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Fliegen und unterrichten – auf den ersten Blick zwei total unterschiedliche Tätigkeiten. Beide durfte ich im Verlaufe meines beruflichen Alltags ausüben und dabei entdecken, dass es dennoch immer wieder um Ähnliches geht. Dieses Buch gibt einen Einblick in die Linienfliegerei und zeigt, was wir für unser Lernen, fürs Lehren und Unterrichten sowie für unser tägliches Leben von der Luftfahrt abschauen können. Wie gehe ich mit Herausforderungen und Fehlern um? Welches sind meine Prioritäten? Wie organisiere ich meinen Alltag oder mein Lernen und Lehren? Wann und wofür übernehme ich Verantwortung? In 10 kurzen Kapiteln werden diese Fragen aus der Cockpit-Perspektive beantwortet und aufgezeigt, wie wir diese Erfahrungen auch für andere Lebensbereiche nutzen können.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
This is your pilot speaking… (Vorwort)
Wie viel (ist genug)?
Fehlerkultur
Fly – Navigate – Communicate (Was ist zu tun?)
Überwachen (Beobachten)
Ausrichtung
Checklisten
Caution & Warning (Störungen)
Automatisierung und Handwerk
Prüfungen
Verantwortung
Zusammenfassung
In meiner Grundschulzeit war es üblich, dass «Freundschafts-Bücher» die Runde machten. Darin sollte man in der Regel zuerst angeben, wie gross man ist, welche Haarfarbe man hat und wie die Haustiere heissen – halt eben alles, was einfach zu benennen ist.
All das hat sich seither (in meinem Fall) deutlich verändert. Ich bin gewachsen (immer noch nicht so gross, aber doch viel grösser als damals). Haarfarbe habe ich keine mehr. Und hätte ich Haustiere mit gleichem Namen, wäre es mittlerweile ungefähr Maxli der Zwölfte.
Etwas später in diesem «Fragebogen» (nun wurde es ein wenig komplizierter) sollte man auch angeben, welchen Berufswunsch man hegt. Lehrer und Pilot habe ich jeweils hingeschrieben (zumindest glaube ich, dass dies so war) – zwei Berufe, die auf den ersten Blick nichts oder zumindest nicht allzu viel miteinander gemeinsam haben.
Ich hatte das Glück, dass ich beides machen durfte: Zuerst das eine, dann das andere, und nach einer Zeit der «Horizonterweiterung» in der Luft wieder das eine. Dabei durfte ich feststellen, dass die beiden Berufe sehr wohl Gemeinsamkeiten haben – oder viel mehr, dass man (ich) vom einen fürs andere lernen kann und umgekehrt.
Schule und Privatwirtschaft (Schule und andere Berufe) – das ist so eine Sache: Die meisten Menschen haben (möglicherweise leicht verdrängte) Schulerfahrungen. Manche sind (deshalb) froh, diese hinter sich zu haben (was schade ist).
Alle Menschen haben jedoch bereits vor dem Eintritt in die Schule gelernt, und sie tun dies auch nach dem Schulabschluss. Und genau darum geht es doch in der Schule: Schule soll ein Raum sein, in dem sich Kinder und Jugendliche geschützt entwickeln dürfen. Schule darf (soll) aber auch einen Blick über den Zaun wagen, selbst dorthin (also über den Zaun) gehen, Besucher empfangen und vor allem von ihnen lernen. Die moderne Schule (so scheint es mir zumindest) macht dies vermehrt und mit viel Neugier. Einiges davon lässt sich in der Schule nutzen. Anderes will, soll oder kann man im Schulkontext nicht (offensichtlich) brauchen. Manches nützt den Schulleitungen und Lehrpersonen (welche ja auch Lernende sind). Anderes kann man bereits den Schülerinnen und Schülern vermitteln.
Als ich nach einiger Zeit in der Fliegerei in die Schulwelt zurückgekehrt bin, habe ich nicht mehr auf dieselbe Weise (mit derselben Einstellung) unterrichtet (und im Alltag gehandelt), wie ich dies vorher getan habe. In diesem Büchlein möchte ich von einigen Erfahrungen und Erlebnissen erzählen, welche mich zum Nachdenken anregten. Vielleicht regen sie auch andere an (oder auf). Vielleicht sorgen sie für Staunen, Inspiration oder Kopfschütteln. Vielleicht machen sie Lust zum Ausprobieren. Vielleicht sorgen sie aber auch einfach dafür, dass man sich in seinem bisherigen Tun bestätigt fühlt.
Nebenbei ist dieses Büchlein auch ein Einblick in die Fliegerei und das Piloten-Leben (hoffentlich, ohne zu grosse Angst vor der nächsten Ferienreise zu wecken). Wie die Fliegerei in diesen kurzen Einblicken beschrieben wird, ist teilweise (stark) vereinfacht. Darüber hinaus gibt es (wie in jedem Beruf) Spezialfälle, auf die ich nicht im Detail eingehe. Um meine persönlichen Lehren zu verstehen und zu teilen, reicht aber diese Spezialisierungstiefe (so hoffe ich zumindest).
In diesem Sinne wünsche ich eine angenehme Reise, dennoch die eine oder andere Erschütterung (diese löst nämlich in der Regel etwas aus) und dass du (das kollegiale Du erlaube ich mir einfach und hoffe, dies ist OK) am Ende etwas «im Gepäck» mitnimmst, was zu Beginn noch nicht drin war (in der Fliegerei sonst eher unüblich und in aller Regel unerwünscht).
Welches sind deine Erwartungen an dieses Buch?
Die Ziele sind in der Schule (und in einigen anderen Berufen und Bereichen des täglichen Lebens) vielfach (beispielsweise durch den Lehrplan) vorgegeben. Sie geben vor, welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler einer bestimmten Stufe erreichen und welche Fähigkeiten sie erwerben sollen.
Natürlich sollen Lernende die Gelegenheit erhalten, mehr zu lernen, wenn sie aus eigenem Antrieb mehr Interesse zeigen oder mehr wissen möchten – und man darf sie ruhig auch etwas dazu ermuntern. Manches Mal ist jedoch mit dem Wunsch «mehr zu lernen» die Vorstellung verbunden, dass man es dann später einfacher hat – also: Lernen auf Vorrat.
Sollte er das nicht schon längst können?
Sie wird unter Druck sein, wenn sie dies später auch noch üben muss?
Er hat dann mehr Zeit für anderes.
Es schadet nicht, wenn sie einige Reserven hat.
In der Fliegerei sind Reserven elementar. Man macht sich also ziemlich viele Gedanken darüber, da kein Pilot wie in Mani Matters Lied «Dr Alpeflug» («Dr» heisst übrigens trotz des vorliegenden Bildungszusammenhangs nicht «Doktor», sondern «der» auf Schweizerdeutsch) feststellen möchte, dass die Reserven (der Treibstoff) nicht bis zum Ziel reichen.(Segelfliegen ist gewiss ein schönes Hobby, aber in der Linienfliegerei weckt man wenig Vertrauen, wenn man den Passagieren erklären muss, warum sie plötzlich keine Motorengeräusche mehr hören).
Nun könnte man selbstverständlich den Tank einfach bis zum Rand füllen und so viele Reserven wie möglich mitführen. Das ist jedoch aus mehreren Gründen keine gute Idee (und wird auch nicht so gemacht). Einige Gründe sind:
Mehr Treibstoff bedeutet mehr Gewicht, und mehr Gewicht bedeutet (sehr vereinfacht gesagt) mehr Widerstand (weil mehr Auftrieb notwendig ist). Es ist also nicht effizient, den Tank unnötigerweise maximal zu füllen, weil ein Teil der Reserven dafür verloren geht, das Zusatzgewicht in der Luft zu halten.
Mit mehr Gewicht braucht man mehr Geschwindigkeit, damit man abheben (starten) kann. Die Startbahn ist jedoch beschränkt und man muss auf einer bestimmten Strecke ausreichend beschleunigen können.
Man ist weniger achtsam, weil man davon ausgeht, dass man sowieso genügend Reserven hat.
Für die Schule (fürs Lehren und Lernen) bedeutet dies, dass…
ein Teil der «angelernten» aber nicht verstandenen Reserven (zusätzlicher Lernstoff) gar nicht verfügbar ist (vergessen), wenn er wirklich gebraucht wird.
zu hohe Erwartungen Schülerinnen und Schüler zu Boden drücken. Sie kommen nicht in Schwung (ins Lernen).
man einfach Dinge lernt, damit man (vermeintlich) mehr weiss oder kann, ohne sich zu überlegen, was man persönlich braucht (oder was einem interessiert – dass man also kein wirklich zielgerichtetes Lernen pflegt).
Zudem sind die möglichen Reserven (die Frage nach dem «Wie viel») in der Fliegerei immerhin durch die Grösse des Tanks begrenzt, während es beim Lernen einfach immer «noch mehr» gäbe.
Was also zählt?
In der Regel führt man in der Fliegerei folgende Reserven mit…
Final Reserve Fuel (Finale Reserve): Treibstoff, um auf einer bestimmten Höhe zu einem ausgewählten Ausweichflughafen zu fliegen – oder um 30-45 Minuten zu kreisen.
Contingency Fuel (für Unvorhergesehenes): Ein gewisser Prozentsatz (oft 5%) des berechneten Treibstoffs bis zum Ziel. Je nach Lage des Flughafens (wenn sich dieser zum Beispiel auf einer Insel befindet) oder äusseren Umständen gibt es einige zusätzliche Vorgaben.
Für die Schule (fürs Lehren und Lernen) bedeutet dies, dass…
es zwar ratsam ist, ein wenig mehr als «nur» das Notwendigste zu können und zu wissen.
die «eingeforderten» zusätzlichen Kompetenzen (aber) in einem vernünftigen Verhältnis zu den Zielen im Lehrplan stehen sollen (wirklich freiwillig gewünschte zusätzliche Lerninhalte sind davon ausgenommen).
die zusätzlichen Lerninhalte den individuellen Bedürfnissen angepasst sein sollen.
Wie (und von wem) wird zusätzlicher Lernstoff «bestimmt»?
Unter Lernen versteht man oft den Prozess, der dazu führt, dass wir Dinge nachher besser machen oder können. Vielfach wird dies (im traditionellen Verständnis der Schule) mit «weniger Fehler» gleichgesetzt.
Lehrpersonen waren (sind) im Schulsystem jene Personen, welche sich dadurch auszeichneten, (scheinbar) allwissend zu sein (oder zumindest zu wissen, wo das Lösungsbuch steht). Wissen oder Können führten zu Erfolg (gute Noten). Entsprechend war «Nicht-Wissen» oder «Nicht-Können» (Fehler) das Gegenteil davon.
Menschen setzen sich auf unterschiedliche Weise mit (ihren) Fehlern (oder fehlendem Wissen und Können) auseinander. Einige ignorieren sie (sie versuchen dies zumindest). Andere nehmen sie sehr persönlich und kommen ins Grübeln. Wieder andere werden durch sie entmutigt und geben auf. Manche werden jedoch auch angespornt und nutzen sie, um zu lernen.
Die Fliegerei (Luftfahrtindustrie) hat ein ganz besonderes Verhältnis zu Fehlern. Rolf Dobelli schreibt in «Die Kunst des guten Lebens», dass keine andere Branche Fehler so ernst nehme. Wenn Flugzeuge abstürzen, kommt es in der Regel nicht besonders gut. Fehler in der Fliegerei bedeuteten oft den Tod (oder zumindest eine ziemliche Sauerei und viel Leid). Also hatte man (verständlicherweise) ein grosses Interesse, bei Fehlern genauer hinzuschauen, um diese in Zukunft zu vermeiden (und nicht mehr abzustürzen).
Im Zusammenhang mit diesem Analysebedürfnis entwickelte man unter anderem Flugschreiber (Black-Box), welche Fehler aufzeichnen und sichtbar machen. Mit dem Aufzeichnen und Erkennen alleine erreicht man aber noch keinen sinnvollen Umgang mit Fehlern.
Viel mehr stellen sich Fragen…
welche Fehler analysiert und behoben werden (sollen)?
wann die Fehler thematisiert werden?
wie man mit «erkannten» Fehlern umgeht?
Es gibt gravierende und weniger gravierende Fehler. Es gibt solche, welche man selbst erfahren darf (soll) und solche, welche man besser nicht selbst macht (sondern von den Fehlern von anderen oder aus der Geschichte lernt). Es gibt Fehler, welche man eigentlich nicht mehr machen sollte, und dann gibt es solche, welche zum Lernprozess gehören oder überhaupt erst dadurch entstehen, dass man neue Dinge ausprobiert. Jene Situationen, in welchen man in der Realität keine Fehler machen sollte, werden in der Fliegerei (immer und immer wieder) in Simulatoren geübt (oder im Falle von Systemen von erfahrenen Testpiloten ohne Passagiere erprobt).
Auch in der Schule (und im Leben) sollte man sich stets bewusst sein, in welcher Phase (Lern-, Übungs-, Test- oder Anwendungsphase) man sich befindet und wie fehlertolerant diese ist. Dort, wo Fehler grössere Auswirkungen haben, sollen zusätzliche Ressourcen (Lernpartnerschaften, Gruppenarbeiten, Experten, Kontrollsysteme, Redundanzen…) eingesetzt werden, um sie zu verhindern oder ihre Konsequenzen zu vermindern.
In der Fliegerei ist es nicht möglich, in der Luft zu stoppen, um über Fehler nachzudenken. Das Flugzeug muss seine Geschwindigkeit (Bewegung) aufrecht halten, um zu fliegen. Man muss weitermachen, insbesondere auch dann, wenn man selbst den Anspruch der Perfektion hat und enttäuscht ist, weil man diese offensichtlich in der aktuellen Situation nicht erreicht.(Die meisten) Flugdaten werden ausgewertet, wenn man wieder am Boden ist. Dann ist es Zeit, aus den Fehlern zu lernen und darüber nachzudenken, wie man sie das nächste Mal verhindern kann.
In «Die Prinzipien des Erfolges» schreibt Ray Dalio (ein ziemlich erfolgreicher Unternehmer, sofern man Geld als Erfolgsmassstab nimmt), dass er seine Mitarbeitenden aufforderte, Fehlerprotokolle zu führen, um daraus zu lernen. Er fügte jedoch an, dass nicht alle Mitarbeitenden gut damit umgehen konnten.
Wie und in welchem Umfang Schülerinnen und Schüler auf Fehler hingewiesen werden, braucht Fingerspitzengefühl und Vertrauen – und es braucht insbesondere das richtige Timing.
Wie viel Perfektion (auf einer Skala von 1-10) erwartest du von dir und anderen?