Wer denken will, muss fühlen - Dan Ariely - E-Book

Wer denken will, muss fühlen E-Book

Dan Ariely

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Beschreibung

Warum halten wir die eigenen Ideen immer für die besten? Weshalb wirken sich hohe Boni nachteilig auf die Arbeitsleistung aus? Wieso folgen wir bei der Partnersuche nicht unserem Schönheitsideal? Und warum lassen sich Rachegefühle so schwer bezähmen? In seinem neuen Bestseller untersucht Dan Ariely unser Verhalten in der Arbeitswelt und in zwischenmenschlichen Beziehungen. Sein ernüchternder Befund: Wir meinen zwar, Alltagssituationen vernünftig einschätzen zu können und Herr unserer Entscheidungen zu sein, doch in Wirklichkeit lassen wir uns oft von unseren Instinkten und Gefühlen leiten. Wir erliegen Trugschlüssen und begehen unwissentlich immer wieder Fehler – zum eigenen Nachteil. Ariely hilft uns, die wahren Triebfedern unseres Handelns zu erkennen. Und er hat auch eine gute Botschaft: Tatsächlich geht es uns meist viel besser, wenn wir den Verstand links liegenlassen.

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Seitenzahl: 442

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Dan Ariely

Wer denken will, muss fühlen

Die heimliche Macht der Unvernunft

Aus dem Amerikanischen von Gabriele Gockel und Maria Zybak

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

WidmungEinleitungTeil IEinsMehr zahlen, weniger bekommenZweiDer Sinn von ArbeitDreiDer IKEA-EffektVierDas Not-Invented-Here-SyndromFünfMein ist die RacheTeil IISechsÜber die AnpassungSiebenHOT or NOT?AchtWenn ein Markt versagtNeunEmpathie und EmotionenZehnDie langfristigen Folgen temporärer GefühleElfWas wir aus unserer Irrationalitätlernen könnenDankMeine MitarbeiterBibliographie undweiterführende ArbeitenEinleitungEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElf

Für meine Lehrer, Mitarbeiter und Studenten –ohne sie wäre meine Forschungsarbeit weit wenigerspannend und amüsant.

Und für alle Menschen, die im Laufe der Jahrean unseren Experimenten teilgenommen haben –Sie sind der Motor, der unsere Forschung antreibt.Ich danke Ihnen aus tiefstem Herzenfür Ihre Unterstützung.

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Einleitung

Nebenwirkungen des Prokrastinierensund der Medizin

Ich kenne Sie nicht, aber ich bin noch nie jemandem begegnet, der nicht prokrastiniert. Das Auf-die-lange-Bank-Schieben lästiger Aufgaben ist ein nahezu universelles Problem, das unglaublich schwer in den Griff zu bekommen ist – auch wenn wir es mit noch so viel Willenskraft und Selbstbeherrschung versuchen.

Erlauben Sie mir, Ihnen zu erzählen, wie ich selbst gelernt habe, mit meiner Neigung zum Prokrastinieren fertig zu werden. Vor vielen Jahren hatte ich einen verheerenden Unfall. In meiner Nähe explodierte eine große Magnesium-Leuchtrakete mit der Folge, dass 70 Prozent meines Körpers von Verbrennungen dritten Grades betroffen waren (ich schrieb darüber in meinem Buch Denken hilft zwar, nützt aber nichts[1]). Und als wäre das noch nicht genug, zog ich mir nach drei Wochen Krankenhausaufenthalt durch eine infizierte Blutkonserve eine Hepatitis zu. Natürlich ist die Zeit niemals günstig für eine ansteckende Leberkrankheit, doch bei mir war der Zeitpunkt besonders unglücklich, weil ich mich ohnehin schon in einem miserablen Zustand befand. Durch die Hepatitis erhöhte sich die Gefahr von Komplikationen, verzögerte sich meine Behandlung, und mein Körper stieß viele Hauttransplantate ab. Hinzu kam noch, dass die Ärzte nicht wussten, welche Art von Gelbsucht ich hatte. Zweifelsfrei litt ich weder an Hepatitis A noch an dem Typ B, aber sie konnten den Erreger nicht identifizieren. Nach einer Weile klang die Krankheit ab, aber meine Genesung verlief doch langsamer, weil die Krankheit von Zeit zu Zeit wieder aufflammte und meinen ganzen Körper in Mitleidenschaft zog.

Acht Jahre später, während meines Hauptstudiums, erlebte ich einen erneuten schweren Hepatitisausbruch. Ich ließ mich im studentischen Gesundheitszentrum untersuchen und erhielt nach etlichen Bluttests die Diagnose: Es war Hepatitis C, das Virus war erst kürzlich isoliert und identifiziert worden. Ich fühlte mich zwar erbärmlich, dennoch war ich froh über diese Nachricht. Erstens wusste ich endlich, was ich hatte; zweitens gab es ein vielversprechendes neues Mittel namens Interferon, das sich noch in der Versuchsphase befand und sehr wirksam zu sein schien. Der Arzt fragte mich, ob ich mir nicht überlegen wolle, an einer experimentellen Studie zur Prüfung seiner Wirksamkeit teilzunehmen. Angesichts der Gefahr einer Leberfibrose, einer Zirrhose und eines vorzeitigen Todes erschien mir die Teilnahme an der Studie als der beste Weg.

Anfänglich musste man sich das Interferon dreimal pro Woche selbst spritzen. Die Ärzte erklärten mir, dass sich nach jeder Injektion grippeähnliche Symptome wie Fieber, Schwindel, Kopfschmerzen und Erbrechen zeigen würden – Warnungen, die sich bald als vollkommen zutreffend erweisen sollten. Aber ich war entschlossen, der Krankheit zu trotzen, und so vollzog ich eineinhalb Jahre lang jeden Montag-, Mittwoch- und Freitagabend das folgende Ritual: Sobald ich nach Hause kam, nahm ich eine Nadel aus dem Medizinschränkchen, öffnete den Kühlschrank, füllte die Spritze mit der vorgeschriebenen Dosis Interferon, stach mit der Nadel tief in meinen Oberschenkel und injizierte das Medikament. Dann legte ich mich in eine große Hängematte – das einzig interessante Möbelstück in meiner loftähnlichen Studentenwohnung –, von der aus ich wunderbar fernsehen konnte. Dabei hatte ich in Reichweite einen Eimer für das Erbrochene stehen, denn unweigerlich würde ich mich übergeben müssen, und eine wärmende Decke. Etwa eine Stunde später setzten Schwindel, Schüttelfrost und Kopfschmerzen ein, und irgendwann übermannte mich der Schlaf. Am folgenden Tag gegen Mittag war ich mehr oder weniger wiederhergestellt und konnte mich meinen Seminaren und Forschungen widmen.

Wie die anderen Teilnehmer der Studie auch hatte ich aber nicht nur mit Übelkeit zu kämpfen, sondern auch mit dem Prokrastinieren und meiner mangelnden Selbstbeherrschung. Jeder Injektionstag war das reine Elend. Vor mir lag die Aussicht, nach der Selbstinjektion 16 Stunden unter schrecklicher Übelkeit zu leiden in der Hoffnung, dass die Behandlung langfristig zu meiner Heilung führen würde. Es war das, was die Psychologen einen »negativen unmittelbaren Effekt« um eines »positiven langfristigen Effekts« willen nennen – ein Problem, das wir alle kennen, wenn wir unmittelbar notwendige Aufgaben erledigen müssen, deren Nutzen wir erst später genießen. Obwohl das schlechte Gewissen an uns nagt, würden wir häufig lieber einer unangenehmen Tätigkeit (einer sportlichen Betätigung, der Arbeit an einem langweiligen Projekt, dem Ausräumen der Garage) ausweichen, die uns erst in der Zukunft etwas bringt (gesünder sein, befördert werden, ein dankbarer Partner).

Am Ende des achtzehn Monate dauernden Versuchs sagten mir die Ärzte, die Behandlung sei erfolgreich und ich der einzige Patient in der Versuchsgruppe gewesen, der sich das Interferon vorschriftsgemäß gespritzt habe. Alle anderen hatten die Medikation mehrmals ausgelassen, was angesichts der damit verbundenen Unannehmlichkeiten kaum überraschte. (Die Nichteinhaltung der medizinischen Einnahmevorschriften ist ein weitverbreitetes Problem.)

Wie gelang es mir nun, diese monatelangen Qualen durchzustehen? Hatte ich einfach Nerven wie Drahtseile? Wie jeder, der auf dieser Erde wandelt, habe auch ich große Probleme mit der Selbstkontrolle, und an jedem Injektionstag wünschte ich mir zutiefst, die Prozedur vermeiden zu können. Aber ich hatte einen Trick, mir die Behandlung erträglicher zu machen. Mein Schlüssel dazu waren Filme. Ich liebe Filme, und wenn ich die Zeit dazu hätte, würde ich mir jeden Tag einen ansehen. Als die Ärzte mir erklärten, was mir bevorstand, beschloss ich daher, mich mit Video-Filmen zu motivieren. Außerdem konnte ich wegen der heftigen Nebenwirkungen ohnehin kaum etwas anderes tun.

An jedem Injektionstag machte ich auf dem Weg zur Universität halt bei einem Video-Laden und suchte mir ein paar Filme aus, die ich mir ansehen wollte, und dann freute ich mich den ganzen Tag darauf. Sobald ich zu Hause war, setzte ich mir die Spritze, sprang darauf sofort in meine Hängematte, machte es mir darin bequem und begann mit meinem kleinen Filmfest. Auf diese Weise lernte ich, die Injektion mit der Belohnung in Form eines wunderbaren Films zu verbinden. Schließlich setzten dann die unangenehmen Nebenwirkungen ein, und dann fand ich das Ganze nicht mehr so wunderbar. Dennoch, meine Abende auf diese Weise zu planen half mir, die Injektion stärker mit der Freude an einem Film zu verknüpfen als mit den Unannehmlichkeiten der Nebenwirkungen, und so war ich imstande, die Behandlung fortzusetzen. (In diesem Fall war auch mein schlechtes Gedächtnis ein Glück für mich, denn manche Filme konnte ich mir immer wieder ansehen.)

 

Die Moral dieser Geschichte? Wir alle haben wichtige Aufgaben, deren Erledigung wir am liebsten vermeiden würden, besonders, wenn das Wetter dazu einlädt, die Zeit im Freien zu verbringen. Wir hassen es alle, uns für die Steuererklärung durch alte Belege zu wühlen, den Garten zu machen, uns an eine Diät zu halten, für die Rente zu sparen oder, wie ich, uns einer unangenehmen Behandlung oder Therapie zu unterziehen. In einer vollkommen rationalen Welt gäbe es das Problem der Prokrastination überhaupt nicht. Wir würden schlicht und einfach den Wert unserer langfristigen Ziele kalkulieren, sie mit unserem kurzfristigen Vergnügen vergleichen und begreifen, dass wir langfristig mehr profitieren, wenn wir kurzfristig ein wenig leiden. Wenn wir dazu in der Lage wären, könnten wir uns fest auf das konzentrieren, was wirklich wichtig für uns ist. Wir würden unsere Arbeit erledigen und dabei im Kopf haben, welche Befriedigung wir empfinden werden, wenn wir damit fertig sind. Wir würden unseren Gürtel ein wenig enger schnallen und später unseren besseren Gesundheitszustand genießen. Wir würden unsere Medikamente rechtzeitig nehmen und hoffen, dass der Arzt eines Tages zu uns sagt: »Ihre Krankheit ist vollkommen geheilt.«

Leider geben jedoch die meisten von uns der kurzfristigen Belohnung den Vorzug vor langfristigen Zielen.[2] Immer wieder verhalten wir uns, als würden wir irgendwann in der Zukunft mehr Zeit oder mehr Geld haben und uns weniger erschöpft oder gestresst fühlen. »Später« erscheint als eine rosige Zeit, in der man all die unangenehmen Dinge tun kann, die man im Leben erledigen muss, auch wenn sie aufzuschieben bedeutet, dass man sich später vielleicht mit einem viel größeren Dschungel im Garten abplagen oder dem Finanzamt Mahngebühren zahlen muss, sich im Rentenalter nicht ruhig zurücklehnen kann oder aber hinnehmen muss, dass eine medizinische Behandlung erfolglos bleibt. Eigentlich brauchen wir uns nur an die eigene Nase zu fassen, um zu sehen, wie selten wir um langfristiger Ziele willen kurzfristige Opfer auf uns nehmen.

 

Und was hat all das mit dem Thema dieses Buches zu tun? Ganz allgemein gesprochen, ungeheuer viel.

Aus rationaler Sicht sollten wir nur Entscheidungen treffen, die zu unserem Besten sind (»sollten« ist hier das entscheidende Wort). Wir sollten in der Lage sein, zwischen den verschiedenen Optionen, die uns zur Verfügung stehen, zu unterscheiden, ihren Wert zu kalkulieren – nicht nur kurzfristig, sondern auch langfristig – und uns für diejenige zu entscheiden, die uns am meisten nützt. Wenn wir vor irgendeinem Dilemma stehen, sollten wir in der Lage sein, die Situation klar und vorurteilslos zu betrachten und das Für und Wider der verschiedenen Möglichkeiten so objektiv zu beurteilen, als würden wir Laptops miteinander vergleichen. Wenn wir an einer Krankheit leiden und es eine vielversprechende Behandlung gibt, sollten wir uns strikt an die Anweisungen des Arztes halten. Wenn wir Übergewicht haben, sollten wir uns am Riemen reißen, jeden Tag ein paar Kilometer gehen und uns mit gekochtem Fisch, Gemüse und Wasser begnügen. Wenn wir rauchen, sollten wir damit aufhören – ohne Wenn und Aber.

Es wäre sicher schön, wenn wir rationaler wären und einen klareren Verstand hätten, was unser »Sollen« betrifft. Leider sind wir das nicht. Wie anders lässt sich sonst erklären, dass es in den Fitnessstudios Millionen Karteileichen gibt oder Menschen ihr Leben und das anderer aufs Spiel setzen, indem sie beim Fahren eine SMS schreiben, oder dass … (setzen Sie hier Ihr Lieblingsbeispiel ein)?

 

An diesem Punkt kommen die Verhaltensökonomen ins Spiel. Sie gehen nicht davon aus, dass Menschen vollkommen vernünftige, kalkulierende Maschinen sind. Stattdessen beobachten sie, wie sich die Menschen wirklich verhalten, und nicht selten stellen sie dabei fest, dass die Menschen irrational sind.

Sicher kann man von der rationalen Wirtschaftslehre eine Menge lernen, doch einige ihrer Grundannahmen – dass die Menschen immer die besten Entscheidungen treffen, dass Fehler weniger wahrscheinlich sind, wenn es bei den Entscheidungen um viel Geld geht, und dass der Markt sich selbst reguliert – können zweifelsohne katastrophale Folgen nach sich ziehen.

Um eine klarere Vorstellung davon zu bekommen, wie gefährlich es sein kann, von absoluter Rationalität auszugehen, denken Sie einmal ans Autofahren. Der Autoverkehr ist, wie die Finanzmärkte, ein von Menschen gemachtes System, und wir brauchen nicht in die Ferne zu schweifen, um zu sehen, dass andere schreckliche, kostspielige Fehler machen (aufgrund eines anderen Aspekts unserer voreingenommenen Weltsicht bedarf es ein wenig mehr Mühe, die eigenen Irrtümer zu erkennen). Autohersteller und Straßenbauer wissen im Allgemeinen, dass die Menschen im Verkehr nicht immer richtig urteilen, und so achten sie bei der Konstruktion von Autos und Straßen unter anderem auch auf die Sicherheit der Fahrer und Fußgänger. Die Autodesigner und Ingenieure gleichen unsere begrenzte Urteilsfähigkeit zum Beispiel durch Sicherheitsgurte, Antiblockiersysteme, Rückspiegel, Airbags, Halogenstrahler, Entfernungsmesser und vieles mehr aus, und die Straßenbauer legen an den Autobahnen Sicherheitsstreifen an, zum Teil mit kleinen Höckern versehen, die ein lautes brrrr verursachen, wenn man sie überfährt. Doch trotz all dieser Sicherheitsmaßnahmen machen die Menschen beim Autofahren immer noch alle möglichen Fehler (zum Beispiel, indem sie Alkohol trinken oder SMS schreiben); sie geraten in Unfälle, werden verletzt und kommen dabei sogar zu Tode.

Denken Sie einmal an die Implosion der Wall Street im Jahr 2008 und deren Auswirkung auf die Wirtschaft. Warum um alles in der Welt, fragt man sich angesichts der menschlichen Schwächen, haben wir bloß geglaubt, keine Maßnahmen von außen treffen zu müssen, um systematische Fehlurteile auf den von Menschen geschaffenen Finanzmärkten zu verhindern oder wenigstens mit ihnen fertig zu werden? Warum wurden keine Sicherheitspläne aufgestellt, um jemanden, der Milliarden Dollar verwaltet und investiert und dabei Gewinne erzielen will, von unglaublich kostspieligen Fehlern abzuhalten?

 

Verschärft wird das grundlegende Problem des menschlichen Versagens noch durch technische Entwicklungen, die zwar prinzipiell sehr nützlich sind, es uns aber erschweren, uns so zu unserem größtmöglichen Nutzen zu verhalten. Denken Sie beispielsweise an das Handy. Es ist ein praktisches Gerät, mit dem Sie nicht nur telefonieren, sondern auch SMS und E-Mails verschicken und empfangen können. Wenn Sie beim Gehen eine SMS schreiben, schauen Sie vielleicht auf das Display statt auf den Gehsteig und riskieren damit, vor einen Pfeiler zu laufen oder mit einer anderen Person zusammenzustoßen. Das ist zwar peinlich, aber wohl kaum wirklich gefährlich. Sich beim Gehen ablenken zu lassen ist nicht besonders schlimm; beim Autofahren hingegen ist es katastrophal.

Ähnliches gilt für die technischen Entwicklungen in der Landwirtschaft, die zum Problem der Fettleibigkeit beigetragen haben. Vor Tausenden von Jahren, als der Mensch beim Sammeln und Jagen in den Ebenen und Wäldern noch reichlich Kalorien verbrannte, musste er so viel Energie speichern wie eben möglich. Immer wenn er Nahrung fand, die Fett oder Zucker enthielt, hielt er inne und konsumierte so viel davon, wie er konnte. Darüber hinaus stattete uns die Natur mit einem praktischen inneren Mechanismus aus: Zwischen dem Zeitpunkt, zu dem unsere Vorfahren eigentlich genügend Kalorien aufgenommen hatten, und dem Moment, in dem sie sich satt fühlten, lag eine Spanne von zwanzig Minuten. Auf diese Weise speicherten sie ein wenig Fett, das sehr nützlich war, wenn sie später nicht rechtzeitig ein Wild zur Strecke bringen konnten.

Springen wir nun ein paar tausend Jahre weiter in unsere Gegenwart. In den Industrieländern verbringen wir die Zeit meist sitzend vor einem Bildschirm, statt Tieren nachzujagen. Statt selbst Getreide, Mais und Soja zu pflanzen, zu hegen und zu ernten, überlassen wir diese Aufgaben der kommerziellen Landwirtschaft. Lebensmittelproduzenten stellen daraus zuckerhaltiges, dick machendes Zeug her, das wir dann in Fastfood-Restaurants und Supermärkten kaufen. In der Mac-Donald’s-Welt können wir in Windeseile Tausende Kalorien in uns hineinstopfen. Und wenn wir einen Schinken-Ei-Käse-Burger verschlungen haben, gibt uns die zwanzigminütige Spanne bis zum Sättigungsgefühl Gelegenheit, uns weitere Kalorien in Form von gesüßtem Kaffee und einem halben Dutzend Donuts mit Puderzucker zuzuführen.

Im Grunde waren die Mechanismen, die wir in den Anfängen unserer Evolution entwickelt haben, äußerst sinnvoll. Doch angesichts der Diskrepanz zwischen der schnellen technischen und der menschlichen Weiterentwicklung stehen uns die Instinkte und Fähigkeiten, die einst hilfreich waren, nun häufig im Weg. Mangelhafte Entscheidungsfindungsprozesse, die in früheren Jahrhunderten bloße Störfaktoren waren, können heute unser Leben schwer beeinträchtigen.

Wenn die Erfinder moderner Technologien nicht berücksichtigen, dass der Mensch fehlbar ist, entstehen neue und innovative Systeme für die Aktienmärkte, für Versicherungen, Bildung, Landwirtschaft oder das Gesundheitswesen, die an der Realität des menschlichen Lebens vorbeigehen (ich finde den Ausdruck »für den Menschen unverträgliche Technologie« sehr passend). Die Folge davon ist, dass Fehler unausweichlich sind und wir manchmal auch im großen Stil scheitern.

 

Oberflächlich betrachtet, mag diese Sicht der menschlichen Natur ein wenig deprimierend wirken, aber das muss nicht unbedingt sein. Verhaltensökonomen versuchen, die menschlichen Schwächen zu erkennen und einfühlsamere, realistischere und effektivere Wege für die Menschen zu finden, bestimmten Verlockungen zu widerstehen, mehr Selbstkontrolle zu üben und letztlich ihre langfristigen Ziele zu erreichen. Für die Gesellschaft ist es äußerst segensreich, wenn sie begreift, wie und wann wir versagen, und neue Mittel konzipiert/erfindet/schafft, die uns helfen, unsere Schwächen zu überwinden. Wenn wir mehr über die tatsächlichen Motive unseres Verhaltens wissen und darüber, was uns auf Abwege führt – angefangen bei Entscheidungen über Boni und Leistungsanreize in der Wirtschaft bis hin zu den ganz persönlichen Aspekten des Lebens wie Verabredungen zum Rendezvous und Glück –, besteht die Möglichkeit, dass wir mehr Kontrolle über unser Geld und unsere Beziehungen gewinnen und sicherer und gesünder leben, sowohl als Einzelne wie auch als Gesellschaft.

Und genau das ist das eigentliche Ziel der Verhaltensökonomen: Ihnen geht es darum, zu verstehen, wie wir wirklich funktionieren, damit wir unsere Voreingenommenheit, unsere Vorurteile und Neigungen besser wahrnehmen können, uns ihres Einflusses mehr bewusst werden und hoffentlich auch bessere Entscheidungen treffen. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass wir eines Tages nur noch richtige Entscheidungen fällen, glaube aber, dass bessere Kenntnisse über die vielfältigen irrationalen Kräfte, die uns beeinflussen, ein nützlicher erster Schritt in diese Richtung sein könnten. Und dabei muss es nicht bleiben. Erfinder, Unternehmen und Politiker können zusätzliche Schritte einleiten, um unsere Arbeits- und Lebenswelt so umzugestalten, dass sie auf natürliche Weise mehr unseren Fähigkeiten und Grenzen entspricht.

Im Großen und Ganzen geht es in der Verhaltensökonomik genau darum – die verborgenen Kräfte ausfindig zu machen, die unsere Entscheidungen in den verschiedensten Bereichen beeinflussen, und Lösungen für allgemeine Probleme zu finden, die unser Privatleben, unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft beeinträchtigen.

 

Wie Sie auf den folgenden Seiten sehen werden, beruht jedes Kapitel dieses Buches auf Experimenten, die ich im Laufe der Jahre mit großartigen Kollegen durchgeführt habe (am Ende finden Sie Kurzbiographien meiner wunderbaren Mitarbeiter). Ich habe versucht, in allen Kapiteln ein wenig Licht auf Neigungen und Vorurteile zu werfen, die sich negativ auf unsere Entscheidungen in verschiedenen Lebensbereichen auswirken – vom Arbeitsplatz bis hin zum persönlichen Glück.

Warum, so fragen Sie sich vielleicht, investieren Dan Ariely und seine Kollegen so viel Zeit, Geld und Energie in Experimente? Für Sozialwissenschaftler sind Experimente mit Mikroskopen oder Stroboskopen vergleichbar, denn sie vergrößern und erhellen die komplexen, vielfältigen Kräfte, die uns gleichzeitig beeinflussen. Mit Hilfe von Experimenten können wir das menschliche Verhalten in einzelne Bilder einer Erzählung, in voneinander getrennte Einzelkräfte zerlegen und sie sorgfältig und genauer betrachten. Sie ermöglichen uns, direkt und unzweideutig zu prüfen, was die Menschen antreibt, und ein besseres Verständnis der Formen und Nuancen unserer Vorurteile zu gewinnen.[3]

Ich möchte aber noch einen anderen Punkt betonen: Wenn das, was man aus einem Experiment lernen kann, auf den Kontext der jeweiligen Studie beschränkt wäre, wäre sein Wert gering. Aber Experimente illustrieren allgemeine Prinzipien und eröffnen uns Einsichten in unser Denken und unsere Entscheidungsprozesse in den unterschiedlichsten Lebenssituationen. Ich hoffe, dass Sie, sobald Sie erkannt haben, wie unsere menschliche Natur wirklich funktioniert, selbst in der Lage sind, zu entscheiden, wie Sie dieses Wissen in Ihrem Berufs- und Privatleben umsetzen können.

Darüber hinaus habe ich in jedem Kapitel versucht, mögliche Folgen für das Leben, die Wirtschaft und die Politik abzuleiten – wobei der Schwerpunkt auf der Frage lag, was wir tun können, um die blinden Flecken unserer Irrationalität auszufüllen. Natürlich konnte ich die Folgen nur bruchstückhaft skizzieren. Um wirklich Nutzen aus diesem Buch und aus der Sozialwissenschaft insgesamt zu ziehen, ist es wichtig, dass Sie, der Leser, ein wenig darüber nachdenken, wie die Prinzipien menschlichen Verhaltens in Ihrem eigenen Leben zum Tragen kommen, und Sie sich überlegen, was Sie vor dem Hintergrund der neuen Kenntnisse über die menschliche Natur anders machen könnten. Darin liegt das wahre Abenteuer.

 

Die Leser, die Denken hilft, zwar nützt aber nichts bereits kennen, möchten vielleicht wissen, was sie hier an Neuem erfahren. Damals habe ich mich mit einer Reihe von Vorurteilen oder Neigungen beschäftigt, die uns – insbesondere als Konsumenten – zu unklugen Entscheidungen verleiten. Das Buch, das Sie jetzt in Händen halten, unterscheidet sich von seinem Vorgänger in dreierlei Hinsicht.

Zunächst – und unübersehbar – trägt dieses Buch einen anderen Titel. Wie jenes andere basiert es auf Experimenten, mit deren Hilfe wir herausfinden wollten, wie wir Entscheidungen treffen, doch hier betrachten wir die Irrationalität unter einem anderen Blickwinkel. Meist hat der Begriff »Irrationalität« eine negative Konnotation und impliziert alles Mögliche von unverständlichem Verhalten bis hin zu Verrücktheit. Wenn wir den Auftrag hätten, Menschen zu entwerfen, würden wir uns wahrscheinlich alle erdenkliche Mühe geben, sie frei von Irrationalität zu gestalten: In Denken hilft zwar, nützt aber nichts habe ich mich auch mit den Nachteilen menschlicher Voreingenommenheit beschäftigt. Aber die Irrationalität hat auch eine positive Seite. Manchmal haben wir mit unseren irrationalen Fähigkeiten auch Erfolg; sie ermöglichen uns zum Beispiel, uns einer neuen Umgebung anzupassen, anderen Menschen zu vertrauen, Freude zu empfinden, wenn wir uns anstrengen, und unsere Kinder zu lieben. Diese Kräfte sind ein fester Bestandteil unserer wunderbaren – wenn auch irrationalen – menschlichen Natur voller Überraschungen (Menschen, die sich nicht anpassen, vertrauen oder Freude an ihrer Arbeit empfinden können, können sehr unglücklich sein) und helfen uns, Großes zu vollbringen und ein gutes Leben in einer sozialen Struktur zu führen. Der Titel dieses Buches Wer denken will, muss fühlen ist ein Versuch, die Komplexität unserer irrationalen Verhaltensweisen zu erfassen – jene Seiten, auf die wir gern verzichten würden, und die anderen, die wir erhalten würden, wenn wir die menschliche Natur neu entwerfen könnten. Meines Erachtens ist es wichtig, sowohl unsere vorteilhaften als auch unsere unvorteilhaften Eigenheiten zu begreifen, denn nur so werden wir in der Lage sein, das Negative auszuschalten und auf dem Positiven aufzubauen.

Zweitens wird Ihnen vielleicht auffallen, dass dieses Buch aus zwei Teilen besteht. Im ersten werden wir uns unser Verhalten in der Welt der Arbeit näher ansehen, in der wir einen Großteil unseres wachen Lebens verbringen. Wir werden unsere Beziehungen hinterfragen – nicht nur zu anderen Menschen, sondern auch zu unserer Umgebung und zu uns selbst. Welches Verhältnis haben wir zu unserem Gehalt, unseren Chefs, zu den Dingen, die wir produzieren, unseren Gedanken und Ideen und zu unseren Gefühlen, wenn wir ungerecht behandelt werden? Was motiviert uns eigentlich, gute Leistungen zu erbringen? Wodurch erfahren wir Sinn? Warum spielt das Not-Invented-Here-Syndrom am Arbeitsplatz eine so große Rolle? Warum reagieren wir so stark auf Ungerechtigkeit und unfaires Verhalten?

Im zweiten Teil werfen wir einen Blick auf die Welt jenseits der Arbeit und schauen uns an, wie wir uns in zwischenmenschlichen Beziehungen verhalten. Welches Verhältnis haben wir zu unserer Umgebung und zu unserem Körper? Wie verhalten wir uns gegenüber Menschen, die wir kennenlernen, die wir lieben, und gegenüber Fremden in der Ferne, die unsere Hilfe benötigen? Und welches Verhältnis haben wir zu unseren Emotionen? Wir werden untersuchen, wie wir uns an neue Bedingungen, eine neue Umgebung und neue Liebespartner anpassen; wie die Online-Partnersuche funktioniert (oder warum sie nicht funktioniert); welche Kräfte unsere Reaktion auf menschliche Tragödien bestimmen; und wie unsere Reaktion auf Emotionen in einem bestimmten Augenblick unsere Verhaltensmuster in ferner Zukunft beeinflussen.

Wer denken will, muss fühlen unterscheidet sich auch insofern sehr von Denken hilft zwar, nützt aber nichts, weil es ein ausgesprochen persönliches Buch ist. Obwohl meine Kollegen und ich unser Bestes tun, bei der Durchführung und Analyse unserer Experimente möglichst objektiv zu sein, beruht ein Großteil dieses Buches (besonders im zweiten Teil) auf meinen schlimmen Erfahrungen bei der Behandlung meiner hochgradigen Verbrennungen. Wie alle schweren Verletzungen waren auch meine ausgesprochen traumatisch, aber sie veränderten auch rasch meine Sicht auf viele Aspekte des Lebens. Mein persönlicher Weg bot mir einzigartige Einblicke in das menschliche Verhalten und stellte mich vor Fragen, die mir sonst nie in den Sinn gekommen wären, nun aber für mein Leben zentral und zum Mittelpunkt meiner Forschungstätigkeit wurden. Darüber hinaus – und vielleicht wichtiger noch – veranlasste er mich, mir anzusehen, was es mit meinen eigenen irrationalen Neigungen und Vorurteilen auf sich hat. Ich hoffe, durch ihre Beschreibung und meine persönlichen Erfahrungen ein wenig Licht auf den Gedankenprozess zu werfen, der bei mir zu bestimmten Interessen und Ansichten geführt hat, und wichtige Bestandteile unserer gemeinsamen menschlichen Natur zu erhellen – Ihrer wie meiner.

 

Machen wir uns auf den Weg …

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Teil I

Wie wir uns im Arbeitsleben der Logik widersetzen

Eins

Mehr zahlen, weniger bekommen

Warum fette Bonuszahlungennicht immer funktionieren

Stellen Sie sich einmal vor, Sie wären eine dicke, glückliche Laborratte. Eines Tages hebt eine behandschuhte menschliche Hand Sie vorsichtig aus der gemütlichen Kiste, die Sie Ihr Heim nennen, und setzt Sie in eine andere, weniger gemütliche Kiste, in der sich ein Labyrinth befindet. Da Sie von Natur aus neugierig sind, wandern Sie mit zuckenden Tasthaaren darin herum. Dabei stellen Sie rasch fest, dass das Labyrinth zum Teil schwarz und zum Teil weiß ist. Sie folgen Ihrer Nase in einen weißen Bereich. Nichts passiert. Dann biegen Sie nach links ab und gelangen in einen schwarzen Abschnitt. Sobald Sie eine Pfote hineinsetzen, bekommen Sie einen ganz gemeinen Stromstoß.

Eine Woche lang werden Sie nun jeden Tag in ein anderes Labyrinth gesetzt. Die gefährlichen und die ungefährlichen Bereiche sind immer woanders, und auch die Farben der Wände und die Stärke der Stromstöße wechseln täglich. Manchmal sind die Abschnitte, in denen Sie einen leichteren Schlag bekommen, rot. Andere Male haben die Teile, wo Sie ein besonders fieser Schlag trifft, ein Punktmuster. Manchmal sind die ungefährlichen Teile mit einem schwarz-weißen Schachbrettmuster versehen. Ihre tägliche Aufgabe besteht darin, zu lernen, wie Sie auf dem sichersten Weg und möglichst unter Vermeidung der Elektroschocks durch das Labyrinth kommen (Ihre Belohnung dafür besteht darin, dass Sie keine Stromstöße erhalten). Wie gut werden Sie abschneiden?

Vor über einem Jahrhundert führten Robert Yerkes und John Dodson[4] dieses grundlegende Experiment in verschiedenen Varianten durch und fanden dabei zwei Dinge über Ratten heraus: wie schnell sie lernen und, was noch wichtiger ist, bei welcher Stärke der Stromschläge sie am schnellsten lernen. Nun könnten wir vermuten, dass die Motivation zu lernen mit der Stärke der Stromschläge zunehme. Dass die Ratten bei schwachen Stromschlägen einfach dahintappten, da sie die gelegentlichen schmerzlosen Stöße nicht motivieren würden. Doch mit steigender Stromstärke und zunehmendem Unbehagen, so vermuteten die Wissenschaftler, würden sich die Ratten wie unter feindlichem Beschuss fühlen und daher motiviert sein, schneller zu lernen. Folgt man dieser Logik, würde man annehmen, dass die Ratten dann am schnellsten lernen, wenn sie wirklich den stärksten Stromschlägen entkommen wollen.

In der Regel gehen wir davon aus, dass ein Zusammenhang besteht zwischen der Stärke des Anreizes und höherer Leistung. Es scheint naheliegend, dass wir uns, je motivierter wir sind, etwas Bestimmtes zu schaffen, umso mehr Mühe geben, unser Ziel zu erreichen, und uns diese erhöhte Anstrengung schließlich unserem Ziel näher bringt. Zumindest werden damit zum Teil die schwindelerregend hohen Bonuszahlungen für Börsenmakler und Firmenmanager begründet: Geben Sie den Leuten eine sehr hohe Prämie, dann sind sie motiviert, auf sehr hohem Niveau zu arbeiten und hohe Leistungen zu erbringen.

 

Manchmal sind unsere intuitiven Annahmen über den Zusammenhang zwischen Motivation und Leistung (und allgemein unserem Verhalten) richtig; dann wiederum stimmen Realität und Intuition einfach nicht überein. Einige Ergebnisse der Experimente von Yerkes und Dodson bestätigten, was die meisten von uns erwarten würden, andere jedoch nicht. Bei sehr schwachen Stromschlägen waren die Ratten nicht besonders motiviert und lernten folglich nur langsam. Bei mittlerer Stärke waren die Ratten motivierter, möglichst rasch die Spielregeln herauszubekommen, und lernten schneller. Bis zu diesem Punkt stimmen die Ergebnisse mit unseren Annahmen über den Zusammenhang zwischen Motivation und Handlung überein.

Doch dann die Überraschung: Wenn der Stromschlag sehr stark war, nahm die Leistung der Ratten ab! Zugegeben, es ist schwierig, in den Kopf einer Ratte zu schauen, doch allem Anschein nach konnten sich die Ratten bei den stärksten Stromschlägen auf nichts anderes konzentrieren als auf ihre Angst vor einem neuen Schlag. Gelähmt vor Entsetzen, konnten sie sich nur schwer daran erinnern, welche Teile des Käfigs ungefährlich waren und welche nicht, und waren daher nicht in der Lage, die Strukturen ihrer Umgebung zu erkennen.

Angesichts des Experiments von Yerkes und Dobson sollten wir uns fragen, wie die Beziehung zwischen Bezahlung, Motivation und Leistung auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich aussieht. Schließlich haben ihre Experimente deutlich gezeigt, dass Anreize eine zweischneidige Sache sein können. Bis zu einem bestimmten Punkt motivieren sie uns, zu lernen und gute Leistungen zu erbringen. Steigt der Motivationsdruck aber über diesen Punkt hinaus, kann er davon ablenken, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren und sie zu bewältigen – ein Ergebnis, das sich niemand wünschen wird.

Die Grafik zeigt drei mögliche Beziehungen zwischen Anreiz (Bezahlung, Elektroschocks) und Leistung. Die hellgraue Linie stellt eine einfache Beziehung dar, bei der höhere Anreize linear die Leistung steigern. Die durchbrochene graue Linie stellt eine Beziehung zwischen Anreiz und Leistung dar, bei der der »Ertragszuwachs« abnimmt.

Die durchgehende dunkelgraue Linie stellt die Ergebnisse von Yerkes und Dodson dar. Bei niedriger Motivation tragen zusätzliche Anreize zu einer Leistungssteigerung bei. Doch mit ansteigender Grundmotivation können zusätzliche Anreize kontraproduktiv sein und die Leistung vermindern. Es entsteht das, was Psychologen oft als »inversen U-Verlauf« bezeichnen.

Natürlich sind Elektroschocks in der realen Welt nicht gerade ein üblicher Anreiz, aber die Beziehung zwischen Motivation und Leistung, die bei diesem Experiment festgestellt wurde, lässt sich sicher auch auf andere Arten von Motivation übertragen, zum Beispiel auf die finanzielle Belohnung dafür, hohe Geldgewinne erzielt zu haben. Stellen wir uns einmal vor, Yerkes und Dodson hätten anstatt der Elektroschocks Geld verwendet (vorausgesetzt, dass Ratten tatsächlich scharf auf Geld wären). Bei niedrigen Bonuszahlungen würden die Ratten nicht reagieren und keine gute Leistung erbringen. Bei mittelhohen Prämien würden die Ratten stärker reagieren und mehr leisten. Doch bei sehr hohen Boni wären sie »übermotiviert«. Sie hätten Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, und folglich wäre ihre Leistung geringer als bei niedrigeren Prämien.

Würden wir also denselben inversen U-Verlauf im Verhältnis zwischen Motivation und Leistung bekommen, wenn wir das Experiment statt mit Ratten mit Menschen und mit Geld als Anreiz durchführen würden? Oder, um die Sache unter einem praktischen Gesichtspunkt zu betrachten, wäre es finanziell sinnvoll, Leuten sehr hohe Boni zu zahlen, um sie zu guten Leistungen anzuspornen?

Die Goldgrube der Bonuszahlungen

Im Licht der Finanzkrise von 2008 und der darauf folgenden Empörung über die Fortsetzung von Bonuszahlungen an etliche derer, die man für die Krise verantwortlich machte, fragen sich die Menschen, wie Anreize eigentlich auf Führungskräfte und Wall-Street-Manager wirken. Die Unternehmensleitungen gehen im Allgemeinen davon aus, dass sehr hohe leistungsbezogene Boni Führungskräfte zu höheren Anstrengungen motivieren und diese wiederum zu besseren Ergebnissen führen.[5] Doch ist das wirklich der Fall? Bevor Sie darüber nachdenken, schauen wir uns doch einmal an, wie die empirischen Ergebnisse aussehen.

Um die Wirksamkeit finanzieller Anreize als Mittel zur Leistungssteigerung zu prüfen, führten Nina Mazar (Professorin an der University of Toronto), Uri Gneezy (Professor an der University of California in San Diego), George Loewenstein (Professor an der Carnegie Mellon University) und ich ein Experiment durch. Wir stellten den Teilnehmern Geldprämien jeweils unterschiedlicher Höhe in Aussicht, wenn sie ihre Aufgabe gut bewältigten, und maßen dann die Wirkung der verschiedenen Anreize auf die Leistung. Insbesondere interessierte uns, ob die sehr hohen Prämien zu einer Leistungssteigerung führten, wie wir ja üblicherweise unterstellen, oder – analog zu dem Rattenversuch von Yerkes und Dodson – zu einem Leistungsabfall.

Einige Teilnehmer sollten einen relativ geringen Bonus erhalten (etwa in Höhe eines Tageslohns). Andere konnten sich einen Bonus in mittlerer Höhe (etwa der Hälfte ihres normalen Monatsgehalts entsprechend) verdienen. Die wenigen Glücklichen – und zugleich die für unsere Zwecke wichtigste Gruppe – hatten die Möglichkeit, einen sehr hohen Bonus zu erhalten, etwa das Fünffache ihres normalen Monatsgehalts. Wir hofften, durch den Vergleich der Leistungen dieser drei Gruppen eine genauere Vorstellung davon zu bekommen, wie effektiv die Boni im Hinblick auf eine bessere Leistung tatsächlich waren.

Ich kann mir vorstellen, dass Sie jetzt denken: »Wo kann ich mich für dieses Experiment anmelden?« Doch bevor Sie Spekulationen über unseren vermeintlich exorbitanten Forschungsetat anstellen, möchte ich Ihnen sagen, dass wir es genauso machten wie viele Unternehmen heutzutage – wir verlegten das ganze Projekt ins ländliche Indien, wo die Menschen im Monat durchschnittlich 500 Rupien (etwa 11 Dollar) zum Leben brauchen. Auf diese Weise konnten wir aus Sicht unserer Teilnehmer beträchtliche Boni anbieten, ohne uns den Zorn der Universitätsverwaltung zuzuziehen.

Nachdem wir den Ort für unsere Experimente festgelegt hatten, mussten wir noch die Aufgaben selbst auswählen. Zunächst dachten wir an solche, die auf purer Anstrengung basierten, wie etwa Laufen, Kniebeugen machen oder Gewichtheben, doch da Unternehmensleiter und andere Manager ihr Geld nicht mit solchen Dingen verdienen, überlegten wir uns Aufgabenstellungen, die Kreativität, Konzentration, Gedächtnis und allgemeine Problemlösungskompetenz verlangten. Nachdem wir eine ganze Reihe von Aufgaben bei uns selbst und bei einigen Studenten ausprobiert hatten, entschieden wir uns für die sechs folgenden:

Kreisviertel zusammenlegen: Bei diesem Raumpuzzle mussten die Teilnehmer neun Kreisviertel in ein Quadrat einpassen. Acht unterzubringen ist einfach, alle neun jedoch beinahe unmöglich.

Senso: Das elektronische Gedächtnisspiel, ein Relikt der 1980er Jahre in schrillen Farben, ist (oder war) weit verbreitet. Der Teilnehmer muss dabei zunehmend längere Reihen aufleuchtender Farbknöpfe fehlerlos durch Drücken der Farbknöpfe wiedergeben.

Die letzten drei Zahlen memorieren: Dieses Spiel ist so einfach, wie es klingt: Wir lasen eine Reihe von Zahlen vor (23, 7, 65, 4 und so weiter) und hielten dann an beliebiger Stelle inne. Die Teilnehmer mussten die letzten drei Zahlen wiederholen.

Labyrinth: Ein Spiel, bei dem der Teilnehmer mit zwei Hebeln eine Spielfläche, auf der sich ein Labyrinth mit Löchern befindet, in verschiedene Richtungen kippen kann. Das Ziel ist, eine kleine Kugel so durch das Labyrinth zu führen, dass sie nicht in ein Loch fällt.

Dartball: Ähnlich wie Darts, jedoch gespielt mit Tennisbällen, die mit der Schlaufenseite von Klettstoff versehen sind, während die Zielscheibe mit der Hakenseite von Klettstoff überzogen ist, so dass die geworfenen Bälle haften bleiben.

Aufwärts rollen: Ein Spiel, bei dem der Teilnehmer mit zwei Stöcken eine kleine Kugel auf einer schrägen Fläche so weit wie möglich nach oben bringen soll.

Nach der Auswahl der Spiele packten wir von jedem sechs Exemplare in eine große Kiste und schickten sie nach Indien. Aus irgendwelchen rätselhaften Gründen waren die Leute beim indischen Zoll nicht allzu glücklich über die batteriebetriebenen Senso-Spiele, doch nachdem wir eine Einfuhrsteuer von 250 Prozent bezahlt hatten, wurden die Spiele freigegeben, so dass wir mit unserem Experiment beginnen konnten.

Wir heuerten fünf Wirtschaftsstudenten in höheren Semestern vom Narayanan College in der südindischen Stadt Madurai an und baten sie, in nahe gelegene Dörfer zu gehen und dort einen zentralen öffentlichen Raum zu suchen, zum Beispiel ein kleines Krankenhaus oder einen Versammlungsraum, wo sie ihren Stand aufbauen und Teilnehmer für unser Experiment anwerben konnten.

Einer der Räume war ein Gemeindezentrum, wo sich Ramesh, ein Masterstudent im zweiten Studienjahr, an die Arbeit machte. Das Gemeindezentrum war noch nicht ganz fertig, der Boden noch nicht gefliest und die Wände nicht gestrichen, aber es war voll funktionsfähig und, was am wichtigsten war, es bot Schutz vor Wind, Regen und Hitze.

Ramesh plazierte die sechs Spiele im Raum und trat dann hinaus, um seinen ersten Teilnehmer willkommen zu heißen. Bald kam ein Mann vorbei, und Ramesh versuchte sofort, ihn für das Experiment zu interessieren. »Wir haben ein paar unterhaltsame Aufgaben hier«, erklärte er dem Mann. »Hätten Sie Lust, an einem Experiment teilzunehmen?« Für den Passanten klang das verdächtig nach einer von der Regierung finanzierten Sache, und so überrascht es nicht, dass der Mann nur den Kopf schüttelte und weiterging. Aber Ramesh gab nicht auf: »Sie können Geld bei diesem Experiment verdienen, und es wird von der Universität finanziert.« Und so machte unser erster Teilnehmer, sein Name war Nitin, kehrt und folgte Ramesh in das Gemeindezentrum.

Dort zeigte ihm Ramesh die im Raum verteilten Aufgaben. »Das sind die Spiele, die wir heute spielen werden«, erklärte er Nitin. »Man braucht dafür ungefähr eine Stunde. Bevor wir anfangen, wollen wir erst einmal sehen, wie viel Sie bezahlt bekommen.« Ramesh warf einen Würfel. Er zeigte die Vier, wonach Nitin laut unserem Zufallsverfahren zur Gruppe derjenigen mit dem Bonus in mittlerer Höhe gehörte. Somit konnte er bei allen sechs Spielen zusammen 240 Rupien gewinnen – anders ausgedrückt, den durchschnittlichen Lohn für zwei Wochen in diesem Teil des ländlichen Indien.

Als Nächstes erklärte Ramesh Nitin die Spielregeln. »Bei jedem der sechs Spiele«, sagte er, »gibt es eine mittlere Leistung, die wir als ›gut‹ bezeichnen, und eine hohe Leistung, die wir als ›sehr gut‹ bezeichnen. Für jedes Spiel, bei dem Sie ein gutes Ergebnis erzielen, bekommen Sie zwanzig Rupien, und für jedes Spiel, in dem Sie sehr gut abschneiden, bekommen Sie vierzig Rupien. Bei den Spielen, bei denen Ihr Resultat weniger als gut ist, bekommen Sie nichts. Das heißt, dass Ihre Bezahlung irgendwo zwischen null und zweihundertvierzig Rupien liegt, je nachdem, wie Ihr Ergebnis ausfällt.«

Nitin nickte, und Ramesh wählte willkürlich das Senso-Spiel aus. Bei diesem Spiel leuchtet einer der vier farbigen Knöpfe auf, und es erklingt ein Musikton. Nitin sollte dann den Knopf drücken, der zuvor aufgeleuchtet war. Dann würde wieder derselbe Knopf aufleuchten, doch gleich darauf ein anderer, und Nitin sollte beide Knöpfe hintereinander drücken, und so weiter mit immer mehr aufleuchtenden Knöpfen.

Solange sich Nitin an die Reihenfolge erinnern konnte und dabei keinen Fehler machte, lief das Spiel weiter, und es leuchteten immer mehr Knöpfe hintereinander auf. Doch sobald Nitin die Reihenfolge nicht mehr einhielt, endete das Spiel, und Nitins Ergebnis entsprach dann der längsten Folge, die er korrekt wiederholt hatte. Insgesamt konnte Nitin zehn Versuche machen.

»Jetzt sage ich Ihnen, was bei diesem Spiel ›gut‹ und was ›sehr gut‹ bedeutet«, fuhr Ramesh fort. »Wenn es Ihnen gelingt, bei mindestens einem Ihrer zehn Versuche eine Folge von sieben Stufen korrekt zu wiederholen, dann ist das ein gutes Ergebnis, das Ihnen zwanzig Rupien einbringt. Wenn Sie eine Folge von acht Stufen korrekt wiederholen, dann ist das ein sehr gutes Resultat, und Sie bekommen vierzig Rupien. Nach zehn Versuchen gehen wir zum nächsten Spiel. Haben Sie die Spielregeln verstanden?«

Nitin war ganz aufgeregt angesichts der Möglichkeit, so viel Geld zu verdienen. »Fangen wir an«, sagte er, und so ging es los.

Als Erstes leuchtete der blaue Knopf auf, und Nitin drückte ihn. Dann kam der gelbe Knopf, und Nitin drückte erst den blauen, dann den gelben Knopf. Nicht besonders schwierig. Er schaffte es auch noch beim dritten Knopf, versagte aber leider beim vierten. Beim nächsten Versuch war er kaum besser. Beim fünften Versuch jedoch konnte er sich eine Folge von sieben Farben merken und beim sechsten sogar acht. Insgesamt schnitt er sehr gut ab und war damit um 40 Rupien reicher.

Das nächste Spiel war »Kreisviertel zusammenlegen«, gefolgt von »Die letzten drei Zahlen memorieren«, Labyrinth, Dartball und schließlich »Aufwärts rollen«. Am Ende der Stunde hatte Nitin bei zwei Spielen ein sehr gutes Ergebnis und bei zwei anderen ein gutes Ergebnis erzielt. Bei zwei Spielen allerdings gelang es ihm nicht, die Leistung »gut« zu erreichen. Insgesamt gewann er 120 Rupien – ein wenig mehr als ein Wochenlohn – und verließ hocherfreut das Gemeindezentrum.

Der nächste Teilnehmer war Apurve, ein sportlicher Mann mit etwas schütterem Haar in den Dreißigern und stolzer Vater von Zwillingen. Ramesh warf eine Eins mit dem Würfel, womit Apurve entsprechend unserem Zufallsverfahren zu der Gruppe mit niedrigem Bonus gehörte. Das hieß, dass er in allen sechs Spielen zusammen einen Gesamtbonus von 24 Rupien oder einen Tageslohn erreichen konnte.

Das erste Spiel, das Apurve spielte, war »Die letzten drei Zahlen erinnern«, gefolgt von »Aufwärts rollen«, »Kreisviertel zusammenlegen«, Labyrinth, Senso und am Ende Dartball. Insgesamt schnitt er recht gut ab und erreichte bei drei Spielen ein »gut« und bei einem ein »sehr gut«. Damit stand er mehr oder weniger auf demselben Leistungsniveau wie Nitin, doch weil Ramesh nur eine Eins gewürfelt hatte, gewann Apurve nur zehn Rupien. Dennoch freute er sich auch über diese Summe, schließlich hatte er dafür nicht mehr tun müssen, als eine Stunde lang zu spielen.

Beim dritten Teilnehmer, Anoopum, zeigte Rameshs Würfel eine Fünf. Nach unserem Zufallsverfahren gehörte Anoopum somit zur Gruppe mit dem höchsten Bonus. Ramesh erklärte Anoopum, dass er für jedes Spiel, bei dem er ein gutes Ergebnis erzielte, 200 Rupien bezahlt bekäme und für jedes Spiel mit einem sehr guten Ergebnis 400. Anoopum machte schnell eine Rechnung auf: Sechs Spiele à 400 Rupien ergab 2400 Rupien – ein wahres Vermögen, das etwa fünf Monatslöhnen entsprach. Anoopum konnte sein Glück gar nicht fassen.

Das erste nach dem Zufallsprinzip gewählte Spiel für Anoopum war Labyrinth.[6] Anoopum erhielt die Anweisung, eine kleine Stahlkugel auf die Startposition zu legen und sie dann mit Hilfe der beiden Hebel durch das Labyrinth zu führen, und zwar so, dass sie nicht in ein Loch fiel. »Wir spielen dieses Spiel zehnmal«, erklärte Ramesh. »Wenn es Ihnen gelingt, die Kugel hinter das siebte Loch zu bringen, ist das für uns ein gutes Ergebnis, für das Sie zweihundert Rupien bekommen. Wenn Sie den Ball hinter das neunte Loch bringen, ist das für uns ein sehr gutes Ergebnis, und Sie bekommen vierhundert Rupien. Wenn dieses Spiel beendet ist, gehen wir zum nächsten. Alles klar?«

Anoopum nickte eifrig. Er packte die beiden Hebel, mit der man die Labyrinthfläche kippen konnte, und starrte die Stahlkugel auf der Startposition an, als wäre es eine Beute. »Das hier ist sehr, sehr wichtig«, murmelte er. »Ich muss es schaffen.«

Er brachte die Kugel ins Rollen. Fast sofort fiel sie in das erste Loch. »Noch neun Versuche«, sagte er laut, um sich Mut zu machen. Aber er stand unter Druck, und seine Hände zitterten jetzt. Unfähig, die feinen Bewegungen seiner Hände zu kontrollieren, scheiterte er ein ums andere Mal. Nachdem er das Labyrinth-Spiel verpfuscht hatte, sah er die wunderbaren Bilder von all den Dingen, die er mit seinem kleinen Vermögen anstellen würde, sich langsam in Luft auflösen.

Das nächste Spiel war Dartball. Aus sechs Meter Entfernung versuchte Anoopum das Zentrum der Scheibe zu treffen. Er warf einen Ball nach dem anderen, einmal von unten wie beim Softball, einmal von oben wie beim Cricket und sogar einmal von der Seite. Einige der Bälle landeten sehr nah am Ziel, aber keiner seiner zwanzig Würfe traf ins Zentrum.

Das Spiel mit den Kreisvierteln war der reinste Frust. Anoopum musste die neun Teile in nur zwei Minuten in dem Quadrat unterbringen, um 400 Rupien zu bekommen (wenn er dafür vier Minuten brauchte, konnte er 200 Rupien verdienen). Während die Uhr tickte, sagte ihm Ramesh alle dreißig Sekunden die verbleibende Zeit an: »Noch neunzig Sekunden! Noch sechzig Sekunden! Noch dreißig Sekunden!« Der arme Anoopum arbeitete immer schneller und versuchte immer angestrengter, alle neun Teile mit Gewalt in das Quadrat zu zwingen, aber vergebens.

Am Ende der vier Minuten gingen Ramesh und Anoopum zum Senso-Spiel über. Anoopum war inzwischen ziemlich enttäuscht, aber er riss sich zusammen und tat sein Bestes, um sich auf die vor ihm liegende Aufgabe zu konzentrieren.

Sein erster Versuch endete mit einer Folge von zwei Farben – nicht besonders vielversprechend. Doch beim zweiten Versuch konnte er sich an eine Reihe von sechs Farben erinnern. Er strahlte, weil er wusste, dass er endlich mindestens 200 Rupien verdient hatte und noch acht weitere Runden vor ihm lagen, so dass er es auf 400 bringen konnte. In dem Gefühl, endlich etwas gut zu können, versuchte er, seine Konzentration zu erhöhen und sein Gedächtnis auf eine höhere Leistungsebene zu zwingen. Bei den nächsten acht Runden konnte er sich an Folgen von sechs und sieben Farbknöpfen erinnern, aber kein einziges Mal an acht.

Da er noch zwei Spiele vor sich hatte, beschloss Anoopum, eine Pause einzulegen. Er machte beruhigende Atemübungen und stieß bei jedem Ausatmen ein langes »Om« aus. Nach einigen Minuten war er bereit für das Spiel »Aufwärts rollen«. Leider versagte er nicht nur hier, sondern auch beim Spiel »Die letzten drei Zahlen memorieren«. Als er das Gemeindezentrum verließ, tröstete er sich mit dem Gedanken, dass er immerhin 200 Rupien gewonnen hatte – ein hübsches Sümmchen für ein paar Spiele –, doch seine gerunzelte Stirn verriet die Enttäuschung, nicht die größere Summe bekommen zu haben.

Die Ergebnisse: Trommelwirbel, bitte …

Nach ein paar Wochen hatten Ramesh und die anderen vier Studenten die Sammlung von Daten in einer Reihe von Dörfern abgeschlossen und mailten mir die Ergebnisse. Ich war sehr gespannt. War unser indisches Experiment die Zeit und Mühe wert gewesen? Würden die verschiedenen Prämien und das jeweilige Leistungsniveau einander entsprechen? Hatten die Probanden mit den höchsten Prämien besser abgeschnitten? Oder schlechter?

Für mich ist der erste Blick auf die Ergebnisse einer der aufregendsten Momente bei einem Forschungsprojekt. Sicher ist das nicht so ergreifend wie der Augenblick, in dem man zum ersten Mal sein Kind auf einer Ultraschallaufnahme sieht, aber bestimmt wunderbarer als das Öffnen eines Geburtstagsgeschenks. Ja, die ersten Ergebnisse einer statistischen Analyse in Augenschein zu nehmen hat für mich sogar etwas Feierliches. Am Anfang meiner Laufbahn als Forscher habe ich nach Wochen oder Monaten der Datensammlung alle Zahlen in ein Datenformular eingetragen und für die statistische Analyse aufbereitet. Die wochen- oder monatelange Arbeit würde zu einer Erkenntnis führen, und ich wollte diesen Augenblick zelebrieren. Gewöhnlich machte ich vorher eine Pause und schenkte mir ein Glas Wein ein oder eine Tasse Tee. Erst dann setzte ich mich hin, um mir die Lösung des Versuchspuzzles anzusehen, an dem ich gearbeitet hatte.

Heute komme ich nur noch selten in den Genuss solcher magischen Augenblicke. Da ich kein Student mehr bin, ist mein Kalender voll von Pflichtterminen, und ich habe nicht mehr die Zeit, die Daten eines Experiments selbst zu analysieren. Unter normalen Umständen übernehmen meine Studenten oder Mitarbeiter die erste Sichtung des Materials und erleben ihrerseits diesen herrlichen Augenblick. Doch als die Daten aus Indien eintrafen, juckte es mich, selbst einmal wieder diese Erfahrung zu machen. So überredete ich Nina, mir das Datenmaterial zu überlassen, und sie musste mir versprechen, nicht hineinzuschauen, solange ich daran arbeitete. Das tat Nina, und so vollzog ich einmal wieder mein Ritual der Datenanalyse, mit Wein und allem Pipapo.

 

Bevor ich Ihnen die Ergebnisse verrate – was meinen Sie, wie gut die Teilnehmer der drei Gruppen abschnitten? Glauben Sie, dass diejenigen, die einen mittelhohen Bonus erzielen konnten, besser waren als die Gruppe mit dem niedrigen Bonus? Meinen Sie, dass diejenigen, die auf einen sehr hohen Bonus hofften, bessere Ergebnisse hatten als diejenigen, die einen mittelhohen erreichen konnten? Wie sich herausstellte, war der Unterschied zwischen denen, die einen geringen Bonus (etwa einem Tageslohn entsprechend), und denen, die einen mittelhohen Bonus (zwei Arbeitswochen entsprechend) gewinnen konnten, nicht besonders groß.

Daraus zogen wir den Schluss, dass selbst unsere geringe Prämie die höchstmögliche Motivation erzeugt hatte, weil sie für unsere Teilnehmer eine beträchtliche Summe darstellte.

Wie aber schnitten sie ab, wenn der sehr hohe Gewinn (fünf Monatslöhnen entsprechend) in Aussicht stand? Wie Sie an der Grafik rechts ablesen können, zeigten die Ergebnisse unseres Experiments, dass Menschen, zumindest in dieser Hinsicht, große Ähnlichkeit mit Ratten haben. Diejenigen, die eine Chance auf den höchsten Gewinn hatten, zeigten die geringste Leistung. Im Verhältnis zu den Gruppen mit geringen oder mittelhohen Gewinnerwartungen erzielten sie bei weniger als einem Drittel der Spielversuche ein gutes oder sehr gutes Ergebnis. Sie gerieten so unter Stress, dass sie wie die Ratten im Experiment von Yerkes und Dodson unter dem Druck versagten.

Die Grafik fasst die Ergebnisse der drei verschiedenen Gewinngruppen bei den sechs Spielen zusammen. Die Linie mit der Bezeichnung »Sehr gut« zeigt den Prozentsatz von Teilnehmern insgesamt, die mit dieser Note abschnitten. Die Linie mit der Bezeichnung »Gewinne« zeigt den Anteil der Gesamtsumme in Prozent, den die Teilnehmer der jeweiligen Bonus-Gruppe gewannen.

Überdimensionierte Anreize

An dieser Stelle sollte ich Ihnen wohl gestehen, dass wir unsere Experimente nicht gleich in der Weise durchführten, wie ich es weiter oben beschrieben habe. Vielmehr sorgten wir zunächst für zusätzlichen Stress bei unseren Teilnehmern. Angesichts unseres beschränkten Forschungsbudgets wollten wir den stärksten Anreiz schaffen, den unser fester Etat zuließ. Und dies taten wir, indem wir die Verlustaversion mit einbezogen.[7] Hierbei handelt es sich um den einfachen Gedanken, dass das negative Gefühl durch den Verlust einer Sache, von der wir meinen, sie gehöre uns – sagen wir Geld –, stärker ist als das Glücksgefühl, das wir haben, wenn wir dasselbe – also etwa dieselbe Geldsumme – gewinnen. Denken Sie beispielsweise einmal daran, wie glücklich Sie wären, wenn Sie eines Tages feststellten, dass Ihr Portfolio aufgrund einer ausgesprochen erfolgreichen Investition um fünf Prozent gewachsen wäre. Und dann stellen Sie dieses Glücksgefühl dem Verdruss gegenüber, den Sie empfinden würden, wenn Sie eines Tages feststellten, dass Ihr Portfolio aufgrund einer großen Fehlinvestition fünf Prozent an Wert verloren hätte. Wenn Ihr Missmut über den Verlust größer wäre als das Glücksgefühl angesichts des Gewinns, sind Sie empfänglich für die Verlustaversion. (Keine Sorge, das sind die meisten Menschen.)

Um die Verlustaversion in unser Experiment einzuführen, bezahlten wir den Teilnehmern, die unter der Bedingung eines niedrigen Gewinns antraten, 24 Rupien (sechs mal vier). Die Teilnehmer mit dem mittelhohen möglichen Gewinn erhielten 240 Rupien (sechs mal 40) und die Teilnehmer mit dem sehr hohen möglichen Gewinn 2400 Rupien (sechs mal 400).

Wir erklärten ihnen, wenn sie ein sehr gutes Ergebnis erzielten, dürften sie das gesamte Geld für dieses Spiel behalten, für jedes lediglich gute Ergebnis müssten sie die Hälfte des Betrags für das jeweilige Spiel zurückgeben, und bei einem nicht einmal guten Resultat würden wir jeweils den gesamten Betrag pro Spiel zurückfordern. Der Gedanke dabei war, dass unsere Teilnehmer mehr motiviert wären, das Geld nicht wieder zu verlieren, als wenn sie nur versuchten, es sich zu verdienen.

Ramesh führte diese Version des Experiments in einem anderen Dorf mit zwei Teilnehmern durch. Doch er konnte es nicht fortsetzen, weil uns diese Methode vor eine für ein Experiment einzigartige Herausforderung stellte. Als der erste Teilnehmer das Gemeindezentrum betrat, händigten wir ihm im Vorhinein das gesamte Geld aus, das er bei dem Experiment gewinnen konnte – 2400 Rupien. Es gelang ihm nicht, auch nur bei einem Spiel ein gutes Ergebnis zu erzielen, und so musste er leider die komplette Summe wieder abgeben.

Jetzt waren wir gespannt, ob es dem Rest der Teilnehmer ähnlich erging. Und siehe da!, der nächste Teilnehmer bewältigte ebenfalls keine der Aufgaben. Der arme Kerl war so nervös, dass er die ganze Zeit zitterte und sich nicht konzentrieren konnte. Aber er hielt sich nicht an unsere Regeln und machte sich am Ende der Spielrunde mit dem gesamten Geld aus dem Staub. Ramesh brachte es nicht übers Herz, ihm nachzulaufen. Konnte man dem armen Kerl einen Vorwurf machen? Der Vorfall machte uns klar, dass die Verlustaversion bei diesem Experiment keinen Sinn hatte, und so gingen wir dazu über, den Leuten das Geld erst am Ende zu geben.

Aber es gab auch noch einen anderen Grund, warum wir die Teilnehmer im Voraus bezahlen wollten: Wir wollten herausfinden, welche psychische Wirkung die Boni im realen Markt haben, und dachten, die Zahlung im Vorhinein entspreche dem, wie zahlreiche Manager ihre jährlich zu erwartenden Boni auffassen – als weitgehend selbstverständlich und als normalen Bestandteil ihres Gehalts. Oft haben sie bereits Pläne, was sie mit dem Geld machen werden. Vielleicht haben sie ein neues Haus mit einer Hypothek im Auge, die sonst jenseits ihrer Möglichkeiten läge, oder sie denken an eine Weltreise. Ich vermute, sobald sie einmal anfangen, solche Pläne zu entwerfen, können sie in dieselbe Verlustaversion geraten wie unsere im Voraus bezahlten Teilnehmer.

Denken versus Tun

Wir waren uns sicher, dass die negative Wirkung hoher Entgelte auf die Leistung Grenzen hat – wir hielten es für unwahrscheinlich, dass ein bedeutender Bonus die Leistung in jeder Situation vermindert. Und es erschien uns naheliegend, dass einer der begrenzenden Faktoren (Psychologen sprechen von einem »Moderator«) von der geistigen Anstrengung abhänge, die die Aufgabe erfordert. Je mehr kognitive Fähigkeiten eine Rolle spielen, so dachten wir, desto wahrscheinlicher würden sehr hohe Anreize das Gegenteil bewirken. Außerdem nahmen wir an, dass höhere Boni mit größerer Wahrscheinlichkeit zu einer besseren Leistung führen würden, wenn es um nichtkognitive, mechanische Aufgaben geht. Was wäre zum Beispiel, wenn ich Sie für jedes Mal, das Sie in den nächsten vierundzwanzig Stunden in die Höhe springen, bezahlen würde? Würden Sie nicht möglichst oft springen, und würden Sie nicht öfter springen, wenn ich die Bezahlung erhöhen würde? Würden Sie, wenn die Geldsumme sehr hoch wäre, die Geschwindigkeit, in der die Sprünge aufeinanderfolgen, senken oder ganz aufhören, obwohl Sie noch weitermachen könnten? Unwahrscheinlich. In Fällen, wo die Aufgaben sehr einfach und mechanischer Art sind, kann man sich nur schwer vorstellen, dass eine sehr hohe Motivation fehlschlägt.

Aufgrund dieser Überlegungen gestalteten wir das Spektrum der Aufgaben bei unserem Experiment möglichst breit und waren überrascht, dass die sehr hohen erzielbaren Gewinne bei allen Aufgaben zu niedrigeren Leistungen führten. Wir hatten dies bei den kognitiveren Spielen wie Senso und »Die letzten drei Zahlen memorieren« erwartet, aber nicht damit gerechnet, dass dieser Effekt genauso deutlich bei eher mechanischen Aufgaben wie Dartball und »Aufwärts rollen« auftreten würde. Wie konnte das sein? Eine mögliche Erklärung war, dass unsere Vermutung hinsichtlich der mechanischen Aufgaben falsch war und selbst hier sehr hohe Anreize kontraproduktiv sein können. Andererseits war es auch möglich, dass die Aufgaben, die unserer Meinung nach nur eine geringfügige kognitive Komponente hatten (Dartball und »Aufwärts rollen«), eine gewisse geistige Anstrengung erforderten und wir wirklich rein mechanische Aufgaben in das Experiment aufnehmen mussten.

Mit diesen Fragen im Kopf machten wir uns daran zu schauen, was passierte, wenn wir eine Aufgabe, die kognitive Fähigkeiten (in Form einfacher mathematischer Probleme) erforderte, mit einer Aufgabe verglichen, die auf reiner Anstrengung basierte (zwei Tasten einer Tastatur schnell drücken). Für die Untersuchung der Beziehung zwischen Gewinnhöhe und Leistung bei einer rein mechanischen Aufgabe im Gegensatz zu einer Aufgabe, die geistige Fähigkeiten erforderte, arbeiteten wir mit Studenten des Massachusetts Institute of Technology (MIT). Angesichts meines begrenzten Forschungsetats konnten wir ihnen keine Prämien wie in Indien anbieten. Daher warteten wir bis zum Ende des Semesters, wenn die Studenten relativ klamm sein würden, und lockten sie mit einem Bonus von 660 Dollar – genug Geld, um ein paar Partys zu veranstalten – für eine Aufgabe, die etwa zwanzig Minuten Zeit in Anspruch nehmen würde.