Demokratie der Gefühle - Josef Früchtl - E-Book

Demokratie der Gefühle E-Book

Josef Früchtl

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Beschreibung

Vor dem Hintergrund einer zunehmend von politischen Emotionen geprägten gesellschaftlichen Lage stellt das neue Buch von Josef Früchtl die grundsätzliche Frage nach dem Zusammenhang von Gefühlen und Politik und verbindet sie mit einer ästhetischen Perspektive. Auf zentralen gesellschaftlichen Ebenen – technologisch in den digitalen Netzwerken mit ihren »hate speeches« und »shit storms«, ökonomisch im kapitalistisch rasenden Prozess der Globalisierung, kulturell im Kampf religiös unterfütterter Wertsysteme und staatspolitisch im kriegerischen Zerfall von Nationen – haben sich in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten die Schleusen für eine Politik der Emotionen geöffnet. Welche Rolle aber spielen Gefühle in einer demokratischen Lebensform? Und welche Rolle kommt den von Kunst und populärer Kultur angeleiteten Erfahrungen dabei zu? Die entscheidende Frage kann heute nicht mehr sein, ob, sondern in welchem Ausmaß und in welchem Sinn Gefühle eine Rolle im demokratischen Streit spielen und spielen sollen. Auf diese Frage – so die These Früchtls – gibt es vier zentrale Antworten. Im politischen Zusammenhang verlangen Gefühle nämlich nach einer zeitgemäßen Form der Darstellung, nach Mäßigung, nach balancierendem Ausgleich und nach sinnvoller Umwandlung. Diese vierfache Reaktion lässt sich entweder unter Mithilfe von ästhetischen Erfahrungen oder sogar in ausgezeichneter Weise durch sie erreichen.

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Josef Früchtl

Demokratie der Gefühle

Ein ästhetisches Plädoyer

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographischeDaten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.

eISBN (ePub) 978-3-7873-4081-1eISBN (PDF) 978-3-7873-4049-1

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2021. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Konvertierung: Bookwire GmbH

Inhalt

Einleitung

Eine ästhetische Antwort auf die emotionale Wende im politischen Diskurs

I.Historisch-phänomenologische Analyse politischer Gefühle

1.Empörung, Wut, Zorn

Protest in Amsterdam

Kompensation und Transformation

2.Demokratie für unverschämte Bürger

Unverschämtheit: eine erste Annäherung

Soziale und moralische Unverschämtheit

Kulturelle und kulturkritische Unverschämtheit

Politisch-demokratische Unverschämtheit

II.Theoriemodelle

1.Das kognitivistische Narrativitätsmodell

Transformation, Moderation und Kompensation: Martha Nussbaum

Die Weltlosigkeit und Weltbestätigung der Liebe: Hannah Arendt

Ästhetische Artikulation von Gefühlen: Narration und Imagination

2.Das Empathiemodell der Aufklärung

Von der Schönheit der Tugend: David Hume

Der Streit um Wertstandards

Sympathie und gerechter Zuschauer

Die Rüstung ablegen: emotionale Teilnahme bei Adam Smith

3.Das Affektivitätsmodell

Metaphysik, Politik und Affekte: Spinoza

Bejahung der Differenz: Deleuze

Politische Ontologie und kommende Demokratie

Kunst als Empfindungsblock

Zwei Hypotheken

4.Hegels Freiheitsmodell

Präsentation, Transformation und Moderation der Gefühle

Das Ende der Kunst und der Anfang der Demokratie

Hegels gute und weniger gute Gründe

III.Über Ästhetik muss man streiten: ein anderes Modell

Von der Mitteilbarkeit eines Gefühls: Kant

Kunst als Erfahrung: Dewey

Ein ästhetischer Geltungsanspruch: Habermas

Übersetzung der Affekte

Demokratie der Gefühle

Demokratiemodelle

Kommunikation von Emotionen

Noch einmal: Präsentation

Resümee

Nachweise

Literatur

Anmerkungen

Einleitung

Eine ästhetische Antwort auf die emotionale Wende im politischen Diskurs

Ob man die Welt aus einer ästhetischen oder aus einer politischen Perspektive wahrnimmt, ist ein Unterschied. Ein großer Unterschied sogar. Doch ist die Verbindung zwischen Ästhetik und Politik immer kennzeichnend gewesen im Kontext jener philosophisch-gesellschaftstheoretischen Denkrichtung, die im 20. Jahrhundert im Zeichen des Hegel-Marxismus ein Paradigma bietet: die Kritische Theorie der Frankfurter Schule. Zunächst gilt das für die sogenannten Gründerväter, von denen namentlich Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse in dieser Sache viel diskutierte Vorschläge unterbreitet haben. Auch an der fundamental demokratischen, also spezifisch politischen Überzeugung der Kritischen Theorie ist nicht zu zweifeln. Die Repräsentanten der ersten Generation sind aus historischen und biographischen Gründen auf die Erfahrung und kritische Reflexion des »autoritären Staates« (Max Horkheimer) und die entsprechende Formung des »autoritären Charakters« fokussiert, auf die kulturellen und rationalitätshistorischen Bedingungen, die die Herausbildung selbständiger, im Kantischen Sinne mündiger Individuen verhindern und damit einer demokratischen Gesellschaft entgegenwirken. Mit der zweiten und dritten Generation, mit Jürgen Habermas, Albrecht Wellmer, Axel Honneth, Seyla Benhabib und Nancy Fraser, tritt die demokratische Grundorientierung aber ausgearbeitet hervor. Schwieriger steht es um das Verbindungsglied der Gefühle. Sie gelten, vor dem Hintergrund eines politisch dubiosen, irrationalistischen Kultus der Romantik, auch innerhalb der Kritischen Theorie als ideologieverdächtig und gefährlich für den demokratischen Diskurs. Dennoch sind auch sie zumindest im ästhetischen Zusammenhang legitim. Marcuses grundsätzliche und in den Studentenprotesttagen der späten 1960er Jahre aktualisierte Betonung der »Sinnlichkeit« und Adornos oft sublimer, aber doch insistierender Rekurs auf das »Somatische« liefern die entscheidenden Stichworte. Erst recht macht die nachfolgende Generation die Chronik der Gefühle (Alexander Kluge) und eine um die affektive und emotionale Dimension erweitere Rationalitätstheorie zu ihrem Thema.

In diesem Buch möchte ich eine Vorstellung davon geben, wie der Zusammenhang von demokratischer Politik, Gefühlen und Ästhetik unter wiederum veränderten historischen und wissenschaftlich-philosophischen Bedingungen aussehen kann. Historisch gesehen hat sich der Zusammenhang zumindest von Politik und Gefühlen am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts selbst zu einem Politikum verknotet. Das tonangebende Stichwort heißt hate speech. Nachdem der Ausdruck in den 1980er Jahren gebräuchlich wird, in den USA zunächst vor allem im Kontext der campus speech codes, breitet er sich gesamtgesellschaftlich im selben Maße aus, in dem die digitale Technologie sich als kulturprägendes Phänomen etabliert, auf der politischen Ebene ein kriegerisch-brutaler Zerfall von Nationen in Ethnien einsetzt – in Europa vor Augen geführt durch den Zerfall Jugoslawiens – und auf der politisch-kulturellen Ebene, am symbolkräftigsten mit den Flugzeugattentaten auf die Twin Towers in New York am 11. September 2001, sich eine schier endlose Reihe von terroristischen Anschlägen und Selbstmordattentaten in Szene setzt. In den digitalen Netzwerken der sogenannten sozialen Medien finden seither die Gefühle von Empörung, Wut, Zorn und Hass im Schutz der Anonymität massenhafte Verbreitung und formen sich vor allem unter dem alten Banner religiöser und nationalistischer Ideologien zu politischer Schlagkraft, während parallel dazu, wenn auch auf ganz unterschiedlichen Niveaus, die theoretische Reflexion einsetzt.

Neben der technologischen, staatspolitischen und politisch-kulturellen Dimension ist es die ökonomische, die der Politik der Emotionen die Schleusen öffnet. Es ist das Jahr 2010, als »der Wutbürger« in Deutschland ausdrücklich die politische Arena betritt. Der Kontext, in dem das geschieht, ist ebenso überraschend wie bezeichnend. Das Projekt »Stuttgart 21«, das den Bahnhof dieser Stadt hochgeschwindigkeitskompatibel und insofern zeitgemäß machen soll, spitzt sich nämlich politisch zu einem andauernden Protest zu, der verschiedene soziale Schichten und Generationen zusammenführt, aber doch vornehmlich getragen wird von älteren, wohlhabenden und konservativen Bürgerinnen und Bürgern. Überraschend ist nicht nur die Hartnäckigkeit des bürgerlichen Widerstands gegen die Staatsgewalt, sondern auch der Anlass. Der Protest gilt der Bewahrung eines Baudenkmals, er gilt, allgemeiner gesagt, dem Erhalt des Bestehenden gegenüber der rasenden Veränderung. Er drückt damit eine allgemein verbreitete Stimmung aus. Die ökonomisch-technisch-kulturelle Veränderung, die seit den 1990er Jahren auf den Namen »Globalisierung« hört und – teils optimistisch, teils resignativ – als alternativlos bezeichnet wird, weist nämlich eine Kehrseite auf, eben die einer anscheinend nicht still zu stellenden Veränderung, die über das Althergebrachte gefühllos hinwegrauscht. Entweder man passt sich an, oder man wird angepasst. So lautet die einfache und brutale gesellschaftstheoretische Alternative. Der Wutbürger aber weigert sich, sie so einfach hinzunehmen. Und er ist erfolgreich. Mit Donald Trump, so hat man ein paar Jahre später konstatiert, erreicht der Wutbürger sogar das Weiße Haus in Washington.1

Parallel zu diesen eingreifenden Veränderungen vollzieht sich in den Wissenschaften, vor allem den Geistes- und in Deutschland so genannten Kulturwissenschaften, ein affective oder emotional turn. Man ist, jedenfalls zumeist, nicht so vermessen, diese Wende mit einem Paradigmenwechsel im Thomas Kuhn’schen Sinne gleichzusetzen und somit akademisch zu adeln. Man meint damit keine fundamentale und revolutionäre Umorientierung einer Wissenschaftsform, sondern lediglich eine Ergänzung und Erweiterung bestehender Wissensperspektiven. Seit den späteren 1990er Jahren ist die Gefühlsforschung jedenfalls im deutschen Sprachraum nicht nur in Philosophie, Psychologie, Medizin, Neuro- und Kognitionswissenschaften etabliert, sondern auch in den Literatur-, Kunst-, Film- und Medienwissenschaften.2

Die jüngste Verknotung von Politik und Gefühlen einerseits und die Akzeptanz der Gefühle als Forschungsgegenstand andererseits erleichtern es, die spezifische Frage nach dem Zusammenhang von Gefühlen und Politik unter demokratischen Bedingungen zu stellen und sie zudem mit einer ästhetischen Perspektive zu verbinden. Welche Rolle also spielen Gefühle (faktisch und normativ) in einer demokratischen Lebensform? Und welche Rolle kommt den von Kunst und populärer Kultur angeleiteten Erfahrungen dabei zu?

Werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf die Engführung von Demokratie und Diskurs. Die Idee der Demokratie – als Resultat einer historischen Entwicklung innerhalb der europäischen und nordatlantischen Kultur – ist gewiss vielschichtig, aber sie gründet wesentlich auf dem Konzept von Selbstbestimmung. Freie und gleiche politische Subjekte haben demnach die institutionell garantierte Möglichkeit, den Prozess der Beratung (deliberation) und Gesetzgebung zu gestalten. Diese Idee ist, zwar nicht intrinsisch, aber doch dominant, verbunden mit einem Konzept von Vernunft und rationalem Diskurs, das dazu tendiert, Affekte und Gefühle auszuschließen. Denn der Beratungs- und Gesetzgebungsprozess soll verständlicherweise von guten Argumenten bestimmt werden und nicht von rhetorischen Tricks, psychologischer Manipulation oder gar kruder Gewalt.

Aber die Idee einer rationalen Debatte in Sachen der Politik sieht sich zumindest drei grundsätzlichen Einwänden gegenüber. Erstens dem naheliegenden Verweis auf die faktischen Umstände, die unübersehbar zeigen, dass Gefühle nie, jedenfalls nie vollständig, aus politischen Debatten ausgeschlossen werden können. Zweitens einer kulturhistorischen Analyse, in Nietzsches Terminologie einer Genealogie des abendländischen Denkens, die den Verdacht ausformuliert, dass das andauernde Betonen der Vernunft seinerseits als eine Leidenschaft und damit auch als etwas Irrationales verstanden werden kann; dass sich, mit anderen Worten, in unserer Vernunftkultur eine »irrationale Leidenschaft für leidenschaftslose Rationalität« verbirgt.3 Und schließlich lässt sich mit verschiedenen philosophischen und psychologischen, heutzutage auch neurowissenschaftlichen Einwänden seriös bezweifeln, dass Vernunft und Gefühle einander grundsätzlich ausschließen. Es ist vielmehr plausibel, dass die Ausschlussthese im Großen und Ganzen einem prämodernen Denkmodell entspricht, das Mitte des 18. Jahrhunderts abgelöst wird und im Rahmen verschiedener philosophischer und wissenschaftlicher Theorien die spezifische Rationalität von Gefühlen herausarbeitet.4

Ausgehend von diesen grundsätzlichen Erwägungen kann die entscheidende Frage somit nicht sein, ob, sondern in welchem Ausmaß und in welchem Sinn Gefühle eine Rolle im demokratischen Streit spielen und spielen sollen. Und auf diese Frage – so meine erste These – gibt es vier zentrale Antworten. Sie lassen sich unter die akademischen Stichworte »Präsentation«, »Moderation«, »Kompensation« und »Transformation« bringen. Im politischen Zusammenhang verlangen Gefühle – erstens – nach einer zeitgemäßen Form der Darstellung, nach – zweitens – Milderung und Mäßigung, nach einem – drittens und eng damit verbundenen – balancierenden Ausgleich und – viertens – nach einer sinnvollen Umwandlung. Diese vierfache Reaktion – so meine zusätzliche These – lässt sich entweder unter Mithilfe von ästhetischen Erfahrungen oder sogar in ausgezeichneter Weise durch sie erreichen.

Was ein Gefühl »ist«, wissen wir demnach, erstens, oft erst durch ein Kunstwerk. Es ist »Mutter unserer Gefühle« (Wassily Kandinsky), indem es ein Gefühl zur Welt bringt, ihm Gestalt verleiht und einen Namen gibt. Mit Hegel gesprochen, gibt das Kunstwerk uns eine »Vorstellung«, eine Repräsentation von dem, was ein Gefühl beinhaltet, die sich aber nicht auf etwas Vorgegebenes bezieht, sondern dieses Etwas erst »gibt«, ihm also Präsenz verleiht. Erneut lässt sich dies mit einer Namensgebung vergleichen; das Kunstwerk stellt uns dann ein Gefühl vor, wie man eine Person in einen sozialen Zusammenhang einführt.5 Der mildernde Effekt, zweitens, gehört zur Kunst, weil sie Gefühle nie bloß unmittelbar, ungestaltet zum Ausdruck bringt. Gewiss ist die Kunst der Moderne von Rimbaud über Kafka und Beckett zu Heiner Müller gekennzeichnet, passenderweise müsste man sagen: gezeichnet, durch das Abstoßende, Widerwärtige, auch Ekel Erregende, aber schon indem sie das Somatisch-Affektive gestaltet, tritt es einem im wörtlichen Sinn als Gegenstand gegenüber und verliert dadurch von seiner Macht. Hässliche Kunst ist ein Widerspruch in sich; sie ist in ihrer gestaltgebenden Form immer zu schön, um wirklich, ungefiltert hässlich zu sein. Die Funktion der Kompensation von Emotionen, drittens, ist in der Kunst nicht zentral. Für diese Funktion sind vielmehr schlichtweg andere Emotionen und darüber hinaus soziale Institutionen zuständig. Scham lässt sich demnach gut durch Stolz ausbalancieren, und umgekehrt; Furcht lässt sich nicht begreifen ohne Hoffnung, und umgekehrt. Unterstützt wird diese emotionale Ausbalancierung durch eine bestimmte Lebensform, eine Art von Intersubjektivität, die sich konkretisiert in Beziehungen der Freundschaft, Liebe und Solidarität. Ein soziales Netzwerk dieser Art ist in der Lage, Gefühle wie Angst, Aggression, Neid und Scham in ihren demokratiegefährdenden Effekten auszugleichen. Transformation ist demgegenüber, viertens, wieder eine ausgezeichnete Leistung der Kunst. Ein uraltes Bild dafür ist Pegasus, das geflügelte Pferd aus der griechischen Mythologie und Sinnbild der Dichtung, dem in einer Variante nachgesagt wird, es sei aus dem Blut der Medusa entsprungen, als Perseus ihr das grässliche Haupt abschlug. Eine romantisch-moderne Ausdrucksweise für die Verwandlung, die ästhetisch statthat, kommt dagegen aus Hollywood: »Take your broken heart and make it into art.«6

Meine Überlegungen konzentrieren sich auf drei Teile. Am Anfang steht, ausgehend von Protesten im Jahr 2015 an der Universität, an der ich zuletzt gearbeitet habe, der Universität von Amsterdam, eine teilnehmend-beobachtende Analyse politischer Gefühle. Systematisch orientiert sie sich an dem Gegensatzpaar von Zorn und Scham, denn Zorn, Wut und Empörung, manchmal auch Hass, sind die motivationalen Startbedingungen für Protest, Scham dagegen heißt, im passiven Sinn, von den Anderen in einer Bloßstellung gesehen zu werden, oder im aktiven, vor allem im politischen Sinn, den Anderen in einer Bloßstellung zu exponieren; »Schäm dich!« oder »schämt euch!« hält man den Menschen dann entgegen. Speziell interessant ist gegenwärtig die Verquickung der gegensätzlichen Gefühle von Zorn und Scham in der Haltung der Unverschämtheit, die sich für eine moderne demokratische Gesellschaft als hoch ambivalent erweist, als ebenso notwendig wie gefährlich.

Zweitens gebe ich einen ausgebreiteten Überblick über den gegenwärtigen Stand der philosophischen Diskussion zum Zusammenhang zwischen Demokratie und Gefühlen, stets mit Blick auf die mediatisierende Rolle der Ästhetik, und stelle dementsprechend vier Modelle heraus: das kognitivistisch-narrativistische Modell, das in einer aristotelisch-stoischen Variante gegenwärtig von Martha Nussbaum vorgestellt wird; das Empathiemodell der schottischen Aufklärung, namentlich von David Hume und Adam Smith; das spinozistische Affektivitätsmodell, das unter postmarxistischem Vorzeichen von Gilles Deleuze repräsentiert wird; und schließlich das hegelianische Freiheitsmodell. Die Rolle, die der Ästhetik in diesen Modellen zugewiesen wird, ist unterschiedlich – und unterschiedlich überzeugend.

Drittens unterbreite ich daher einen eigenen theoretischen und spezifisch ästhetisch-philosophischen Vorschlag, basierend auf Immanuel Kants und John Deweys Analyse der ästhetischen Erfahrung, eine philosophische Verbindung, die sich – nur auf den ersten Blick überraschend – in das Konzept einer erweiterten Rationalität einfügen lässt, wie es auch auf Seiten der Kritischen Theorie entworfen worden ist, und zwar von Horkheimer, Adorno und Marcuse bis zu Habermas und der nachfolgenden Generation; Kritische Theorie ist Kritik einer absolutistisch überzogenen, szientistisch eingeengten und relativistisch aufgelösten Rationalität im emanzipatorischen, das heißt hier radikal-demokratischen Interesse. Es geht am Ende um eine Ästhetik, die im intellektuellen Diskurs und in der politischen Praxis interveniert. Sie ist als Wissensmodell, als eine »symbolische Form« (Ernst Cassirer) eine kulturell formative Kraft. Sie kann daher gar nicht anders, als Streit zu provozieren. Aber das ist genau das, was auch in der Theorie allgemein stattfinden muss. Als Theoretiker oder Theoretikerin hat man eine hypothetische Einstellung zu dem, was der Fall ist. Unsere Theorien sind nur bis auf Weiteres gültig; sie sind nicht für die Ewigkeit gemeint. In der Ästhetik, der Philosophie der Kunst und der Kunstkritik, eigentlich für das ganze weite Feld der altmodisch so genannten Geisteswissenschaften, ist die mit unterschiedlicher Akzentuierung von Gadamer, Habermas und Rorty erneuerte hymnische Einsicht Hölderlins bestens am Platz, dass »ein Gespräch wir sind und hören voneinander«. Oder, um es weniger freundlich auszudrücken: dass wir streiten müssen, kämpfen mit den zivilisierten Waffen von Argumenten, von Behauptungen, die in einem weiten Sinn von Rationalität mitgeteilt, also gemeinschaftlich geteilt und daher auch kritisiert werden können.

I.Historisch-phänomenologische Analyse politischer Gefühle

1.Empörung, Wut, Zorn

Protest in Amsterdam

Üblicherweise beginnt alles mit Ärger, jedenfalls wenn es um Politik geht. Es ist ein Gefühl, das aufkommt, weil etwas oder jemand einen stört, belästigt, plagt, nervt. Es gibt dann ein Hindernis für das, was man gewöhnlich tut. Ärger an sich deutet nicht auf ein wirkliches Problem, eines, das sofort gelöst werden müsste oder nur unter erheblichem Aufwand gelöst werden könnte. Ärger ist wie eine Fliege, die einem um den Kopf surrt, über das Kinn krabbelt und die Nase kitzelt. Man versucht, sie zu verjagen, ein, zwei, mehrere Male. Und schließlich lässt man es, entweder weil man zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt ist oder zu müde oder vollkommen entspannt, »gelassen« im Deutsch-Heidegger’schen Sinn. Oder man reagiert verärgert, ungehalten, selbst etwas wütend und versucht, »dieses Miststück« zu fangen, zu erschlagen oder gar zu erschießen. Berühmte Beispiele aus unserer Werbe-, Comic- und Filmkultur sind das HB-Männchen (»Halt, wer wird denn gleich in die Luft geh’n! Greife lieber zu HB. Dann geht alles wie von selbst«), von den ausgehenden 1950er Jahren bis in die 1980er eine der bekanntesten und erfolgreichsten Zeichentrickfiguren in der deutschen Werbegeschichte; die Zigarette gilt hier (noch) als Beruhigungs- und Problemlösungsmittel. Als spaßige Zwischenoption darf man die berühmte Eröffnungssequenz von Sergio Leones Spiel mir das Lied vom Tod ansehen. Einer der Revolvermänner – dargestellt von Jack Elam in seinem unrasiertesten und verknittertsten Gesicht – fängt eine Fliege im Pistolenlauf und horcht dann geradezu zärtlich nach ihrem verzweifelten Brummen.

Ärger kann sich also in Ungehaltenheit und Wut transformieren. Das lästige Gefühl von Ärger bläst sich dann selber auf. Ungehaltenheit, Wut und schließlich auch Zorn können nicht stillsitzen. Sie müssen gegen ihre Ursache angehen; sie müssen handeln. Geschieht dies nicht, schlucken – wie man zutreffend sagt – die Menschen ihre Wut hinunter, transformieren sie eine psychische in eine physische Tatsache und werden früher oder später krank.

Auf dem Terrain, das man im Deutschen immer noch »Bildungspolitik« nennt, im Englischen Higher Education, lässt sich so eine Entwicklung – vom Ärger zum Zorn – seit Mitte der 1990er Jahre beobachten. Das ist im Übrigen auch die Zeit, in der im intellektuellen Diskurs der Begriff der Postmoderne langsam verschwindet. Zu dieser Zeit hat sich der Begriff des Neoliberalismus, ursprünglich der Name einer ökonomischen Theorie, die in den 1960er Jahren an der University of Chicago ausgearbeitet wird, erfolgreich im politischen Diskurs etabliert als Kernbegriff für die Deregulierung von Marktverhältnissen und die Privatisierung staatlicher Einrichtungen wie etwa dem Schul- und Hochschulsystem, dem öffentlichen Verkehr, der Energieversorgung, dem Wohnungsbau- und Mietsektor, der medizinischen Versorgung und der Polizei. Was unter dem Regime von General Pinochet und seinen »Chicago Boys« in den 1970er Jahren in Chile begonnen hat, wird von Ronald Reagan und Margret Thatcher, den Bannerträgern des Konservatismus in den 1980er Jahren, übernommen und schließlich an strebsame Sozialdemokraten wie Tony Blair und Gerhard Schröder (»der Genosse der Bosse«) in den 1990er Jahren weitergereicht. Zu dieser Zeit beginnt der Neoliberalismus – nun bereits ein Kampfbegriff7 – die europäischen Universitäten in seinem Sinn zu formieren. 1999 unterschreiben die europäischen Repräsentanten der Bildungspolitik die sogenannte Bologna-Erklärung in der Absicht, einen vereinheitlichten europäischen Bildungssektor zu schaffen. Wesentliche Elemente sind das zweiphasige Graduierungssystem (BA und MA), das European Credit Transfer System (ECTS) und ein auf den Arbeitsmarkt ausgerichtetes Studium.

In den Niederlanden entscheidet die Regierung – auch hier geführt von einem Sozialdemokraten, Wim Kok – bereits ein paar Jahre vorher, 1995, öffentlichen Institutionen wie Universitäten, Schulen und Krankenhäusern die Verantwortung für ihre Immobilien zu übergeben. Diese Entscheidung hat dann einschneidende Konsequenzen. Als die Universität von Amsterdam (UvA) das Projekt vorstellt, sich städteplanerisch um vier »Zentren« (Campus) herum zu reorganisieren, ist der erste Schritt in einen langsam anwachsenden Schuldenabgrund getan. Um es mit ein paar Zahlen zu resümieren: 2008 – dem Jahr des Bankrotts von Lehman Brothers – nimmt die UvA ein Darlehen von 55 Millionen Euro auf. Zum ersten Mal in ihrer langen Geschichte seit 1632, dem viel beredeten Goldenen Zeitalter, wird diese Universität zum Nettoschuldner. 2011 ist die Nettoschuld bereits auf 136 Millionen Euro angewachsen, 2018 erwartet man eine Schuldenlast von 400 oder sogar 576 Millionen Euro.8 Diese Entwicklung geht einher mit einer Veränderung der Verwaltungsstrukturen, nun Management genannt, die sich bei den Angestellten im zentralen Verwaltungsgebäude – dem Maagdenhuis (Haus der Jungfrauen), so genannt, weil es einst ein Waisenhaus für katholische Mädchen war – im Jahr 2015 folgendermaßen dokumentiert: Es gibt 21 Angestellte für Immobilienmanagement, 13 für den Bereich Finanzen, 8 für den Bereich Kommunikation (sprich Werbung) und schließlich 7 für Lehre und Forschung, also für jenen Bereich, der den Kern der Universität ausmachen sollte. An der UvA ist er zusammengeschrumpft auf ein Siebtel des gesamten Umfangs.

Diese ökonomische Entwicklung bringt eine drastische Veränderung der akademischen Arbeit mit sich, eine Veränderung, die in kleinen Schritten einsetzt und daher schwer als das zu identifizieren ist, was es tatsächlich ist: die Ausrichtung akademischen Lebens in Begriffen quantifizierbarer ökonomischer Effizienz, Profitabilität und Transparenz (deren Kehrseite Kontrolle heißt). Jeder einzelne dieser kleinen Schritte ist für die, die dieser Entwicklung kritisch gegenüberstehen, nur ärgerlich und erscheint nicht offensichtlich als gefährlich, aber die Summe führt zu einem »moralischen Schock«.9

Dieser Schock stellt sich ein, als im Herbst 2014 – nur zwei Jahre nach der letzten Restrukturierung der Ausbildungsgänge der Fakultät der Geisteswissenschaften – ein neuer Plan aufkommt. Als Ursache werden dieses Mal die Finanzen angegeben. Zunächst ist zu hören, dass die geisteswissenschaftliche Fakultät etwa 300.000 Euro einsparen müsse. Nicht dramatisch, jedenfalls vorerst. Aber schnell wächst die Summe an auf drei, dann acht und schließlich zwölf Millionen. Niemand weiß Genaues. Und niemand kann erklären, wieso es binnen eines Jahres – im letzten Jahresbericht ist noch von einer finanziell gesunden Fakultät die Rede – zu einem solchen Schuldenberg hat kommen können. Der Dekan der Fakultät kündigt eine »efficiency-battle« an, deren Kern schlicht darin besteht, dass knapp hundert (wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche) Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen – auch solche mit festen Verträgen – entlassen werden sollen. Denn unter dem Stichwort »Restrukturierung« ist ebendies möglich: die Schließung von Instituten und die Entlassung festangestellter Dozenten.

Dies ist der Moment, als die politisch aufgeladenen Emotionen explodieren. Die ersten Briefe und Petitionen zirkulieren, und als eine große Gruppe aktiver Studenten und Studentinnen eine »Night of Protest« organisiert, kann man erleben, wie all die Frustration und all der Ärger, der sich – auch bei vielen Dozenten – angestaut hat, losbricht. Wenig später besetzen die Studenten das Verwaltungsgebäude der Fakultät. Und dann macht das Rektorat der Universität seinen ersten großen Fehler, denn es will durch Gerichtsbeschluss festlegen, dass jeder Besetzer für jeden Tag der Besetzung eine Summe von 100.000 Euro bezahlen müsse. In diesem Moment schießt die Solidarisierung vor allem von Seiten der Dozenten nach oben, denn so eine Summe Geld zu fordern (wiewohl das Präsidium diese Summe bei einer früheren, kleineren Besetzung schon einmal gefordert hat und daher leichtgläubig davon ausgeht, dass, was einmal geschehen ist, immer wieder geschehen dürfe), ist äußerst unverhältnismäßig. Das Fakultätsgebäude wird schließlich durch die Polizei geräumt, aber die Reaktion der Protestgruppen kommt prompt: Sie besetzen nach einer großen Demonstration das Verwaltungsgebäude der Universität, das Maagdenhuis. Für etwa sechs Wochen wird dieses Gebäude daraufhin umfunktioniert zum zentralen Ort des Protests. Vorlesungen, Workshops, künstlerische Aktivitäten, Saturday-Night-Sessions und immer wieder Vollversammlungen reihen sich aneinander. Das vormals dezent Ehrfurcht gebietende Gebäude ist zum Anschauungsbeispiel einer open university im besten demokratischen Sinn geworden.

Kompensation und Transformation

Zorn ist eine treibende Kraft des Handelns. Er speist das Handeln mit Energie, hält es aufrecht und stellt ihm ein Ziel vor Augen. Er ist, literarisch-physikalisch ausgedrückt, »für alles Lebendige …, was für die Mühle das Wasser und der elektrische Strom für das Rad sind«.10 Er richtet sich gegen etwas oder jemanden (der dieses Etwas, eine Institution oder ein Unternehmen, repräsentiert). Er ist umso stärker, je größer die moralisch-psychologische Verletzung ist, aus der er hervorgeht. Je stärker er ist, desto obsessiver, unangenehmer und zerstörerischer kann er allerdings auftreten. Auch im Allgemeinen weiß man beim Zorn nie so genau, woran man bei ihm ist. In der alltagssprachlichen Beschreibung und Metaphorik »packt« er einen wie eine starke Gewalt und »bricht aus« wie ein Vulkan. Physiologisch zeigt er sich nicht nur in der Körperhaltung, sondern im offenen Visier des Gesichts, das rot anläuft und die angeschwollene Stirnader hervortreten lässt. Am Ende »verraucht« er womöglich wie ein Feuer. So erscheint er als menschliche Naturgewalt oder als ein Beleg für »das Tier in uns«, das Animalische der Emotion, nüchtern gesehen als ein Affekt, der Physisches und Psychisches, Leib und Seele gleichermaßen betrifft.11

Ein Paradebeispiel für die eruptive Naturgewalt des Zorns oder der Wut kann man etwa in schauspielerischen Leistungen John Goodmans bewundern, der filmischen Verkörperung eines immer nur vorläufig in sich ruhenden Kolosses. In The Big Lebowski (1998) hat er einen großen Auftritt, wenn er als Walter Sobchak mit einem Baseball-Schläger einen roten Sportwagen demoliert, weil er fälschlicherweise annimmt, er gehöre einem jungen Kerl, von dem er, zusammen mit seinem Freund und Bowling-Kumpel Jeff Lebowski, genannt »the Dude«, wiederum fälschlicherweise annimmt, er habe das Lösegeld von 1 Million Dollar gestohlen, das die beiden Bowling-Brüder eigentlich im Zuge einer – vorgetäuschten – Entführung übergeben sollten, aber dann lieber für sich behalten wollten. Da der junge Mann sich in den Augen von Walt nicht als kooperativ erweist, entlädt sich der aufgestaute Zorn in einer Strafaktion am Auto, das allerdings, wie sich zu spät herausstellt, einem Nachbarn gehört. In der HBO-Fernsehserie Treme (2010 bis 2013), die das Leben einer Gruppe von Einwohnern von New Orleans, vor allem Musikern und Mardi-Gras-Indians, nach dem verheerenden Hurrikan im Jahr 2005 verfolgt, spielt Goodman einen College-Professor, der sich eines Nachts dazu entschließt, dem Vorbild seiner Tochter zu folgen und das Internet als Kommunikationsmöglichkeit zu nutzen. Seine politische Wutbotschaft, gerichtet an George W. Bush und all jene, die meinen, man solle New Orleans, diesen Sündenpfuhl, am besten gar nicht mehr aufbauen, endet mit dem – mittlerweile in bestimmten Kreisen legendären – Ausruf: »Fuck you, you fucking fucks!«12 Der ausgestreckte Zeigefinger erfüllt dabei die ihm zugedachte Funktion: Er zeigt in die Kamera, auf all die fucking fucks aus streng gescheitelter Politik und Meinungsmache, um ihnen klarzumachen, dass sie die Letzten sind, die das Sagen haben sollten.

Unübersehbar hat der Zorn unberechenbare und daher gefährliche, sozial unverträgliche und moralisch dubiose Qualitäten. Man begegnet ihm insofern mit Achtung im Sinne von »Vorsicht«. Darüber hinaus steht er aber im abendländischen Wertekanon für ein Gefühl, dem man Achtung auch im Sinne von »Wertschätzung« entgegenbringt. Das beginnt schon mit dem ersten Dokument der europäischen Literatur und einem der berühmtesten Helden unserer Kultur: »Sing den Zorn des Achill«, lautet die erste Zeile von Homers Illias (in der klassischen deutschen Übersetzung von Johann Heinrich Voß). Genauer besehen ist »Zorn« oder »Groll« sogar das erste Wort in dieser ersten Zeile des Epos, das bis in unsere Tage die kollektive Imagination mit Bildern und Geschichten beliefert, wenn auch zumeist für den vereinfachten Fantasy-Gebrauch. (Wolfgang Petersens Troja aus dem Jahr 2004, mit Brad Pitt als Achill, fällt unter die Kategorie »mythologie- und daher fantasyfreies antikes Kriegsspektakel mit gutaussehenden jungen Schauspielerinnen und Schauspielern«.) »Menin aeide«, so heißt es also wörtlich, »den Zorn singe, Göttin, des Peleussohns Achilles, den unheilbringenden Zorn …«

Von zentraler Bedeutung für das antike Verständnis des Zorns, nach der maßgeblichen Interpretation von Aristoteles und mit Achill als Inkarnation dieser Emotion, ist zum einen die gekränkte Ehre, die »Geringachtung« (oligorio) durch Andere, die der »Überlegenheit«, die man sich selbst zuerkennt, entgegenwirkt, zum anderen die aufkeimende Lust, die mit der Aussicht auf Rache verbunden ist. Es sind dies Zuschreibungen von Macht: Zorn steht hier, und das heißt in großflächiger Verallgemeinerung: von der Antike bis in die Neuzeit, allein Gestalten mit Macht zu: Göttern, Heroen (und Heroinen), Herrschern und Herrscherinnen (die racherasende Medea ist eine Königin). Sklaven, Bauern und Menschen, die nichts Außergewöhnliches (arete) vorzuweisen haben, können nicht geringgeachtet werden und verfügen zudem nicht über die Mittel, sich zu rächen, da sie nicht als Gegenmacht auftreten können. In den Worten von Aristoteles: Man glaubt, »Anspruch darauf zu haben, von denen geehrt zu werden, die geringer sind an Herkunft, Macht, Tugend, ja überhaupt daran, woran man selbst in großem Maße überlegen ist«.13

Nicht mehr von Zorn, sondern von Hass ist dagegen, aus der modernen, feministischen Sicht von Christa Wolf, Kassandra getrieben, die trojanische Königstochter und Seherin, der niemand glaubt. Der Hass hört bei ihr auf den Namen »Achill«, »Achill das Vieh«, der seine Feinde in ungekannter Brutalität tötet und schändet. Die Erzählerin, die Kassandra die Worte leiht, möchte den Namen dieses Mannes aus dem Gedächtnis aller Menschen tilgen, stattdessen brennt sie ihn mit jeder Zeile unvermeidlich immer tiefer in die Köpfe der Leserinnen und Leser ein. »Wenn nichts mich überlebte als mein Haß. Wenn aus meinem Grab der Haß erwüchse, ein Baum aus Haß, der flüsterte: Achill das Vieh. Wenn sie ihn fällten, wüchse er erneut. Wenn sie ihn niederhielten, übernähme jeder Grashalm diese Botschaft: Achill das Vieh, Achill das Vieh.«14

Die jüdisch-christliche Tradition bringt dem Zorn ebenfalls, wenn auch in relativierter und manchmal paradox zugespitzter Form, eine gewisse Wertschätzung entgegen. Der im Alten Testament, bei Paulus und Luther dramatisierte »Zorn Gottes« und der seit dem 4. Jahrhundert n. Chr. aktenkundige menschliche Zorn als Todsünde stehen sich hier gegenüber. Vor allem Thomas von Aquin rechtfertigt Mitte des 13. Jahrhunderts den Zorn, sofern er ein gewisses Maß nicht überschreitet; maßlos und ungezügelt, gilt er als Sünde. Er kann sogar zu einem »heiligen Zorn« werden, wenn er auf ein Unrecht reagiert, das anderen angetan worden ist und wenn Gott selbst verunehrt worden ist. Dann treibt Jesus die Händler aus dem Tempel. (Und diejenigen, die darin ein politisches Vorbild sehen, prophezeien, dass in Amsterdam und anderen Universitätsstädten dieser Welt der nächste stürmische Protest kommen wird, der die neoliberalen Händler wütend aus dem säkularen Tempel der Wissenschaft vertreibt.) Die jüdisch-christliche Tradition verkoppelt den Zorn demnach nicht vorrangig mit beleidigter Ehre und rächender Gewalt, sondern mit Recht, Gerechtigkeit und Strafe. Es sind, auch wenn die entsprechende Argumentation problematisch bleibt, ethische Prinzipien, die hier den Zorn und die Gewalt, die absolute Macht Gottes begrenzen; eine Gegenmacht, wie in der Welt Homers, ist innerhalb des Monotheismus nicht vorstellbar. Die göttliche Allmacht setzt dabei zugleich, wiederum im Unterschied zur griechischen Antike, einen Zorn der Ohnmacht frei, den Zorn derjenigen, die keinerlei Macht haben und durch den allmächtigen Gott Kompensation ersehnen. Gott wird zur Instanz der Vergeltung jeglicher Ungerechtigkeit. Zugleich deutet sich hier bereits an, was im Zeitalter der Moderne seit dem späten 18. Jahrhundert dann entscheidend wird: die Wut einer zwar politisch zur Herrschaft gelangten, aber doch von übermächtigen Gesellschaftsstrukturen in Ohnmacht gehaltenen, weil in ihren Lebensmöglichkeiten eingeengten Subjektivität.15 Die demokratisierte Wut erscheint im öffentlichen Raum.

Auch in der Philosophie ist Zorn schließlich ein anerkannter Begriff, denn im Unterschied zu anderen aggressiven Affekten, also Affekten, die Aktivität und Gewalt befördern, etwa Hass, Neid und Eifersucht, drückt Zorn sich in einer moralischen Sprache aus. Er reagiert, wie in der Religion des Judentums und des Christentums, auf Ungerechtigkeit. Auch insofern, nicht nur theologisch, ist die Rede vom »gerechten« Zorn angebracht. Er reagiert darauf, dass einem selbst oder anderen ein (der eigenen Überzeugung nach) gerechtfertigter Anspruch versagt wird. Dementsprechend kommt er auf, wenn jemand gegen eine Norm verstößt, die für einen selber hoch bedeutsam und geradezu identitätssichernd ist. Im Unterschied zum Hass ist Zorn dabei nicht exzessiv und schließt keine Feindschaft ein. Wiewohl nicht klar ist, ob er, wie ein Gefühl generell, konstitutiv ist für Moral, kann man gewiss sagen, dass ein Gefühl als Indikator wirkt: Ist es nicht vorhanden, hat die Sache, die entsprechende Norm, keine subjektive Relevanz.16 Das heißt nicht, dass eine Norm, der man keine Relevanz zuerkennt, nicht gerechtfertigt sein kann. In den Nachrichten zu lesen, dass jemand eine Bank ausgeraubt hat, mag kein merkliches Gefühl in einem hervorrufen, dennoch kann man der Überzeugung sein, dass die Norm: »Du sollst nicht stehlen!« im Prinzip richtig ist. Der Bankraub hat in dem Moment lediglich keine lebenspraktische, das eigene Handeln wirklich leitende Bedeutung für den distanzierten Zeitgenossen. Hätte er eine solche Bedeutung, würde man mit einer merklichen Gefühlsäußerung reagieren und zornig werden (auf die Missachtung von Eigentum), sich empören (über asoziale Kriminelle) oder sich schämen (weil der kriminelle Akt durch ein hehres politisches Ideal legitimiert worden ist, das damit kriminalisiert worden ist).

Wenn Empörung, Wut und Zorn menschliches und speziell politisches Handeln in dominanter Weise bestimmen, laufen sie letztlich ins Leere und erweisen sich als kontraproduktiv. Der ewige Wüterich wird irgendwann als tragikomisches Klischee wahrgenommen, die Empörung des Kapitalismuskritikers als Ritual, der »Zorn der Straße« als politisch gelenkte populistische Strategie, auf die sich René Girards kulturanthropologische Theorie insofern anwenden lässt, als der Zorn hier gesellschaftlich und politisch durch die Erfindung einer Sündenbock-Rolle in eine Richtung gelenkt wird, die die bestehende gesellschaftlich-kulturelle Ordnung bestätigt, statt sie zu verändern; der Zorn wird auf eine bestimmte Person oder Gruppe (»die Juden«, »die Muslime«, »die Elite«) gelenkt und somit ordnungsstabilisierend abgeführt.17

Empörung, Wut und Zorn haben ihre Stärke vielmehr darin, anstoßende und treibende Gefühle in der Dynamik des Handelns zu sein. Um produktiv wirken zu können, müssen sie sich aber in eine spannungsreiche Verbindung mit anderen Gefühlen, moralischen Werten oder strategischen Prinzipien setzen.

Was die Verbindung mit Strategie betrifft, ist die Rache des Odysseus ein klassisches Vorbild. Nachdem er aus seinen langen Irrfahrten nach dem Trojanischen Krieg endlich zurückgekehrt ist in sein Haus, wo seine Gemahlin auf ihn wartet, und er dort eine Horde von Freiern vorfindet, gibt er seinem zornigen Impuls nicht sofort nach, sondern wartet, wie schwer es ihm auch fällt, einen günstigen Zeitpunkt ab – aus heutiger cinematischer Sicht würde man sagen: den finalen Tarantino-Zeitpunkt –, in dem sich die Rache entlädt. Es ist instrumentelle Vernunft, die ihn leitet. Er schiebt die Realisierung seiner aggressiven Gefühle auf, unterdrückt sie für eine gewisse Zeit, um sie schließlich fokussiert auszuleben.

Eine andere Manier, mit ihnen umzugehen, ist dagegen, traditionell aristotelisch und christlich gesprochen, die Mäßigung oder besser der Ausgleich, die Kompensation. Unter den Gefühlen, Werten und Haltungen, die den Zorn kompensieren und ausbalancieren können, lässt sich etwa das Mitgefühl anführen (»Der Andere ist auch nur ein Mensch«), der Humor (der bekanntlich »trotzdem lacht«), der Stolz oder die Selbstachtung (»Was juckt es die Eiche, wenn sich ein Wildschwein an ihr reibt?«) oder die Achtung allgemein. Was Letztere betrifft, scheint es angebracht, einer mehrfachen Unterscheidung zu folgen und Achtung im Sinne eines akuten Gefühls (das uns »überfällt« und daher nicht von unserem Willen kontrolliert werden kann), einer Disposition zu diesem akuten Gefühl und einer habitualisierten Einstellung, einer Haltung zu begreifen, die sich zum einen als Höflichkeit, als neutrale Einstellung äußert (die selbst diejenigen umfasst, die man verachtet), zum anderen als universalisierte moralische Gesinnung.18 Im Zusammenhang der Politik, dem ritualisierten, aber auch heftigen Streit um das kollektive gute Leben, wird die Achtung öffentlich auf eine Probe gestellt, die sie meistens besteht, mitunter aber auch nicht. Dann muss man sich gegebenenfalls rüde verbale und manchmal auch symbolisch-körperliche Attacken gefallen lassen, die, eben weil sie eine symbolische Bedeutung haben, nicht in schlichte körperliche, gar tödliche Gewalt münden, sondern diese einfrieden; dann trifft den ehemaligen deutschen Außenminister Joschka Fischer während eines Parteitags zum Krieg rund um das zerfallende Jugoslawien ein roter Farbbeutel, den ein Kriegsgegner auf ihn geworfen hat, da er den Politiker der eigenen Partei als mitverantwortlich für diesen Krieg erachtet. »It’s politics, not personal«, wäre die Formel dazu, analog zu der aus der Geschäftswelt bekannten Redeweise: »It’s business, not personal«, mit der ein Unternehmer nach vielen Jahren gemeinsamer Geschäfte den Vertrag mit einem befreundeten Unternehmer aufkündigt, für den diese Entscheidung einschneidende Konsequenzen hat.

Kompensation bzw. Ausbalancierung ist aber, wie gesagt, nur eine Möglichkeit, mit Gefühlen im öffentlich-politischen Raum umzugehen. Eine andere ist ihre Transformation