Unerklärlich ehrlich - Dan Ariely - E-Book

Unerklärlich ehrlich E-Book

Dan Ariely

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Beschreibung

Täglich täuschen wir Kollegen und Bekannte. Aber es ist doch erstaunlich, dass wir weit weniger schwindeln, als wir eigentlich könnten. Dan Ariely eröffnet eine völlig neue Sichtweise auf unser Verhalten und erklärt, warum wir trotz aller lockenden Vorteile keine notorischen Falschspieler sind.

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Dan Ariely

Die halbe Wahrheit ist die beste Lüge

Wie wir andere täuschen – und uns selbst am meisten

Aus dem Amerikanischen von Gabriele Gockel und Maria Zybak

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Für meine Lehrer, Mitarbeiter [...]EinführungVom Leben in einer SMORC-WeltAn alle KunstliebhaberEinsDie TestphaseMehr Geld, mehr Mogelei?Haltet den Dieb!Ab in die freie Wildbahn!Schwindeln und SchummelnZweiManche Firmen wissen das bereits!Wie man Leute dazu bringt, weniger zu betrügenAbenteuer mit der SteuerbehördeWas man daraus lernen kannZwei bDen Ball bewegenMulligansUnscharfe WirklichkeitDreiDarf ich Ihr Gesicht tätowieren?Die verborgenen Kosten von GefälligkeitenSpaß mit PharmazeutikaZahlen frisierenAuch Wissenschaftler geraten in KonflikteDer Betrunkene und der DatenpunktOffenlegungspflicht als Allheilmittel?Was also sollen wir tun?VierLieber ein Stück KuchenDas müde GehirnDer Moral-Muskel im HärtetestErhöhte Sterberate bei GroßmütternRot, Grün, BlauIch-Erschöpfung im AlltagFünfVom Hermelin zu ArmaniAn alle Chloé-FansDer »Was soll’s«-EffektDas kann zu nichts Gutem führenDurch Schein zum SeinSechsWie ich mir beim MENSA-Test eine höhere Punktzahl verschaffteUnsere Vorliebe für ÜbertreibungenSelbsttäuschung und SelbsthilfeLügen können auch positiv seinSiebenSich selbst betrügenMünzlogikDas LügnergehirnMehr Kreativität gleich mehr GeldSpielt die Intelligenz eine Rolle?Den Schummelfaktor ausweiten: Plädoyer für RacheakteKreative Rache auf ItalienischDie BetrugsabteilungDie dunkle Seite der KreativitätAchtAnsteckendes Mogeln im UnterrichtEin fauler ApfelEin Statement zur ModeDem Herdentrieb folgenWie finden wir zurück zur Moral?NeunBetrug aus Altruismus: die möglichen Kosten der ZusammenarbeitAufgepasst: Mögliche Vorteile der ZusammenarbeitDie Ironie der TeamarbeitZehnWas ist mit den »echten« Kriminellen?Ein paar Worte zu kulturellen UnterschiedenDankMeine MitarbeiterBibliographie und weiterführende ArbeitenEinführung: Warum ist Unehrlichkeit so interessant?Verwendete ArbeitEins: SMORC auf dem PrüfstandVerwendete ArbeitenZwei: Spaß mit dem SchummelfaktorVerwendete ArbeitenWeiterführende ArbeitenZwei b: GolfWeiterführende ArbeitenDrei: Geblendet von den eigenen MotivenVerwendete ArbeitenWeiterführende ArbeitenVier: Warum wir’s vermasseln, wenn wir müde sindVerwendete ArbeitenWeiterführende ArbeitenFünf: Warum wir mit gefälschten Markenartikeln noch mehr betrügenVerwendete ArbeitWeiterführende ArbeitenSechs: Wie wir uns selbst etwas vormachenVerwendete ArbeitWeiterführende ArbeitenSieben: Kreativität und UnehrlichkeitVerwendete ArbeitenWeiterführende ArbeitAcht: Betrügen als InfektionVerwendete ArbeitenWeiterführende ArbeitNeun: Gemeinschaftliches BetrügenVerwendete ArbeitenWeiterführende ArbeitenZehn: Ein fast optimistisches SchlusswortVerwendete ArbeitenWeiterführende Arbeiten

Für meine Lehrer, Mitarbeiter und Studenten – ohne sie wäre meine Forschungsarbeit weit weniger spannend und amüsant.

 

Und für alle Menschen, die im Laufe der Jahre an unseren Experimenten teilgenommen haben – sie sind der Motor, der unsere Forschung antreibt. Ich danke ihnen aus tiefstem Herzen für ihre Unterstützung.

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Einführung

Warum ist Unehrlichkeit so interessant?

Ob jemand ehrlich ist, finden Sie schnell heraus – fragen Sie ihn. Sagt er »Ja«, ist er ein Schwindler.

Groucho Marx

Mein Interesse an Täuschung und Betrug wurde 2002 geweckt, wenige Monate nach dem Zusammenbruch von Enron. Ich hatte an einer mehrtägigen Technologietagung teilgenommen und eines Abends bei einem Drink zufällig John Perry Barlow getroffen. Ich kannte John als ehemaligen Songtexter für Grateful Dead, aber bei unserem Gespräch stellte sich heraus, dass er auch als Unternehmensberater gearbeitet hatte – unter anderem für Enron.

Für den Fall, dass Sie den Absturz des Wall-Street-Lieblings im Jahr 2001 nicht mitbekommen haben – die Geschichte spielte sich im Wesentlichen so ab: Durch eine ganze Reihe phantasievoller Buchungstricks, noch gefördert dadurch, dass Berater, Rating-Agenturen, der Vorstand der Firma und die inzwischen nicht mehr existierende Wirtschaftsprüfungsfirma Arthur Andersen wegschauten, erlebte Enron an der Börse zuerst einen gewaltigen Kursanstieg und stürzte dann ab, als die Machenschaften nicht mehr vertuscht werden konnten. Die Aktionäre verloren das investierte Geld, Altersvorsorgepläne wurden null und nichtig, Tausende von Angestellten verloren ihre Arbeitsstelle, und das Unternehmen ging bankrott.

Mich interessierte bei der Unterhaltung mit John vor allem, wie er selbst dieses unbewusste Augenverschließen beschrieb. Er hatte genau zu der Zeit als Berater für Enron gearbeitet, als die Firma zusehends außer Kontrolle geriet, und dennoch nichts von den zweifelhaften Machenschaften bemerkt, wie er sagte. Vielmehr hatte er vorbehaltlos geglaubt, was alle Welt glaubte, dass nämlich Enron ein innovatives Unternehmen an der Spitze der New Economy sei – bis zu dem Augenblick, als die Geschichte sämtliche Schlagzeilen beherrschte. Noch mehr überraschte mich, was er dann erzählte: Als die Sache publik geworden war, konnte er nicht glauben, dass ihm die ganze Zeit über die Hinweise entgangen waren. Das gab mir zu denken. Vor diesem Gespräch mit John war ich davon ausgegangen, dass das Enron-Desaster hauptsächlich von den drei Schurken der ersten Führungsebene (Jeffrey Skilling, Kenneth Lay und Andrew Fastow) angerichtet worden war, die gemeinsam eine großangelegte Bilanzfälschung geplant und durchgeführt hatten. Hier aber saß jemand vor mir, den ich mochte und bewunderte und der in einer Weise in die Enron-Geschichte verwickelt gewesen war, die auf unbewusstem Augenverschließen – und nicht auf vorsätzlicher Unehrlichkeit – gründete.

Es konnte natürlich sein, dass John und alle anderen, die für Enron arbeiteten, bis auf die Knochen korrupt waren, aber ich vermutete mehr und mehr, dass hier eine andere Art von Unehrlichkeit am Werk war: eine, die mehr mit unbewusstem Augenverschließen zu tun hat – eine, die Leute wie John, Sie und ich praktizieren. Mir stellte sich die Frage, ob das Problem mit der Unehrlichkeit nicht vielleicht tiefer geht, dass es womöglich nicht nur ein paar schwarze Schafe betrifft, und ob diese Art von unbewusstem Augenverschließen auch in anderen Unternehmen vorkommt.[1] Und ich fragte mich, ob meine Freunde und ich uns ähnlich verhalten hätten, wenn wir Berater für Enron gewesen wären.

Das Thema Betrug und Unehrlichkeit faszinierte mich. Wo kommt dieses Verhalten her? Was macht die Fähigkeit des Menschen zu Ehrlichkeit und Unehrlichkeit aus? Und, vielleicht am allerwichtigsten: Ist Unehrlichkeit auf ein paar schwarze Schafe beschränkt, oder ist sie ein viel weiter verbreitetes Phänomen? Mir wurde klar, dass die Antwort auf diese letzte Frage die Art und Weise, wie wir mit Unehrlichkeit umgehen, grundlegend verändern könnte. Sprich, wenn nur ein paar schwarze Schafe für einen Großteil der Betrügereien auf unserem Planeten verantwortlich sind, könnten wir das Problem ohne große Mühe aus der Welt schaffen. Die Personalabteilungen könnten zur Unehrlichkeit neigende Kandidaten schon während der Einstellungsgespräche aussieben oder sich schneller von Mitarbeitern trennen, die sich im Laufe der Zeit als unehrlich erweisen. Beschränkt sich das Problem aber nicht auf ein paar Einzelfälle, dann würde dies bedeuten, dass sich jeder von uns am Arbeitsplatz und zu Hause unehrlich verhalten kann – Sie und ich eingeschlossen. Und wenn wir allesamt über ein gewisses Maß an kriminellem Potenzial verfügen, ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir zuerst verstehen, wie Unehrlichkeit funktioniert, und dann Wege finden, diesen Aspekt unserer menschlichen Natur in Schach zu halten.

 

Was wissen wir über die Ursachen der Unehrlichkeit? Die in der herkömmlichen Ökonomie vorherrschende Auffassung von Betrug stammt von dem Ökonomen und Professor an der University of Chicago, Gary Becker, einem Nobelpreisträger, nach dessen Ansicht Verbrechen auf der Grundlage einer rationalen Analyse der jeweiligen Situation begangen werden. Wie Tim Harford in seinem Buch Die Logik des Lebens[2] schildert, entstand diese Theorie auf recht profane Art. Eines Tages musste Becker zu einem Meeting, war aber spät dran, und da kein Parkplatz mehr frei war, beschloss er, seinen Wagen in einer Parkverbotszone abzustellen und einen Strafzettel zu riskieren. Als Becker später seinen Entscheidungsfindungsprozess in dieser Situation analysierte, stellte er fest, dass er ausschließlich die eventuellen Kosten – erwischt, bestraft und möglicherweise abgeschleppt zu werden – gegen den Nutzen, nämlich rechtzeitig zum Meeting zu kommen, abgewogen hatte. Ihm fiel außerdem auf, dass es bei dieser Kosten-Nutzen-Analyse keinen Raum für die Überlegung gegeben hatte, ob sein Verhalten richtig oder falsch war; es war schlicht eine Abwägung der möglichen positiven und negativen Folgen gewesen.

Und so wurde SMORC (Simple Model of Rational Crime) geboren, das einfache Modell rationalen Verbrechens. Diesem Modell zufolge denken und verhalten wir uns alle mehr oder weniger wie Becker. Wie der ganz gewöhnliche Straßenräuber, der jemanden überfällt, suchen wir alle unseren persönlichen Vorteil, während wir durch diese Welt gehen. Ob wir dazu eine Bank ausrauben oder Bücher schreiben, ist für unsere rationale Kosten-Nutzen-Rechnung irrelevant. Nach Beckers Logik läuft es folgendermaßen ab: Wenn wir knapp bei Kasse sind und zufällig an einem Laden vorbeifahren, überschlagen wir blitzschnell, wie viel Geld in der Kasse sein könnte, schätzen ab, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass wir erwischt werden, und überlegen kurz, welche Strafe uns in diesem Fall erwartet (natürlich unter Berücksichtigung der vorzeitigen Entlassung wegen guter Führung). Anhand dieser Kosten-Nutzen-Rechnung entscheiden wir dann, ob sich der Raubüberfall lohnt oder nicht. Der Kern von Beckers Theorie ist also, dass die Entscheidung, ob wir uns ehrlich verhalten, wie die meisten anderen Entscheidungen auch auf einer Kosten-Nutzen-Analyse beruht.

SMORC ist ein sehr einfaches Modell für Unehrlichkeit, aber die Frage ist, ob es das Verhalten der Menschen in der realen Welt wirklich exakt beschreibt. Wenn ja, dann hat die Gesellschaft zwei klare Optionen für den Umgang mit Unehrlichkeit. Erstens: die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, erwischt zu werden (mehr Polizisten einstellen und mehr Überwachungskameras installieren, beispielsweise). Zweitens: höhere Strafen für diejenigen, die erwischt werden (zum Beispiel längere Haft- und deftigere Geldstrafen). Das, meine Freunde, ist SMORC mit seinen klaren Konsequenzen für die Durchsetzung von Gesetzen, für Strafen und den Umgang mit Unehrlichkeit ganz allgemein.

Aber was, wenn SMORC mit seiner recht schlichten Sicht von Unehrlichkeit nicht genau oder nicht umfassend genug ist? Wenn das der Fall ist, dann sind die üblichen Ansätze zur Eindämmung von Unehrlichkeit ineffizient und ungenügend. Sollte SMORC also doch ein unzureichendes Modell für die Ursachen der Unehrlichkeit sein, dann müssen wir zu allererst herausfinden, welche Kräfte die Menschen tatsächlich zu Betrug und Täuschung verleiten, und dieses bessere Verständnis dann dazu nutzen, unehrliches Verhalten einzudämmen. Und genau darum geht es in diesem Buch.[3]

Vom Leben in einer SMORC-Welt

Machen wir ein kleines Gedankenexperiment, ehe wir uns mit den Kräften befassen, die unsere Ehrlichkeit beziehungsweise Unehrlichkeit beeinflussen. Wie sähe unser Leben aus, wenn wir alle strikt dem SMORC-Modell folgen und unser Handeln ausschließlich an Kosten und Nutzen ausrichten würden?

In einer rein auf SMORC gründenden Welt würden wir bei allen unseren Entscheidungen zuerst eine Kosten-Nutzen-Analyse durchführen und tun, was uns rational am profitabelsten erscheint. Wir würden Entscheidungen nicht auf der Grundlage von Gefühlen oder Vertrauen treffen, also unsere Brieftasche vermutlich in einer Schublade wegschließen, wenn wir das Büro auch nur für eine Minute verlassen. Wir würden unser Bargeld unter der Matratze aufbewahren oder in einem Geheimfach deponieren. Wir würden unserem Nachbarn nicht den Wohnungsschlüssel geben und ihn bitten, die Post hereinzuholen, wenn wir in Urlaub fahren, weil wir Angst hätten, dass er uns etwas stiehlt. Wir würden unsere Kollegen mit Argusaugen beobachten. Ein schlichter Handschlag zur Bekräftigung einer Vereinbarung hätte keinen Wert; für jede Transaktion müsste ein rechtsgültiger Vertrag geschlossen werden, was wiederum bedeuten würde, dass wir vermutlich einen erheblichen Teil unserer Zeit mit Rechtsstreitigkeiten und Gerichtsverfahren verbringen würden. Wir würden vielleicht beschließen, lieber keine Kinder in die Welt zu setzen, denn auch sie könnten, sobald sie einmal größer sind, alles zu stehlen versuchen, was wir besitzen, und da sie mit uns zusammenwohnen, hätten sie auch reichlich Gelegenheit dazu.

Dass Menschen keine Heiligen sind, ist hinreichend bekannt. Wir sind weit davon entfernt, vollkommen zu sein. Wenn aber auch Sie der Meinung sind, dass die SMORC-Welt weder unsere Denk- und Verhaltensweisen korrekt wiedergibt noch unser Alltagsleben zutreffend beschreibt, dann folgt aus diesem Gedankenexperiment, dass wir, würden wir absolut rational und ausschließlich in unserem eigenen Interesse handeln, viel mehr betrügen und stehlen würden, als es tatsächlich der Fall ist.

An alle Kunstliebhaber

Im April 2011 berichtete Ira Glass in seiner Rundfunksendung This American Life[1] über den Studenten Dan Weiss, der im John-F.-Kennedy-Zentrum für darstellende Kunst in Washington arbeitete. Er war mit der Führung des Warenlagers für die Geschenkeläden des Zentrums betraut, in denen eine Mannschaft von dreihundert wohlmeinenden ehrenamtlichen Mitarbeitern – überwiegend Pensionäre mit einer großen Liebe zu Theater und Musik – die verschiedenen Artikel an Besucher verkauften.

Die Geschenkeläden wurden wie Wurststände geführt. Es gab keine Registrierkasse, nur Geldkassetten, in die diese Mitarbeiter das Bargeld legten und aus denen sie Wechselgeld entnahmen. Die Läden machten ein Bombengeschäft und setzten Waren im Wert von über 400000 Dollar pro Jahr um. Doch es gab ein wirklich großes Problem: rund 150000 Dollar von diesem Umsatz verschwanden jedes Jahr.

Als Dan zum Manager befördert wurde, übernahm er damit auch die Aufgabe, den Dieb dingfest zu machen. Sein Verdacht fiel auf einen anderen jungen Angestellten, der regelmäßig das Bargeld zur Bank brachte. Dan kontaktierte das Detektivbüro des National Park Service, und man überlegte gemeinsam, wie man dem mutmaßlichen Täter eine Falle stellen könnte. An einem Februarabend war es dann so weit. Dan legte markierte Geldscheine in die Geldkassette und verließ das Gebäude. Dann versteckte er sich mit dem Detektiv hinter dem nächsten Gebüsch und wartete auf den Verdächtigen. Als der junge Mann schließlich herauskam, stürzten sie sich auf ihn, und tatsächlich fanden sie einige der markierten Scheine in seiner Tasche. Fall geklärt, oder?

Mitnichten. Der junge Angestellte hatte an jenem Abend nur 60 Dollar gestohlen, und nachdem er gefeuert worden war, verschwanden weiterhin Geld und Waren. Als Nächstes führte Dan ein Warenbestandsverzeichnis mit Preis- und Verkaufslisten ein. Die Pensionäre mussten aufschreiben, was sie verkauft und wie viel sie eingenommen hatten, und – erraten! – die Diebstähle hörten auf. Nicht ein einzelner Dieb war das Problem, sondern die vielen älteren, wohlmeinenden, die Kunst liebenden ehrenamtlichen Mitarbeiter, die sich immer wieder bei den verschiedenen Artikeln und am offen zugänglichen Geld bedient hatten.

Die Moral von der Geschichte ist alles andere als erhebend. Dan drückte es so aus: »Wenn wir die Möglichkeit dazu haben, nehmen wir uns gegenseitig Dinge weg … Viele Menschen brauchen Kontrollen, damit sie sich richtig verhalten.«

 

Vorrangiges Ziel dieses Buches ist, die rationalen, auf bloßer Kosten-Nutzen-Analyse basierenden Kräfte unter die Lupe zu nehmen, die unehrliches Verhalten vermeintlich steuern, was aber häufig nicht der Fall ist (wie Sie sehen werden), und die irrationalen Kräfte, die angeblich keine Rolle spielen, aber häufig entscheidend sind. Wenn beispielsweise ein großer Geldbetrag verschwindet, denken wir in der Regel, dass hier ein abgebrühter Krimineller am Werk war. Wie wir aber bei der Geschichte mit den Kunstliebhabern gesehen haben, steckt nicht unbedingt ein einzelner Mensch dahinter, der sich nach einer Kosten-Nutzen-Analyse eine Menge Geld in die Tasche steckt. Weit öfter liegt es daran, dass viele Leute es insgeheim gerechtfertigt finden, immer wieder ein bisschen Bargeld oder ein bisschen Ware mitzunehmen. Im Folgenden werden wir untersuchen, welche Kräfte uns zur Unehrlichkeit motivieren, und uns anschauen, was uns ehrlich bleiben lässt. Wir werden ergründen, welche Auslöser die Unehrlichkeit immer wieder zum Vorschein kommen lassen und wie wir zu unserem eigenen Nutzen betrügen und uns dabei dennoch ein positives Selbstbild bewahren – ein Aspekt unseres Verhaltens, der unsere Unehrlichkeit zu einem großen Teil erst möglich macht.

Nachdem wir uns mit den der Unehrlichkeit zugrundeliegenden Neigungen befasst haben, werden wir uns Experimenten zuwenden, die uns Aufschluss über die psychischen und die Umwelteinflüsse geben, die ein ehrliches Verhalten im Alltagsleben verstärken oder vermindern, beispielsweise Interessenkonflikte, gefälschte Markenartikel, Versprechungen, Phantasie oder schlicht der Umstand, dass wir müde sind. Auch mit den sozialen Aspekten der Unehrlichkeit werden wir uns beschäftigen, beispielsweise, wie andere Menschen unser Verständnis von richtig und falsch beeinflussen oder wie es mit unserer Fähigkeit zum Betrug aussieht, wenn andere von unserer Unehrlichkeit profitieren können. Zu guter Letzt werden wir zu verstehen versuchen, wie Unehrlichkeit funktioniert, in welcher Weise sie von unserem alltäglichen Umfeld abhängig ist, und unter welchen Umständen wir eher mehr oder eher weniger unehrlich sind.

Mit dem verhaltensökonomischen Ansatz kommen wir nicht nur den Kräften auf die Schliche, die Einfluss auf unsere Ehrlichkeit haben. Sein praktischer Nutzen liegt vor allem darin, dass er uns aufzeigt, welche inneren und äußeren Kräfte auf unser Verhalten einwirken. Sobald wir genau verstehen, was uns wirklich antreibt, werden wir feststellen, dass wir unseren menschlichen Schwächen (auch der Unehrlichkeit) nicht hilflos ausgeliefert sind, dass wir unser Umfeld umstrukturieren und damit zu ehrlicherem Verhalten kommen können.

Ich hoffe, dass ich mit meiner in den folgenden Kapiteln beschriebenen Forschungsarbeit zu einem besseren Verständnis beitrage, welche Faktoren unser unehrliches Verhalten beeinflussen, und einige interessante Möglichkeiten aufzeigen kann, wie sich unsere Neigunn zur Unehrlichkeit eindämmen lässt.

 

Machen wir uns auf den Weg …

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Eins

SMORC auf dem Prüfstand

Ich sag’s, wie’s ist. Alle schwindeln, auch Sie. Und, ja, ich selbst schwindle ebenfalls ab und zu.

Als Collegeprofessor versuche ich immer ein bisschen Abwechslung in meine Vorlesungen zu bringen, damit meine Studenten das Interesse am Stoff nicht verlieren. Zu diesem Zweck lade ich hin und wieder interessante Gastreferenten ein, was den angenehmen Nebeneffekt hat, dass ich weniger Zeit für die Vorbereitung aufwenden muss. Im Prinzip also eine Win-win-win-Situation – für den Gastreferenten, für die Studenten und natürlich für mich.

Einmal hatte ich zu einer solchen kostenlosen Vorlesung in Verhaltensökonomik einen ganz besonderen Gast eingeladen. Der kluge, fest etablierte Mann konnte eine exzellente Laufbahn vorweisen: Ehe er ein legendärer Wirtschaftsberater für bekannte Banken und prominente Firmenchefs wurde, hatte er in Jura promoviert und zuvor in Princeton seinen Bachelor gemacht. »In den letzten Jahren hat unser verehrter Gast Vertretern der Wirtschaftselite schon mehrfach dazu verholfen«, erklärte ich meinen Studenten, »ihre Träume Wirklichkeit werden zu lassen!«

Nach diesen einführenden Worten gehörte die Bühne meinem Gast, und er war von Anfang an sehr direkt. »Ich werde Ihnen heute helfen, Ihre Träume zu realisieren. Ihre Träume von GELD!«, rief er mit der aufpeitschenden Stimme eines Zumba-Trainers. »Wollen Sie ein bisschen GELD machen?«

Alle nickten und lachten, denn seine enthusiastische, hemdsärmlige Art gefiel ihnen.

»Ist irgendjemand hier reich?«, fragte er. »Ich bin reich, das weiß ich. Aber Sie, die Studenten, sind es nicht. Nein, Sie sind alle arm. Aber das wird sich ändern! Und zwar durch Betrug! Packen wir’s an!«

Dann zählte er ein paar berüchtigte Betrüger auf, von Dschingis Khan bis zur Gegenwart, darunter auch ein Dutzend CEOs, Alex Rodriguez, Bernie Madoff, Martha Stewart und andere. »Sie alle wollen sein wie sie«, meinte er. »Sie wollen Macht und Geld! Und beides können Sie haben, wenn Sie lernen zu lügen und zu täuschen. Passen Sie gut auf, dann verrate ich Ihnen das Geheimnis!«

Nach dieser anregenden Einleitung war es Zeit für eine Gruppenübung. Er bat die Studenten, die Augen zu schließen und dreimal tief ein- und auszuatmen. »Stellen Sie sich vor, Sie haben sich Ihre ersten zehn Millionen Dollar ergaunert«, sagte er. »Was tun Sie mit diesem Geld? Sie, mit dem türkisen T-Shirt!«

»Ein Haus kaufen?«, erwiderte der Student verlegen.

»Ein HAUS? Wir reiche Leute nennen das eine VILLA. Und Sie?«, fragte er weiter und wies auf einen anderen Studenten.

»Urlaub machen.«

»Auf Ihrer Privatinsel? Perfekt! Wenn Sie so viel Geld machen wie die großen Betrüger, dann verändert sich Ihr Leben. Haben wir einen Feinschmecker hier?«

Ein paar Hände gingen hoch.

»Wie wär’s mit einem Menü, von Jacques Pépin persönlich für Sie zubereitet? Einer Weinprobe in Châteauneuf-du-Pape? Wenn Sie genug Geld machen, können Sie es bis zu Ihrem letzten Tag richtig krachen lassen. Sie brauchen nur Donald Trump zu fragen! Schauen Sie, wir wissen doch alle, dass Sie für zehn Millionen Dollar Ihren Freund oder Ihre Freundin mit dem Wagen überfahren würden. Ich sage Ihnen: Das ist absolut okay, und ich bin hier, um die Handbremse für Sie zu lösen!«

Inzwischen dämmerte es den meisten Studenten, dass sie keine ernstzunehmende Identifikationsfigur vor sich hatten. Da sie aber seit zehn Minuten alle von den aufregenden Dingen träumten, die sie sich mit ihren ersten zehn Millionen Dollar leisten könnten, waren sie hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, reich zu sein, und der Überzeugung, dass Betrügen moralisch falsch ist.

»Ich spüre, dass Sie Bedenken haben«, fuhr unser Gastredner fort. »Sie dürfen sich Ihr Handeln aber nicht von Ihren Gefühlen diktieren lassen. Sie müssen sich Ihren Ängsten mit Hilfe einer Kosten-Nutzen-Analyse stellen. Welche Vorteile bringt es, wenn man sich durch Betrug bereichert?«, fragte er in die Runde.

»Man wird reich!«, antworteten die Studenten im Chor.

»Richtig. Und was sind die Nachteile?«

»Man wird erwischt!«

»Aha«, erwiderte unser Gastredner. »Es besteht die MÖGLICHKEIT, dass Sie erwischt werden. ABER, und das ist das Geheimnis: Beim Betrügen erwischt zu werden ist nicht dasselbe, wie für Betrug bestraft zu werden. Schauen Sie sich Bernie Ebbers an, den Ex-CEO von WorldCom. Sein Anwalt zückte bei seiner Verteidigung sofort die ›Ach, was soll’s!‹-Karte und behauptete, Ebbers habe schlicht nicht gewusst, was vor sich ging. Oder Jeff Skilling, der frühere CEO von Enron, der bekanntermaßen eine E-Mail schrieb mit dem Wortlaut: ›Steckt die Unterlagen in den Reißwolf, sie sind uns auf der Spur.‹ Skilling sagte später aus, das sei ›ironisch‹ gemeint gewesen! Und wenn Sie mit solchen Rechtfertigungen nicht durchkommen, können Sie immer noch in ein Land verschwinden, mit dem wir kein Auslieferungsabkommen geschlossen haben!«

Mein Gastreferent – im wahren Leben ein Bühnenkomiker namens Jeff Kreisler und Autor eines satirischen Buches mit dem Titel Get Rich Cheating - lieferte ein Argument nach dem anderen, dass man finanzielle Entscheidungen ausschließlich auf einer Kosten-Nutzen-Basis treffen und moralische Überlegungen völlig außer Acht lassen sollte. Während sie Jeff so zuhörten, wurde den Studenten bewusst, dass er aus rein rationaler Sicht absolut recht hatte. Gleichzeitig störte es sie jedoch, und sie fühlten sich unweigerlich abgestoßen davon, dass er derart entschieden Betrug als den besten Weg zum Erfolg propagierte.

Am Ende der Vorlesung bat ich die Studenten, darüber nachzudenken, in welchem Maße ihr eigenes Verhalten dem SMORC-Modell entspricht. »Wie viele Gelegenheiten zum Betrügen – ohne erwischt zu werden – haben Sie an einem normalen Tag?«, fragte ich sie. »Wie viele von diesen Gelegenheiten nutzen Sie? Wie viel mehr Betrügereien gäbe es rundherum, wenn jeder Jeffs Kosten-Nutzen-Ansatz folgen würde?«

Die Testphase

Beckers wie Jeffs Ansatz weisen drei gemeinsame Grundelemente bei der Betrachtung der Unehrlichkeit auf: (1) den Nutzen, den man aus der Straftat ziehen kann; (2) die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden; und (3) die zu erwartende Strafe, wenn man erwischt wird. Durch Abwägung der ersten Komponente (dem Nutzen) mit den beiden anderen Komponenten (den Kosten) kann der rational handelnde Mensch herausfinden, ob sich eine bestimmte Straftat lohnt oder nicht.

Nun, vielleicht beschreibt SMORC tatsächlich genau, wie Menschen entscheiden, ob sie ehrlich sein oder betrügen sollen, aber das Unbehagen, das meine Studenten (und ich) angesichts der Implikationen von SMORC empfanden, lässt darauf schließen, dass es sich lohnt, ein bisschen tiefer zu graben, um herauszufinden, was wirklich abläuft. (Im Folgenden wird detaillierter beschrieben, wie wir Betrug in diesem Buch konkret messen, also aufgepasst!).

Meine Kollegen Nina Mazar (Professorin an der University of Toronto) und On Amir (Professor an der University of California in San Diego) und ich beschlossen, uns eingehender damit zu befassen, wie Menschen betrügen. Wir hängten überall auf dem MIT-Campus (wo ich damals eine Professur innehatte) Zettel auf, dass Studenten bei uns in rund 10 Minuten bis zu 10 Dollar verdienen könnten.[4] Zum festgesetzten Zeitpunkt erschienen die Versuchsteilnehmer in einem Raum, wo sie auf Stühlen mit kleinen Schreibplatten Platz nahmen (die typische Examensanordnung). Als Nächstes händigten wir jedem Probanden ein Blatt mit zwanzig verschiedenen Matrizen (siehe das Beispiel weiter unten) aus und erklärten ihm seine Aufgabe, nämlich in jeder dieser Matrizen zwei Zahlen zu finden, die zusammen 10 ergeben (das ist der sogenannte »Matrix-Test«; er wird Ihnen in diesem Buch noch des Öfteren begegnen). Wir wiesen sie außerdem darauf hin, dass sie fünf Minuten Zeit hätten, so viele Matrizen wie möglich zu lösen, und dass sie für jede richtige Antwort 50 Cent bekämen (der Betrag variierte je nach Experiment). Sobald der Versuchsleiter sagte: »Bitte beginnen Sie!«, drehten die Teilnehmer das Blatt um und machten sich daran, diese simplen Rechenaufgaben möglichst schnell zu lösen.

Hier finden Sie ein Beispiel, wie dieses Blatt aussah, wobei eine der Matrizen vergrößert ist. Wie lange brauchen Sie, um das Zahlenpaar zu finden, das zusammen 10 ergibt?

 

Der Matrix-Test

So begann der Versuch für alle Teilnehmer; was nach Ablauf der fünf Minuten geschah, differierte jedoch je nach Versuchsgruppe.

Stellen Sie sich vor, dass Sie zur Kontrollgruppe gehören und sich Mühe geben, so viele der zwanzig Matrizen wie möglich zu lösen. Nach einer Minute haben Sie die erste gelöst, nach weiteren zwei Minuten sind Sie bei drei. Dann ist die Zeit vorbei, und Sie haben vier Matrizen gelöst. Damit haben Sie 2 Dollar verdient. Sie gehen zur Versuchsleiterin und überreichen ihr die Lösungen. Nachdem sie diese überprüft hat, lächelt sie anerkennend. »Sie haben vier Aufgaben gelöst«, sagt sie und zählt Ihnen die 2 Dollar auf den Tisch. »Das war’s dann«, sagt sie, und Sie gehen. (Die Ergebnisse in dieser Kontrollgruppe zeigten uns an, wie viele Aufgaben tatsächlich gelöst wurden.)

Nun stellen Sie sich vor, dass Sie in einer anderen Gruppe sind – nennen wir sie die Schredder-Gruppe –, in der Sie die Gelegenheit haben, zu schummeln. Der Ablauf ist wie bei der Kontrollgruppe, nur dass die Versuchsleiterin nach fünf Minuten erklärt: »Die Zeit ist vorbei. Zählen Sie nun Ihre richtigen Lösungen, stecken Sie Ihr Arbeitsblatt in den Reißwolf hinten in der Ecke, und dann kommen Sie zu mir und sagen mir, wie viele Matrizen Sie richtig gelöst haben.« Würden Sie, wenn Sie in dieser Versuchsgruppe wären, brav Ihre korrekten Lösungen zählen, Ihr Arbeitsblatt schreddern, der Versuchsleiterin Ihr Ergebnis mitteilen, Ihr Geld in Empfang nehmen und gehen?

Was würden Sie tun, wenn Sie in der Schredder-Gruppe wären? Würden Sie schummeln? Und wenn ja, in welchem Maße?

Anhand der Ergebnisse in beiden Gruppen konnten wir die Leistung in der Kontrollgruppe, in der man nicht schummeln konnte, mit der gemeldeten Leistung in der Schredder-Gruppe vergleichen, in der ein Betrug möglich war. Bei gleicher Anzahl richtiger Lösungen würden wir schließen, dass kein Betrug stattgefunden hatte. Ergab sich jedoch, dass die Teilnehmer in der Schredder-Gruppe – statistisch gesehen – »besser« abschnitten, dann könnten wir daraus folgern, dass unsere Probanden mehr Lösungen gemeldet (also betrogen) hatten, wenn sie Gelegenheit hatten, das Beweismaterial zu vernichten. Und in welchem Umfang in dieser Gruppe geschummelt wurde, ergäbe sich aus der Anzahl als richtig gelöst angegebener Matrizen, die über die Anzahl der in der Kontrollgruppe tatsächlich gelösten Matrizen hinausging.

Wir stellten fest – und das ist vielleicht keine allzu große Überraschung –, dass viele Probanden ihr Ergebnis »frisierten«, wenn sie Gelegenheit dazu hatten. In der Kontrollgruppe lösten die Teilnehmer durchschnittlich vier der zwanzig Matrizen. Die Probanden in der Schredder-Gruppe gaben im Durchschnitt an, sechs gelöst zu haben – zwei mehr als in der Kontrollgruppe. Und dieses Mehr ergab sich nicht daraus, dass einige wenige Personen wesentlich mehr als die tatsächlich gelösten Matrizen angegeben hätten, sondern daraus, dass viele ein klein wenig geschummelt hatten.

Mehr Geld, mehr Mogelei?

Als Nina, On und ich diese einfache Quantifizierung der Unehrlichkeit vorgenommen hatten, waren wir zur weiteren Untersuchung der Frage gerüstet, welche Kräfte die Menschen motivieren, mehr oder weniger zu betrügen. Laut SMORCsollten die Leute mehr betrügen, wenn sie dadurch die Chance haben, mehr Geld einzustreichen, ohne erwischt oder bestraft zu werden. Das klingt einfach und intuitiv verlockend, also beschlossen wir, diese These als Nächstes durch einen Versuch zu überprüfen. Wir bereiteten eine Variante des bekannten Matrix-Tests vor; dieses Mal würden die Probanden für jede richtig gelöste Matrix unterschiedlich hohe Geldbeträge bekommen. Einigen Versuchsteilnehmern versprachen wir 25 Cent für jede richtige Lösung, anderen 50 Cent, 1 Dollar, 2 Dollar oder 5 Dollar; die höchste Stufe waren sage und schreibe 10 Dollar für jede korrekte Lösung. Was glauben Sie, passierte dann? Wurde mehr geschummelt, wenn mehr Geld zu verdienen war?

Ehe ich es Ihnen verrate, möchte ich kurz von einem ähnlichen Experiment berichten. Dabei ließen wir die Probanden nicht selbst den Matrix-Test lösen, sondern baten sie um eine Einschätzung, wie viele Aufgaben die Teilnehmer in der Schredder-Gruppe bei den jeweiligen »Verdienst-Niveaus« als korrekt gelöst angeben würden. Ihre Prognose lautete, dass sich die Zahl der als korrekt gelöst angegebenen Matrizen erhöhen würde, je mehr Geld zu verdienen war. Im Grunde entsprach ihre intuitive Einschätzung also der Prämisse des SMORC-Modells. Doch sie täuschten sich. Als wir uns anschauten, in welchem Ausmaß betrogen worden war, stellte sich heraus, dass unsere Probanden ihr Ergebnis im Durchschnitt um zwei gelöste Aufgaben verbesserten, unabhängig von dem Betrag, den sie für jede gelöste Aufgabe einstecken konnten. Die Teilnehmer, denen wir für jede korrekte Antwort den höchsten Betrag von 10 Dollar versprachen, betrogen sogar etwas weniger.

Warum wurde nicht mehr geschummelt, wenn mehr Geld geboten wurde? Warum wurde beim höchsten Geldbetrag sogar etwas weniger betrogen? Die Tatsache, dass die Höhe des zu erwartenden Gewinns keine Rolle spielt, lässt darauf schließen, dass Unehrlichkeit aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auf einer Kosten-Nutzen-Analyse beruht. Denn wenn dem so wäre, würde ein größerer Nutzen (ein höherer Geldbetrag) zu mehr Schummelei führen. Und warum wurde am wenigsten betrogen, wenn am meisten Geld geboten wurde? Ich vermute, dass den Probanden das Schummeln bei 10 Dollar für jede richtig gelöste Aufgabe deshalb mehr Probleme bereitete, weil es dadurch gleichzeitig schwieriger wurde, sich selbst als integrer Mensch zu fühlen (auf diesen Punkt kommen wir später noch zurück). Bei 10 Dollar pro Matrix reden wir nicht mehr über Betrug von der Größenordnung wie etwa das Stehlen eines Bleistifts aus dem Büro. Er lässt sich schon eher mit mehreren Schachteln von Stiften, einem Hefter oder einer Packung Druckerpapier vergleichen, was sich viel schlechter verdrängen oder rationalisieren lässt.

Haltet den Dieb!

Mit unserem nächsten Experiment untersuchten wir, was geschah, wenn die Versuchsteilnehmer glaubten, die Wahrscheinlichkeit, beim Schummeln erwischt zu werden, sei größer. Im Grunde bauten wir damit in das Experiment eine partiell aktivierte Überwachungskamera ein, nur dass sie sich im Kopf der Probanden befand.

Eine Gruppe von Probanden wiesen wir an, die Hälfte ihres Arbeitsblatts zu schreddern – was bedeutete, dass, wenn sie unehrlich waren, wir einen Beweis dafür finden könnten. Eine zweite Gruppe wurde angewiesen, das ganze Arbeitsblatt zu vernichten – die Probanden konnten also ungeschoren davonkommen. Eine dritte Gruppe schließlich sollte ebenfalls das ganze Arbeitsblatt vernichten, den Testraum dann verlassen und sich aus einer ziemlich großen Schale, die mit über 100 Dollar in kleinen Scheinen und Münzen gefüllt war, den entsprechenden Betrag nehmen. Die Probanden in dieser »Selbstbezahl-Gruppe« konnten nicht nur betrügen, ohne Schwierigkeiten zu bekommen, sie konnten auch noch eine Menge Bargeld zusätzlich einstecken.

Wieder baten wir eine andere Gruppe um eine Einschätzung, wie viele Aufgaben die Probanden in jeder Gruppe als korrekt gelöst angeben würden. Wieder meinten die befragten Teilnehmer, dass die Neigung des Menschen zur Unehrlichkeit dem SMORC-Modell folgen werde und die Probanden mehr Matrizen als gelöst angeben würden, wenn die Wahrscheinlichkeit sinke, erwischt zu werden.

Was haben wir herausgefunden? Wieder schummelten viele der Versuchsteilnehmer, aber nur ein wenig, und das Ausmaß des Betrugs war in allen drei Gruppen (die Hälfte des Arbeitsblatts schreddern, das ganze Blatt schreddern, das ganze Blatt schreddern und sich selbst bezahlen) gleich.

 

Nun werden Sie sich vielleicht fragen, ob unsere Teilnehmer wirklich glaubten, bei unserer Versuchsanordnung schummeln zu können, ohne erwischt zu werden. Dass dies tatsächlich der Fall war, überprüften Racheli Barkan (Professorin an der Ben-Gurion-Universität des Negev), Eynav Maharabani (Master-Kandidatin bei Racheli) und ich mit einem anderen Experiment, wobei entweder Eynav oder Tali, eine andere Forschungsassistentin, die Aufsicht hatte. Eynav und Tali sind sich in vieler Hinsicht ähnlich – nur dass Eynav sichtbar blind ist, die Probanden also leichter betrügen konnten, wenn sie mit der Leitung des Versuchs an der Reihe war. Aus der gut gefüllten Geldschale auf dem Tisch vor der Versuchsleiterin konnten sich die entsprechenden Probanden herausnehmen, so viel sie wollten, denn Eynav konnte ja nichts sehen.

Und betrogen sie bei Eynav mehr? Sie nahmen sich zwar etwas mehr Geld, als sie berechtigterweise hätten nehmen dürfen, betrogen aber genauso viel, wenn Tali die Experimente leitete.

Diese Ergebnisse lassen darauf schließen, dass die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, keinen signifikanten Einfluss auf das Ausmaß des Betrugs hat. Natürlich will ich nicht behaupten, dass sich die Menschen von der Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, überhaupt nicht beeindrucken lassen – schließlich wird niemand ein Auto klauen, wenn in Sichtweite ein Polizist herumsteht –, doch die Ergebnisse belegen, dass die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, keine so große Wirkung hat, wie wir üblicherweise annehmen, und bei unseren Experimenten spielte sie offenkundig überhaupt keine Rolle.

 

Vielleicht überlegen Sie jetzt, ob unsere Probanden nach folgender Logik handelten: »Wenn ich mein Ergebnis nur ein bisschen nach oben korrigiere, wird mich niemand verdächtigen. Schummle ich aber mehr, fällt es womöglich auf, und man stellt mir Fragen.«

Diese Überlegung überprüften wir mit unserem nächsten Versuch. Dieses Mal sagten wir der Hälfte unserer Probanden, dass jeder der Teilnehmer bei diesem Experiment im Durchschnitt vier Matrizen löst (was der Wahrheit entsprach). Die andere Hälfte erhielt die Information, dass es im Durchschnitt acht Matrizen seien. Warum? Weil, wenn das Ausmaß des Betrugs auf dem Wunsch basiert, nicht aufzufallen, dann würden unsere Probanden in beiden Gruppen jeweils ein, zwei Matrizen mehr angeben, als sie für das durchschnittliche Ergebnis hielten (sie würden also behaupten, um die sechs Matrizen gelöst zu haben, wenn sie vier für den Durchschnitt hielten, und rund zehn Matrizen, wenn sie glaubten, der Durchschnitt sei acht).

Und wie verhielten sich unsere Probanden, wenn sie davon ausgingen, dass die anderen mehr Matrizen lösten? Diese Information beeinflusste sie nicht im Geringsten. Sie gaben beide Male im Durchschnitt zwei Aufgaben mehr als die tatsächlich gelösten an (sie lösten vier Aufgaben und gaben an, sechs gelöst zu haben), unabhängig davon, ob sie glaubten, dass die anderen durchschnittlich vier oder acht Matrizen lösten.

Dieses Ergebnis legt nahe, dass die Schummelei nicht von Bedenken beeinflusst wurde, womöglich aufzufallen. Vielmehr zeigt es, dass unser Gefühl dafür, was wir für uns selbst als moralisches Verhalten betrachten, mit dem Ausmaß an Betrug zusammenhängt, bei dem wir uns gerade noch wohl fühlen. Im Grunde schummeln wir bis zu dem Punkt, der es uns erlaubt, das Selbstbild eines einigermaßen ehrlichen Menschen zu bewahren.

Ab in die freie Wildbahn!

Mit diesen ersten Belegen gegen das SMORC-Modell bewaffnet, beschlossen Racheli und ich, uns aus der Laboratmosphäre hinaus und in ein natürlicheres Setting zu begeben. Wir wollten ganz gewöhnliche Situationen untersuchen, wie sie einem tagtäglich begegnen können. Und wir wollten »normale Menschen« testen, nicht nur Studenten (allerdings habe ich inzwischen festgestellt, dass Studenten es gar nicht mögen, wenn man sie nicht zu den normalen Menschen zählt). Außerdem fehlte bei unseren Experimenten bislang noch die Möglichkeit, sich bewusst positiv und wohlwollend zu verhalten. In unserem Versuchslabor konnten die Probanden bestenfalls nicht betrügen. Im wirklichen Leben aber haben Menschen in vielen Situationen die Möglichkeit, sich nicht nur neutral, sondern großzügig und hochherzig zu verhalten. Mit diesem zusätzlichen Aspekt im Hinterkopf suchten wir nun nach Situationen, in denen wir sowohl die negativen wie die positiven Seiten der menschlichen Natur testen konnten.

 

Stellen Sie sich einen großen Bauernmarkt vor, der sich eine ganze Straße entlangzieht. Der Markt befindet sich im Herzen von Be’er Scheva, einer Stadt im Süden Israels. Es ist ein heißer Tag, und vor den Läden, die die Straße säumen, haben Hunderte von Händlern ihre Waren ausgebreitet. Es riecht nach frischen Kräutern und sauer eingelegtem Gemüse, nach frisch gebackenem Brot und reifen Erdbeeren, die Augen wandern über Teller mit Oliven und Käse. Vollmundig preisen die Händler ihre Waren an: »Rak ha-jom!« (nur heute), »matok!« (süß), »bezol!« (billig).

Am Anfang des Marktes trennten sich Eynav und Tali, jede ging in eine andere Richtung, wobei sich Eynav mit einem weißen Blindenstock orientierte. Beide sprachen mehrere Gemüsehändler an und baten, ihnen zwei Kilo Tomaten einzupacken, während sie noch etwas anderes besorgen gingen. Ungefähr zehn Minuten später kehrten sie wieder zu dem jeweiligen Stand zurück, nahmen ihre Tomaten in Empfang, bezahlten und gingen weiter. Die Tomaten brachten sie zu einem Händler am anderen Ende des Markts, der zugesagt hatte, die Qualität der Früchte zu prüfen, die ihnen der jeweilige Händler eingepackt hatte. Wir konnten also einen direkten Vergleich ziehen, was man Eynav beziehungsweise Tali verkauft hatte, welche der beiden die besseren Tomaten, welche die schlechteren bekommen hatte.

Wurde Eynav übervorteilt? Bedenken Sie, dass es für den Händler aus rein rationaler Sicht durchaus vernünftig gewesen wäre, für sie die unansehnlichsten Tomaten auszuwählen. Schließlich hatte sie gar nichts davon, wenn sie schön aussahen. Ein Ökonom alter Schule, etwa von der University of Chicago, würde vielleicht sogar argumentieren, dass im Sinne einer Maximierung des Nutzens für alle Beteiligten (den Verkäufer, Eynav und die anderen Kunden) der Händler ihr gerade die unansehnlichsten Tomaten hätte verkaufen und die schönen für andere Kunden hätte zurückbehalten sollen, die sich an deren Äußerem auch erfreuen können. Wie sich herausstellte, waren die für Eynav ausgewählten Tomaten optisch keineswegs schlechter, vielmehr sogar schöner als diejenigen, die Tali bekam. Auf Kosten ihres Geschäfts hatten sich die Händler besondere Mühe gegeben, für eine blinde Kundin die bessere Qualität auszuwählen.

 

Mit diesem optimistisch stimmenden Ergebnis wandten wir uns einem anderen Berufsstand zu, dem häufig nicht allzu großes Vertrauen entgegengebracht wird: den Taxifahrern. In der Taxiwelt gibt es einen beliebten Trick, »Langstrecke fahren« genannt, die offizielle Bezeichnung dafür, ortsunkundige Personen auf Umwegen zu ihrem Ziel zu bringen, was den Fahrpreis manchmal gehörig in die Höhe treibt. Beispielsweise zeigte eine Studie, dass in Las Vegas viele Taxifahrer vom McCarran International Airport zum Strip durch einen Tunnel auf die Interstate 215 fuhren, so dass sich für eine Fahrt von gut drei Kilometern ein Fahrpreis von 92 Dollar ergab.[2]

Angesichts des zweifelhaften Rufs, den Taxler genießen, fragt man sich unweigerlich, ob sie prinzipiell betrügen oder ob sie eher diejenigen Fahrgäste betrügen, die ihnen nicht auf die Schliche kommen können. Für unser nächstes Experiment fuhren Eynav und Tali zwanzig Mal mit dem Taxi vom Bahnhof Be’er Scheva zur Ben-Gurion-Universität des Negev. In der Regel läuft es auf dieser speziellen Strecke so: Wenn Sie den Fahrer bitten, den Taxameter einzuschalten, beläuft sich der Fahrpreis auf rund 25 neue Schekel (NIS; ungefähr 7 Dollar). Ohne Taxameter ist ein Pauschalpreis von 20 NIS (rund 5,50 Dollar) üblich. Bei unserem Experiment baten Eynav und Tali grundsätzlich darum, den Taxameter einzuschalten. Manchmal wiesen die Fahrer ihre »unwissenden« Fahrgäste darauf hin, dass es ohne Taxameter billiger wäre; dennoch bestanden beide darauf, ihn einzuschalten. Am Ende der Fahrt fragten Eynav und Tali den Fahrer jeweils, wie viel sie ihm schuldeten, bezahlten, stiegen aus und fuhren ein paar Minuten später mit einem anderen Taxi wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück.

Beim Vergleich der Fahrpreise stellten wir fest, dass Eynav weniger bezahlt hatte als Tali, obwohl sie beide darauf bestanden hatten, nach Taxameter zu zahlen. Wie konnte das sein? Eine mögliche Erklärung war, dass die Fahrer mit Eynav die kürzeste und daher günstigste Route genommen hatten und mit Tali länger unterwegs gewesen waren. In diesem Fall hätten die Fahrer zwar Eynav nicht, Tali aber immerhin in einem gewissen Maß betrogen. Doch Eynav wusste etwas anderes zu berichten. »Ich hörte, wie die Fahrer den Taxameter einschalteten, als ich sie darum bat«, erzählte sie uns, »aber später, bevor wir am Ziel angelangt waren, stellten viele den Taxameter wieder ab, so dass sich der Fahrpreis auf ungefähr 20 NIS belief.« »Bei mir haben sie das nicht gemacht«, sagte Tali. »Keiner hat den Taxameter abgestellt, und ich habe am Ende immer um die 25 NIS bezahlt.«

An diesem Ergebnis zeigen sich zwei wichtige Aspekte. Zum einen liegt es auf der Hand, dass die Taxifahrer keine Kosten-Nutzen-Analyse anstellten, um ihren Verdienst zu optimieren. Hätten sie es getan, dann hätten sie Eynav betrogen und behauptet, der Taxameter zeige mehr an, als in Wirklichkeit der Fall war, oder sie wären mit ihr ein wenig in der Stadt herumgefahren. Zum anderen taten die Taxifahrer mehr, als nur nicht zu betrügen; sie berücksichtigten Eynavs Behinderung und opferten einen Teil ihres Einkommens zu ihren Gunsten.

Schwindeln und Schummeln