, Köln

Umschlagkonzeption und -gestaltung: GRAFIKSCHMITZ, Köln

unter Verwendung eines Bildes von Claus Ast, Nierstein

Illustrationen: Claus Ast, Nierstein

Typografie und Satz: Iga Bielejec, Nierstein

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2022

Inhalt

Geleitwort

Warum es sich lohnen könnte, dieses Buch zu lesen

1

Falsche Freunde: Zwänge und ihre Tricks erkennen

1.1

Was sind Zwänge und welche gibt es?

1.2

Was ist noch normal, was schon ein Zwang?

1.3

Andere Erkrankungen, die Zwängen ähneln

1.4

Wie Zwänge entstehen: das Zwangspuzzle

1.5

Warum Zwänge häufig nicht von allein weggehen

1.6

Noch mal das Wichtigste

2

Hilfe suchen und finden

2.1

Zur Therapie gehen: ambulante Verhaltenstherapie

2.2

Therapie im Krankenhaus

2.3

Medikamente

2.4

Noch mal das Wichtigste

3

Was Du selbst tun kannst

3.1

Den Zwang besser kennenlernen

3.2

Was hilft: Methoden gegen die Zwänge

3.3

Schritt für Schritt den Zwang vertreiben

3.4

Noch mal das Wichtigste

4

Wie Dich Deine Familie unterstützen kann

4.1

Was immer hilfreich ist

4.2

Nicht mehr auf den Zwang hören

4.3

Unterstützung gegen den Zwang

4.4

Noch mal das Wichtigste

5

Häufige Fragen zum Zwang

5.1

Von Kindern und Jugendlichen

5.2

Von Eltern

6

Anlaufstellen und Literatur

7

Anhang: Alle Arbeitsblätter

Geleitwort

Als ich im Alter von elf Jahren an einer Zwangsstörung erkrankte, schrieben wir das Jahr 1969. Damals waren Zwänge Psychologen und Medizinern fast unbekannt, Aussichten auf eine hilfreiche Therapie gab es nicht. So dauerte es ganze dreißig Jahre, bis ich im Jahr 1999 im Alter von 41 Jahren erstmals eine Therapie erhielt, die mir wirklich geholfen hat. Ich habe viel Zeit meines Lebens mit den Zwängen verloren, die Zeit hätte ich für schöne Dinge nutzen können.

Heute sind die Hilfsangebote für Zwangsstörungen deutlich besser. Psychologen und Ärzte wissen, was Zwänge sind, und es gibt mit der Verhaltenstherapie auch eine Erfolg versprechende Behandlungsmethode. Alles, was zu Zwängen wichtig ist, haben die Fachleute aufgeschrieben. In den sogenannten »S3-Leitlinien Zwangsstörungen« kann jeder nachlesen, was zu tun ist. Doch was nützen Informationen für Fachleute, wenn wir Kindern, Jugendlichen und deren Eltern erklären wollen, was Zwänge sind und wie sie bewältigt werden können?

Diese Aufgabe haben die Autorinnen dieses Buches übernommen. Endlich gibt es einen ausführlichen Ratgeber zu Zwängen, der direkt für Kinder, Jugendliche und deren Eltern geschrieben wurde. Die Autorinnen beschreiben in fünf Kapiteln alles, was man zu Zwängen und deren Behandlung wissen sollte. Und in diesem Buch kommen auch Kinder zu Wort und berichten von ihren Erfahrungen, sodass sehr deutlich wird, dass Zwangserkrankungen nicht selten sind und man nicht allein damit zu kämpfen hat.

Gerade bei Kindern und Jugendlichen ist es wichtig, ihnen Zwänge zu erklären, denn je früher eine Zwangsstörung erkannt wird, umso leichter ist es, die Erkrankung wieder loszuwerden. Der Zwang hat die Eigenschaft, Besitz von dem Menschen zu nehmen, der davon betroffen ist. Je länger diese »Beziehung« dauert, umso schwieriger wird es, sich wieder vom Zwang loszusagen.

Ich danke den Autorinnen für dieses Buch, weil es für Kinder und Jugendliche wirklich eine Hilfe sein wird, Zwänge zu verstehen und zu bewältigen. Mein Wunsch wäre es, dass nicht mehr dreißig Jahre vergehen, bis von Zwängen betroffene Menschen Hilfe finden. Was ich in meinem Leben mit den Zwängen durchlitten habe, lässt sich heute vermeiden. Dieses Buch kann dazu beitragen. Mögen die Leserinnen und Leser Kraft und Ermutigung finden, den Zwängen erfolgreich entgegenzutreten. Denn: Kinder sind unsere Zukunft.

Antonia Peters

Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V.

Warum es sich lohnen könnte, dieses Buch zu lesen

Liebe Kinder, liebe Jugendliche,

Menschen, die eine Zwangserkrankung haben, müssen andauernd Dinge denken oder machen, die sie nicht denken oder machen wollen, weil sie eigentlich wissen, dass das Quatsch ist. Trotzdem können sie sich oft nur schwer dagegen wehren. Die Vernunft kann sich gegen die Zwangserkrankung häufig kaum oder auch überhaupt nicht durchsetzen. Weil das so ist, schämen sich viele Kinder und Jugendliche und bemühen sich, die Krankheit zu verheimlichen. Bei vielen wissen höchstens die Eltern und Geschwister Bescheid. Freunde, Klassenkameraden, Ausbildungskollegen oder die anderen Kinder im Sportverein – keiner soll etwas davon erfahren. Das Verheimlichen kostet viel Kraft, und dabei verbraucht doch der Zwang schon so viel Kraft. Und es führt dazu, dass man sich als Betroffener häufig einsam fühlt.

Dabei sind Zwangserkrankungen gar nicht so selten. Schätzungsweise ein bis zwei Prozent aller Kinder und Jugendlichen leiden unter Zwängen, Jungen und Mädchen etwa gleich häufig. Die Krankheit beginnt im Durchschnitt mit zehn Jahren. Es gibt aber auch Kinder, die schon sehr viel früher krank werden, schon mit drei oder vier Jahren. Oft ist es schwer, den genauen Anfang festzustellen, weil sich die Zwänge allmählich eingeschlichen haben. Aus normalen Gewohnheiten werden allmählich kleine Ticks, bis man irgendwann denkt: »Mensch, hier stimmt doch was nicht!« Die Eltern machen sich Sorgen, weil ihr Kind sich verändert hat. Es kommt aber auch vor, dass Zwänge plötzlich anfangen. Dann hängt es häufig damit zusammen, dass etwas passiert ist, wodurch sich die Zwangserkrankung erklären lässt.

Haben sich Zwänge erst einmal richtig ausgebreitet, verursachen sie viel Leid. Sie kosten sehr viel Kraft und Zeit, die einem dann bei anderen Dingen fehlen. Außerdem wirken sie sich ungünstig auf andere Lebensbereiche aus: die Schule oder die Ausbildung, Freundschaften, Freizeit und Hobbys. Auch die anderen Familienmitglieder müssen oft unter den Zwängen leiden. Meist betrifft das besonders die Eltern. Sie machen sich Sorgen um ihr Kind und leiden mit, wenn es ihm schlecht geht. Außerdem müssen Eltern oft vieles übernehmen, was der Zwang verlangt und das betroffene Kind allein nicht schafft. Zum Beispiel helfen sie beim Saubermachen, wenn jemand einen Waschzwang hat. Oder sie müssen hundertmal am Tag die immer gleichen Fragen beantworten, die das zwangskranke Kind stellt. Neben den Eltern geht es auch oft den Geschwistern nicht so gut, weil der Zwang auch sie einschränkt und das ganze Familienleben beeinträchtigt.

Es ist gut, möglichst bald etwas gegen Zwangserkrankungen zu tun. Man sollte nicht darauf warten, dass der Zwang von allein wieder verschwindet, das tut so ein Zwang nämlich nur selten. Er kann zwar mal weniger werden, wird dann aber oft auch wieder mehr. Nur bei sehr wenigen Menschen verschwindet er irgendwann von allein. Man ist also auf der sichereren Seite, wenn man etwas gegen ihn unternimmt und nicht einfach nur abwartet. Wenn ein Zwang noch nicht so lange da ist, ist es viel leichter, ihn wieder zu vertreiben. Und je kürzer er da ist, desto weniger Schaden kann er anrichten.

Glücklicherweise gibt es gute Behandlungsmöglichkeiten gegen Zwänge, die schon vielen Kindern und Jugendlichen geholfen haben. In unserem Buch möchten wir Euch diese vorstellen und erklären, wie man sie einsetzen kann. Auch wenn es anstrengend ist, etwas gegen die Zwänge zu tun – wenn man durchhält, hat man gute Erfolgsaussichten, dass Zwänge weniger werden oder sogar ganz verschwinden.

Neben der Anleitung, was Ihr tun könnt, ist uns noch etwas anderes wichtig gewesen beim Schreiben dieses Buches: Wir möchten Euch zeigen, dass Ihr nicht allein seid mit Eurer Erkrankung. Viele betroffene Kinder und Jugendliche leiden nämlich darunter, dass sie das Gefühl haben, die Einzigen mit so einer »merkwürdigen« Erkrankung zu sein. Ihr werdet beim Lesen merken, dass es ziemlich viele Menschen mit dieser Erkrankung gibt. Deswegen kommen viele Kinder und Jugendliche in diesem Buch zu Wort und beschreiben ihre Zwänge. Wir haben nur ihre Namen und ein paar Einzelheiten verändert, damit man die Kinder und Jugendlichen nicht erkennt.

Das Buch könnt Ihr gut als Selbsthilfebuch nutzen, wenn Ihr Euch das zutraut. Selbsthilfe meint, dass Ihr die vorgeschlagenen Anleitungen nach und nach umsetzt, wenn Ihr wollt auch mit Unterstützung von Euren Eltern oder anderen Menschen, die Euch nahestehen. Doch nicht immer traut sich jemand diese Selbsttherapie zu und nicht immer ist Selbsttherapie das geeignete Vorgehen. Darum beschreiben wir, wann es sich lohnt, Selbsttherapie zu machen, und wann man therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen sollte. Wir erklären auch, wie man vorgeht, wenn man eine Therapie machen möchte, was da auf einen zukommt und auch auf die anderen Familienmitglieder.

Eltern sind die wichtigsten Helfer bei der Vertreibung der Zwänge. Damit sie gut helfen können, ist es wichtig, dass auch sie sich mit der Erkrankung auskennen. Außerdem müssen sie wissen, wie sie Euch am besten helfen können, was sie machen und was sie lassen sollen. Darum ist es gut, wenn auch Eure Eltern dieses Buch lesen. Für sie haben wir in jedem Kapitel zusätzliche Abschnitte aufgenommen, die sie mit speziellen Elterninformationen versorgen (die Ihr aber natürlich auch lesen könnt). Diese zusätzlichen Informationen benötigen Eure Eltern, um Euch so gut wie möglich zu helfen.

Wir freuen uns, wenn das Buch Euch und Euren Familien eine gute Hilfe gegen den Zwang ist! Wir sind uns sicher, dass Ihr viel erreichen könnt, und drücken Euch die Daumen für den Erfolg!

Susanne Fricke und Katharina Armour

PS: Ein paar Worte zu Corona: Das Corona-Virus ist noch aktuell, während wir das Buch für eine neue Auflage überarbeiten. Unser Alltag ist weiter von Corona geprägt. In öffentlichen Verkehrsmitteln und beim Einkaufen muss man Maske tragen und Abstand halten, auch in den Gängen der Schule.

Auch bei uns in der Therapie ist Corona oft ein Thema. Immer wieder kommen Kinder oder Jugendliche, die Waschzwänge entwickelt haben, weil sie starke Angst haben, sich oder andere mit Corona anzustecken. Bei anderen Kindern und Jugendlichen, die schon vor Corona eine Zwangserkrankung hatten, hat sich nun der Inhalt der Angst hin zu Corona gewandelt. Gelegentlich sagt aber mal jemand mit einer Zwangserkrankung, dass er erleichtert sei, weil die anderen nun besser verstehen, wie es ihm die ganze Zeit ging, und weil er seine Reinlichkeitszwänge nicht mehr verstecken muss.

Was den Umgang mit Corona so schwierig macht, ist die Tatsache, dass die Erkrankung noch so neu ist und es daher nur wenig gesicherte Erkenntnisse gibt. Auch Experten, die sich sonst gut auskennen, wussten gerade am Anfang vieles nicht. Ihre Empfehlungen haben sich manchmal innerhalb von Wochen verändert. Dann kannte man sich langsam besser aus, es kamen erst die Testmöglichkeiten, dann die Impfstoffe, die Hoffnung gaben, dass das Leben wieder normaler wird. In der Zeit der Vorbereitung dieser Auflage kam eine neue Corona-Variante, die Omikron-Variante, die auch für Experten wieder neu war.

Das ist für alle schwierig, für Kinder und Jugendliche, für Eltern und auch für Therapeuten. Woran soll man sich halten? Zu vielen anderen Themen kann man jemanden fragen, wie man sich vernünftig und vorsichtig, aber eben nicht übertrieben oder zwanghaft vorsichtig verhalten kann. Bei Corona ist das nicht so einfach. Man muss sich immer wieder informieren und neu überlegen, was das richtige Verhalten ist. Und Regeln über den Umgang mit Corona können sich in kurzer Zeit verändern.

Vielen Menschen fällt es schwer, die Unsicherheit im Umgang mit Corona und den sich verändernden Regeln auszuhalten. Gleichzeitig sehen wir im Alltag, dass viele Menschen es ganz gut hinbekommen, vorsichtig zu sein und die Vorsicht nicht zu übertreiben.

Wenn Euer Zwang sich auf Corona bezieht, so möchten wir Euch Mut machen, zusammen mit Euren Eltern und Therapeuten (wenn Ihr in Therapie seid) zu besprechen, wie Ihr die Hygieneregeln im Alltag gut umsetzen könnt, ohne zu übertreiben.

Hamburg, im September 2020

Susanne Fricke und Katharina Armour

1Falsche Freunde: Zwänge und ihre Tricks erkennen

LEONIE, 12Ich habe seit ungefähr zwei Jahren eine Zwangserkrankung. Es ging los, als unsere Nachbarin meiner Mutter erzählte, dass sie im Urlaub im Hotel eine Salmonellenvergiftung* bekommen hatte, wahrscheinlich durch einen Salat mit Mayonnaise. Meine Mutter hatte mir zwar erklärt, dass so eine Vergiftung unangenehm, aber normalerweise nicht gefährlich ist und dass die Lebensmittel normalerweise sauber sind und richtig aufbewahrt werden, aber ich bekam immer mehr Angst, mich und meine Familie mit Salmonellen anzustecken. Ich esse möglichst nichts mit Eiern oder Mayonnaise, wasche mir andauernd die Hände, dusche zweimal am Tag und versuche, keine Sachen anzufassen, die von vielen angefasst werden.

Ich weiß mittlerweile, dass es viele Kinder mit einer Zwangserkrankung gibt. Ich möchte gern von meinen Zwängen erzählen und was ich dagegen gemacht habe. Wäre schön, wenn es anderen hilft, auch etwas gegen ihre Zwänge zu machen! x

BEN, 15Ich habe auch Zwänge. Wenn mir etwas Schlimmes in den Kopf kommt, muss ich die Sache, die ich gerade mache, immer noch mal machen. Sonst habe ich Angst, dass das Schlimme tatsächlich passiert und ich daran schuld bin. Ein Beispiel: Wenn ich gerade beim Anziehen bin und im Radio von einem Verkehrsunfall höre, habe ich sofort Angst, dass meine Mutter auch einen Verkehrsunfall haben könnte. Dann muss ich meine Kleidung dreimal an- und ausziehen und mir meine Mutter vorstellen, wie sie fröhlich und gesund ist. Die Drei ist für mich eine gute Zahl, weiß auch nicht, warum. Wenn ich alles dreimal gemacht habe, habe ich ein gutes Gefühl. Ich darf dann bloß nicht wieder an den Unfall denken, denn sonst geht alles wieder von vorne los. Einerseits denke ich, dass das Unsinn ist, andererseits fürchte ich aber doch, dass was dran sein könnte. Meine Therapeutin meint, dass solche Zwänge gar nicht so selten sind, und hat mich gefragt, ob ich davon erzählen würde. Das will ich gern machen. x

1.1 Was sind Zwänge und welche gibt es?

Eine Zwangserkrankung ist eine Krankheit, bei der man andauernd Dinge denken muss (nämlich Zwangsgedanken) oder machen muss (Zwangshandlungen), die man nicht denken oder machen möchte, denn man ist sich eigentlich ziemlich sicher, dass sie Quatsch sind. Trotzdem kann man sich nur schwer oder gar nicht dagegen wehren, diese Dinge zu denken oder zu tun. Die Vernunft in einem selbst kann sich gewissermaßen nicht richtig durchsetzen. Das ist ein wichtiges Merkmal dieser Krankheit: Man ist sich sicher (oder wenigstens ziemlich sicher), dass es Unsinn ist, diese Dinge zu denken oder zu machen, und man versucht, Widerstand zu leisten, schafft es aber nur selten.

Meistens besteht eine Zwangserkrankung aus Zwangsgedanken und Zwangshandlungen. Manchmal hat jemand auch nur eines von beiden, entweder nur Zwangsgedanken oder nur Zwangshandlungen.

ZwangsgedankenDas sind Gedanken oder Bilder, die einem immer wieder in den Kopf kommen. Man kann sie nur sehr schwer oder auch gar nicht zur Seite schieben. Sie sind sehr aufdringlich, und man findet sie blöd, sinnlos oder sogar scheußlich. Wichtig zu wissen ist, dass Zwangsgedanken nichts über die eigene Meinung sagen. Oft haben die Betroffenen ein schlechtes Gewissen und Schuldgefühle, sie verspüren Ekel, fühlen sich ängstlich oder traurig, weil sie denken, dass man solche Gedanken nicht haben sollte. Wenn Ben im Radio von einem Unfall hört, sieht er automatisch seine Mutter, die verwundet in einem zerquetschten Auto liegt. Das bedeutet aber nicht, dass Ben sich das wünscht. Im Gegenteil, Ben machen diese Gedanken Angst, und er fühlt sich schuldig, weil er diese Bilder im Kopf hat.

Auch der Körper reagiert häufig: Viele Menschen werden angespannt, wenn sie Zwangsgedanken haben, sie schwitzen, haben Herzklopfen, einen trockenen Mund oder andere Körperreaktionen. Wie Leonie, die ständig denkt, dass überall gefährliche Salmonellen sind, mit denen sie sich oder ihre Familie anstecken könnte. Sie weiß, dass das Unsinn ist und dass man nicht so leicht Salmonellen bekommt. Trotzdem macht ihr die Vorstellung Angst, sie bekommt Herzklopfen davon und ist ganz verkrampft.

ZwangshandlungenDas sind Handlungen, die übertrieben oder sogar sinnlos sind, die man aber trotzdem machen muss. Man möchte sie nicht machen, aber es ist ganz schwer oder sogar unmöglich, sich dagegen zu wehren. Denn die Zwangshandlungen helfen häufig, dass die schlechten Gefühle, die mit den Zwangsgedanken kommen, verschwinden oder weniger werden. Sie sind dann eine Art »Hilfe« gegen die schlechten Gefühle, die die Zwangsgedanken auslösen: Wenn man etwas Bestimmtes tut, nehmen Angst oder Ekel ab und etwas Schlimmes tritt nicht ein. Oft müssen die Zwangshandlungen in einer ganz bestimmten Art und Weise ausgeführt werden – wie ein Ritual. Wehe, man wird dabei gestört, dann muss man wieder von vorn anfangen so wie Leonie.

LEONIEMeine Hände muss ich auf eine ganz bestimmte Weise waschen. Das läuft immer gleich ab. Erst die ganzen Hände mit Seife, dann die einzelnen Finger nach einem bestimmten System, jeden Finger zehnmal. Dann noch mal die ganze Hand. Dann erst bin ich ziemlich sicher, dass ich keine Stelle vergessen habe, die mit Bakterien in Kontakt gekommen sein könnte. Meine Hände sind schon ganz kaputt und rissig, obwohl ich sie gut eincreme. Neulich bollerte meine große Schwester an die Badezimmertür, weil sie vorm Ausgehen duschen wollte. Ich bin richtig ausgerastet, habe sie angeschrien und beschimpft, obwohl ich sonst gar nicht so bin. Hinterher tat es mir dann sehr leid. x

Wie man bei Leonies Beschreibung schon ahnt: Zwänge kosten viel Zeit, mindestens eine Stunde oder mehr pro Tag, sonst spricht man nicht von einer Krankheit, sondern eher von Eigenarten. Und Zwänge machen einem das Leben schwer: Zum Beispiel kommt man ihretwegen in der Schule nicht mehr so gut mit. Oder man hat keine Zeit mehr für Verabredungen, Sport oder andere Hobbys. Oft leidet man nicht nur selbst unter der Erkrankung, sondern die Eltern und Geschwister fühlen sich auch beeinträchtigt. Es gibt viel Streit zu Hause.

Alles kann durch eine Zwangserkrankung beeinträchtigt sein. Deswegen versuchen viele auch, Auslösern für Zwänge aus dem Weg zu gehen. In der Fachsprache spricht man dann von Vermeidung. Leonie z. B. wartet oft vor öffentlichen Türen, bis jemand anderes sie aufmacht. Dann geht sie schnell hinterher und vermeidet es so, die Türklinke anzufassen. Auf öffentliche Toiletten geht sie fast gar nicht mehr, und damit das klappt, trinkt sie nur wenig. Ben hat früher gern Abenteuerbücher gelesen. Das vermeidet er seit seiner Zwangserkrankung. Auch schaut er kaum noch Filme, was er sehr bedauert. Aber in Büchern oder Filmen kommt fast immer etwas vor, was bei ihm Zwangsgedanken auslöst. Und dann muss er immer wieder positive Gegenbilder finden und Sachen noch mal machen, bis er beruhigt ist und ein gutes Gefühl hat.

Sehr häufig werden auch andere Familienmitglieder in die Erkrankung einbezogen. Bei Leonie hilft ihre Mutter, alles sauber zu machen, wo Salmonellen dran sein könnten. Ihre Mutter ist die Einzige, der Leonie zutraut, die Sachen richtig sauber zu machen. Die Mutter macht das überhaupt nicht gern, weil sie das Gefühl hat, dass sie damit Leonies Zwang unterstützt. Außerdem merkt sie, wie Leonie schon nach kurzer Zeit wieder Angst hat, sich anzustecken, denn jemand könnte inzwischen die Sachen wieder angefasst haben. Gleichzeitig sieht die Mutter, wie Leonie leidet und immer weniger Zeit für die Schule und für ihre Freundinnen hat, und das möchte sie auch nicht.

Ben fragt seine Eltern ganz oft, ob alles in Ordnung ist. Sie müssen ihm immer wieder sagen, dass alles in Ordnung ist und nichts Schlimmes passieren wird, bis zu dreißig Mal am Tag. Sein Vater reagiert dann oft gereizt, weil ihn die Fragerei so nervt. Damit diese Fragen gar nicht erst auftreten, guckt z. B. keiner mehr die Nachrichten, wenn Ben zu Hause ist, und auch Tageszeitungen werden versteckt.

Was macht eine Zwangserkrankung aus?

Eine Zwangserkrankung besteht meistens aus Zwangsgedanken und Zwangshandlungen.

Zwangsgedanken sind aufdringliche Gedanken oder Bilder, die sich nicht zur Seite drängen lassen. Sie sind sinnlos oder sogar scheußlich und entsprechen nicht der eigenen Meinung. Sie machen Angst oder andere schlechte Gefühle.

Zwangshandlungen sind übertrieben und sinnlos. Man muss sie trotzdem machen. Man kann sich nur schwer gegen sie wehren, weil sie oft helfen, die schlechten Gefühle zu vertreiben, die mit den Zwangsgedanken kommen. Meistens entwickelt sich in der Folge ein Vermeidungsverhalten: Man geht Situationen aus dem Weg, in denen Zwänge auftreten können.

Nun kennst Du die allgemeinen Merkmale, die immer zu einer Zwangserkrankung gehören. Wie Du vielleicht schon bei Leonie und Ben bemerkt hast, gibt es sehr unterschiedliche Zwänge. Zwangsgedanken mit Wiederholungszwängen wie bei Ben und Waschzwänge wie bei Leonie gehören zu den häufigeren Zwängen, aber es gibt noch viele andere. Im Folgenden beschreiben verschiedene Kinder und Jugendliche ihre Zwänge. So bekommst Du einen Eindruck davon, wie unterschiedlich Zwänge aussehen können.

Wasch- und Reinigungszwänge