Den Dritten heirat' ich einmal - Paul Oskar Höcker - E-Book

Den Dritten heirat' ich einmal E-Book

Paul Oskar Höcker

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Beschreibung

"Lilo wäre Bill und Arndt wohl kaum im Leben mehr begegnet, wenn Richard sie nicht an jenem Aprilmorgen in dem Berliner Blumengeschäft als Verkäuferin entdeckt und wenn er nicht bei seinen Kameraden ihre Einladung zu der Segelfahrt durchgesetzt hätte. Wenn sie damals geahnt hätte, durch welche Erniedrigungen, durch welche Kämpfe und Erschütterungen die Erlebnisse mit diesen drei Männern sie führen würden! Aber schließlich auch – zu welchem Triumph!"-

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Paul Oskar Höcker

Den Dritten heirat’ ich einmal

Roman

Saga

Lilo wäre Bill und Arndt wohl kaum im Leben mehr begegnet, wenn Richard sie nicht an jenem Aprilmorgen in dem Berliner Blumengeschäft als Verkäuferin entdeckt und wenn er nicht bei seinen Kameraden ihre Einladung zu der Segelfahrt mit Bills Mama durchgesetzt hätte.

Oft hernach fragte sich Richard, was in aller Welt ihn denn bewogen hatte, Bill und Arndt von diesem Wiedersehn zu erzählen und sie dadurch zu seinen Rivalen zu machen. Hätte er in jener Stunde geschwiegen — wie würde sich Lilos Schicksal dann gestaltet haben? Und das von Bill, das von Arndt? Und — das seine?!

Auch Lilo behielt den Tag, der über ihre künftigen Wege entschied, in allen Einzelheiten im Gedächtnis. Es war der Mittwoch nach Ostern 1922. Sie sah sie noch alle drei vor sich in ihrer blauen Marinekluft: Bill und Arndt und Richard. Sie trugen nun nicht mehr die Schülermütze wie in Alt-Beversdorf, sie waren befahrene Seeleute, waren Männer geworden. Wie stolz sie darauf war, von ihnen wie eine wirkliche Sportsdame behandelt zu werden! Sie zählte knapp siebzehn Jahre und war Lehrling in der Blumenbinderei, im Grunde nur eine Art Ladenmädchen.

Wenn sie damals geahnt hätte, durch welche Erniedrigungen, durch welche Kämpfe und Erschütterungen die Erlebnisse mit diesen drei Männern sie führen würden! Aber schliesslich auch — zu welchem Triumph!

*

Nach Alt-Beversdorf war Liselotte in ihrem siebenten Lebensjahr gekommen, ein Jahr nach dem Tod ihres Vaters, des Professors, als ihre Mutter sich wieder verheiratete und nach Italien zog. Die Trennung von der Mutter, von den Geschwistern, von dem hübschen Gärtchen in Kiel war sehr grausam für Lilo gewesen. Aber die Not im Hause war gross. Das Vermögen der Mutter war bei dem Triester Bankkrach verlorengegangen. Als der Vater nach langer, schwerer Krankheit starb, war nichts da. Die Verwandten der Eltern, sowohl die norddeutschen des Vaters wie die österreichischen der Mutter, sprangen der lebensunkundigen jungen Witwe bei. Liselotte fand eine neue Heimat bei Onkel und Tante in Alt - Beversdorf bei Stechlin. Der Schulrat unterhielt da ein Landerziehungsheim für Knaben. Es ging ein bisschen spartanisch zu in der Anstalt. Die Jungen trieben Sport in jeder Form. So wurde Lilo frühzeitig abgehärtet. Als sie noch nicht zwölf Jahre zählte, machte sie schon das Wettschwimmen mit den grossen Jungen mit und gewann: 42 Minuten hatte sie für die im See abgesteckte Strecke gebraucht. Bill war ihr mit zehn Längen gefolgt, Arndt mit achtundzwanzig. „Klingendes Fliess“ hiess das Landerziehungsheim nach dem Bach, der unweit von Alt-Beversdorf in den waldumsäumten Stechlinsee mündet, um dann jenseits, erstarkt und verbreitert, der Oder zuzustreben. Ein herrliches Gebiet für schulfreie Jungen, die Griechen- und Perser-Schlachten, Old-Shatterhand-Expeditionen oder Russen- und Japanerkämpfe zu bestehen hatten. Wenn gelegentlich eine Squaw oder eine Helena als Kampfpreis erforderlich war, dann durfte Lilo aushelfen. Durch ihren Schwimmsieg hatte sie sich die hohe Vergünstigung, als einziges Weib unter Heroen zu weilen, redlich verdient. Aber für Arndt und Bill, die sich brüsteten, demnächst schon Schnurrbärte zu bekommen — vorläufig sah man sie noch nicht —, war sie ja doch nur ein Kind.

Bill und Arndt hatten sich schon in Quinta entschlossen, zur Kaiserlichen Marine zu gehen. Als der Krieg mit dem Zusammenbruch Deutschlands endete, wollten sie wenigstens zur Handelsflotte. Es hielt damals schwer, auf einem guten Schiff unterzukommen. Sie verfügten aber beide über Auslandsgeld, das ihnen die Wege ebnete: Bills Mutter war Engländerin, Arndts Vater war Mitbesitzer einer portugiesisch-brasilianischen Reederei.

Richard hatte im Knabenheim am „Klingenden Fliess“ nur ein Gastspiel gegeben. Nachdem sein Vater auch das zweite Semestergeld schuldig geblieben war, liess sich Richard bei der Frau Schulrat melden und bat sie um ihren Rat und Beistand. Ein Finnländer wollte ihn als Schiffsjungen einstellen — aber er musste sich mit falschen Papieren durchschmuggeln. Sie war nicht die Frau, die junge Menschen vor Abenteuern gewarnt hätte. So kam Richard schnell zu einer aus alten Beständen gemischten Schiffsjungenausrüstung und zu einem baren Zehrpfennig für die erste Ausreise. Lilo hatte dem kurzen Abschied des Spielgefährten beigewohnt. Tante Schulrat sagte hernach: „Armer Teufel. Wird wohl seinen Weg ganz allein machen müssen. Der Vater taugt nicht viel. Auch die fünfte Mahnung blieb fruchtlos. Also das beste: Konto Richard Deutscheck streichen.“

Nach anderthalb Jahren war Richard Leichtmatrose auf einem Stettiner Fischkutter. Da bekam er überraschenderweise ein paar Tage Urlaub, und die verwendete er, um sich aus Dankbarkeit im „Klingenden Fliess“ zu melden. Aber in Alt-Beversdorf hatte sich inzwischen viel geändert. Keiner der alten Kameraden war mehr da, der unglückliche Kriegsausgang hatte der Schule schwere wirtschaftliche Schäden geschlagen, und die Frau Schulrat selbst war durch ihr Leiden zu dauerndem Liegen verdammt. Den sehr gross und schlank gewordenen Richard Deutscheck hatte sie aber sofort wiedererkannt. Lilo musste für ihn von den eingemachten Früchten bringen. Tante Schulrat schenkte immer gern, auch wenn sie selbst kaum etwas hatte. So kam es freilich, dass nach ihrem Tod die ganze Schule in fremde Hände überging und ihre Nichte Lilo die erstbeste Stelle in Berlin als Ladenmädel annehmen musste.

*

Richard war in der allmählich wieder aufblühenden deutschen Handelsflotte seine fünfzig Monate als Vollmatrose gefahren und hatte bei der Reederei abgeheuert, um die Hamburger Seefahrtsschule zu besuchen. Auch Bill Lissingen und Arndt Miller wollten sich auf die Prüfung zum Steuermann auf grosser Fahrt vorbereiten; Bill ebenfalls in Hamburg; Arndt, der um zwei Jahre älter war als Bill, um vier Jahre älter als Richard, auf der Seefahrtschule in Wustrow, wo er den Lehrgang der Hauptklasse mitmachte. Sie waren einander da und dort begegnet, von Bord zu Bord, und hatten sich immer hunderterlei zu erzählen. Besonders Bill verstand das Seemannsgarn zu spinnen. Er brannte darauf, den Kameraden endlich einmal einen Begriff davon zu geben, was für ein feiner Kerl er im Grunde war. Seine Mutter weilte jetzt zu Besuch in Deutschland, sie hatte ein patentes Segelboot mit eingebautem Motor gechartert, das auf dem Wannsee lag. All’ das wollte er vorführen: die vornehme englische Mutter (deren Bruder bekanntlich der steinreiche Sir Felix Sorquai auf Castle Kinbrace in Schottland war), die elegante Mietvilla beim Seglerhaus Wannsee und — nicht zuletzt — die schnittige „Hertha“, 65-qm-Seefahrtsklasse, die sich auch vor den Augen befahrener Teerjacken sehen lassen konnte. Ein Grossmaul war der gute Bill ja schon auf der Schule gewesen, aber böse konnte man ihm nicht sein, wenn er so mit seinem rotblonden, immer sich sträubenden Haarschopf und den begeisterten, kornblumenblauen Augen vor einem stand und Sonne, Mond und Sterne vom Himmel herunterholen wollte.

Um zwölf Uhr sollten Bills Gäste sich in Wannsee melden; er würde sie im Auto seiner Mutter von der Bahn abholen. (Bill konnte dabei gleich dartun, dass er inzwischen auch sein Chauffeurexamen abgelegt hatte.)

Richard verliess das billige Seemannsquartier am Stettiner Bahnhof so frühzeitig, dass er noch einen längeren Bummel durch Berlin ausführen konnte.

Aber hübsch fand er dieses vielgerühmte, vielbegehrte Berlin jetzt durchaus nicht. Auf allen Strassen und Plätzen trieb sich Gesindel herum, das Auslandsgelder hamsterte. Auch Richard — an seiner blauen Düffeljacke, seinem wettergebräunten Gesicht und seinem etwas wiegenden Gang leicht als Seemann kenntlich — wurde mehrmals von widerlichen Burschen auf Devisen angesprochen.

Unter den Linden sah er sich die Schaufenster an. Ein reich ausgestatteter Blumenladen imponierte ihm da am meisten. Grossartige Arrangements, Körbe mit goldbedruckten Bändern, für ein Revuejubiläum bestimmt, hatten viele Schaulustige an die mächtigen Kristallscheiben gelockt. Elegant gekleidete Fremde verliessen ihre Autos und traten in den Laden ein. Die Verkäufer und Verkäuferinnen dienerten. Ein Herr im schwarzen Gehrock dienerte mit, offenbar der Geschäftsführer. Mit hundert Dollars konnten diese Exoten jetzt halb Berlin aufkaufen.

Und in der Schar der flinken Ladenmädchen, die in ihren hellen Leinwandschürzen zwischen den meterhohen Krügen mit den Zweigen getriebener Frühlingssträucher hantierten, an den Bindetischen schnitten und bastelten, zur Kasse eilten und die Herren und Damen mit Komplimenten bis zur Tür begleiteten, befand sich Lilo.

*

Gar kein Zweifel, es war Liselotte Schärf, die Nichte der Schulvorsteherin am „Klingenden Fliess“.

„’mal ein büschen hineingehn, Tag sagen, fragen, wie die kleine Krabbe dahinkommt!“

Richard nahm schon die rechte Hand aus der Tasche seines blauen Sakkos, um nach der Klinke zu fassen. Aber da schob ihn eine dicke, schlagflüssig verfettete, im Gesicht wie eine Kalkmauer angestrichene Pelzbesitzerin, auf polnisch laut mit ihrer Begleitung schwatzend, rücksichtslos zur Seite und stiess die Ladentür auf. Wär’s ein Mann gewesen, der sich die Flegelei gegen ihn erlaubte, er wäre die Quittung nicht schuldig geblieben. Doch so begnügte er sich damit, die ungehobelte Person schweigend zu verachten. Das wurde ihm gar nicht so schwer. Er stammte aus der Provinz Posen. Sein Vater hatte in zweiter Ehe in ein stockpolnisches Haus geheiratet. Nichts brachte Richard dazu, seiner Stiefmama die Hand zu küssen, wie sein Vater es von ihm wollte. „Tête carrée!“ hiess Richard bei ihr. Er hasste die ganze Polackei. Es war nun eben kein Vergnügen für ihn, durchs Schaufenster mit ansehn zu müssen, wie die kleine Lilo der dicken, geschminkten Polin strahlend entgegenflog ... Der Geschäftsführer wedelte auch noch herbei ... Die Polin kaufte und kaufte. Noch ein Ladenfräulein stellte sich ihr zur Verfügung, eines mit einem Zwicker auf der Nase, Lilo schaffte es wohl nicht allein.

Richard hatte jahrelang die Heuer zusammensparen müssen, um jetzt die Seefahrtsschule besuchen zu können, er war höllisch geizig gegen sich gewesen. Aber in dieser Sekunde packte ihn doch der Hafenleichtsinn des befahrenen Seemanns. „Ich werde da drin auch so’n Strutz erstehen!“ sagte er trotzig zu sich. Und dann stand er in dem herrlich duftenden Raum, in dem Spiegel und Gläser und trotz Tageslicht viele elektrische Birnen an der Decke wunderbare Reflexwirkungen hervorriefen, in dem alles blühte, was er an fernen Küsten je blühen gesehn, und dazwischen Maiblumen, Flieder, Prunus, Goldregen, alles, was das deutsche Land erst in vier Wochen bieten konnte ... Die fette Polin kaufte immer noch. Die Blumenarrangements sollten abends im Blüthnersaal abgegeben werden: Tanzabend Adamowitsch. „Sie abben doch gehört, n’est-ce pas, Mademoiselle, die grosse Tänzerin Desirée Adamowitsch aus Varsovie! Aber wo ist Pan ... Chef ... bitte, ich muss abben gresste Rabatt, ich bitte, bei solche quantité!“

Und die blonde kleine Lilo macht ein liebenswürdiges Schnütchen und fliegt. Spricht mit der zwickerbehafteten Kollegin, mit dem Geschäftsführer, mit einem blassen Kassenjüngling. Fliegt wieder. Kommt auf den ewig nassen Kacheln ins Gleiten, fast ins Fallen. All’ das wegen der dicken Mama von der polnischen Tänzerin Desirée.

„Kleiner, dummer Aff’!“ sagt Richard. Er zischt es durch seine zweiunddreissig blendend weissen Zähne, die aus dem schmalen, braunen Gesicht mit den dunkelbewimperten Augen so auffallend herausleuchten, und zieht die Hand, die bereits mit ein paar richtigen schwedischen Silberstücken spielte, wieder aus der Hosentasche. Mit ernster, verschlossener Miene wendet er sich zur Tür. Seine hohe Stirn, sein schmaler Schädel, seine etwas eingesunkenen Schläfen, seine schlanke Figur, vor allem der Ausdruck seiner grauen grossen Augen scheinen den Vergleich mit einem jungen Filmschauspieler herauszufordern, der soeben ein paar grosse Erfolge eingeheimst hat. „Ist das nicht Conrad Veidt?“ fragt eine junge Käuferin im Laden halblaut. Alle Gesichter wenden sich sofort Richard zu. „Verzeihung, werden Sie bedient, mein Herr?“ fragt der rasch zur Ausgangstür hüpfende Geschäftsführer. „Fräulein Schärf, rasch, bitte sehr, wo stecken Sie nur schon wieder?“

Der falsche Conrad Veidt setzt eine unendlich hochmütige Miene auf, indem er an der fetten Polin vorbeistreift, die ihn plötzlich wie ein Gottesgeschenk bewundernd anstrahlt, und lehnt die Dienstwilligkeit des Geschäftsführers mit einem ironischen „Djenkuje!“ ab.

Dann steht er wieder Unter den Linden und ärgert sich.

*

Bill nahm seine beiden Gäste, die sich in Wannsee beim Aussteigen aus dem Zug getroffen hatten, sofort ins Auto. Richard und Arndt mussten auf der Strecke bis zum Seglerhaus viel über PS, Auspuff, Kühler, Gashebel hören. Sie unterdrückten beide das Grinsen.

Die „Hertha“ sagte den beiden jungen Seeleuten mehr als das elegante Auto. Sie ruderten mit Bill zum Ankerplatz und begutachteten das Boot fachmännisch. Natürlich dachten sie, man werde sofort an Bord gehn und Kurs zur Havel nehmen. Aber das Programm war anders. Mrs. Sorquai (Bills Mutter hatte nach der Trennung von ihrem deutschen Ehemann wieder ihren englischen Mädchennamen angenommen) erwartete die jungen Herren um ein Uhr zum Lunch. Darauf wollte sie sich ein Stündchen schlafen legen. Und die Segelfahrt musste so eingerichtet werden, dass Mrs. Sorquai Punkt fünf Uhr in Potsdam den Tee bekam. Bill tat so, als fände er dieses Arrangement glänzend; es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, denn seine Mama vertrug nicht den geringsten Widerspruch. Für Arndt und Richard bedeutete der Besuch zunächst einen verlorenen Tag: sie mussten sich „benehmen“ (wie Bill ihnen ans Herz legte, während sie in die Villa eintraten), und bei Tisch hiess es englisch sprechen.

Mrs. Sorquai war übrigens netter, als die beiden Gäste erwartet hatten. Arndt Miller, der es ja zu beurteilen wusste, sagte hernach gönnerhaft: „Vollendete Lady!“ Sie hielt sich kerzengerade, war überschlank, ätherisch und hatte gar nichts von Bills wundervoll plebejischer Gesundheit. Dass sie alles, was deutsch war, nicht ausstehn konnte, kam nicht zum Ausdruck; sie war von bezaubernder Liebenswürdigkeit, wenn auch eiskalt. Bill hatte ihnen ja im „Klingenden Fliess“ das Drama seines Elternhauses erzählt. Kurz vor Kriegsausbruch war Bills Vater, ein Rheinländer, Oberleutnant der Marine, mit Frau und Sohn bei Sir Felix Sorquai zu Besuch gewesen, und es hatte auf Castle Kinbrace schwere Auseinandersetzungen gegeben. Lissingen reiste ab und nahm Bill mit, bevor man’s hindern konnte. Es wäre gewiss sofort zum Scheidungsprozess, zum Kampf um den Jungen gekommen — aber da trat schon England in den Krieg ein, und mit dem ersten Unterseeboot, das unterging, fand Lissingen den Tod. Ein grosser Teil von Frau Lissingens Vermögen befand sich in Deutschland; es wurde von Bills Vormund, dem Notar Folpert, verwaltet. Der Prozess um das durch die Inflation zusammengeschmolzene Kapital, vielmehr um dessen Aufwertung, schleppte sich noch immer hin. Bills Mutter hatte die Sehnsucht nach einem Wiedersehn so lange Niederkämpfen müssen, bis jedes stärkere Gefühl eigentlich schon erloschen war. Sie fand dann ihren stark herangewachsenen Sohn auch schrecklich teutonisch. Nach Kinbrace wagte sie ihn nicht einzuladen. Aber auf ihren alljährlichen Badereisen richtete sie’s so ein, dass sie ein paar Tage für Bill frei hatte.

Was sollten sich die jungen Männer mit der fremden Lady bei dem mit Mineralwasser servierten Lunch erzählen? Fast jedes Thema war gefährlich, denn alles, was man jetzt erlebte, hing doch noch irgendwie mit dem Krieg zusammen, und wer trug an dem die Schuld? ... So sing Richard denn an, vom „Klingenden Fliess“ zu plaudern, aus der gemeinsam verlebten Pennälerzeit, meist derbnaive Jungensstreiche. Und das war das Gebiet, auf dem sie sich fanden, die bocksteife Engländerin und ihre jungen Gäste. Allerlei in ihr Verschüttetes regte sich. Das ewige Kind erwachte. Sie konnte plötzlich mitlachen. Bill blickte Richard voller Dankbarkeit an.

„Oh, wir waren tolle Burschen!“ beteuerte er stolz und strich mit den fünf Zinken seinen rotblonden Schopf in die Höhe.

Und Richard kam auf die kleine Nichte der Schulrätin zu sprechen, die Tochter des Professors Schärf, die blonde Lilo mit den seltsam dunkeln Augen. Murillo-Augen hatte der Schulrat sie einmal genannt.

„Sie war doch nicht blond, sie war brünett, so brünett wie ich“, sagte Arndt Miller, „ich habe sie immer ‚kleine Morchel’ genannt, da wurde sie noch so fuchsteufelswild!“

„Ja, braun war sie damals wie ein Zigeunerkind“, bestätigte Bill. „Ihre Mutter ist ja auch Italienerin. So, Österreicherin? Na ja: irgend so etwas Slawonisches. Aber wie du von blond sprechen kannst, Richard — ?“

„Ich hab’ sie doch erst vor zwei, drei Stunden gesehn. Unter den Linden.“ Und nun berichtete er.

Frau Mary Sorquai, die sich ihrem Sohn so ganz entfremdet fühlte, war immer froh, wenn sich eine Möglichkeit bot, durch äussere kleine Unternehmungen die innere Leere zu vertuschen.

„Wisst ihr, was ihr jetzt nach dem Lunch tun könnt? Setzt euch alle drei in den Wagen und bringt sie mal her, die kleine Miss. Eine blonde Brünette, das muss ja ein Naturwunder sein. Is n’t so?“

Richard war glücklich in dem Gedanken, dass er die arme kleine Spielkameradin vom „Klingenden Fliess“ nun doch noch Wiedersehen und — vor allem — dass es ihm gelingen sollte, sie wenigstens für ein paar Stündchen der Machtsphäre jenes schwänzelnden Ladenchefs und seiner entsetzlichen Kunden, pelzverbrämter, fetter, verschminkter polnischer Tanzmütter zu entreissen. Er griff also herzhaft zu.

Bills Mama hörte schliesslich nicht mehr recht hin, sie gähnte schon durch die Nase, was sie durch ein leichtes Hüsteln zu vertuschen suchte. „Well, Richard, sie soll mit an Bord kommen und in Potsdam Tee mit uns trinken!“

Mit einem gnädigen Lächeln waren die drei jungen Seeleute entlassen.

„Half past three!“ erinnerte sie noch kurz.

*

„Drei Seeräuber auf Jungfernraub!“ witzelte Arndt Miller, als sie Unter den Linden das Auto verliessen, und liess seine goldenen Zähne blitzen. Er fühlte sich als der Älteste berechtigt, die diplomatische Führung dieser ausserordentlichen Mission zu übernehmen. Die beiden andern waren schon ein bisschen eifersüchtig auf ihn. Der Gesichtsausdruck Arndts, sobald von Frauen gesprochen wurde — er sagte prinzipiell „Weiber“ —, gefiel Richard nicht. Etwas Lüstern-Dreistes lag in seinen schlitzschmalen, braungrünen Augen. Arndts Nase war etwas zu kurz geraten, die Oberlippe liess oft nicht nur die goldenen Vorderzähne, sondern auch das künstliche Rot des Oberkiefers sehen. Das verstärkte noch den Eindruck des Grobsinnlichen. Das Malheur mit seinem Gebiss war ihm bei einem Zusammenstoss in Rio widerfahren, über den er nie so recht klare Auskunft gegeben hatte.

„Was steht den Herren zu Diensten ... Mein Gott, das ist doch Bill! — Und Arndt, du auch! — Und Richard! ... Ja, Jungens, was ist denn los? Wie kommt ihr denn alle drei auf einmal hierher — ?!“ Lilo ist zuerst zu Tode erschrocken. Dann überkommt sie eine grosse Rührung. Aber die Angst vor dem Chef ist noch grösser. Der Verkehr im Laden ist jetzt zwar ruhiger geworden, es ist die Berliner Tischzeit. Die erste Verkäuferin hat die familiäre Szene aber beobachtet und wirft durch ihren schräggesetzten Kneifer einen masslos missbilligenden Blick herüber.

Arndt deutet auf einen Riesenkorb Rhododendren. „Das will ich Bills mother schenken. What is the price of it?“

Die für Richards Begriffe märchenhafte Summe, die der hellhörig herbeieilende Geschäftsführer nennt, schreckt Arndt gar nicht.

„All right. Aber Sie müssen Miss Schärf für heute nachmittag beurlauben, mein Herr. Yes, Sir. Wir sind alle vier in Alt-Beversdorf zur Schule gegangen, und Lady Sorquai hat uns zusammen auf ihre Jacht eingeladen, ‚Hertha‘ beim Seglerhaus Wannsee. Packen Sie den Busch gut ein, wir verfrachten ihn mitsamt Miss Schärf im Auto und steuern los. C’est convenu, monsieur?“

„Soll Fräulein Schärf die Rechnung mitnehmen?“ fragt die Zwickerbehaftete, die für die plötzliche Beurlaubung der jüngsten Kollegin keinen andern geschäftsmöglichen Anhalt weiss.

„Wird alles sofort berappt!“ Arndt zieht seine dicke Brieftasche, lässt zweimal das Gummiband klatschen und begibt sich zur Kasse.