Denn du wirst dich erinnern - Mitra Gaast - E-Book

Denn du wirst dich erinnern E-Book

Mitra Gaast

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Beschreibung

Heddy, eine alleinlebende Klavierlehrerin in Berlin, wird von ihrer Freundin Pia ermutigt, nach Jahrzehnten in ihre Heimat Iran zu fliegen. In Teheran folgt sie ihren Erinnerungen an die Sommer ihrer Kindheit und an ihre Jugendliebe – einen Studenten, der das Land verlassen musste, als im November 1979 die amerikanische Botschaft in Teheran besetzt wurde. Das Schicksal wollte nicht, dass Heddys Briefe an ihren Freund ihre Bestimmung erreichten, doch dasselbe Schicksal bringt sie Jahrzehnte später an einen Punkt, von dem aus die Geschichte vielleicht weitergehen könnte …

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Seitenzahl: 452

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Inhaltsverzeichnis
I
I.1
I.2
II
II.1
II.2
II.3
II.4
II.5
II.6
II.7
II.8
II.9
III
III.1
III.2
Zeittafel

Mitra Gaast

Denn du wirst dich erinnern

Wiederkehr nach Teheran

Roman

 CIP - Titelaufnahme in die Deutsche Nationalbibliothek
Gaast, Mitra
Denn du wirst dich erinnern
Wiederkehr nach Teheran
ISBN: 978-3-96202-605-9
© 2017 by Sujet Verlag
Umschlaggestaltung: Ina Dautier
Satz und Layout: Ines Glindemann, Linda Knief
Lektorat: Tonja Clemente, Gerrit Wustmann
Korrektorat: Ines Glindemann, Linda Knief, Myrte Steinbock
Druckvorstufen: Sujet Verlag, Bremen
Printed in Europe
1. Auflage: Sujet Verlag 2017
www.sujet-verlag.de

Es genügt nicht zu leben. Man braucht ein Schicksal … 

Albert Camus – Der Mensch in der Revolte 

I.1

Vielleicht würde alles so weitergehen.

Jedenfalls eine Zeit lang. Ich würde jetzt wie an vielen anderen Tagen in diesem Zug sitzen, auf der langen Fahrt quer durch Berlin, und während üppig grüne Baumkronen, abgebrochene Kirchtürme, weites Brachland und gigantische Baustellen an mir vorbeiziehen, würde ich langsam, sehr langsam, aus allem, was hinter mir liegt, in meine eigene Welt zurückgleiten.

Ich würde etwa überlegen, ob ich dem Geschwisterpaar, das man mir für das nächste Halbjahr anvertrauen wird, ein Klavierstück für vier Hände aufgeben könnte. Meinem kleinen Neunjährigen sollte ich nach den Ferien vermutlich ein paar zusätzliche Übungen für die linke Hand aussuchen. Und ich würde an meine Lieblingsschülerin denken, die stille Elfjährige, die blass vor Aufregung aus weit geöffneten Augen ihre eigenen Hände auf den Tasten verfolgt und überwältigt selbst von der einfachsten Melodie der Welt dabei fast das Atmen vergisst. Ich werde ihr wohl demnächst die erste Sonate ihres Lebens auftragen. Schubert würde ihr entsprechen. Uns beiden entsprechen. Ich werde neben meiner Schülerin sitzen, an meine eigenen ersten Klavierstunden in Teheran denken, und während die Kleine mit ihrem Spiel an mein Herz rührt, werde ich bis auf die Kommentare und Korrekturen, die mir leise und wie von allein über die Lippen gehen, sehr ruhig sein. Fast glücklich.

So könnte alles weitergehen.

Denn ich selbst bin leer genug, um hin und wieder an Wochenenden oder auch morgens, wenn ich einmal keinen Unterricht habe, mit Gedanken an faule Kompromisse aufzuwachen – und mich befremdet von meinem eigenen Spiegelbild abzuwenden. An solchen Tagen steckt manche Nachricht, abgehört, gelesen oder auch nicht, in meiner Mailbox, und ich muss sogar befürchten, dass ich auf die eine oder andere eine ermunternde Antwort senden könnte. 

Und so würde alles weitergehen. Doch heute ...

Dieser Freitag war schon einige Stunden im Gange, als ich die knarrende Holztreppe drei Stockwerke hinunter zu meinem Briefkasten ging. Unter viel Werbung für Lebensmittel und Traumurlaub klaubte ich einen grauen Umschlag. Er war vom Gericht. Ein unbegreifliches Gefühl begann schon beim Hinaufgehen im Treppenhaus in mir zu arbeiten, und das bestimmt nicht nur, weil ich den Inhalt des Umschlags erahnte.

Hatte ich etwa erwartet, dass mein Mann nach bald vier Jahren zu mir zurückkommt, als wäre er bloß auf einer Dienstreise gewesen? Er hat doch schon damals mit aufrichtigem Bedauern, dafür aber wissenschaftlich begründet, festgestellt, dass unsere Ehe ihrem Grund nach nicht von der Art sei, dass sie die Kinderlosigkeit überstehe. Ich musste ihm Recht geben. Warum also fing ich mitten im Sommer an zu frösteln, als ich diesen Umschlag, die gerichtliche Mitteilung des Scheidungstermins, in den Händen hielt? Wollte ich diese Ehe, meine zweite, als Souvenir aus einem abgelaufenen Lebensabschnitt bewahren, in dem ich noch an den guten Ausgang der Dinge glaubte?

Ich goss mir ein großes Glas Wasser ein, zündete mir die erste Zigarette des Tages an und sah eine ganze Weile von meinem Balkon aus auf die Spitzen der Charlottenburger Kastanien. Dann schaltete ich meinen Computer ein.

In meinem Posteingang waren E-Mails mit Informationen von der Musikschule: Umbauarbeiten, Instrumentenanschaffungen, Neueinstellungen, wunderbar. Zwei Nachrichten waren von meinem Rechtsanwalt, ich beschloss sie später zu lesen, und eine war … ach ja.

Eine neue Bekanntschaft aus einem charmanten Abend ließ wissen, dass wir uns, weil etwas Unvorhergesehenes geschehen sei, statt wie verabredet heute Abend, erst morgen treffen würden, am gleichen Ort, zur gleichen Zeit und so weiter und so weiter. Der Gedanke, den meine Finger auf der Tastatur so rasch in eine vollendete Tatsache verwandelten, hatte wohl auf seine Stunde gewartet. Ich tippte zurück, dass ich wegen Unpässlichkeit vom Treffen leider ganz absehen muss. Ich bat um Verständnis, sendete durchaus liebe Grüße und schaltete den Computer aus. Fast aus dem gleichen Impuls heraus rief ich Pia an.

Ich weiß nicht, wie ich geklungen habe.

„Ist etwas passiert, Heddy?“, wollte sie wissen.

Obwohl ich das Gefühl hatte, dass etwas im Begriff war zu passieren, stammelte ich: 

„Nein, nein ... Nein, ich meine nur ..., uns einfach treffen …, wenn du auch gern magst!“

Pia hat noch nie länger als ein paar Sekunden gebraucht, um die Lage zu erfassen.

„Heute“, sagte sie, „warte, warte einen Moment. Ja, wir können uns schon um drei Uhr sehen.“

„In Kreuzberg?“, fragte ich. „Da, wo wir immer ...?“

„Ja klar“, sagte sie eilig, „wie immer!“

Nicht einmal die fragwürdige Erleichterung will sich heute einstellen, die ich sonst oft empfinde, wenn ich am Bahnhof Friedrichstraße stehe. Die unentwegte allgemeine Bewegung kann mir eine Art Gewissheit einflößen: Es geht weiter! Es geht immer weiter! Es gibt alles, nur keine Ruhe, außer man findet seine Ruhe in der Veränderung, richtet sich ein in der Bewegung. Es gehört auch dazu, dass man seine Richtung immer wechseln muss. Man hält kurz inne, schließt ein paar Sekunden die Augen, öffnet sie wieder und geht weiter. Und zwar in eine neue Richtung. Das ist alles. Am einstigen Tor zu aller westlichen Freiheit fällt es leicht, in dieser Möglichkeit, in der Fülle der Möglichkeiten, etwas Überlegenes, für einige Momente sogar Erhebendes zu sehen. Es ist wie Schweben. Man wendet sich in aller Leichtigkeit, wie der Wind, der sich dreht, lässt sich tragen von einem unsichtbaren Strom. Und es geht weiß Gott längst nicht mehr darum, eine Richtung zu wählen, sondern nur noch darum, sich zu halten. 

Halten!

Sich in der Haltlosigkeit halten!

Mit Brüchen zu leben, habe ich gelernt. Mit Fortgehen bin ich vertraut. Mit oder ohne Abschied muss man schnell sein Bündel mit den leeren Versprechen, die das Leben einem gemacht hat, greifen und aufbrechen. Gehen. Doch heute bleibe ich wie narkotisiert im Gedränge und Lärm stehen, mit meinem Espresso to go in der Hand, und lasse mich von vorbeigehenden Menschen hierhin und dorthin schieben. Dutzende Züge sind schon eingefahren, die ich hätte nehmen können. Ich schaue zu, wie sie herangleiten, quietschend anhalten, sich öffnen, wie ein Pulk von Menschen aus ihnen herausquillt oder sich in sie hineindrängt, und ich horche vor allem gebannt auf das lange und eindringliche Signal der Türen, die sich jeden Augenblick schließen wollen, bevor der Zug abfährt. Ich stelle fest, dass gerade dieses Signal mich dazu bringt, mich vorerst nicht vom Fleck zu rühren, als bestünde ich aus Teilen, die nur lose zusammenhängen und auseinanderfallen könnten, wenn ich in einen dieser Züge einzusteigen versuchte. Bei jedem Schritt würden sich Teile von mir lösen, unterwegs abfallen, gegen Hindernisse prallen oder auf das Gleis herunterrollen. Ich stelle mir vor, dass ich dann im fahrenden Zug stehen, mich umdrehen und zurückschauen würde, um einen Rest noch am Bahnsteig zu sehen, den Rest von mir, den Stumpf meiner Seele, die sich in den Boden krallt, bleiben will.

Mir ist speiübel.

Vor mir schließen die Türen der Bahn und als ich die zwei roten, sich im Tunnel entfernenden Lichter sehe, schütte ich reflexartig den kalt gewordenen Espresso auf die Gleise und laufe los. So schnell es geht im Gedränge. Ich stoße mit Menschen zusammen, werfe meinen zerdrückten Pappbecher achtlos auf einen Haufen Müll, der aus einem Mülleimer quillt, und fühle mich erst etwas besser, als ich draußen bin, im Licht.

Bis drei Uhr ist noch Zeit. Vielleicht ist es gar nicht schlecht, von hier aus zu Fuß nach Kreuzberg zu gehen. Vielleicht finde ich mich unterwegs. Zumindest dieses eine seit Langem gleichgebliebene Bild, das ich von mir selbst habe:

Weiblich, von mittlerer Statur, dunkelbraune Haare, schulterlang, auf denen das Licht bricht und ein paar silbergraue Strähnen zum Vorschein bringt. Man schätzt sie um Jahre jünger als Anfang vierzig ein. Ihre dunklen Augen verengt sie in ernster Miene und schreitet, als hätte sie ein Ziel. Gerade geht sie in Berlin, ein Passant unter Passanten auf der Friedrichstraße, in einem Augustlicht, das die Stadt fast in eine andere verwandelt, als sie im Winter ist. Es ist ein Zufall, dass sie in Berlin ist, und das hat keine weitere Bedeutung. Solange sie noch adrett angezogen ist und ihren aufrechten Gang behält, wird ihr niemand ihre Obdachlosigkeit ansehen. Denn sie ist tief in ihr begründet, sie trägt sie in ihrem Herzen.

Da steht sie, meine Freundin, vor der Gedenkbibliothek. Ich entdecke sie lange, bevor sie mich sieht. Unter den vielen Menschen, die um sie herumgehen, stehen oder ihre Fahrräder schieben, erkenne ich sie an den glatten blonden Haaren, die ihren ganzen Rücken bedecken. Sie steht da, anmutig, wie ein heller Fleck, etwas größer gewachsen als ich, sieht erwartungsvoll in die Ferne, als würde sie am Horizont ein Ufer sehen, wohin sie sich sehnt. Sie hat ein weißes Baumwollkleid an, das von ihren schmalen Schultern bis auf ihre Knöchel herabhängt, ohne Ärmel. Der Rock ist eng und aus vielen gleichförmigen Stofffetzen, die sich wie Schuppen überlappen; an den Seiten hängen glänzende Fransen, und der Saum ist mit bauschiger Spitze besetzt. Wenn eine Brise über den Stoff fährt, heben sich hier und da ein paar Fetzen, flattern kurz in der Luft, legen sich wieder. Die Fransen wehen alle in eine Richtung. Ich muss an ein Meeresgeschöpf denken, die kleine Meerjungfrau etwa, irgendwie hier gestrandet. Sie dreht sich um, erblickt mich und lächelt. Sie trägt eine elegante große Sonnenbrille. Ihr Arm streckt sich schon über die Entfernung in meine Richtung aus. Wir umarmen uns, ihr Körper ist sehr warm.

„Wie schön, dass du mich angerufen hast! Ich hatte gar nicht damit gerechnet, an diesem Wochenende etwas von dir zu hören.“

Ich bleibe stumm. Sie fährt fort:

„Ich dachte, du würdest heute Besuch bekommen.“

Ich schüttle den Kopf.

„Aber … war das Treffen nicht heute?“

„Doch, nein, das heißt, es sollte erst wegen etwas Unvorhergesehenem auf morgen verschoben werden, dann habe ich abgesagt.“

Über dem Rand ihrer Sonnenbrille ziehen sich Pias Augenbrauen zusammen.

„War das heute Morgen?“

„Ja.“

Sie nickt nachdenklich. Dann holt sie tief Luft, hakt mich unter und treibt mich sachte an, neben ihr zu gehen.

Wir müssen uns nicht erst absprechen, wo wir spazieren gehen wollen. Gleich nach der Brachvogelstraße gehen wir den Fußweg zum Landwehrkanal hinunter. 

„Ich hatte Angst, nicht pünktlich zu sein“, sagt sie. „Es wurde alles etwas hektisch, weil ich plötzlich schnell zu einem Paar fahren musste, um zwei Opernkarten loszuwerden.“

„Loszuwerden?“

„Ja, sie waren überflüssig geworden. Ich habe sie weiterverkauft, weil sie sehr teuer waren.“

Während sie mir von dem Paar erzählt, das ihr zwei Karten für Eugen Onegin in ein, zwei Wochen abgekauft hat, entsinne ich mich, mit welchem Enthusiasmus Pia vor einiger Zeit für diese Oper schwärmte, und dass sie wie ein aufgeregtes Kind rote Wangen bekam, als sie mir sagte: „Diesmal ist Frank da! Endlich! Ich muss uns unbedingt Karten besorgen.“

Ich gehe neben ihr her, ihre Haare berühren meinen Oberarm, und ich kann momentan offenbar nicht klar genug denken, um mir diese Sache zu erklären. Ich weiß nur, dass Pia sich niemals traut, ohne Frank, ihren Gefährten seit der Studentenzeit, in die Oper zu gehen. Das hat sie mir vor Jahren einmal erklärt. Denn in der Oper verfällt sie gelegentlich in Gemütsverfassungen, in denen sie in der Öffentlichkeit lieber nicht gesehen werden möchte. Schon gar nicht allein. Auf meine vorsichtige Frage, ob sie sich vorstellen könnte, von mir begleitet zu werden, lächelte sie damals bedauernd und sagte: „Das ist lieb, Heddy, aber das wäre zu anstrengend für dich. Für uns beide. Ich lasse mich von der Musik manchmal sehr weit weg tragen. Ich kann regelrecht den Bezug zur Realität verlieren. Ich vergesse, wer ich bin und wo und wann mein Leben stattfindet und welche Gesetze dabei gelten, zum Beispiel, dass man nicht über eine befahrene Straße rennen darf. Wenn Frank dabei ist, klammere ich mich an ihn. Er stützt mich, hält mich irgendwie, und wir schaffen es mehr oder weniger ohne aufzufallen, nach Hause zu kommen. Glaub mir, er ist der einzige Mensch, der … ja … der mich in solchen Momenten wieder zur Besinnung bringen kann.“

Und ich hatte es damit bewenden lassen, verstanden, dass der Platz, den ihr Gefährte in ihrem Leben einnimmt, auch wenn sie ihn nicht mehr als zwei- oder dreimal im Jahr zu Gesicht bekommt, nicht von der Art ist, dass er physisch von einem anderen Menschen, auch nicht von mir, ersatzweise ausgefüllt werden könnte.

Bevor ich die Frage formulieren kann, woran die Planung für den Opernabend mit Frank gescheitert ist, merke ich, dass Pia schon beim nächsten Thema ist. Sie erzählt von der Übungsstunde, die sie heute Morgen außerplanmäßig mit zwei Schülerinnen gehalten hat. Von diesen zwei Siebzehnjährigen, ihren talentiertesten Schülern, erzählt sie mir oft. „Sie sind scheu wie zwei junge Rehe“, sagt sie, „und meiden den Sologesang vor Publikum. Nur im Chor sind sie bereit zu singen, ohne herauszuragen. Dabei können sie Höhen erreichen, Heddy, glaub mir! Die habe ich auch früher nicht erreicht, wirklich nicht! In meinen besten Zeiten nicht …“

Pias beste Zeiten! Ich habe mir von Kollegen, die Pia schon als Studentin kannten, sagen lassen, dass sie früher eine Stimme von seltener Reinheit gehabt hat. Wenn sie, Pia, vor einem Publikum gestanden und in einer Art Gottvertrauen die Welt beim Singen vergessen hat, sei sie, so hätte mancher gesagt, selbst Musik geworden! Niemand hätte je daran gezweifelt, dass aus ihr einmal eine erstrangige Opernsängerin werden würde. An nichts habe es ihr gefehlt, weder an Talent noch an Fleiß oder Schulung. Mit Anfang dreißig hatte sie etliche Stufen einer hohen Leiter schon genommen, aber dann ist etwas passiert: Frank war weg. Und es geschah eine Art Unfall. Pia hat noch nie wirklich davon erzählt, jedenfalls nicht als eine Geschichte mit einem Anfang und einem Ende. Es ist immer nur etwas in ihren Worten aufgeblitzt, das von schwierigen Tagen zeugt. Damals hat sie das Rauchen angefangen. Es muss ein Winter gewesen sein, so kalt, dass auch Nachtschwärmer eher nach Hause wollten. Pia aber ist allein durch Straßen gegangen, von einem Café ins nächste, dann in späte Bars, dann in Lokale, die gar nicht schließen, die ganze Nacht über an ihren Tresen einsame Menschen in Traurigkeit vereinen. In trübem Schweigen oder in betäubendem Lärm muss Pia allein gesessen oder gestanden haben, immer wieder geflüchtet sein vor Redseligkeiten und unerbetenem Trost. Sie ist ausgewichen in dunkle Straßen, über Schneematsch gestapft in ihren Stiefeln, bis die müden Beine sie endlich nach Haus drängten. Einmal, in einer dieser Nächte, da ging sie auf vereistem Bürgersteig, kramte in ihren Taschen nach Zigaretten. Sie hatte keine mehr. Als endlich ein Passant des Weges kam, fragte sie ihn gleich nach Zigaretten. Der Mann zögerte, gab ihr dann schnell seine eigene brennende, selbstgedrehte Zigarette in die Hand, und ging. Sie stutzte, ging aber auch weiter, zitternd vor Kälte, und zog und zog dabei achtlos an der höllisch starken Zigarette. Plötzlich muss sie etwas eingeatmet haben, ein Stück Glut, Tabak, oder war es Asche? Ihr blieb die Luft weg. Es war, als hätte ihr jemand ein Schwert in die Brust versenkt. Sie erstarrte und konnte nur langsam, an Mauern gestützt und vor Schmerz gebeugt, eine nahe Tankstelle erreichen und am Nachtschalter um Wasser bitten, als wäre ein Feuer in ihrer Brust zu löschen.

Am nächsten Morgen und an allen folgenden Tagen auch hatte kein Arzt wirklich eine Antwort, was verletzt sein könnte oder wo. Kein Bild, keine Sonde konnte je klären, was es war. Sie haben ihr Medizin gegeben, damit sie schlafen konnte, und den Rat: „Zeit! Geben Sie sich Zeit! Sie heilt jede Wunde!“

Nach Monaten konnte sie wieder normal atmen. Aber ein Schmerz ist geblieben, eine kleine wunde Stelle, irgendwo in der Gegend der Brust. Es ist irgendetwas mit den Bronchien, der Luftröhre oder der Lunge, oder es ist das Herz. Manchmal macht sich der Schmerz stärker bemerkbar, stärker als sonst, etwa im Winter, wenn ihr kalt ist, oder wenn sie Kummer hat, immer nach Weihnachten, wenn Frank wieder abreist, oder wenn sie versucht, wie früher Arien zu singen. Aber es ist alles wieder gut, findet sie selbst, Frank ist ja wieder zu ihr zurückgekommen, und sie kann das eine und andere Lied noch singen. Es ist alles wieder gut. Das meint Pia ernst, nur mir krampft es das Herz zusammen, wenn ich mir vorstelle, wie die beiden aneinandergeschmiegt in die Oper gehen und himmlischen Stimmen lauschen, deren eine genauso gut Pias Stimme hätte sein können.

Mit dieser einst himmlischen Stimme erzählt sie mir gerade, während wir über die Baerwaldbrücke gehen, von recht irdischen Dingen:

„Ich habe das Auto direkt für vier Wochen gemietet. Frank liebt ja seine Unabhängigkeit. Ich habe überlegt, da ich das Auto jetzt schon habe, vorab ein paar Dinge ins Ferienhaus zu bringen. Fahrräder, Bücher, Musik, ein paar gute Weine …“

Ich höre Pia zu, vielmehr dem Klang ihrer Stimme, in der ich immer eine Spur Heiserkeit wahrnehme. Auch dieses Jahr hat sie also für einen Teil der Zeit von Franks Aufenthalt in Deutschland ein Ferienhaus am See gemietet. Ich sehe sie vor mir, wie sie in einem Haus herumgeht, Stapel von Büchern auf Tische verteilt, Zweige in eine Vase stellt, wie sie ein Fenster aufstößt und auf einen See schaut.

Meine Freundin ist ein Wesen, das mich an einen frühen Sommermorgen auf dem Meer denken lässt. Die Welt ist geteilt zwischen Himmel und Meer, alles still in sanftem Licht. Die Sonne steigt langsam über der Grenze zwischen Wasser und Luft, und genau dort, in dem weiß diffusen Streifen Dunst zwischen den Elementen, wo das eine in das andere übergeht, da ist meine Freundin zu Haus. Sie ist ein Wesen zwischen Mensch und Traum. Früher hat sie schön gesungen. Jetzt, wo sie die Stimme nicht mehr hat, nicht mehr wie früher, vollbringt sie gute Taten, schenkt Glück, wo sie kann. „Das ist ja unglaublich, was du alles für Frank tust“, habe ich ihr einmal vor langer Zeit gesagt. Sie schaute mich überrascht an, sann und antwortete: „Na ohne ihn … Hör mal! Ohne Frank hätte ich gar keine Seele!“

Wenn Pia mir von Franks Forschungen und Expeditionen rund um den Globus erzählt, spricht sie immer ernst und leise, als würde sie sich vor Augen führen, was sie schon einmal gesehen hätte. Mit Frank zusammen. Als wäre sie mit ihm um die Sahara gefahren, um die Dünung im Sand zu studieren, oder über den Kilimandscharo geflogen, im Hubschrauber und mit Rechengerät, um die Bergkämme zu vermessen. „Das ist nun einmal sein Beruf“, sagt Pia. „Und es ist wirklich interessant. Er erforscht die inneren und äußeren Prozesse, die die Oberfläche der Erde formen. Was macht die Gestalt des Planeten aus? Das ist die Frage!“ Und dafür verausgabt sich Frank monate- und jahrelang fern von Zuhause, in der Wildnis, fast wie ein Soldat. 

Ich weiß nicht mehr, wie lange Frank schon in Amerikas Süden forscht, Pia jedenfalls verfolgt seit Langem spektakuläre Talstrukturen in Chile und die Bodenbeschaffenheit in Bolivien. Über diese Dinge spricht sie so, als würde sie jedes Wort auskosten wie ein Feinschmecker sein Leibgericht. Denn die meisten davon sind Franks Worte, das weiß ich, sie bringen ihn ihr nahe, vertreiben den Schatten der Melancholie, der sich für immer über ihre Stirn gelegt hat, das Heimweh nach ihrem Frank, dem Geomorphologen, der den Zustand der steten Sehnsucht für sich und seine Geliebte zur Form des Lebens gewählt hat, und sich und ihr seit Jahren nur eine sehr kleine Ration Zweisamkeit gönnt: zu den Festen und über ein paar sommerliche Wochen in Berlin.

„Er liebt den Sommer in Berlin, weißt du?“, nehme ich wieder Pias Stimme wahr, sehe sie an. 

Ihre Lippen zittern, ihre Brauen ziehen sich mal hoch, mal zusammen, und doch kann ich den Zügen ihres Gesichts nicht viel ablesen. Der Landwehrkanal liegt zwar in der Sonne, die Menschen auf den flachen Sightseeing-Booten tragen weiße Hüte und Sonnenbrillen, aber hier am Ufer unter den Bäumen ist es doch schattig. Ich frage mich, ob Pia hinter ihrer dunklen Brille die Farben des Sommers überhaupt sieht.

„Es ist vielleicht, weil wir hier einmal sehr jung waren“, sagt sie weiter. „Hier werden wir wieder wie Studenten, schieben den Schlaf hinaus, weil die Nächte so schön sind und legen uns schlafen, wann wir wollen, wir kennen die Cafés, wo man auch nachmittags Frühstück bekommt, reden manchmal ganze Tage lang und manchmal kein Wort. Wir laufen mit Butterbroten und Wasser im Rucksack los und legen uns auf die Wiese, wo es schön ist. So wie die Leute da. Schau mal!“

Pia zeigt mit ausgestrecktem Arm auf das gegenüberliegende Ufer. Da sonnen sich viele Menschen auf dem Rasen mit hochgekrempelten Hosenbeinen, freien Oberkörpern oder im Bikini. Pia greift meine Hand, zieht mich an den Rand der Böschung und schiebt ein paar Zweige zur Seite, damit wir das andere Ufer besser sehen können. Ich bin einen Augenblick verunsichert, weil sie meine Hand sehr fest drückt. Etwas Krampfartiges legt sich um ihre Schultern. Aber dann löst es sich. Sie atmet durch, lässt meine Hand wieder los und wir gehen weiter. Sie schaut nur noch auf den vom Licht gescheckten Boden unter unseren Füßen und fährt mit ruhiger Stimme fort:

„Und im Spreewald erst! Da werden wir ganz Kinder. Wir halten uns bei der Hand und singen, singen manchmal sogar Kinderlieder. Wir verlaufen uns oft, weil wir nur auf Blumen und Bäume schauen und die Wegweiser übersehen. Aber Frank hat ein gutes Gespür für den Raum. Wir finden immer zurück. Wir vergessen die Sorgen und erzählen einander vom Alltag. Ich von meinen Schülerchören und er von Landschaften.“

Pia lächelt jetzt, schüttelt dabei, ohne den Blick vom Boden zu heben, langsam den Kopf. Ihr Haar zu beiden Seiten ihres Gesichtes fällt golden glatt hinab, gerät ins Wogen.

Ich lasse meinen Blick umherschweifen: Leben in vollem Gange. Irgendwo spielen Kinder, vor Glück kreischend. Auf der Admiralbrücke, die in unserer Sichtweite immer näher rückt, lehnen Menschen am Geländer und essen Eis. Eine Entenfamilie beendet den Mittagsschlaf am grünen Hang und begibt sich watschend in den Kanal. Ein weißes Schiff fährt vorbei. Auf Deck stehen viele Leute in einer Reihe an der Reling, beschirmen ihre Augen mit der flachen Hand, schauen herüber zum Ufer, wo wir stehen. Und ich bin sekundenlang anderswo, fern von allem, und weiß nicht wo, bin aber heilfroh, dass Pia bei mir ist. Gerade beschreibt sie mir das Ferienhaus am See, das sie dieses Jahr ausgesucht hat. Sie gestikuliert mit langsamen Bewegungen in der Luft. Ihre Stimme hat einmal wieder etwas von einer Märchenerzählerin, denke ich, nur dass sie das Märchen auf ihre Art wahr gemacht hat. Es ist immer ein und dieselbe Geschichte in tausend Farben und Details, und ich für meinen Teil werde nicht müde, sie wieder und wieder hinter ihren Worten, in den Nuancen ihrer Stimme, zu suchen. Ich will sie immerzu hören, diese Geschichte, die mit Pia zu tun hat und mit Frank und mit einer Unschuld, die nicht das Gegenteil von der Erbsünde ist, sondern die Reinheit des Gefühls, die Abwesenheit von Kalkül und Verrat, etwas, das es nur bei Kindern gibt, und bei Geläuterten. 

„Ach, entschuldige! Ich langweile dich mit dem Ferienhaus“, höre ich Pia sagen.

„Nein, nein. Du langweilst mich nicht. Ich denke nur …“ Den Satz bringe ich nicht zu Ende.

„Was denkst du?“

„Ich denke an … Wald, an … Kinder, und frage mich, wann ich zuletzt …, wann ich ...“

„Na, wann du was?“

„Wann ich so im Wald gewesen bin …, in dieser Stimmung.“

Pia sagt eine Weile nichts, schreitet einfach weiter und schaut mich an, dann sagt sie:

„Und? Wann war das?“

„Ich weiß nicht!“

„Überlege doch!“

„Ich weiß es nicht.“

„Denk doch nach!“

Gut möglich, dass ich Pia unter anderem auch deswegen liebe: Immer wenn ich sie sehe, habe ich das Gefühl, ein verlorenes Stück von mir selbst wiederzufinden.

„Es muss irgendwann in meiner Kindheit gewesen sein“, antworte ich.

Pias Brauen schnellen über der Brille hoch:

„In Iran?“

„Ja, in den Wäldern, am Kaspischen Meer.“

„Aber du bist doch in Teheran aufgewachsen!“

„Es gab doch auch Ferien! Wir hatten im Sommer monatelang Ferien. Und die verbrachten wir immer am Kaspischen Meer.“

„Erzähl!“, sagt Pia und ihr Arm schmiegt sich mit schwesterlicher Zärtlichkeit um meinen Rücken.

„Wir sind immer an den gleichen Ort gefahren“, erwidere ich, „in ein Dorf in der Nähe der Stadt Ramsar, weil es dort sehr schöne Ferienhäuser gab, die meinem Vater von einer Ärztevereinigung vermittelt wurden. Sie lagen am Hang von Bergen, die über und über von Wald bedeckt waren. Wir blieben wochenlang.“

„Du und deine Eltern?“

„Mein Vater musste meistens wegen seiner Arbeit früher nach Teheran zurück. Meine Mutter und ich blieben. Oft kamen meine Tante, die Schwester meines Vaters, und ihr Mann hinzu. Selten war auch ihr Sohn da, mein Cousin. Er war aber schon groß und wollte Ingenieur werden. Ich spielte stundenlang allein am Strand, oder ich lief im Wald herum, frühmorgens, wenn die Bäcker die ersten Brotfladen in ihre Öfen schoben, oder über Mittag, wenn die Erwachsenen sich schlafen legten. Im Wald war es kühl, und es gab jede Menge zu entdecken: Insekten, Früchte, faszinierende Vogelgesänge. Ich glaube, dort in den Wäldern habe ich zum ersten Mal Grün von Grün zu unterscheiden gelernt, je nach Baum, je nach Tag, je nach Stunde. Und ich bin dort wohl auch zum ersten Mal verzaubert gewesen vom Licht. Ich legte mich auf den Boden, wo ein Lichtstrahl durch das Laub fiel, und lauschte dem Summen der Insekten. Oft schlief ich darüber ein, wachte dann von irgendetwas auf, vom Zwitschern der Vögel oder von einem Hauch Luft oder auch vom …“

An dieser Stelle ziehe ich es vor, zu unterbrechen, einfach aufzuhören. Es ist ein Rückzug vor etwas, das aus dem Schweigen oder auch dem Vergessen nicht auftauchen will. Ich mache kehrt vor einer Erinnerung und schaue lieber weg, auf die Oberfläche des Wassers im Kanal, die blaugrünen, blitzenden Striche, die Fliegenschwärme.

„Wovon?“ Pias Stimme fährt in meine konfuse Wahrnehmung. „Wovon bist du aufgewacht?“

„Tja“, sage ich und mache eine hilflose Handbewegung in der Luft. „Von irgendwas! Von …“ Ich stammele, zucke mit den Achseln, um festzustellen, dass Pias Blick mich sogar durch ihre Sonnenbrille durchdringt. Also hole ich tief Luft und setze noch einmal an:

„Vom Licht, Pia! Von einem Fleck Licht, das einem kaum merklich auf den geschlossenen Lidern umherflackert, flüchtige Muster beschreibt, und erst langsam zu der Netzhaut dringt, zu den Nerven, und einen aus dem Schlaf holt!“

Pia sieht mich an, nickt. Jetzt hat sie meine Antwort angenommen, sagt:

„Wälder … am Kaspischen Meer! Wie schön!“

„Ja!“

„Warst du eigentlich allein dort? Ich meine, in den Wäldern?“

Für einen Moment wünschte ich, ich würde auch so eine dunkle Brille tragen wie sie. Aber Pia bekommt von mir immer die Wahrheit. Ich fasse mir ein Herz: 

„Ach! Es fanden sich immer Kinder im Dorf, die sich zusammenschlossen. Man traf sich einfach am Strand, im Park, oder meistens beim Süßwarenladen.“

Jetzt bin ich verlegen, lächele und bin dankbar, dass Pia ihr Gesicht nicht abwendet, mich nicht allein lässt mit dem, was sich knapp über meinem Magen auf einmal zusammenzieht, um sich im nächsten Moment wie ein wirres Geflecht über die ganze Brust auszubreiten, bis zum Hals hinauf. Ich drücke meinen Rücken durch, um Luft zu bekommen, und bevor mich der Mut ganz verlässt, bringe ich noch die Worte heraus:

„Natürlich gab es da auch einen Jungen, den ich sehr, sehr nett fand! Netter als alle anderen und jedes Jahr netter als im Jahr zuvor.“ Ich lächele und versuche, lustig zu klingen. „Und dieser Junge …, der kannte sich im Wald am besten aus, natürlich! Und natürlich war er in meinen Augen groß … und stark … und klug … und mutig … und schön …“ Während ich rede, spüre ich, wie das Lächeln in meinem Gesicht zum Krampf und aus meinen Wörtern ein Schluchzen wird.

Es ist ein grauenvolles Weinen. Lang, heftig, macht mich blind und bestimmt hässlich, fühlt sich an, als hätten Krallen nach meinem Herz gegriffen, um es vorerst nicht loszulassen. Und es pocht im Schädel. Ich habe lange nicht mehr so geweint, und ich weiß nicht, wie lange es dauert, aber als ich mich selbst nicht mehr höre und die Augen wieder aufmache, sehe ich Pia, die mir gegenübersteht und beide Hände auf meine Schultern gelegt hat. Sie bläst langsam mit einem pfeifenden Geräusch die Luft durch die Lippen, ihre Stirn kräuselt sich über der Nasenwurzel. Sie wischt mir ein paar nasse Haarsträhnen von den Wangen und holt aus ihrer Handtasche einen Packen Taschentücher hervor:

„Um Gottes Willen, Heddy! Was hast du? Ist es wegen dieses Besuches, der heute ausgefallen ist?“

Ich schnäuze mich, trockne mein Gesicht ausgiebig, knülle die Tücher in meiner Faust zusammen.

„Nein. Ich bin nur etwas durcheinander, weil mein Scheidungstermin jetzt endgültig feststeht.“

Pia zögert erst und fragt dann:

„Hast du das auch heute Morgen erfahren?“

„Ja.“

Pias Blick ruht auf mir. Ich wünschte, sie hätte diese Sonnenbrille nicht auf und ich könnte ihre Augen jetzt sehen. Wir beide sind oft und gern wortlos zusammen, lassen unsere Gedanken treiben, genießen die Stille. Aber das hier ist ein Schweigen, ein klares, langes Schweigen, obwohl ich Pia förmlich nachdenken höre.

„Ich verstehe das nicht“, sage ich schließlich. „Das ist doch alles nicht neu.“

Pia verzieht keine Miene, beobachtet, wie ich mir eine Zigarette anstecke, dann sagt sie statt einer Antwort:

„Wie blass du bist! Wetten, dass du heute nichts gegessen hast?“

Dann weist sie mir mit einer Hand die Richtung, woraufhin ich gehorche, wie ein Patient, den man im Garten des Krankenhauses spazieren führt.

Unter Pias gelegentlichem Sonnenbrillenblick esse ich mein Rührei artig auf, während sie vor ihrem Kaffee sitzt und die Passanten am Ufer beobachtet. Wir sind auf diesem alten Schiff, das zur Schifffahrt nicht mehr taugt und jetzt im Landwehrkanal festgezurrt als Bistro dient. Wenn Ausflugsboote vorbeifahren, schwanken wir kurz ein wenig und hören das dunkle Wasser unter uns gegen den Bootsrumpf schlagen. Pia beendet unser Schweigen:

„Willst du darüber nicht noch einmal nachdenken?“

„Worüber?“

„Über das Treffen, das du abgesagt hat. Da hat etwas noch gar nicht angefangen, und du …“

„Gar nichts wird anfangen“, unterbreche ich sie in einem Ton, als müsste ich sie beruhigen. „Gar nichts wird anfangen.“

„Woher willst du das wissen? Es ist doch eine Chance …“

„Nein, nein“, unterbreche ich sie wieder. „Es geht nicht um Chancen.“

Sie schüttelt fragend den Kopf. 

„Ich will nicht so weitermachen, Pia, verstehst du? Irgendetwas stimmt in diesem Leben nicht, grundsätzlich und schon lange nicht.“

Inzwischen haben immer mehr Gäste das Deck des Bootes bevölkert. Ein sehr junges Paar schlängelt sich mühsam zu dem Tisch neben uns durch. Als es sich endlich auf die enge Bank gequetscht hat, atmet das Mädchen glücklich auf, und der Junge vergräbt sein Gesicht in ihren Haaren. Ich wende meinen Blick ab von den beiden und sehe wieder Pia an. 

„Ich meine, warum macht man diesen Unfug überhaupt?“

„Unfug?“, fragt Pia, die ebenfalls das Pärchen wahrgenommen hat.

„Ja! Was bedeuten Chancen, wenn man so ... so …“ Ich muss nach Worten suchen.

„So desillusioniert ist?“ Pia wirft dieses Wort auf eine Weise in meinen Satz, dass ich darüber stolpere. Es ist das richtige Wort.

„Ja“, antworte ich etwas leiser.

„Meinst du, Menschen verlieben sich, weil sie Illusionen haben?“

Ich zucke mit den Achseln.

„Irgendetwas haben sie doch! Irgendeinen, meinetwegen, Grund, irgendein …“

„Irgendeine Hoffnung? Suchst du jetzt dieses Wort?“

„Ja, danke“, antworte ich und versuche, über mich selbst zu lachen.

Pia bleibt ernst und schaut mich mit geneigtem Kopf an.

„Heddy, bitte! Du hast noch so viel Leben vor dir! Und Hoffnung kannst du offensichtlich zumindest in anderen Menschen erwecken.“

„Ich möchte lieber nicht hören, worauf, Pia.“

„Heddy!“, ruft Pia, als wollte sie mich von weit her zurückholen. „Wie redest du? Glaubst du denn …“

„Ich glaube gar nichts, Pia, das ist es ja: Ich glaube rein gar nichts mehr.“

„Ist das denn wirklich wahr?“, fragt Pia, hebt ihr Kinn und stülpt ihre Unterlippe etwas vor, beobachtet mich eine Weile reg-los. „Wenn das wirklich so wäre“, sagt sie dann, „denkst du, wir beide wären noch so befreundet wie jetzt?“

Ich sehe Pia an, verwirrt, abwartend, als müsste sie mir die Antwort auf ihre Frage auch selbst geben, sehe dabei aber nur mich verdoppelt in ihrer Brille. Sie nimmt sie jetzt ab.

In Pias Augen liegt für mich immer der Himmel, ein hellblauer klarer Himmel, der selbst an trüben Tagen schön ist. Die bleiche dünne Haut rings darum, bis zu den Schläfen und den Wangen, ist so ehrlich, dass nicht die kleinste Regung oder Rötung verborgen bleiben kann. Umso erschrockener bin ich jetzt von dem Anblick ihrer rot verweinten, fast entzündeten Augen. Und bin ganz still. Sie sagt es selbst:

„Frank kommt doch nicht nächste Woche, sondern erst später im September.“

Eine Verzögerung also, denke ich bei mir, aber immerhin noch September.

„Und warum?“, frage ich vorsichtig.

„Auch etwas Unvorhergesehenes. Er muss deshalb länger in La Paz bleiben.“

„Aber danach bleibt er eine Weile bei dir, oder? Ich meine, das Ferienhaus, das Auto ...?“

„Ja, ... ja, das wird schon noch klappen.“

„Und Teneriffa? Wollte er mit dir dieses Jahr nicht nach Teneriffa fliegen, damit du auch mal aus Berlin herauskommst?“

Pia nickt unmerklich.

„Ja, ja, das wird auch klappen. Er hat inzwischen sogar noch einen Ausflug auf Lanzarote organisiert. Bis auf meinen Opernbesuch fällt gar nichts aus.“

„Hast du dir deshalb die Augen wund geheult? Entschuldige bitte, aber das muss ich einfach mal fragen.“

Wenn jetzt Wut in meiner Stimme ist, dann ist sie bestimmt nicht gegen Pia gerichtet.

Pia seufzt, schüttelt den Kopf.

„Es ist nur, weil ich schon so lange warte. Letztes Mal war er auch nur ein paar Tage hier, weißt du, und jetzt ...“

Ich nehme ihre Hand auf dem Tisch in meine Hand. Diese körperliche Berührung wirkt wie eine Brücke, die etwas von Pia auf mich überträgt, etwas, das ich mit Sanftmut in Verbindung bringe.

„Freu dich auf die Zeit, die du mit ihm haben wirst, hm?“, sage ich etwas ruhiger.

Pia lehnt sich zurück, wirft sich die Haare hinter die Schultern und schaut lange entlang dem Kanal. Dann lächelt sie mich an, nickt. Und hat leider Tränen in den Augen.

Pia fühlt sich nie einsam. Das weiß ich. Es ist aber die Vorstellung der Entfernung von Frank, die sie zerreißt. Wenn ein Treffen mit Frank wider Erwarten nicht zustande kommt, wird sie fast krank. Jedes Mal! Es ist nicht so, dass sie darin Übung bekommt, hat sie mir einmal gesagt, und dass sie in solchen Zeiten die Dimensionen des Raumes nicht erträgt. Die Stadt wird ihr zu klein, der Erdball zu groß und während die Wände in ihrer Wohnung in den Himmel wachsen, muss sie Angst haben, dass sie es bis zum nächsten Morgen nicht mehr schafft. Ich bin nicht überrascht, als sie mich fragt:

„Magst du heute bei mir schlafen, Heddy?“

„Ja klar! Klar doch! Wie immer.“

Ich bin jetzt einfach da, sitze im rechten Winkel zu Pia am Kacheltisch auf ihrem Balkon. Wir haben nicht viel geredet in den letzten zwei, drei Stunden, außer ein paar Worten, als Pia mir eines ihrer Hauskleider zum Anziehen gab und uns ein paar kühle Shakes zubereitete. Jetzt hat sie die Füße auf die Brüstung gelegt, sieht über ihre Zehenspitzen in den immer dunkler werdenden Himmel. Ihre Haare hängen hinten an der Rückenlehne lang hinab.

Einerlei, dass ich Pias Halbprofil vor dem Hintergrund der reich verzierten Kreuzberger Fassaden sehe, der Balkone mit den schmiedeeisernen Geländern und Blumen in tausend Farben, den offenen Fenstern, aus denen Gitarrenmusik und Gelächter zu hören sind. Meine Kindheit und frühe Jugend in Iran wehen von irgendwoher in die laue Luft dieses Abends hinein, wie ein altbekannter Duft, den man nach langer Zeit wieder ungläubig wahrnimmt, und meine Einbildungskraft kann auch Pia mühelos mit mir zusammen in meine iranische Vergangenheit tragen. Sie könnte jetzt eine Spielkameradin von früher sein, meine beste Grundschulfreundin oder eine liebe Nachbarin in Teheran. Und natürlich denke ich auch an mein Klavierspielen damals, und an den Kaspischen Wald. Ich drehe mich um, sehe im Wohnzimmer die weiße Klaviatur von Pias Flügel.

Ich setze mich an das Instrument. Doch mehr als vereinzelte Töne wollen meine Hände nicht zuwege bringen, vielleicht, weil keine Musik in mir ist, oder weil ich Pias Ruhe nicht stören will.

Pia aber kommt zu mir, mit nackten Füßen auf dem dunklen Parkett, setzt sich neben mich auf den Hocker. Sie fängt an, mit einer Hand und noch leiser als ich, Tasten anzuschlagen. Wir spielen Note für Note. Die Klänge hallen ineinander und füllen den Raum, wie Priele am Meer, die sich bei Flut füllen und verbinden. Mittendrin unsere Stimmen:

„Woran denkst du, Heddy?“

„An das Licht.“

„Welches Licht?“

„Im Wald, früher, das Licht, das mir auf den Lidern flackerte, im Schlaf. Es kam nicht von allein, weißt du?“

„Nicht?“

„Es war dieser Junge!“

„Den du mochtest?“

„Es war seine Art, mich zu wecken, wenn ich im Wald einschlief. Er nahm ein großes Blatt, hielt es im Licht über meinem Gesicht, drehte und schüttelte es, oder er fächelte mir damit Luft zu, bis ich wach wurde.“

„Aha!“, sagt Pia und schlägt ein hohes A an, leise, immer wieder in gleichen Abständen, dass es sich anhört wie fallende Wassertropfen oder ein akustisches Nicken.

„Die Wahrheit ist“, sage ich weiter, „ich ging nie im Leben allein in den Wald! Nur mit diesem Jungen traute ich mich dorthin. Licht, Farben, Blumen und Wasserfälle, das alles zeigte er mir. Mit ihm zusammen fing ich Schmetterlinge, jagte ernsthaft Libellen oder versuchte, die Flecken auf Rinden von Platanen zu zählen. Er zeigte mir, dass man in einem Wassertropfen, der an der Spitze eines Blattes hängt, die Welt umgedreht sieht und brachte mir bei, in der Nässe der Luft an den Spitzen meiner Wimpernhaare lauter Regenbögen zu entdecken. Ich war immer die erste, die nach ein paar Stunden Herumlaufen müde wurde. Er war geduldig, suchte einen Platz abseits des Weges, schob Laub zusammen und machte für mich ein weiches Lager. Wenn sich nichts finden ließ, setzte er sich auf den Boden, lehnte sich gegen einen Baum und zog mich an sich heran, dass ich bäuchlings halb über ihm lag, und er sagte, ‚Schlaf nur! Ich bleibe wach und passe auf.‘ Stell dir vor! Ich hatte seinen Herzschlag im Ohr und schlief ein!“

Wir halten beide inne, Pia und ich, lassen alle Töne verhallen, als wäre in dem Dämmerlicht und der Stille dieses Wohnzimmers noch ein Echo dieser Erinnerung zu hören. Dann fragt Pia:

„Wie alt wart ihr da?“

„Ich weiß nicht genau. Wir waren Kinder, ich zehn, höchstens elf, und er nicht viel älter. Später, als wir älter waren und er mich manchmal lange wortlos ansah, dachte ich lange Zeit noch, es würden bestimmt von irgendwoher Sonnenstrahlen auf mich fallen und er würde die Lichtflecken auf meiner Haut beobachten.“

Pia dreht sich zu mir, lacht. Ich bin so froh, dass sie über meine kleine Geschichte lachen kann, dass sie weniger trübsinnig ist als am Nachmittag. Sie schlägt wieder das A an, beginnt ein Arpeggio zu spielen, sehr langsam, in A-Moll. Es fällt mir ein, dass ich früher, also in Iran, nicht A-Moll, sondern la mineur sagte, Arpéges en la mineur, französisch ausgesprochen wie alles andere, was mit Musik zu tun hat. 

„Wir hatten ein Spiel“, erzähle ich Pia weiter. „Wir hatten es selbst erfunden und spielten es immer wieder, jeden Sommer.“

„Und wie?“

„Wir gingen durch das Dorf, aber jeder für sich, allein, in irgendeine Richtung. Und irgendwann liefen wir uns wieder über den Weg und freuten uns ganz fürchterlich!“

Pia und ich lachen gleichzeitig auf.

„Das nannten wir das Schicksal-Spiel.“

„Schicksal-Spiel!“, wiederholt Pia das Wort, macht große Augen. 

„Wir liefen uns wirklich immer über den Weg! Ich ging verträumt herum, schaute mir die fleißigen Korbflechter an, die Fischer, die den Tagesfang in Eisbehälter füllten, den Bauern, der täglich am selben Platz seinen Obststand aufbaute, oder ging beim Süßwarenladen vorbei, wo meine Mutter immer Pomeranzenkonfitüre kaufte, ich grüßte den Verkäufer, und er schenkte mir jedes Mal eine Kolutsche.“

„Eine was?“

„Eine Kolutsche, das ist ein Gebäck, nordiranisch, eine Art süßes Brötchen mit Gewürzen. Ich freute mich und hob es auf, um es mit meinem Freund zu teilen. Ich war ganz sicher, dass er wieder auftauchte!“

„Warum warst du da so sicher?“

„Weil es einfach so war! Ich wusste es, auch wenn ich nicht wusste, wann und wo. Ich wurde nie enttäuscht.“

„Wie ging die Geschichte weiter?“

„Er war der erste Mensch, für den ich Klavier spielte. Er hörte meinem Spiel sehr gern zu.“

„Ach! Du hattest in den Ferien auch ein Klavier?“

Ich schüttele den Kopf:

„In Teheran. Das war später in Teheran.“

„Er blieb also nicht nur der Ferienfreund?“

„Nein.“

Jetzt ist Musik in mir. Pias Arpége en la mineur hat seine Wirkung getan. Mir fällt ein Stück zu spielen ein, unspektakulär, zart, wie von weit weg sich nähernd. Es kommt mir in den Sinn, obwohl ich es ewig nicht mehr gespielt, nicht einmal gehört habe. Und doch spiele ich es ganz ohne Anstrengung, aus dem Stand, als hätte mein Gedächtnis mit diesem Stück einen Pakt für immer geschlossen. Es ist ein kleiner Walzer von Chopin. Doch nach einigen Sätzen höre ich abrupt auf, weil mir etwas den Atem nimmt. In das überraschte Gesicht meiner Freundin sage ich schnell:

„Den zum Beispiel! Den habe ich ihm oft vorgespielt, und überhaupt oft Chopin.“

„Aha! Und … wie ging es weiter?“

„Es ging nicht weiter!“

„Was wurde denn aus dem Jungen?“

Ich ziehe die Schultern hoch.

„Er ist doch nicht einfach verschwunden?“

„Doch! Spurlos!“

Pia stutzt, schüttelt fragend den Kopf:

„O Gott! Heißt das …, ich meine … so wie deine Eltern? Im Krieg …?“

Ich sehe, meine Freundin hat nicht vergessen, aus welchem Land ich komme. Sie hat auch die Geschichte meiner Eltern nicht vergessen. Obwohl ich sie ihr vor langer Zeit erzählt habe und wir nie wieder darüber geredet haben; es ist so lange her, dass die Geschichte mir selbst fast fremd geworden ist. 

„Nein, nein, das denke ich nicht“, antworte ich. „Er verschwand lange vor dem Krieg. Ich denke eher, das Ganze war ein Märchen, und es war eines Tages eben aus.“

„Hast du nach ihm gesucht?“

Ich zucke wieder mit den Achseln, lächle schief.

„Ich habe ihm Briefe geschrieben, bin immer wieder zu seinem Elternhaus gepilgert. Aber es war leer, die ganze Familie war weg, und auf die Briefe bekam ich nie eine Antwort.“

„Du hast mir nie von dieser Geschichte erzählt!“

„Es war nur der Anfang einer Geschichte, und es ist längst Vergangenheit!“

„Ja, aber sie ist in dir eingeschlossen, wie die Jahresringe in einem Baum eingeschlossen sind. Weißt du, ich frage mich schon eine ganze Weile, warum du eigentlich nicht einfach mal nach Teheran fliegst?“

Ich muss lachen.

„Ich? Nach Teheran? Du meinst, mein Jugendfreund steht da und wartet auf mich?“

„Das bestimmt nicht! Aber es sind doch andere da.“

„Ja, stimmt. Meine Tante und mein Cousin sind da. Ich habe bestimmt auch noch Cousinen soundsovielten Grades, aber sie werden sich nicht mehr an mich erinnern.“

„Das macht doch nichts!“, sagt Pia. „Du wirst dich an dich erinnern, verstehst du? Wenn du einmal wieder in Teheran bist, wenn du deine Vergangenheit wieder berührst, Heddy, wirst du dich erinnern!“

Längst liegen wir in unseren Betten. Doch ich höre aus dem Nebenzimmer, wie sich Pia unruhig im Bett wälzt. Das Rascheln der Laken hört nicht auf. Irgendwann höre ich sie sogar sprechen, ich lausche in der Dunkelheit, überlege, ob ich zu ihr gehen soll, habe aber dann den Eindruck, dass sie mit jemandem spricht, sehr ruhig, und ich beschließe, mich nicht einzumischen. Als das Sprechen endet, erscheint am Boden ein Lichtstreifen und dann steht Pia im hellen Quadrat der Tür. 

„Es tut mir leid“, sagt sie. „Ich habe dich geweckt.“

„Hast du nicht. Ich bin noch gar nicht eingeschlafen.“

„Ich soll dir schöne Grüße von Frank ausrichten. Er hatte gerade eine Kaffeepause zwischen zwei Konferenzen.“

„Vielen Dank!“

„Ich hoffe, du kannst jetzt schlafen, Heddy.“

„Ja, du auch, Pia.“

„Aber ... ich wollte noch etwas fragen.“

„Ja?“

„Wie hieß denn dieser Junge, für den du in Teheran Klavier spieltest?“

Ich zögere. Natürlich weiß ich den Namen, spüre aber ein Hemmnis in mir, ihn auszusprechen. Ich stütze mich auf die Ellbogen, muss mich räuspern. „Er hieß Amin“, antworte ich und betone, wie es auf Iranisch richtig heißt, die zweite Silbe.

„Was heißt das?“, fragt Pia mit fester Stimme.

„Was heißt was?“

„Eure iranischen Namen haben doch immer Bedeutungen, nicht wahr? Was bedeutet Amin?“

Ich lächle, weil Pia den Namen auch richtig ausspricht: Betonung auf der zweiten Silbe.

„Na, ja, ... Lass mich überlegen … Amin heißt, glaube ich, so viel wie der Vertrauenswürdige, jemand, der treu bewahrt, was man in seine Hände legt.“

Pia steht noch eine Weile da, reglos, und ich sehe zu ihr, obwohl ich ihr Gesicht nicht sehen kann, nur die leuchtenden Konturen ihrer Haare, ihrer Schultern und ihrer Beine unter ihrem im Gegenlicht durchsichtig gewordenen Kleid. Irgendwann sagt sie sehr leise: „Wie schön.“ Und „Wie schön“ wiederholt sie noch einmal. „Was für ein schöner Name!“ Und als hätte sie bloß mit sich selbst gesprochen, dreht sie sich um, schließt die Tür und löscht das Licht.

I.2

Heddy Schmitt. Früherer Name: Stein, geborene Hengam. Vorname, ursprünglich: Hediyeh. Ja, schon, Hediyeh, wie das Geschenk auf Iranisch. Jahrgang und Geburtsort eintragen, alle Fragen vollständig beantworten. Warten. Etwa eine Woche lang.

Was ich jetzt mache, werde ich erst später verstehen. Pia hat Recht. Es ist einfach: Formalien der Reihe nach erledigen, Ticket kaufen, fliegen. Destination Teheran. Hindernisse gibt es nicht, nicht wirklich, sagt sie, und das stimmt auf jeden Fall dann, wenn man sie als Wohltäterin auf seiner Seite hat. Ihr ist es zu verdanken, dass ein paar Menschen, die von mir bisher allenfalls mit einem Kopfnicken im Schulkorridor Notiz genommen haben, sich aufmerksam meine Unterrichtsunterlagen ansehen, mehrere Fragen zu meinen jeweiligen Schülern stellen und mit großer Höflichkeit ihr Staunen darüber unterdrücken, dass ein mehrwöchiger Diensturlaub so kurzfristig beschlossen wird. Wie auch immer Pia die Kollegen für mich gewonnen hat, sie alle reden mit mir, als wären sie gekommen, um mich zu meiner Entscheidung zu beglückwünschen, in den Gesichtern einen Ausdruck, als wüssten sie, dass es im Leben manchmal besonders ungeordnet zugeht. Pia hat genug telefoniert, Beleg- und Stundenpläne koordiniert und organisiert, um mir auch mein stärkstes Argument gegen diese Reise, mein Pflichtgefühl gegenüber den Schülern, zu nehmen. Hätte sie dafür wie im Märchen Hexen aufsuchen, Wundertränke mixen oder sich die Haare abscheiden müssen, hätte sie das wohl auch getan.

Noch als ich mir diverse Flugpläne ansah und sie miteinander verglich, tat ich spielerisch, als würde ich mir selbst den Willen zu reisen nicht abnehmen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen gegenüber den leichtgläubigen Angestellten der Fluggesellschaften, die versprachen, die formidabelsten noch freien Sitzplätze, anstatt für Menschen mit ernsten oder sogar notwendigen Absichten, für mich zu reservieren, also für einen Menschen, der bar jeder Illusion, Spekulation oder Sentimentalität in Bezug auf diese Reise ist, jemand, der nicht ausschließt, in Teheran verlorener und einsamer als in jeder anderen Stadt der Welt zu sein und bloß von der Kraft ein paar offener Fragen getrieben wird, die er, um ehrlich zu sein, nicht recht formulieren kann. 

Ich stand völlig neben mir, als ich nach Jahren wieder eine Telefonnummer beginnend mit 0098 – 21 anwählte und am anderen Ende der Leitung tatsächlich die Stimme meiner Tante erkannte. Sie versuchte, nach einem unüberhörbaren anfänglichen Stutzen, ihre Überraschung mit alltäglichen Fragen zu überspielen, und ich meinerseits beeilte mich, ohne jeden Versuch, meine Unsicherheit zu verbergen, geradewegs meine Frage zu stellen: Wäre es möglich, dass man sich in Teheran sieht? Ja, in Teheran! Ich könnte mir vorstellen, für ein paar Tage nach Teheran zu fliegen. Nein, nein, kein besonderes Ereignis, kein Anlass, einfach nur vorbeischauen möchte ich, Guten Tag sagen. Vor allem möchte ich keine Umstände machen, schon gar nicht so plötzlich, so überfallartig. „Ich werde mir ein Hotel nehmen“, sagte ich meiner Tante und rief große Bestürzung hervor. „Wie kannst du nur?“, antwortete sie. „Wie kannst du dir auch nur vorstellen, dass du in Teheran in einem Hotel übernachtest? Bin ich schon tot, oder bist du jetzt eine Fremde?“

II

II.1

Teheran, Flughafen. Ein Glaspalast wie überall auf der Welt. Geräuschlos und endlos rollende Treppen, gerillte Stufen aus schwarzem Metall, Hallen, lange Flure. Kaltes graues Licht. Bei lebendigem Leib denke ich an den Tod. Was sollte es sonst sein, diese plötzliche Schwäche in meinen Gliedern? Als würde ich verbluten. Meine Arme hängen wie abgestorben an meinen Seiten. Die Knie wollen nachgeben. Lächerlich zu glauben, diese zittrigen Beine könnten dich durch diese Stadt tragen! Du brichst doch zusammen! Der Atem will nicht gehen. Etwas in der Kehle stört. Die Augen will ich lieber geschlossen halten. Denn unter meinen Lidern ist der Tod, und dort sind meine Eltern.

Hinter der Glaswand, die im Flughafen Reisende von Bleibenden trennt, wirkten sie klein. Und sie wurden immer kleiner, denn ich ging, auf Flure und Rolltreppen und Gangways zu, auf das Flugzeug zu, auf den Himmel über der Erdkugel, auf meine Zukunft zu. Papa, mäßig groß, mit seinen breiten Schultern im Anzug ohne Krawatte, Mama mit Kopftuch im langen Kleid. Ich ging, mit meiner kleinen Tasche in der Hand, und drehte mich immer wieder zu ihnen um, verlor sie nicht aus den Augen. Auch Mama verlor mich nicht aus den Augen, trotz Tränen, hielt ihre Hand immer winkend hoch, zog manchmal ihr Kopftuch zurecht. Papa sah mit dunklem Blick in die Halle, ernst, nicht weinend, in Gedanken, in denen er sich verlor, und verlor mich in der Menge der Rücken, die er wohl sah, die Rücken der Menschen, die gingen. Ich ging und fluchte. Ich erinnere mich, dass ich in einem fort fluchte, die Kehle drückte und meine Kieferknochen taten weh, weil ich sie nach Kräften aufeinanderpresste, fluchte, fluchte, und ich weiß nicht, wann ich damit aufhörte.

Das Paar, das meine Eltern waren, wurde kleiner und kleiner, streichholzklein, in einer Reihe mit vielen anderen Menschen, die blieben, Abschied nahmen. Widerwillig ging ich mehrere Stufen hoch, ahnend, dass der Blick, wenn ich mich noch einmal umdrehte, um sie zu sehen, der letzte Blick sein würde. Ich drückte mir die Fingernägel ins Fleisch und drehte mich um. Sie sahen mich nicht mehr, meine Eltern, nicht einmal Papa mit seinen scharfen Augen konnte mich finden in der Menge. Ihre Blicke irrten über die Köpfe und in der Halle umher. Sie sahen aus wie Menschen, die einen jungen Vogel gepflegt hatten, bis er fliegen konnte, und die ihn soeben hinausgebracht und dem Himmel übergeben hatten. Dort, im Himmel, wo sie ihn vermuteten, irrten nun ihre Blicke, ohne zu sehen. 

Heute, dreiundzwanzig Jahre später, bin ich diejenige, die sucht, im kalten Licht des Flughafens, ohne zu sehen. Ich mache mir nichts vor. Auch ich habe meine Eltern freigegeben, sie ihrem Schicksal überlassen.

Eine sanfte Welle durchfährt mich, warm und weich wie beim Baden in einem Sommermeer. Sie gibt mir einen kleinen Ruck, und ich komme zu mir. Sie ist eine Welle aus Schall, sie ist Sprache. Meine Muttersprache! Sie fühlt sich an wie Kindheit, wie Geborgenheit, wie Wärme. Meine Muttersprache hört sich an wie Sommer am Kaspischen Meer. Was macht es schon, dass es sich bloß um eine Ansage aus den Lautsprechern handelt. Flughafen eben. Natürlich verstehe ich die Ansage. Man solle sein Gepäck nicht unbeaufsichtigt … und so weiter. Ich lächele. Was mich anrührt, ist die Selbstverständlichkeit, mit der diese offenbar junge Frau am Lautsprecher Iranisch spricht. Als wäre nichts gewesen! Als wären all die Jahre nicht gewesen.

Ein Mann von zierlicher Gestalt, rabenschwarz die Haare, hält meinen Pass lange in seinen dunklen Händen, tippt immer wieder etwas in seinen Computer. Er hat viel Zeit, und Ruhe. Ich glaube, er wippt mit einem Fuß. Manchmal zieht er die Brauen hoch, blättert weiter im Pass, liest. Irgendwann, auf der letzten Seite des Passes angekommen, hört er auf, mit dem Fuß zu wippen, hebt seinen Blick, sieht mich an. Er scheint nachzudenken, sagt kein Wort. Er sieht mich an, als wüsste er jetzt über mein Leben Bescheid, als hätte er es in meinem Pass gelesen, in diesen wenigen Informationen über Ort und Datum meiner Geburt und in den paar blassen Stempeln von Flughäfen weniger Länder, in denen ich Jahre und Jahre zuvor vielleicht einmal eine Woche Urlaub gemacht habe. Als hätte er darin oder in den vielen leeren Seiten alle meine Geschichten gelesen. Ich bin überrascht, dass ich diesem fremden Blick so lange standhalte. Es gibt nichts, was mich an diesem jungen Mann stört, an seiner stillen Neugier, an seiner Langsamkeit, mit der er sein Amt genießt. Es ist ganz sonderbar, doch für einen Augenblick denke ich, wie geschwisterlich wir uns ansehen! Und da! Da ist es auch schon! Er sagt: „Bitte sehr, Schwester! Willkommen!“1 Und reicht mir meinen Pass!

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1) „Schwester“ bzw. „Bruder“ sind in der religiösen Republik übliche Anredeformen, auch unter Fremden.