Denken hilft zwar, nützt aber nichts - Dan Ariely - E-Book

Denken hilft zwar, nützt aber nichts E-Book

Dan Ariely

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Beschreibung

Warum wir ticken, wie wir ticken Der Sachbuch-Bestseller des Verhaltens-Psychologen Dan Ariely erklärt, wie wir Entscheidungen treffen: mit der Logik der Unvernunft Kennen Sie das auch? Beim Anblick eines köstlichen Desserts fallen uns spontan tausend vernünftige Gründe ein, unser Diät-Gelübde zu brechen. Wir sind fest davon überzeugt, dass teure Produkte besser wirken als billige. Und für jeden von uns gibt es etwas, für das wir bereit sind, deutlich mehr Geld auszugeben, als wir haben – aus ganz vernünftigen Gründen, versteht sich. Bestseller-Autor Dan Ariely stellt unser Verhalten auf den Prüfstand, um herauszufinden, warum wir immer wieder unvernünftig handeln – und dabei felsenfest überzeugt sind, uns von Vernunft leiten zu lassen. Denn wenn wir Entscheidungen treffen, gehen wir davon aus, dass wir das Für und Wider vernünftig abwägen. In Wahrheit werden unsere Entscheidungen jedoch meist von vorgefassten Urteilen und einer gelernten Weltsicht beeinflusst. Unvernünftige Entscheidungen liegen offenbar in der menschlichen Natur begründet. Ebenso unterhaltsam wie spannend zeigt der renommierte amerikanische Verhaltens-Psychologe Dan Ariely in seinem Bestseller, wie die meisten unserer Entscheidungen tatsächlich zustande kommen, und wie unvernünftig unsere Vernunft oft ist. »Ein ebenso amüsantes wie lehrreiches Buch.« Der Spiegel

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Seitenzahl: 509

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Dan Ariely

Denken hilft zwar, nützt aber nichts

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Inhaltsübersicht

Für meine Mentoren, Kollegen [...]An meine LeserEinleitungEins Die Wahrheit über die RelativitätZwei Die Illusion von Angebot und NachfrageDrei Der hohe Preis für null KostenAnhangVier Die Kosten sozialer NormenFünf Der Einfluss sexueller ErregungSafer SexSicher Auto fahrenBessere LebensentscheidungenAnhangSechs Vom ewigen AufschiebenGesundheitsvorsorgeSparenSieben Der hohe Preis des BesitzesAcht Ein Hintertürchen offen haltenNeun Der Effekt von ErwartungenZehn Die Macht des PreisesElf Moral und Unredlichkeit, Teil IAnhangZwölf Moral und Unredlichkeit, Teil IIDreizehn Bier und kostenlose RatschlägeVierzehn Reflexionen und Anekdoten zu einzelnen KapitelnReflexionen über Rendezvous und Relativität (Kapitel 1)Reflexionen über Reisen und Relativität (Kapitel 1)Reflexionen über Gratisangebote (Kapitel 3)Reflexionen über soziale Normen: Schenken (Kapitel 4)Reflexionen über soziale Normen: Zuwendungen am Arbeitsplatz (Kapitel 4)Reflexionen über unmittelbare Befriedigung und Selbstkontrolle (Kapitel 5 und 6)Weitere Überlegungen zur Selbstkontrolle: Was uns Interferon lehrt (Kapitel 5 und 6)Reflexionen über die Gefahren des Besitzes (Kapitel 7)Reflexionen über Erwartungen: Musik und Essen (Kapitel 9)Reflexionen über Placebos: Nehmen Sie mir meine nicht weg! (Kapitel 10)Fünfzehn Gedanken zur Finanzmarktkrise und ihren Folgen1) Warum nahmen die Leute Hypotheken auf, die sie sich eigentlich gar nicht leisten konnten?2) Weshalb verloren die Banker die Wirtschaft aus dem Blick?3) Warum bereiten wir uns nicht besser auf schlechte Zeiten vor?4) Erkannte die Regierung nicht, was für ein großes Kapital Vertrauen ist?5) Wie schlägt es sich psychologisch nieder, dass wir nicht verstehen, was zum »§$%&/auf den Märkten vor sich geht?6) Kann ein globaler Markt rationales Verhalten verstärken?7) Was sollten Banker verdienen?8) Die rationale Wirtschaftstheorie war schon immer die Basis für politische Entscheidungen und die Gestaltung unserer Institutionen. Was ist daran falsch?DankMeine MitarbeiterBibliographie und weiterführende ArbeitenAnmerkungen
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Für meine Mentoren, Kollegen und Studenten – sie machen die Forschung für mich erst so richtig spannend.

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An meine Leser

Liebe Leser, Freunde und Fans der Sozialwissenschaften

Willkommen zur aktualisierten und erweiterten Ausgabe von Denken hilft zwar, nützt aber nichts.

Seit meinen ersten Tagen als Patient in der Abteilung für Brandopfer[1] ist mir absolut klar, dass Menschen Dinge tun und Entscheidungen treffen, die häufig nichts mit Rationalität zu tun haben und gelegentlich auch alles andere als ideal sind. Im Lauf der Jahre habe ich versucht, die dummen, albernen, seltsamen, amüsanten und manchmal auch gefährlichen Fehler zu verstehen, die wir alle hin und wieder machen – in der Hoffnung, wir könnten uns aufgrund solcher Einsichten dazu erziehen, bessere Entscheidungen zu treffen.

Mein theoretisches und angewandtes Wissen über Irrationalität hat mich zu der neuen Disziplin der Verhaltensökonomik geführt, wo ich gewisse Spleens als grundlegendes Element des menschlichen Verhaltens begreifen lernte. Bei meinen Forschungen habe ich etliche menschliche Schwächen unter die Lupe genommen und Fragen gestellt wie: Warum geraten wir vollkommen aus dem Häuschen, wenn etwas kostenlos ist? Welche Rolle spielen Emotionen bei unseren Entscheidungen? Warum lassen wir uns immer wieder dazu verleiten, etwas auf die lange Bank zu schieben? Welche Funktion haben unsere seltsamen sozialen Normen? Warum klammern wir uns an falsche Überzeugungen, obwohl alles für das Gegenteil spricht? Die Suche nach Antworten auf diese Fragen hat mir unendliche Stunden Spaß beschert, und die neuen Erkenntnisse, die sich daraus ergaben, haben mein berufliches und privates Leben verändert.

Die Experimente, die ich zusammen mit meinen Kollegen durchführte, halfen uns zu verstehen, warum unsere Probanden (und die Menschen im Allgemeinen, wir selbst eingeschlossen) nicht immer der Logik folgen. Es verschaffte mir Befriedigung herauszufinden, warum wir so handeln, wie wir handeln, und es bereitete mir Vergnügen, anderen Menschen, die sich selbst darüber wunderten, was für Entscheidungen sie gelegentlich trafen, unsere Erkenntnisse zu vermitteln.

Trotz alledem stellten sich mir vor der Finanzkrise des Jahres 2008 etliche Hindernisse in den Weg, wenn ich unsere Ideen, Experimente und Erkenntnisse ausführlicher erläutern wollte. So überfiel mich beispielsweise ein Bursche, den ich Mr. Logik nennen möchte – stellvertretend für viele Menschen, mit denen ich im Lauf der Jahre diskutiert habe –, nachdem ich bei einer Konferenz einen Vortrag gehalten hatte.

»Mir haben die vielen kleinen Irrationalitäten gefallen, die Sie in Ihren Experimenten zutage gefördert haben«, sagte er zu mir und überreichte mir seine Visitenkarte. »Sie sind ziemlich interessant – tolle Geschichten für Cocktailpartys.« Er machte eine Pause. »Aber Sie haben keine Ahnung, wie es in der realen Welt aussieht. Wenn es um wichtige Entscheidungen geht, verschwinden natürlich all diese irrationalen Verhaltensweisen. Wo es wirklich darauf ankommt, wägen die Menschen ihre Wahlmöglichkeiten sorgfältig ab, bevor sie handeln. Und an der Börse, wo äußerst wichtige Entscheidungen getroffen werden, treten all diese Irrationalitäten ganz bestimmt zurück, und die Rationalität gewinnt die Oberhand.«

Eine solche Haltung ist nicht auf die Ökonomen der Chicagoer Schule – die Elite des rationalen Wirtschaftsdenkens – beschränkt. Ich war oft erstaunt, wie verbreitet diese Einstellung (ich würde sogar sagen: Indoktrination) unter Leuten ist, die keine besondere wirtschaftliche Ausbildung besitzen. Die grundlegenden Gedanken der Ökonomie und der Glaube an eine allumfassende Rationalität haben so tiefe Wurzeln in unserer Sicht der sozialen Welt geschlagen, dass Menschen aus allen Berufen sie als fundamentale Naturgesetze zu betrachten scheinen. Und was das Börsenparkett angeht, gelten Rationalität und Wirtschaft als ebenso ideales Paar wie Fred Astaire und Ginger Rogers.

Wenn ich mit dieser Art von Kritik konfrontiert wurde, bohrte ich ein wenig nach und fragte, warum der Glaube an die Rationalität immer dann zutage trete, wenn Leute Entscheidungen an der Börse träfen. In der Regel versuchte mein Gesprächspartner dann, mich mit sichtlicher Geduld von seiner Denkweise zu überzeugen. »Begreifen Sie doch«, pflegte Mr. Logik zu sagen, »wenn eine Menge Geld auf dem Spiel steht, denken die Leute besonders intensiv über ihre Möglichkeiten nach und tun ihr Bestes, um ihren Gewinn zu maximieren.«

»Sein Bestes tun«, entgegnete ich, »ist nicht dasselbe wie die Fähigkeit, optimale Entscheidungen zu treffen. Was ist mit den Investoren, die ihr ganzes Geld in Aktien ihrer eigenen Firma anlegen,[2] nicht genügend streuen und einen beträchtlichen Teil ihres Vermögens verlieren? Was ist mit den Leuten, die auf ihren 60. Geburtstag zugehen und immer noch nicht in die Altersvorsorge eingezahlt haben? Sie verzichten auf kostenloses Geld, weil sie es zusammen mit dem Arbeitsgeberanteil fast unmittelbar von der Steuer abziehen können.«[1] »Gut«, räumte er, wenn auch widerstrebend, ein. »Es stimmt, dass private Investoren manchmal Fehler machen, aber Profis müssen per Definition rational handeln, weil viel Geld durch ihre Hände geht und sie dafür bezahlt werden, dass sie ihre Gewinne maximieren. Darüber hinaus stehen sie im Wettbewerb, was sie auf Trab hält und dafür sorgt, dass sie stets den Regeln nach korrekte Entscheidungen treffen.«

»Wollen Sie wirklich damit sagen«, pflegte ich dann mit einem Augenzwinkern zu fragen, »dass professionelle Anleger niemals große Fehler machen, weil sie in ihrem eigenen Interesse handeln?«

»Nicht immer«, erwiderte Mr. Logik dann gelassen, »aber unter dem Strich treffen sie den Regeln nach korrekte Entscheidungen. Der eine macht einen zufälligen Fehler in diese Richtung, der andere macht einen Fehler in eine andere Richtung, und zusammengenommen heben sich all diese Fehler gegenseitig wieder auf, so dass die Preisbildung auf dem Markt optimal bleibt.«

An diesem Punkt, muss ich gestehen, riss mir meist der Geduldsfaden. »Wieso glauben Sie«, fragte ich, »dass die Fehler, die Menschen machen – selbst wenn es sich um professionelle Anleger handelt –, einfach nur zufälliger Art sind? Denken Sie an Enron. Die Buchprüfer befanden sich in großen Interessenkonflikten, weshalb sie letztlich bei dem, was innerhalb des Unternehmens vor sich ging, ein Auge zudrückten (oder vielleicht auch beide, und sich außerdem Nase und Ohren zustopften). Oder nehmen Sie die Anreize für Geldmanager, die dicke Kohle machen, wenn ihre Klienten Gewinne erzielen, aber nichts verlieren, wenn das Gegenteil eintritt. Unter solchen Bedingungen – also dort, wo ständig Anreize, die in die falsche Richtung gehen, und Interessenkonflikte vorhanden sind – machen die Leute höchstwahrscheinlich immer wieder dieselben Fehler, und zwar Fehler, die sich nicht gegenseitig aufheben. Diese Fehler bergen die größte Gefahr, weil sie keineswegs zufällig sind und unterm Strich für die Wirtschaft verheerend sein können.«

An diesem Punkt zog Mr. Logik dann immer die letzte Waffe aus seinem Arsenal und erinnerte mich (Zack! Peng!) an die Macht der Kursdifferenz – die magische Kraft, die die Fehler Einzelner ausgleicht und den Markt als Ganzen vollkommen rational handeln lässt. Und wie funktioniert das? Nun, wenn die Märkte frei sind und es keine Reibungen gibt – selbst im Fall, dass die meisten Anleger irrational vorgehen –, wird eine kleine Gruppe superschlauer, rationaler Anleger von den falschen Entscheidungen aller anderen profitieren (indem sie zum Beispiel Aktien von jenen unter uns kaufen, die diese Aktien irrtümlich unterbewerten) und im Lauf des Wettbewerbs um ein größeres Stück vom Kuchen selbst viel Geld gewinnen und die Preisgestaltung des Marktes wieder auf ein rationales und korrektes Maß bringen. »Die Kursdifferenzen zeigen also, dass Ihr Konzept der Verhaltensökonomik falsch ist«, schloss Mr. Logik triumphierend.

Leider lässt sich dieses Argument nicht empirisch überprüfen, da wir nicht eine Variante des Aktienmarkts nehmen können, die aus Otto Normalverbrauchern wie Ihnen und mir, und einer anderen, die aus Otto Normalverbrauchern plus ein paar dieser ganz besonderen, höchst rationalen Anleger besteht – jenen Supermännern, die tagtäglich die Finanzwelt vor Gefahren retten, dabei aber ihre Anonymität wahren und als Clark Kents auftreten.

Ich wünschte, ich könnte berichten, dass ich in vielen Fällen meine Gesprächspartner von meinem Standpunkt überzeugen konnte, aber fast immer war ziemlich klar, dass sich keine Seite zur Sichtweise der anderen bekehren ließ. Natürlich hatte ich die größten Schwierigkeiten bei Gesprächen mit eingefleischten Ökonomen der rationalen Schule, die die Ergebnisse meiner Experimente beinahe ebenso wenig ernst nahmen, wie ihr Glaube an die Rationalität geradezu religiöser Art war (wenn man mit Adam Smith’ »unsichtbarer Hand« nicht Gott assoziiert, mit was dann?). Diese Grundhaltung kommt in knapper Form bei zwei berühmten Ökonomen der Chicagoer Schule, Steven Levitt und John List, zum Ausdruck, die die Ansicht vertreten, dass sich der praktische Nutzen der Verhaltensökonomik bestenfalls als marginal erwiesen habe:

Die vermutlich größte Herausforderung für die Verhaltensökonomik besteht darin, ihre Anwendbarkeit in der realen Welt nachzuweisen. Fast in allen Fällen stammen die stärksten empirischen Belege für Verhaltensanomalien aus dem Labor. Doch es gibt viele Gründe für die Annahme, dass die Laborergebnisse nicht auf die realen Märkte übertragbar sind … So fördert beispielsweise der Wettbewerbscharakter der Märkte individualistisches Verhalten und begünstigt Teilnehmer mit einer solchen Neigung. Im Vergleich zum Verhalten im Labor könnte auf den normalen Märkten die Bedeutung solcher Anomalien aufgrund der Marktkräfte in Kombination mit der Erfahrung der Teilnehmer geringer sein.[2]

Bei solchen Antworten kratze ich mir ratlos den Kopf und frage mich, warum so viele kluge Menschen überzeugt sind, dass sich jede Irrationalität in Luft auflöst, sobald es um wichtige Geldentscheidungen geht. Warum glauben sie, dass Institutionen, Wettbewerb und Marktmechanismen uns gegen Fehler immun machen? Wenn Wettbewerb ausreichen würde, um irrationales Verhalten zu überwinden, gäbe es dann noch Rüpeleien bei Sportwettkämpfen oder den Raubbau der Sportprofis am eigenen Körper? Was an den Umständen rund um das Geld, was am Wettbewerb könnte die Menschen rationaler werden lassen? Glauben die Anwälte der Rationalität, dass wir für kleine und große Entscheidungen jeweils unterschiedliche Gehirnmechanismen besitzen und für das Verhalten an der Börse wieder andere? Oder ist der Glaube, dass die unsichtbare Hand und die Weisheit des Markts unter allen Umständen optimales Verhalten garantieren würden, bloß so tief verankert, so unumstößlich?

Als Sozialwissenschaftler bin ich mir nicht sicher, welches Modell – die rationale Ökonomie, die Verhaltensökonomik oder etwas anderes – für die Beschreibung menschlichen Verhaltens auf den Märkten am besten ist, und ich wünschte, wir könnten es mit Hilfe von Experimenten herausfinden. Da es im Grunde unmöglich ist, echte Versuche auf dem Aktienmarkt selbst durchzuführen, beunruhigte mich die tiefe Überzeugung von der Rationalität des Markts. Und ich fragte mich, ob wir unsere Finanzinstitutionen, unser Rechtssystem und unsere Politik auf dieser Grundlage aufbauen sollen.

Während ich mich mit diesen Fragen beschäftigte, geschah etwas sehr Bedeutendes.

Anfang 2008, kurz nach der Veröffentlichung der Erstausgabe dieses Buchs, zerbarst die Finanzwelt in tausend Stücke, fast wie in einem Science-Fiction-Film.[3] Alan Greenspan, der vormals hochangesehene Chef der US-Notenbank Federal Reserve, teilte dem Kongress im Oktober 2008 mit, er sei »entsetzt« (entsetzt!) darüber, dass sich die Märkte nicht verhielten wie erwartet oder automatisch eine Selbstkorrektur vornähmen, wie sie es eigentlich tun sollten. Er habe fälschlicherweise vorausgesetzt, dass Organisationen, insbesondere Banken, im eigenen Interesse in der Lage seien, ihre eigenen Aktionäre zu schützen.

Ich wiederum war entsetzt, dass Greenspan, einer der unermüdlichen Befürworter der Deregulierung, der wirklich davon überzeugt war, man müsse die Marktkräfte sich selbst überlassen, öffentlich zugab, seine Annahme, auf den Märkten gehe es rational zu, sei falsch gewesen. Wenige Monate vor diesem Bekenntnis hätte ich mir eine solche Aussage von Seiten Greenspans nicht vorstellen können. Ich empfand nicht nur Genugtuung, sondern meinte auch, dass Greenspans Bekenntnis ein wichtiger Schritt nach vorn war. Schließlich heißt es, Erkenntnis sei der erste Schritt zur Besserung.

Doch der enorme Verlust von Häusern und Arbeitsstellen war ein sehr hoher Preis für die Erkenntnis, dass wir vielleicht doch nicht so rational sind, wie Greenspan und andere konventionelle Ökonomen geglaubt hatten. Wir mussten einsehen, dass es gefährlich sein kann, sich allein auf die gängige Wirtschaftstheorie als Leitprinzip beim Aufbau von Märkten und Institutionen zu verlassen. Auf tragische Weise ist klar geworden, dass die Fehler, die wir alle machen, nicht ausschließlich dem Zufall geschuldet, sondern ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Natur sind. Schlimmer noch, unsere Fehlurteile auf dem Markt können, wenn sie sich aufhäufen, ein Szenario auslösen, bei dem, ähnlich wie bei einem Erdbeben, niemand begreift, was vor sich geht. (Der Ökonom Al Roth aus Harvard, einer der klügsten Menschen, die ich kenne, hat es so formuliert: »In der Theorie gibt es keinen Unterschied zwischen Theorie und Praxis, in der Praxis hingegen gibt es einen großen Unterschied.«)

Wenige Tage nach Greenspans Bekenntnis vor dem Kongress schrieb David Brooks, Kolumnist der New York Times, es käme »für Verhaltensökonomen und andere, die die Welt der Politik mit dem Instrumentarium einer hochdifferenzierten Psychologie betrachten, einer Coming-out-Party gleich. Zumindest haben diese Leute plausible Erklärungen dafür, wie es kommen konnte, dass sich so viele Menschen über die Risiken, die sie eingegangen sind, so gewaltig täuschen konnten.«[3]

Plötzlich sah es so aus, als hätten einige Leute begriffen, dass die wissenschaftliche Untersuchung von Fehlern im kleinen Maßstab nicht nur amüsante Anekdoten für Dinnerpartys liefert. Ich war erleichtert.

Obwohl die Wirtschaft als Ganze und jeder Einzelne von uns gerade eine schwere Zeit durchmachen, hat Greenspans Kehrtwende der Verhaltensökonomik und all denen, die bereit sind, zu lernen und ihr Denken und Verhalten zu ändern, neue Möglichkeiten eröffnet. Aus der Krise erwachsen Chancen, und vielleicht veranlasst uns diese Tragödie, endlich neue Ideen aufzunehmen und – so hoffe ich zumindest – mit dem Wiederaufbau zu beginnen.

 

Im Zeitalter der Blogs und E-Mails ist das Schreiben eines Buches für mich ein absolutes Vergnügen, weil ich ständig Rückmeldungen von den Lesern bekomme, durch die ich mehr über alle möglichen Aspekte menschlichen Verhaltens erfahre und die mich veranlassen, sie zu überdenken. Zudem konnte ich mit meinen Lesern einige sehr interessante Gespräche über die Zusammenhänge zwischen Verhaltensökonomik und dem Geschehen auf den Finanzmärkten sowie über verschiedene Themen im Zusammenhang mit den irrationalen Verhaltensweisen im Alltag führen.

Am Ende dieses Buches (im Anschluss an den ursprünglichen Text, wie er in der ersten Ausgabe erschien) finden Sie Reflexionen und Anekdoten zu einigen Kapiteln sowie Gedanken zur Finanzkrise – wie wir in diese Situation geraten sind, wie uns die Verhaltensökonomik zu einem besseren Verständnis dieser Krise verhelfen kann und wie wir versuchen können, wieder aus ihr herauszukommen.

Zunächst aber folgen Sie mir bei der Erforschung irrationaler Verhaltensweisen.

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Einleitung

Wie mich ein Unfall auf mein späteres Forschungsthema Irrationalität brachte

Man hat mir schon oft gesagt, ich hätte einen ungewöhnlichen Blick auf die Welt. Ihm verdanke ich es, dass ich in den zwanzig Jahren meiner Forscherkarriere mit großem Vergnügen zu ergründen versucht habe, was unsere Entscheidungen im Alltagsleben tatsächlich beeinflusst (im Gegensatz zu den Einflüssen, die wir, oft mit größter Überzeugung, dahinter vermuten).

Wissen Sie, warum wir uns so oft felsenfest vornehmen, eine Diät zu machen und Sport zu treiben, und alle guten Vorsätze dahin sind, sobald im Restaurant der Dessertwagen vorbeirollt?

Wissen Sie, warum wir manchmal voller Begeisterung etwas kaufen, was wir eigentlich gar nicht brauchen?

Wissen Sie, warum uns der Kopf nach Einnahme einer Schmerztablette für einen Cent immer noch weh tut, dieselben Kopfschmerzen aber verschwinden, wenn die Tablette 50Cent kostet?

Wissen Sie, warum Personen, die sich die Zehn Gebote in Erinnerung gerufen haben, ehrlicher sind (zumindest unmittelbar danach) als diejenigen, die das nicht getan haben? Oder warum ein Ehrenkodex tatsächlich gegen unredliches Verhalten im Beruf hilft?

Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, werden Sie die Antworten auf diese und viele andere Fragen kennen, die für Ihr Privat- und Berufsleben und ebenso für die Art und Weise eine große Rolle spielen, wie Sie die Welt sehen. Es hat zum Beispiel nicht nur Folgen für Ihre Medikamentenwahl, wenn Sie die Antwort auf die Frage kennen, was es mit dem Preis von Aspirin auf sich hat, sondern auch für eines der größten Probleme, mit denen unsere Gesellschaft konfrontiert ist: Kosten und Nutzen der Krankenversicherung. Ein Verständnis dessen, wie die Zehn Gebote unredlichem Verhalten entgegenwirken, könnte den nächsten großangelegten Betrug à la Enron verhindern helfen. Und wenn wir begreifen, welche Dynamik hinter dem spontanen Essensimpuls steckt, hat das Auswirkungen auf jede andere spontane Entscheidung in unserem Leben – unter anderem darauf, warum es so schwer ist, Geld für schlechte Zeiten beiseitezulegen.

Mein Buch soll Ihnen zu einem grundlegend neuen Verständnis dessen verhelfen, was Sie und die Menschen in Ihrem Umfeld im Grunde bewegt. Diesem Ziel möchte ich Sie durch eine breite Palette wissenschaftlicher Experimente, Erkenntnisse und Anekdoten näher bringen, die nicht selten auch amüsant sind. Sobald Sie einmal das System hinter bestimmten, sich stets wiederholenden Fehlern erkennen, werden Sie mit der Zeit lernen – denke ich –, manche von ihnen zu vermeiden.

Aber bevor ich Ihnen von meiner kuriosen, sehr praxisnahen, unterhaltsamen (und manchmal sogar mit Gaumenfreuden verbundenen) Forschung zu Ess- und Einkaufsverhalten, Liebe, Geld, Auf-die-lange-Bank-Schieben, Bier, Ehrlichkeit und anderen Lebensbereichen berichte, will ich Ihnen erst einmal erzählen, wie es zu meiner etwas unorthodoxen Weltsicht – und damit auch zu diesem Buch – kam. Alles begann vor vielen Jahren mit einem Unfall, der alles andere als amüsant war.

 

Es war ein ganz normaler Freitagnachmittag im Leben eines achtzehnjährigen Israeli, als etwas geschah, das mit einem Schlag alles unwiderruflich veränderte. Bei der Explosion einer großen Magnesium-Leuchtrakete, wie sie das Militär bei nächtlichen Einsätzen zum Ausleuchten einer Kampfzone verwendet, erlitt ich Verbrennungen dritten Grades, 70 Prozent meiner Haut waren verbrannt.

Die nächsten drei Jahre verbrachte ich von Kopf bis Fuß einbandagiert im Krankenhaus, und wenn ich danach hin und wieder die Wohnung verließ, trug ich einen hautengen Kompressionsanzug aus synthetischem Material und eine Gesichtsmaske, was mich wie einen missratenen Doppelgänger von Spiderman aussehen ließ. Da ich an den alltäglichen Unternehmungen meiner Freunde und meiner Familie nicht mehr teilnehmen konnte, fühlte ich mich oft wie ein Außenseiter und begann die Dinge, die einmal auch zu meinem Leben gehört hatten, aus diesem Blickwinkel zu betrachten. Als käme ich aus einer anderen Kultur (oder von einem anderen Planeten), begann ich über die Absicht hinter bestimmten Verhaltensweisen bei mir selbst und anderen nachzudenken. Ich fragte mich beispielsweise, warum ich ein bestimmtes Mädchen liebte, ein anderes aber nicht; warum mein Tagesablauf auf die Bedürfnisse der Ärzte und nicht auf meine als Patient zugeschnitten war; warum ich viel lieber klettern ging, als über Geschichtsbüchern zu brüten; warum es mir so wichtig war, was andere Leute von mir dachten, und vor allem, was die Menschen in ihrem Leben motiviert.

Während meiner drei Jahre im Krankenhaus konnte ich reichlich Erfahrungen mit verschiedensten Arten von Schmerzen sammeln, und ich hatte zwischen den Behandlungen und Operationen mehr als genug Zeit, darüber nachzudenken. Während dieser langen Jahre musste ich tagtäglich dieselbe Tortur überstehen, nämlich ein Bad in Desinfektionslösung, nach dem die Verbände abgenommen und abgestorbene Hautzellen abgekratzt wurden. Bei intakter Haut verursachen Desinfektionsmittel ein leichtes Brennen, und die Verbände gehen im Allgemeinen leicht ab. Ist jedoch nur wenig oder gar keine Haut vorhanden – wie durch die großflächigen Verbrennungen in meinem Fall –, dann kleben die Verbände am rohen Fleisch, und das Desinfektionsmittel verursacht einen wirklich unbeschreiblichen Schmerz.

Von Anfang an, seit ich auf der Station für Brandverletzte lag, sprach ich mit den Krankenschwestern, die mich täglich badeten, weil ich wissen wollte, warum sie was bei meiner Behandlung machten. Sie fassten den Verband und rissen ihn möglichst schnell ab, was einen relativ kurzen, heftigen Schmerz verursachte; es dauerte etwa eine Stunde, bis alle Verbände auf diese Weise entfernt waren. Anschließend wurde Salbe aufgetragen. Man legte mir einen neuen Verband an, und am nächsten Tag begann die ganze Prozedur wieder von vorn.

Schnell wurde mir klar, dass die Schwestern glaubten, es sei – für den Patienten – besser, wenn sie den Verband mit einem kräftigen Ruck abrissen, was einen kurzen, heftigen Schmerz verursacht, anstatt ihn langsam abzuziehen, wobei der Schmerz dann vielleicht weniger intensiv ist, aber länger andauert, weshalb das Ganze insgesamt schmerzhafter wird. Außerdem waren die Schwestern zu dem Schluss gekommen, dass es egal war, ob sie an der empfindlichsten Körperstelle begannen und sich zur am wenigsten empfindlichen vorarbeiteten oder ob sie an dem Körperteil begannen, der am wenigsten empfindlich war, und sich zu den empfindlichsten Bereichen vorarbeiteten.

Als Patient, der die Tortur des Verbandwechsels am eigenen Leib erlebte, teilte ich ihre theoretischen Überlegungen nicht (die im Übrigen nie wissenschaftlich überprüft wurden). Außerdem fand bei ihren Überlegungen keine Berücksichtigung, wie viel Angst der Patient schon in Erwartung der Behandlung ausstand; die Schwierigkeit, mit unterschiedlich intensivem Schmerz umzugehen und nicht zu wissen, wann der Schmerz einsetzt und wann er wieder nachlässt; oder wie hilfreich und tröstlich das Wissen sein kann, dass der Schmerz im Laufe der Zeit abnehmen wird. Doch ich hatte angesichts meiner hilflosen Lage kaum eine Chance, darauf Einfluss zu nehmen.

Sobald ich das Krankenhaus für längere Zeit verlassen durfte (ich musste noch weitere fünf Jahre zu verschiedenen Operationen und Behandlungen kommen), begann ich mein Studium an der Universität von Tel Aviv. Schon im ersten Semester besuchte ich ein Seminar, das meine Einstellung zur wissenschaftlichen Forschung tiefgreifend veränderte und richtungweisend für meine Zukunft wurde. Es war ein Seminar über die Physiologie des Gehirns von Professor Hanan Frenk. Was mich, abgesehen von den faszinierenden Erkenntnissen über die Funktionsweise des Gehirns, die Professor Frenk uns nahebrachte, am meisten beeindruckte, war seine Haltung zu Fragen und alternativen Theorien. Wenn ich mich im Seminar meldete oder in seinem Büro vorbeischaute und zu der einen oder anderen seiner Darstellungen eine abweichende Interpretation vortrug, antwortete er mir oft, meine Theorie sei in der Tat eine Möglichkeit (ziemlich unwahrscheinlich, aber dennoch eine Möglichkeit) – und dann forderte er mich auf, mir ein Experiment zu überlegen, mit dem ich sie entgegen der herkömmlichen Theorie bestätigen könnte.

Solche Experimente auszuarbeiten war nicht einfach, aber der Gedanke, dass Wissenschaft ein auf Empirie basierendes Unterfangen ist, bei dem alle Beteiligten, auch ein frischgebackener Student wie ich, alternative Theorien entwickeln konnten, solange sie eine Möglichkeit fanden, diese Theorien experimentell zu überprüfen, eröffnete mir eine ganz neue Welt. Bei einem meiner Gespräche in seinem Büro unterbreitete ich Professor Frenk eine Theorie, wie ein bestimmtes Stadium der Epilepsie zustande kommt, und auch gleich eine Idee, wie man das Ganze an Ratten testen könnte.

Mein Vorschlag gefiel Professor Frenk, und so operierte ich in den folgenden drei Monaten um die fünfzig Ratten, implantierte ihnen Katheter im Rückenmark und spritzte ihnen verschiedene Substanzen, die ihre epileptischen Anfälle verstärkten oder dämpften. Dabei stellte sich das praktische Problem, dass ich meine Hände wegen der Verbrennungen nur eingeschränkt bewegen konnte und es deshalb sehr schwierig für mich war, die Ratten zu operieren. Zum Glück erklärte sich mein bester Freund Ron Weisberg (ein überzeugter Vegetarier und Tierfreund) bereit, mehrere Wochenenden mit mir ins Labor zu kommen und mir bei den Operationen zu helfen– ein Beweis echter Freundschaft, wie es ihn wohl selten gibt.

Am Ende stellte sich meine Theorie als falsch heraus, doch das tat meiner Begeisterung keinen Abbruch. Ich hatte etwas dazugelernt, und auch wenn meine Theorie falsch war, so war es doch gut, ebendies mit großer Sicherheit zu wissen. Ich war schon immer neugierig und wollte wissen, warum sich die Menschen wie verhalten, und meine neue Erkenntnis – dass mir die Wissenschaft die Werkzeuge und Möglichkeiten an die Hand gibt, alles mir interessant Erscheinende zu erforschen – verlockte mich dazu, mich dem Studium des menschlichen Verhaltens zu widmen.

Anfangs konzentrierte ich mich vor allem darauf, mit Hilfe dieser neuen Werkzeuge zu verstehen, wie wir Schmerz erleben. Aus naheliegenden Gründen beschäftigte ich mich insbesondere mit Situationen wie dem Verbandwechsel bei Brandverletzten, bei der einem Patienten über längere Zeit Schmerz zugefügt werden muss. Wie ließen sich derartige Torturen erträglicher machen? Im Laufe der folgenden Jahre konnte ich eine ganze Reihe von Experimenten an mir selbst, mit Freunden und freiwilligen Versuchspersonen durchführen–mit körperlichem Schmerz, ausgelöst durch Hitze, kaltes Wasser, Druck und laute Geräusche, sowie dem durch Verluste am Aktienmarkt verursachten seelischen Schmerz –, um den Antworten auf die Spur zu kommen.

Nach diesen Experimenten war mir klar, dass die Schwestern auf der Station für Brandverletzte freundliche, hochherzige Menschen waren (na ja, mit einer Ausnahme) – mit enormen Erfahrungen beim Verbandwechsel –, aber dennoch gingen sie hinsichtlich der Frage, wie sich die Schmerzen ihrer Patienten lindern ließen, von falschen theoretischen Voraussetzungen aus. Wie konnten sie sich angesichts ihrer großen Erfahrung nur so irren, fragte ich mich. Da ich die Schwestern alle persönlich kannte, wusste ich, dass sie sich nicht aus böser Absicht, aus Dummheit oder Nachlässigkeit so verhielten. Vielmehr waren sie höchstwahrscheinlich Opfer vorgefasster Meinungen zum Schmerzempfinden ihrer Patienten, die offenbar nicht einmal durch ihre enorme Erfahrung revidiert wurden.

Deshalb war ich richtig aufgeregt, als ich eines Morgens wieder auf der Station für Brandverletzte erschien und die Ergebnisse meiner Experimente präsentierte, in der Hoffnung, damit auch die leidige Prozedur des Verbandwechsels für andere Patienten beeinflussen zu können. Es habe sich herausgestellt, erklärte ich den Schwestern und Ärzten, dass die Behandlungen (wie das Entfernen von Verbänden vor einem Bad) als weniger schmerzhaft empfunden werden, wenn sie mit weniger Intensität und langsam durchgeführt, als wenn sie rasch und dafür mit größerer Intensität vorgenommen werden. Mit anderen Worten: Ich hätte weniger gelitten, wenn sie die Verbände langsam abgenommen hätten statt mit ihrer Ruck-zuck-Methode.

Die Schwestern waren ehrlich überrascht von meinen Erkenntnissen und ich nicht weniger von dem, was meine Lieblingskrankenschwester Etty daraufhin sagte. Es habe ihnen wohl an Verständnis für die Situation gefehlt, räumte sie ein, und sie sollten ihre Vorgehensweise ändern. Doch man müsse bei einer Diskussion über dieses Thema auch berücksichtigen, wie sehr es den Schwestern psychisch zu schaffen mache, wenn ihre Patienten vor Schmerzen schrien. Dass sie die Verbände möglichst rasch abnehmen wollten, sei vielleicht verständlicher, meinte sie, wenn man berücksichtige, dass die Schwestern auf diese Weise ihre eigenen Qualen verkürzen würden (und ich sah es ihnen wirklich oft an, wie sehr sie mit mir litten). Am Ende waren wir jedoch alle der Meinung, dass eine andere Vorgehensweise besser wäre, und einige Schwestern folgten tatsächlich meinen Empfehlungen.

In größerem Rahmen wurden meine Empfehlungen in Sachen Verbandwechsel (soweit ich weiß) zwar nicht umgesetzt, aber die Geschichte hinterließ einen starken Eindruck bei mir. Wenn die Krankenschwestern trotz all ihrer Erfahrung das reale Erleben ihrer Patienten, um die sie sich so sehr sorgten, nicht richtig einschätzten, dann schätzen andere Menschen die Folgen ihres Verhaltens vielleicht ebenso falsch ein und treffen daraufhin falsche Entscheidungen. Ich beschloss, meine Forschung zum Thema Schmerz auf die Erforschung der Tatsache auszuweiten, dass Menschen immer wieder dieselben Fehler machen – ohne viel daraus zu lernen.

 

Und darum geht es in diesem Buch: um die vielfältigen Formen irrationalen Verhaltens. Die wissenschaftliche Disziplin, die es mir ermöglicht, mit diesem Thema herumzuspielen, nennt sich Verhaltensökonomik.

Die Verhaltensökonomik ist ein relativ neues Gebiet, das sowohl Aspekte aus der Psychologie wie auch der Ökonomie einbezieht. Durch sie bin ich auf die unterschiedlichsten Themen gekommen: von unserer Abneigung, für das Alter Geld zurückzulegen, bis zu unserer Unfähigkeit, im Zustand sexueller Erregung klar zu denken. Doch ich versuche, nicht nur das Verhalten zu verstehen, sondern auch die Entscheidungsfindungsprozesse hinter diesem Verhalten – bei Ihnen, bei mir und bei allen anderen Menschen. Ehe ich näher darauf eingehe, möchte ich kurz erläutern, um was es bei der Verhaltensökonomik geht und wie sie sich von der herkömmlichen Ökonomie unterscheidet. Schlagen wir bei Shakespeare nach:

Welch ein Meisterwerk ist der Mensch! Wie edel durch Vernunft! Wie unbegrenzt an Fähigkeiten! In Gestalt und Bewegung wie bedeutend und wunderwürdig! Im Handeln wie ähnlich einem Engel! Im Begreifen wie ähnlich einem Gott! Die Zierde der Welt! Das Vorbild der Lebendigen!

aus: Hamlet, II. Akt, 2. Szene

Die meisten Wirtschaftswissenschaftler, Entscheidungsträger und ganz normalen Menschen sehen die menschliche Natur so, wie sie dieses Zitat widerspiegelt. Natürlich ist diese Sicht größtenteils zutreffend. Unser Geist und unser Körper können Erstaunliches leisten. Jemand wirft uns aus einiger Entfernung einen Ball zu; wir berechnen blitzschnell seine Flugbahn und den Aufprallpunkt und bewegen dann unseren Körper und die Arme entsprechend, um ihn zu fangen. Wir lernen mit Leichtigkeit neue Sprachen, besonders als Kinder. Wir können Meister im Schachspiel werden. Wir erkennen Tausende von Gesichtern, ohne sie zu verwechseln. Wir schaffen Musik, Literatur, Technik und Kunst – und die Liste ließe sich noch endlos fortsetzen.

Mit seiner Wertschätzung für den menschlichen Geist ist Shakespeare nicht allein. Tatsächlich sehen wir uns alle ungefähr so wie von Shakespeare beschrieben (obwohl wir durchaus erkennen, dass unser Nachbar, unser Partner und unser Chef diesem hohen Niveau nicht immer gerecht werden). Im wissenschaftlichen Bereich hat eine solche Einschätzung unserer Fähigkeit zum absolut rationalen Verhalten Eingang in die Ökonomie gefunden. In der Ökonomie liefert dieser Grundgedanke, der Begriff der Rationalität, die Basis für ökonomische Theorien, Prognosen und Empfehlungen.

Von dieser Warte aus betrachtet und in dem Maße, wie wir alle an die Rationalität des Menschen glauben, sind wir alle Wirtschaftswissenschaftler. Ich meine damit nicht, dass jeder von uns imstande ist, instinktiv komplexe spieltheoretische Modelle zu entwickeln oder das generalisierte Axiom der offenbarten Präferenzen (GARP) zu verstehen; ich meine vielmehr, dass wir die Grundüberzeugungen hinsichtlich der menschlichen Natur teilen, auf denen die Wirtschaftswissenschaft aufbaut. Wenn ich in diesem Buch vom rationalen Modell der Ökonomen spreche, meine ich damit die Grundannahme, von der die meisten Ökonomen und gewöhnlichen Menschen in Bezug auf die menschliche Natur ausgehen – den simplen und einleuchtenden Gedanken, dass wir fähig sind, für uns selbst die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Obwohl Respekt für die menschlichen Fähigkeiten durchaus angebracht ist, besteht doch ein enormer Unterschied zwischen großer Bewunderung und der Annahme, dass wir eine uneingeschränkte Fähigkeit zum logischen Denken besitzen. In diesem Buch geht es gerade um Irrationalität – darum, dass wir weit vom Ideal entfernt sind. Zu erkennen, wo wir vom Ideal abweichen, ist meiner Meinung nach ein wichtiger Bestandteil unserer Suche nach wirklicher Kenntnis unserer selbst, und es verspricht zudem viele praktische Vorteile. Wissen über irrationales Verhalten ist wichtig für unser Handeln und unsere Entscheidungen im Alltag, für das Verständnis dessen, wie wir unsere Umgebung gestalten und mit den Wahlmöglichkeiten umgehen, die sie uns bietet.

Außerdem beobachte ich, dass wir nicht nur irrational, sondern vorhersagbar irrational handeln – dass unsere Irrationalität sich immer wieder auf dieselbe Weise manifestiert. Ob wir als Verbraucher, Unternehmer oder als politischer Entscheidungsträger handeln: Zu wissen, dass wir vorhersagbar irrational sind, liefert uns einen Ausgangspunkt für eine bessere Entscheidungsfindung, für eine positive Veränderung unseres Lebens.

Und damit komme ich zu des Pudels Kern, zum Unterschied zwischen konventioneller Ökonomie und Verhaltensökonomik. Bei der herkömmlichen Ökonomie impliziert die Annahme, wir würden uns alle rational verhalten, dass wir im Alltagsleben den Nutzen aller vorhandenen Optionen kalkulieren und dann dem bestmöglichen Handlungsweg folgen. Und was, wenn wir einen Fehler machen und etwas Irrationales tun? Auch hierauf hat die herkömmliche Ökonomie eine Antwort: Dann kommen die »Marktkräfte« über uns und bringen uns flugs wieder auf den rechten Weg der Rationalität. Auf Grundlage dieser Annahmen haben ganze Generationen von Ökonomen seit Adam Smith weitreichende Schlussfolgerungen gezogen, angefangen bei der Besteuerung über die Gesundheitspolitik, bis zur Preisgestaltung bei Waren und Dienstleistungen.

Doch wir sind in Wirklichkeit, wie Sie im Verlauf dieses Buches erfahren werden, viel weniger rational, als die gängige Wirtschaftstheorie annimmt. Zudem sind unsere irrationalen Verhaltensweisen weder zufällig noch ohne Sinn. Es steckt System dahinter, und sie sind, da wir sie wieder und wieder an den Tag legen, vorhersagbar. Wäre es also nicht vernünftig, die herkömmliche Ökonomie zu modifizieren, sie aus der Sphäre der naiven Psychologie zu holen (die einer Überprüfung durch den Verstand, durch Selbstbeobachtung und – am wichtigsten – durch empirische Forschung oft genug nicht standhält)? Genau diesem Ziel widmet sich das noch junge Fach der Verhaltensökonomik – und dieses Buch als bescheidener Beitrag dazu.

 

Sie werden sehen, dass jedes Kapitel auf Experimenten basiert, die ich im Laufe der Jahre mit einigen fabelhaften Kollegen durchgeführt habe (am Ende des Buches finden Sie Kurzbiographien meiner wunderbaren Mitarbeiter). Wozu Experimente? Das Leben ist komplex; vielfältige Kräfte nehmen gleichzeitig auf uns Einfluss, und diese Komplexität macht es schwierig, genau festzustellen, wie jede einzelne dieser Kräfte unser Verhalten beeinflusst. Experimente sind für Sozialwissenschaftler wie Mikroskope oder Stroboskopleuchten. Sie helfen uns, das menschliche Verhalten innerhalb eines Ereignisverlaufs gewissermaßen in Einzelbilder zu zerlegen, einzelne Kräfte zu isolieren und sie sorgfältig und detailliert zu untersuchen. Mit ihrer Hilfe können wir unmittelbar und eindeutig herausfinden, wie wir funktionieren.

Wenn die aus einem Experiment gewonnene Erkenntnis auf das exakte Versuchsumfeld begrenzt wäre, dann wäre sie auch nur von begrenztem Wert. Verstehen Sie Experimente vielmehr so, dass sie Ihnen einen Einblick in unser Denken und die Prozesse unserer Entscheidungsfindung gewähren– nicht nur im Rahmen eines bestimmten Experiments, sondern, extrapoliert, in vielen Lebenssituationen.

So habe ich in jedem Kapitel die Erkenntnisse aus den Experimenten auf andere Zusammenhänge übertragen und versucht, Auswirkungen auf Privatleben, Geschäftswelt und staatliche Politik zu beschreiben. Die von mir gezogenen Schlussfolgerungen sind natürlich nur exemplarisch.

Damit Sie, lieber Leser, aus diesem Buch und der Sozialwissenschaft im Allgemeinen wirklich einen Nutzen ziehen, ist es wichtig, dass Sie ein wenig darüber nachdenken, wie sich die in den Experimenten herauskristallisierten Prinzipien menschlichen Verhaltens auf Ihr Leben übertragen lassen. Ich schlage vor, dass Sie nach jedem Kapitel eine Pause einlegen und überlegen, ob sich diese Prinzipien positiv oder negativ auf Ihr Leben auswirken könnten und, noch wichtiger, was Sie aufgrund Ihres neugewonnenen Verständnisses der menschlichen Natur anders machen könnten. Hier wartet das wahre Abenteuer.

Und jetzt machen wir uns auf den Weg.

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EinsDie Wahrheit über die Relativität

Warum alles relativ ist – auch dort, wo es nicht so sein sollte

Eines Tages stieß ich beim Surfen im Internet (natürlich rein beruflich, nicht zum Zeitvertreib) auf der Webseite der Zeitschrift The Economist auf eine Abonnementswerbung. Ich las die Angebote hintereinander, und das erste Angebot– ein Internet-Abonnement für 59 Dollar – klang vernünftig. Die zweite Option – ein Abonnement für die gedruckte Ausgabe für 125 Dollar – schien etwas teuer, aber immer noch angemessen.

Doch dann las ich die dritte Option: ein Abonnement der gedruckten und der Internet-Ausgabe für 125 Dollar. Ich las das Angebot zweimal, ehe meine Augen wieder nach oben wanderten. Wer würde denn allein die gedruckte Ausgabe abonnieren, fragte ich mich, wenn die Internet- und die gedruckte Version zusammen zum selben Preis angeboten werden? Nun, vielleicht hatte sich beim Preis für die Papierversion ein Druckfehler eingeschlichen, aber ich vermute, dass die cleveren Leute im Londoner Büro des Economist (und sie sind clever – und auf britische Art ganz schön schlitzohrig) mich manipulieren wollten. Mit ziemlicher Sicherheit wollten sie erreichen, dass ich von dem Angebot für die Internet-Version allein (auf die, wie sie annahmen, meine Wahl fallen würde, da ich die Werbung im Internet las) absah und mich für die teurere Version entschied: Internet und gedruckte Ausgabe.

Aber wie konnten sie mich manipulieren? Vermutlich, weil die Marketinggenies des Economist (ich sah sie geradezu vor mir in Schulblazer und –krawatte) etwas ganz Wichtiges über das menschliche Verhalten wussten: Wir entscheiden uns selten aufgrund eines absoluten Maßstabs. Wir haben kein inneres Messinstrument, das uns sagt, wie viel eine Sache wert ist. Vielmehr orientieren wir uns am relativen Vorteil einer Sache gegenüber einer anderen und schätzen ihren Wert dementsprechend ein. (Zum Beispiel wissen wir nicht, wie viel ein Sechszylinderauto kostet, können uns aber denken, dass es teurer ist als ein Modell mit vier Zylindern.)

Im Fall des Economist hätten Sie vielleicht nicht sagen können, ob das Abonnement der Internet-Version für 59Dollar besser ist als das Abonnement der gedruckten Ausgabe allein für 125 Dollar. Aber Sie wissen natürlich, dass die Option »gedruckte Ausgabe plus Internet« für 125 Dollar ein besseres Angebot ist als ausschließlich die Papierversion für 125 Dollar. Sie können daraus nämlich den logischen Schluss ziehen, dass Sie das Internet-Abonnement beim kombinierten Paket umsonst bekommen! »Das ist echt geschenkt, greifen Sie zu, mein Bester!«, hörte ich die Werbefachleute vom Themseufer rufen. Und ich muss zugeben, dass ich mich wahrscheinlich selbst für das Paket entschieden hätte, wenn ich den Economist hätte abonnieren wollen. (Als ich das Angebot später bei einer großen Zahl von Probanden testete, bevorzugte die überwiegende Mehrheit ebenfalls das Internet-plus-Papierversion-Paket.)

Was lief hier also ab? Lassen Sie mich mit einer grundsätzlichen Beobachtung beginnen: Die meisten Menschen wissen nicht, was sie wollen, bis sie es im Zusammenhang sehen. Wir wissen nicht, welches Rennrad wir haben möchten – bis wir sehen, wie ein Champion bei der Tour de France mit einem bestimmten Modell davonzieht. Wir wissen nicht, welche Lautsprecherboxen wir uns zulegen möchten – bis wir welche hören, die besser klingen als die vorherigen. Wir wissen nicht einmal, was wir mit unserem Leben anfangen wollen – bis wir einem Verwandten oder Freund begegnen, der genau das tut, was wir meinen, tun zu sollen. Alles ist relativ, und genau das ist der Punkt. Wie ein Pilot beim nächtlichen Landeanflug wünschen wir uns links und rechts ein Pistenfeuer, das uns zuverlässig anzeigt, wo wir sicher aufsetzen können.

Im Fall des Economist würde die Entscheidung zwischen den Optionen »nur Internet-Version« und »nur Papierversion« ein bisschen Nachdenken erfordern. Nachdenken aber ist anstrengend. Also boten uns die Marketingexperten des Economist eine einfache Lösung an: die Option »Papier-plus Internet-Version«.

Doch nicht nur die Genies beim Economist sind darauf gekommen. Nehmen wir Sam, den Fernsehverkäufer. Er spielt uns denselben Streich, wenn er überlegt, welche Modelle er im Schaufenster bewirbt:

19 Zoll Sylvania für 210 Dollar

26 Zoll Sony für 385 Dollar

32 Zoll Samsung für 580 Dollar

Welchen Fernseher würden Sie kaufen? In diesem Fall weiß Sam, dass sich die Kunden schwertun, den Wert verschiedener Sachen einzuschätzen. (Wer weiß schon, ob nicht der Sylvania für 210 Dollar besser ist als der Samsung für 540 Dollar?) Aber Sam weiß auch, dass die meisten Menschen sich, wenn drei Möglichkeiten zur Wahl stehen, für die Mitte entscheiden (so, wie man mit einem Flugzeug zwischen der Landebefeuerung aufsetzt). Raten Sie mal, welchem Gerät Sam den mittleren Preis gibt. Richtig – demjenigen, das er verkaufen will!

Natürlich ist Sam nicht der einzige schlaue Fuchs. Die New York Times berichtete kürzlich einen Bericht über den Restaurantberater Gregg Rapp, der dafür bezahlt wird, dass er die Preise für Speisekarten festsetzt. Er weiß beispielsweise, wie gut Lamm in diesem Jahr im Vergleich zum letzten gegangen ist; ob es mit Kürbis oder Risotto als Beilage besser lief; und ob weniger bestellt wurde, als der Preis für das Hauptgericht von 39 auf 41 Dollar erhöht wurde.

Eines hat Rapp gelernt: dass teure Vorspeisen auf der Karte den Umsatz des Restaurants steigern – selbst wenn niemand sie bestellt. Warum? Weil die Leute normalerweise zwar nicht das teuerste Gericht auf der Karte bestellen, aber das zweitteuerste. Ein Gastronom kann also, indem er ein teures Gericht auf die Karte setzt, die Gäste zum Bestellen des zweitteuersten verführen (bei dem sich durch kluge Zusammenstellung ein höherer Gewinn erzielen lässt).[4]

 

Schauen wir uns den Taschenspielertrick des Economist mal Schritt für Schritt an.

Wie Sie sich erinnern, gab es folgende Optionen:

Nur-Internet-Abonnement für 59 Dollar

Nur-Papier-Version-Abonnement für 125 Dollar

Abonnement Papier-plus-Internet-Version für 125 Dollar

Als ich diese Optionen 100 Studenten an der Sloan School of Management des Massachusetts Institute of Technology (MIT) vorlegte, entschieden sie sich wie folgt:

Nur-Internet-Abonnement für 59 Dollar – 16 Studenten

Nur-Papier-Version-Abonnement für 125 Dollar – 0 Studenten

Abonnement Papier-plus-Internet-Version für 125 Dollar– 84 Studenten

Bis hierhin haben sich die Studenten von der Sloan School als clevere Typen erwiesen. Alle hatten den Vorteil des Angebots für Papier-plus-Internet-Version gegenüber der Nur-Papier-Version erkannt. Aber wurden sie durch die bloße Möglichkeit, auch die Nur-Papier-Version zu wählen, beeinflusst (ich werde das künftig, und aus gutem Grund, den »Köder« nennen)? Nehmen wir einmal an, ich hätte den Köder herausgenommen und nur noch die Wahl zwischen dem Internet-Abonnement und dem Abonnement Papier-plus-Internet-Version ermöglicht. Würden die Studenten wie zuvor antworten (16 für die Nur-Internet-Vversion und 84 für das Kombipaket)? Na klar, sagen Sie? Schließlich habe ich nur die Option herausgenommen, die zuvor niemand gewählt hat, also dürfte es doch keinen Unterschied machen, oder?

Im Gegenteil! Diesmal entschieden sich 68 Studenten für die Nur-Internet-Version für 59 Dollar; zuvor waren es 16. Und nur 32 wählten das Kombi-Paket für 125 Dollar; zuvor waren es 84[4].

Was könnte sie veranlasst haben, sich in diesem Fall anders zu entscheiden? Nichts Rationales, versichere ich Ihnen. Es war das bloße Vorhandensein des Köders, das 84 von ihnen zur Option Papier-plus-Internet-Version trieb (und 16 zur Option Nur-Internet-Version). Und das Fehlen des Köders ließ sie anders entscheiden, nämlich 32 für die Papier-plus-Internet-Version und 68 für die Nur-Internet-Version.

Das ist nicht nur irrational, sondern vorhersehbar irrational. Warum? Gut, dass Sie das fragen.

 

Hier eine bildliche Darstellung der Relativität:

Wie Sie sehen, scheint der Mittelkreis sich in der Größe zu verändern. Umgibt man ihn mit größeren Kreisen, wird er kleiner. Umgibt man ihn mit kleineren Kreisen, wird er größer. Natürlich hat der Mittelkreis in beiden Figuren dieselbe Größe, doch er erscheint unterschiedlich groß, je nachdem, womit wir ihn umgeben.

Man könnte es als bloßes Kuriosum abtun, würde es nicht widerspiegeln, wie unser Gehirn funktioniert. Wir sehen die Dinge um uns herum immer im Verhältnis zu anderen. Wir können gar nicht anders. Das gilt nicht nur für konkrete Dinge – Toaster, Fahrräder, Hundewelpen, Vorspeisen im Restaurant und Lebenspartner –, sondern auch für Sachen wie Urlaub und Bildungsmöglichkeiten und für so flüchtige Dinge wie Emotionen, Einstellungen und Standpunkte.

Wir vergleichen immer Jobs mit Jobs, Urlaub mit Urlaub, Partner mit Partner und Wein mit Wein. Bei so viel Relativität muss ich an eine Szene aus dem Film Crocodile Dundee denken, in dem ein kleiner Straßengangster unserem Helden Paul Hogan ein Schnappmesser unter die Nase hält. »Das nennst du ein Messer?«, bemerkt Hogan skeptisch und zieht ein Bowiemesser hinten aus seinem Stiefel. »Das, mein Lieber, ist ein Messer«, sagt er dann mit einem verschmitzten Grinsen.

 

Relativität ist (relativ) leicht zu verstehen. Aber sie hat einen Aspekt, der uns ständig ein Bein stellt. Denn: Wir neigen nicht nur dazu, Dinge miteinander zu vergleichen, sondern wir vergleichen zudem meist Dinge, die sich leicht vergleichen lassen– und meiden das Vergleichen von Dingen, die nicht leicht vergleichbar sind.

Das klingt vielleicht verwirrend, deshalb möchte ich dieses Prinzip an einem Beispiel veranschaulichen. Nehmen wir an, Sie möchten sich in einer fremden Stadt ein Haus kaufen. Ihr Immobilienmakler zeigt Ihnen drei Häuser, die alle für Sie in Frage kommen. Eines ist ein Neubau, die beiden anderen sind Altbauten. Alle drei haben ungefähr denselben Kaufpreis, und alle drei gefallen Ihnen gleich gut; der einzige Unterschied ist, dass einer der Altbauten (der »Köder«) ein neues Dach benötigt und der Eigentümer zur Deckung dieser Zusatzkosten ein paar tausend Dollar nachlässt.

Für welches entscheiden Sie sich?

Aller Wahrscheinlichkeit nach werden Sie sich nicht für den Neubau entscheiden und nicht für den Altbau, der ein neues Dach braucht, sondern für den zweiten Altbau. Warum? Hier die (wieder ziemlich irrationale) Begründung: Wir entscheiden uns am liebsten anhand von Vergleichen. Im Fall der drei Häuser wissen wir nichts über den Neubau (wir haben keines, mit dem wir es vergleichen könnten), so dass dieses Haus ausscheidet. Aber wir wissen, dass einer der Altbauten besser ist als der andere. Das heißt, der Altbau mit dem guten Dach ist besser als der mit dem schadhaften. Deshalb fällt unsere Wahl auf den Altbau mit dem guten Dach, den Neubau und den Altbau, der ein neues Dach braucht, verwerfen wir.

Die folgende Darstellung soll veranschaulichen, wie Relativität funktioniert:

Auf der linken Seite der Illustration sehen wir zwei Optionen, und jede ist hinsichtlich eines anderen Attributs besser. Option A ist besser bei Attribut 1 – sagen wir, hinsichtlich der Qualität. Option B ist besser bei Attribut 2 – sagen wir, hinsichtlich des Preises. Es sind zwei offenkundig sehr unterschiedliche Optionen, und die Entscheidung zwischen ihnen ist nicht leicht. Jetzt betrachten Sie, was geschieht, wenn wir eine weitere Option hinzufügen, nämlich –A (siehe rechte Seite). Diese Option ist eindeutig schlechter als Option A, ihr aber auch sehr ähnlich, was den Vergleich erleichtert und nahelegt, dass A viel besser ist als –A.

Kurz: Die Einführung von –A (dem Köder) schafft eine einfache Relativität zu A, wodurch A besser erscheint, nicht nur im Verhältnis zu –A, sondern auch insgesamt. Was zur Folge hat, dass sich die Leute durch Einführung der Option –A, selbst wenn niemand sie wählt, letztlich eher für die Option A entscheiden.

Kommt Ihnen dieser Auswahlprozess bekannt vor? Erinnern Sie sich an die Masche des Economist? Den Marketingexperten dort war klar, dass wir nicht wussten, ob wir die Internet- oder die Papierversion abonnieren wollten. Aber sie schätzten, dass wir uns von den drei Optionen wahrscheinlich für die Papier-plus-Internet-Kombination entscheiden würden.

Hier noch ein anderes Beispiel für den Ködereffekt. Nehmen wir an, Sie wollen Ihre Flitterwochen in einer besonders romantischen europäischen Stadt verbringen. In der engeren Wahl sind Rom und Paris, Ihre beiden Favoriten. Das Reisebüro macht Ihnen für jede Stadt ein Pauschalangebot, in dem das Flugticket, die Unterbringung im Hotel inklusive Gourmet-Frühstück und Stadtrundfahrten enthalten sind. Wie würden Sie sich entscheiden?

Den meisten Menschen fällt die Entscheidung zwischen einer Woche Rom und einer Woche Paris nicht gerade leicht. Rom hat das Kolosseum, Paris den Louvre. Beide Städte bieten eine romantische Atmosphäre, fabelhaftes Essen und schicke Geschäfte. Keine leichte Entscheidung. Aber nehmen wir an, Sie bekämen noch eine dritte Option angeboten: Rom ohne Gourmet-Frühstück (nennen wir sie –Rom oder den Köder).

Wenn Sie diese drei Optionen gegeneinander abwägen sollten (Paris, Rom und –Rom), würden Sie sofort erkennen, dass Rom inklusive Frühstück ebenso verlockend ist wie Paris inklusive Frühstück, die dritte Option – Rom ohne Frühstück– jedoch das schlechtere Angebot ist. Der Vergleich mit der eindeutig schlechteren Option (–Rom) lässt Rom inklusive Frühstück noch besser erscheinen. Die Option –Rom lässt Rom inklusive Frühstück sogar dermaßen gut erscheinen, dass Sie dieses Angebot besser finden als die schwer damit zu vergleichende Option Paris inklusive Frühstück.

 

Wenn Sie einmal die Wirkung des Köders erkannt haben, wird Ihnen klarwerden, dass er als Geheimagent bei mehr Entscheidungen seine Finger im Spiel hat, als wir uns vorstellen können. Er hilft uns sogar bei der Entscheidung, mit wem wir ein Rendezvous vereinbaren – und wen wir letztlich heiraten. Zu ebendiesem Thema habe ich ein interessantes Experiment durchgeführt.

An einem kalten Werktag fragte ich Studenten, die eilig über den Campus des MIT gingen, ob ich für eine Studie ein Foto von ihnen machen dürfe. Manche warfen mir einen missbilligenden Blick zu, manche gingen einfach weiter. Die meisten aber machten bereitwillig mit, und so hatte ich in kurzer Zeit zahlreiche Fotos von lächelnden Studenten auf der Karte meiner Digitalkamera. Ich kehrte in mein Büro zurück und druckte sechzig davon aus – dreißig von Frauen und dreißig von Männern.

In der folgenden Woche bat ich dann fünfundzwanzig meiner Studenten aus den jeweils dreißig fotografierten Männern und Frauen unter dem Aspekt der körperlichen Attraktivität Paare zu bilden (Männer mit Männern, Frauen mit Frauen). Das heißt, ich ließ sie die Brad Pitts mit den George Clooneys des MIT und die Woody Allens mit den Danny DeVitos kombinieren (Entschuldigung, Woody und Danny). Von diesen dreißig Paaren wählte ich sechs aus – drei weibliche und drei männliche –, die sich nach Ansicht meiner Studenten am ähnlichsten waren.

Und dann begann ich, wie Dr. Frankenstein persönlich, diese Gesichter meiner Spezialbehandlung zu unterziehen. Mit Hilfe des Programms Photoshop veränderte ich die Bilder ein wenig und kreierte von jedem eine etwas weniger attraktive Version. Ich stellte fest, dass schon eine winzige Verschiebung der Nase die Symmetrie zerstörte. Mit Hilfe eines anderen Tools vergrößerte ich ein Auge, entfernte einen Teil der Haare und fügte hier und da Spuren von Akne hinzu.

Weder erhellten grelle Blitze mein Labor, noch drang schauerliches Hundegejaule vom Moor herein, aber es war dennoch ein guter Tag für die Wissenschaft. Als ich fertig war, hatte ich das MIT-Äquivalent von George Clooney (A) und ebenso von Brad Pitt (B) in der Blüte ihrer Jahre, dazu einen George Clooney mit einem leicht erschlafften Auge und einer dickeren Nase (–A, der Köder) und ebenso eine weniger symmetrische Version von Brad Pitt (–B, ein weiterer Köder). Derselben Prozedur unterzog ich die weniger attraktiven Paare. Ich bekam das MIT-Äquivalent von Woody Allen mit seinem typischen schiefen Grinsen (A) und einen Woody Allen mit einem irritierend verrutschten Auge (–A), ebenso einen Danny DeVito (B) und eine leicht entstellte Version von Danny DeVito (–B).

Jetzt hatte ich also von jedem der zwölf Fotos eine schöne Version und eine weniger schöne Köderversion. Ein Beispiel für die zwei in der Studie verwendeten Varianten sehen Sie in der Abbildung rechts (ich habe hierfür computergenerierte Gesichter genommen, nicht Fotos der MIT-Studenten).

 

Jetzt war es Zeit für den wichtigsten Teil des Experiments. Ich klemmte mir den Stapel Bilder unter den Arm und ging hinüber zum Studentenclub. Dort fragte ich einen nach dem anderen, ob er mitmachen wolle, und wer sich bereit erklärte, bekam von mir ein Blatt mit drei Bildern (wie in der Abbildung). Manche bekamen das Bild A mit dem regelmäßigen Gesicht, den Köder dieses Bilds, –A, und das andere, Bild B, mit dem regelmäßigen Gesicht. Andere bekamen das Bild B mit dem regelmäßigen Gesicht, den Köder dieses Bilds, –B, und das andere, Bild A, mit dem regelmäßigen Gesicht.

Ein Satz Bilder bestand beispielsweise aus dem von einem Clooney mit regelmäßigem Gesicht (A), einem Köder-Clooney (–A) und einem Pitt mit regelmäßigen Gesicht (B); oder aus einem Pitt mit regelmäßigem Gesicht (B), einem Köder-Pitt (–B) und einem Clooney mit regelmäßigem Gesicht (A). Wenn ich je nach Wunsch ein Blatt mit entweder männlichen oder weiblichen Fotos überreicht hatte, bat ich die Studenten, diejenigen Personen einzukreisen, mit denen sie sich verabreden würden, wenn sie wählen könnten. Das Ganze dauerte eine Weile, aber am Ende hatte ich sechshundert Blätter verteilt.

Und wozu das alles? Ich wollte einfach herausfinden, ob das Vorhandensein des leicht entstellten Fotos (–A oder –B) meine Probanden dazu veranlassen würde, eher ein Bild A statt das andere, Bild B, zu wählen. Mit anderen Worten, würde ein etwas weniger attraktiver George Clooney (–A) die Probanden dazu veranlassen, eher den perfekten George Clooney zu wählen statt den perfekten Brad Pitt?

Natürlich habe ich bei meinem Experiment keine Fotos von Brad Pitt oder George Clooney verwendet. Die A- und B-Bilder zeigten ganz normale Studenten. Aber wissen Sie noch, wie das Vorhandensein eines Altbaus, der ein neues Dach brauchte, die Leute dazu veranlasste, den Altbau ohne Mängel zu wählen statt den Neubau – einfach weil der Köder-Altbau ihnen den Vergleich mit dem einwandfreien ermöglichte? Und hat im Fall der Werbung für den Economist die Option Nur-Papier-Version für 125 Dollar die Leute nicht dazu gebracht, sich für die Option Papier-plus-Internet-Version für 125 Dollar zu entscheiden? Würde das Vorhandensein einer weniger perfekten Person (–A oder –B) die Leute ebenfalls dazu veranlassen, die perfekte Version (A oder B) zu wählen, einfach weil die Köderversion als Vergleichsobjekt dient?

Genauso war es. Bei jedem Blatt mit einem Bild mit regelmäßigem Gesicht, dessen weniger schöner Version und einem weiteren Bild mit regelmäßigem Gesicht sagten die Probanden, dass sie sich lieber mit der Person vom »schönen« Bild– dem ähnlichen, aber eindeutig besseren im Vergleich mit der entstellten Version – verabreden würden als mit der Person vom anderen schönen Bild auf dem Blatt. Und es war keine knappe Entscheidung – ganze 75 Prozent entschieden sich so.

Warum? Zur Vertiefung Ihres Wissens über den Ködereffekt möchte ich Ihnen noch etwas über Brotbackmaschinen erzählen. Als Williams-Sonoma in seinen Läden eine Brotbackmaschine für zu Hause (zum Preis von 275 Dollar) anbot, fand sie bei den Verbrauchern wenig Interesse. Was war so eine Maschine zum Brotmachen überhaupt? War sie gut oder schlecht? Brauchte man wirklich selbstgebackenes Brot? Sollte man sich nicht lieber diese schicke Kaffeemaschine daneben kaufen? Nervös geworden durch den schleppenden Verkauf, wandte sich der Hersteller an ein Marktforschungsinstitut, das einen Lösungsvorschlag vorlegte: ein zusätzliches Modell der Brotbackmaschine 1 einführen, das nicht nur größer, sondern auch um etwa 50 Prozent teurer war als das Vorgängermodell.

Jetzt zog der Verkauf spürbar an, aber es war nicht die große Brotbackmaschine, die sich gut verkaufte. Warum? Weil die Verbraucher jetzt unter zwei Modellen von Brotbackmaschinen wählen konnten. Da das eine Modell eindeutig größer und wesentlich teurer war als das andere, mussten sich die Leute nicht im luftleeren Raum entscheiden. Sie konnten sagen: »Ich weiß ja nicht viel über Brotbackmaschinen, aber wenn ich eine kaufen müsste, dann würde ich lieber die kleinere kaufen, die preiswerter ist.« Von da an verkauften sich Brotbackmaschinen wie warme Semmeln.[5]

Genug geplaudert über Brotbackmaschinen. Aber wie verhält es sich mit dem Ködereffekt in einer vollkommen anderen Situation? Zum Beispiel wenn Sie Single sind und bei einem Singletreffen in nächster Zeit auf möglichst viele attraktive potenzielle Partner interessant wirken wollen? Mein Rat: Nehmen Sie einen Freund/eine Freundin mit, der/die Ihnen äußerlich ziemlich ähnlich ist (ähnlicher Teint, Statur, Gesichtszüge), aber etwas weniger attraktiv (ein –Sie).

Warum? Weil die Leute, die Sie beeindrucken wollen, sich mit der Einschätzung Ihrer Person schwertun, wenn nichts Vergleichbares in der Nähe ist. Werden Sie aber mit einem –Sie verglichen, wird der Köderfreund/die Köderfreundin Sie wesentlich besser aussehen lassen, nicht nur im Vergleich mit ihm/ihr, sondern auch ganz allgemein und im Vergleich zu allen anderen Leuten rundherum. Es klingt vielleicht irrational, aber Sie werden dadurch aller Wahrscheinlichkeit nach mehr Aufmerksamkeit bekommen. Natürlich gilt das nicht nur hinsichtlich Ihres Äußeren. Sollten Sie mit einem guten Gespräch entscheidende Pluspunkte sammeln können, nehmen Sie am besten einen Freund/eine Freundin mit, der oder die Ihnen in Sachen Redegewandtheit und Schlagfertigkeit nicht das Wasser reichen kann. Sie werden im Vergleich zu ihm oder ihr großen Eindruck machen.

Jetzt, wo Sie dieses Geheimnis kennen, sollten Sie aber vorsichtig sein: Wenn ein Ihnen äußerlich ähnlicher, aber besser aussehender Freund beziehungsweise eine solche Freundin Sie bittet, ihn oder sie demnächst abends zu begleiten, könnte sich die Frage stellen, ob Sie der angenehmen Gesellschaft wegen oder bloß als Köder eingeladen werden.

 

Die Relativität hilft uns bei der Entscheidungsfindung. Sie kann uns aber auch zutiefst unglücklich machen. Warum? Weil Missgunst und Neid daraus erwachsen können, wenn wir unser Leben mit dem anderer Menschen vergleichen.

Schließlich mahnen die Zehn Gebote aus gutem Grund: »Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen. Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind oder seinem Esel oder nach irgendetwas, das deinem Nächsten gehört.« Dieses Gebot zu befolgen dürfte am allerschwierigsten sein, denn schließlich sind wir von Geburt an darauf gepolt, Vergleiche anzustellen.

Das moderne Leben lässt diese Schwäche noch deutlicher hervortreten. Vor ein paar Jahren zum Beispiel traf ich einen Topmanager einer der großen Investmentfirmen. Im Verlauf unseres Gesprächs erzählte er von einem seiner Mitarbeiter, der sich kürzlich bei ihm über sein Gehalt beklagt habe.

»Wie lange sind Sie schon bei uns?«, fragte der Manager den jungen Mann.

»Drei Jahre. Ich habe direkt nach dem College hier angefangen«, antwortete er.

»Und wie viel hatten Sie sich vorgestellt, in drei Jahren zu verdienen?«

»Hunderttausend, hatte ich gehofft.«

Der Manager sah ihn erstaunt an.

»Aber Sie verdienen jetzt doch fast dreihunderttausend, warum beklagen Sie sich dann?«

»Na ja«, stammelte der junge Mann. »Es ist nur – ein paar von den Kollegen neben mir, sie sind auch nicht besser als ich und kriegen dreihundertzehn.«

Der Manager schüttelte nur den Kopf.

Ein paradoxer Aspekt an der Geschichte ist, dass die amerikanische Börsenaufsicht die Unternehmen 1993 zum ersten Mal zwang, Einzelheiten über die Gehälter und Vergünstigungen ihrer Topmanager zu veröffentlichen. Dahinter steckte der Gedanke, dass, wenn die Gehälter einmal öffentlich gemacht waren, die Vorstände den Managern keine haarsträubend hohen Gehälter und Prämien mehr genehmigen würden. Man hoffte, dadurch den steilen Anstieg der Managergehälter zu bremsen, was bisher weder der Aufsichtsbehörde noch dem Gesetzgeber, noch auf Druck der Aktionäre gelungen war. Und es war in der Tat notwendig: Im Jahr 1976 verdiente ein Manager im Durchschnitt 36-mal mehr als ein Arbeiter. Im Jahr 1993 bekam der Manager im Durchschnitt 131-mal so viel.

Und raten Sie mal, was dann geschah. Sobald die Gehälter öffentlich gemacht wurden, brachten die Medien regelmäßig Artikel mit einer Rangordnung der Manager nach ihrem Gehalt. Anstatt die Vergünstigungen für Führungskräfte einzudämmen, führte die Publicity dazu, dass Amerikas Manager nun ihre Gehälter untereinander verglichen. Mit dem Ergebnis, dass die Managergehälter in die Höhe schossen. »Gefördert« wurde dieser Trend durch Gehaltsberatungsfirmen (von dem Investor Warren Buffett bissig »Höher, Höher & Bingo« genannt), die ihren Managerkunden rieten, exorbitante Gehaltserhöhungen zu fordern. Die Folge? Heute verdient ein Manager im Durchschnitt etwa 369-mal mehr als ein Arbeiter– und etwa das Dreifache von dem, was er bekam, bevor die Managergehälter öffentlich gemacht wurden.

Mit diesem Wissen im Hinterkopf hatte ich an den Manager, mit dem ich sprach, doch einige Fragen.

»Was würde denn passieren«, erlaubte ich mir zu fragen, »wenn die in Ihrer Gehaltsdatenbank enthaltenen Informationen im ganzen Unternehmen bekannt würden?«

Der Manager sah mich bestürzt an. »Wir könnten vieles bewältigen – Insiderhandel, Finanzskandale und Ähnliches–, aber wenn jeder jedermanns Gehalt kennen würde, wäre das eine echte Katastrophe. Alle außer dem höchstbezahlten Angestellten würden sich unterbezahlt fühlen, und es würde mich nicht überraschen, wenn sie sich nach einer anderen Stelle umsehen würden.«

Ist das nicht merkwürdig? Es ist wiederholt nachgewiesen worden, dass die Beziehung zwischen der Höhe des Einkommens und der persönlichen Zufriedenheit nicht so groß ist, wie man meinen möchte (tatsächlich ist sie ziemlich gering). Studien haben sogar ergeben, dass die Länder mit den »zufriedensten« Menschen nicht unter denen mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen sind. Dennoch drängen wir immer wieder auf ein höheres Gehalt. Und das liegt größtenteils am schieren Neid. Wie H.L. Mencken, der große Journalist, Satiriker, Sozialkritiker, Zyniker und Freidenker des 20.Jahrhunderts, bemerkte, hängt die Zufriedenheit eines Mannes mit seinem Gehalt davon ab (sind Sie bereit für die Wahrheit?), ob er mehr verdient als der Ehemann der Schwester seiner Frau. Warum der Ehemann der Schwester seiner Frau? Weil (und ich habe das Gefühl, dass Menckens Frau ihn über das Gehalt des Mannes ihrer Schwester immer auf dem Laufenden hielt) sich dieser Vergleich geradezu aufdrängt und zudem leicht zu ziehen ist.[5]

All die Auswüchse bei den Managergehältern haben eine schädliche Wirkung auf die Gesellschaft. Jedes neue astronomisch hohe Gehalt ermutigt andere Manager, noch mehr zu verlangen, anstatt sich zu schämen. »In der globalisierten Welt von heute«, lautete eine Schlagzeile in der New York Times, »beneiden die Reichen die Superreichen.«

In einem anderen Zeitungsbericht erklärte ein Arzt, dass er nach seinem Harvard-Studium davon geträumt habe, eines Tages den Nobelpreis für Krebsforschung zu bekommen. Das war sein Ziel, sein Traum. Doch ein paar Jahre später stellte er fest, dass mehrere seiner Kollegen als Investmentberater für Ärzte bei Firmen in der Wall Street mehr Geld verdienten als er mit seiner praktischen Tätigkeit. Er war bis dahin mit seinem Einkommen ganz zufrieden gewesen, aber als er von den Jachten und Ferienhäusern seiner Freunde hörte, kam er sich plötzlich sehr arm vor. Also steuerte er seine Karriere in eine neue Richtung – in Richtung Wall Street.[6] Zu der Zeit des zwanzigsten Treffens seines Abschlussjahrgangs verdiente er schließlich zehnmal mehr als die meisten seiner früheren Kommilitonen in der Medizin. Wir sehen geradezu vor uns, wie er bei dem Treffen mit einem Drink in der Hand mitten im Raum steht – ein großer Kreis, vor Wichtigkeit strotzend, umgeben von kleineren Kreisen. Er hat den Nobelpreis nicht bekommen, sondern seine Träume für ein Wall-Street-Gehalt geopfert, für die Chance, sich nicht mehr »arm« zu fühlen. Wen wundert es da noch, dass es bei einem Durchschnittseinkommen von 160000