Depeche Mode - Brian J. Robb - E-Book

Depeche Mode E-Book

Brian J Robb

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Beschreibung

Depeche Mode - Die große Werkschau Kaum eine zweite Band genießt in Deutschland einen solchen Kultstatus wie Depeche Mode. Spätestens, seit 1990 ihr Albumklassiker Violator erschien, sorgt die britische Band auf jeder Tour für ausverkaufte Hallen und erreicht mit jeder Neuerscheinung verlässlich Platz 1 der hiesigen Charts. Seit die Band 1980 vom britischen Label-Boss Daniel Miller entdeckt wurde, sind 15 Studioalben erschienen, an denen sich die Entwicklung Depeche Modes von freundlichen Synthiepoppern mit Teenieschwarm-Potenzial zu düsteren Soundtüftlern mit Tiefgang manifestiert. Neben Vince Clarke, Alan Wilder und dem 2022 verstorbenen Andy Fletcher bildeten Martin Gore und Sänger Dave Gahan stets den Kern der Band. Sie blicken heute auf eine phänomenale Karriere zurück, die neben persönlichen Höhen und Tiefen durch Weltruhm, Drogen, Alkohol und Nahtoderfahrungen natürlich vor allem von der enormen Kreativität geprägt war, mit der Depeche Mode eine Fülle neuer Sounds entwickelten, aber dabei nie auf packende Melodien und mitreißende Hooks verzichteten. Der britische Journalist Brian J. Robb nimmt in seiner großen Werkschau jede einzelne Platte genau unter die Lupe, angefangen mit Speak & Spell aus dem Jahr 1981 bis zum jüngsten Werk, dem 2023 erschienenen Album Memento Mori. Ausführlich beschreibt er den Entstehungsprozess der einzelnen Songs und geht detailliert auf die Umstände ein, unter denen die Aufnahmen jeweils stattfanden. Gleichzeitig ist »Depeche Mode – Alle Alben, alle Songs« eine veritable Bandbiografie, da Robb ergänzend zu den musikalischen Fakten stets die Ereignisse im Leben der Bandmitglieder im Blick behält. Von den düsteren Industrial-Einflüssen auf Black Celebration über den kommerziellen Durchbruch mit Music For The Masses und Violator, der emotionalen Achterbahnfahrt der Neunziger, die für Dave Gahan beinahe mit einer tödlichen Überdosis endete, bis zur Rückkehr als musikalische Innovatoren mit Alben wie Playing The Angel oder Spirit haben sich Depeche Mode stets mit den großen Themen des Lebens auseinandergesetzt – Liebe, Tod, Sex, Politik und Gesellschaft. Ihre Songs erzählen ihre Geschichte – und die Geschichte der Songs erzählt dieses brillant recherchierte Buch.

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Seitenzahl: 379

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Brian J. Robb

DEPECHE MODE

Alle Alben, alle Songs

Aus dem Englischen von Paul Fleischmann

www.hannibal-verlag.de

Impressum

Zum Autor:

Brian J. Robb arbeitete als Journalist und Redakteur für britische Film- und Entertainment-Zeitschriften und verfasste über 20 Biografien von Filmgrößen wie Johnny Depp, Will Smith oder Leonardo DiCaprio. Er war Herausgeber des Official Star Wars Magazine und begeistert sich für Science Fiction ebenso wie für den SynthiePop der Achtziger.

Der Autor: Brian J. Robb

Deutsche Erstausgabe 2025

© 2025 by Hannibal

Hannibal Verlag, ein Imprint der KOCH International GmbH,

Gewerbegebiet 2, A-6604 Höfen

www.hannibal-verlag.de

[email protected]

ISBN 978-3-85445-795-4

Auch als Paperback erhältlich mit der ISBN 978-3-85445-794-7

Titel der englischen Originalausgabe 2023: „Depeche Mode – Every album, every song“

© 2023 Brian J. Robb

Erschienen bei Sonicbond Publishing Limited

ISBN: 978-1-78952-277-8

Covergestaltung: Michael Bergmeister

Layout und Satz: Thomas Auer

Übersetzung: Paul Fleischmann

Lektorat/Korrektorat: Dr. Matthias Auer

Besonderen Dank an: Ronny Ecke, CPR und Partyman

Hinweis für den Leser:

Kein Teil dieses Buchs darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, digitale Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden.

Der Autor hat sich mit größter Sorgfalt darum bemüht, nur zutreffende Informationen in dieses Buch aufzunehmen. Alle durch dieses Buch berührten Urheberrechte, sonstigen Schutzrechte und in diesem Buch erwähnten oder in Bezug genommenen Rechte hinsichtlich Eigennamen oder der Bezeichnung von Produkten und handelnden Personen stehen deren jeweiligen Inhabern zu.

Inhalt

Einleitung

Speak & Spell (1981)

A Broken Frame (1982)

Construction Time Again (1983)

Some Great Reward (1984)

Black Celebration (1986)

Music For The Masses (1987)

Violator (1990)

Bilderstrecke

Songs Of Faith And Devotion (1993)

Ultra (1997)

Exciter (2001)

Playing The Angel (2005)

Sounds Of The Universe (2009)

Delta Machine (2013)

Spirit (2017)

Memento Mori (2023)

Quellenverzeichnis

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Einleitung

Es dauerte nicht einmal ein Jahr, bis Depeche Mode der Durchbruch gelang. Zunächst schloss sich Dave Gahan im Frühling 1980 Vince Clarke, Martin Gore und Andy Fletcher an. Im September desselben Jahres entschieden sie sich für den Bandnamen „Depeche Mode“, wofür sie sich vom Titel eines französischen Modemagazins inspirieren ließen. Wortwörtlich übersetzt bedeutete er „fast fashion“ oder auch „Modeversand“. Als sie am 25. Juni 1981 mit ihrer zweiten Single „New Life“ bei Top Of The Pops auftraten, hatte sich ihr Leben bereits radikal verändert.

Die Wurzeln von Depeche Mode reichen bis in die letzten Tage der Punkbewegung zurück, als Vince Clarke seine ersten musikalischen Gehversuche unternahm. Der 1960 geborene Clarke war der Älteste der späteren Band. Nach seinem Schulabschluss nahm er an Treffen der Youth Fellowship in Basildon teil, die vom drei Jahre älteren Kevin Walker geleitet wurden. Dort sangen sie Kirchenlieder, und die beiden gründeten 1976 ein Duo im Stil von Simon and Garfunkel. Zusammen absolvierten sie eine Handvoll Auftritte, die jeweils zwischen 30 und 40 Minuten dauerten. 1979 lösten sie sich jedoch auf, da Clarke sich fortan in Richtung elektronische Musik orientieren wollte.

Im Mai 1979 gründete Clarke die Gruppe No Romance In China mit Pete Hobbs von Martin Gores Band Norman & The Worms sowie der Gitarristin Sue Paget von den Vandals. Damals waren The Cure Clarkes größter Einfluss. Clarkes Kumpel von der Boys’ Brigade, Andy Fletcher, bewegte sich im Dunstkreis von No Romance In China, zeigte jedoch eigenen Angaben zufolge kein Interesse daran, selbst Musik zu machen. Ihm ging es in erster Linie um den sozialen Aspekt. No Romance In China traten ausschließlich im privaten Rahmen auf und probten gelegentlich im Woodlands Youth Club in Basildon.

Clarke experimentierte zu dieser Zeit darüber hinaus auch mit einer losen musikalischen Kooperation namens The Plan. Er tat sich mit Robert Marlow zusammen, als Ende 1979/Anfang 1980 sein Interesse an einer Fortsetzung von No Romance In China zu versiegen begann und sich gleichzeitig Marlows Band The Vandals, zu der auch die spätere Yazoo-Sängerin Alison Moyet gehörte, aufgelöst hatte. Marlow war stark von Ultravox (mit John Foxx) beeinflusst und besaß neuerdings einen Korg-700-Synthesizer. In der ­Depeche-Mode-Biografie Stripped von Jonathan Miller erinnerte sich Clarke: „Nachdem Gary Numan ‚Are ‚Friends‘ Electric?‘ veröffentlicht hatte, fuhren wir plötzlich alle auf Synthesizer ab. Das war die Initialzündung für The Plan.“ Eine weitere musikalische Inspiration für Clarke und Marlow waren Orchestral Manoeuvres In The Dark.

Mithilfe gleich mehrerer lausiger Jobs finanzierte sich Clarke einen tragbaren Kawai-100F-Synthesizer mit 37 Tasten am Keyboard. Dieses Teil war ihm zufolge „billig und machte gute Laune“. Da er seine musikalischen Ambitionen zunehmend ernst nahm, arbeitete Clarke auch fortlaufend an seinem Songwriting, während die anderen, vor allem Fletcher, einfach nur aus Spaß an der Freude mitmachten. Mit Einsetzen der 1980er Jahre trennten sich die Wege von Clarke und Marlow. Clarke gründete Composition Of Sound, und Marlow startete mit Martin Gore und dessen Yamaha-CS5-Synthesizer die Gruppe French Look.

Composition Of Sound stellten den eigentlichen Übergang zu Depeche Mode dar. Sie bestanden ursprünglich aus Clarke und Fletcher, bevor später noch Gore dazustieß. Im April 1980 probten sowohl French Look als auch Composition Of Sound in benachbarten Räumen im Woodlands. Gore war das Bindeglied zwischen beiden Bands. Fletcher war zudem mit Gore in dieselbe Klasse gegangen. Marlows Formation samt Gore war zeitweise um den aufstrebenden Sänger Dave Gahan erweitert worden, der bei einer spontanen Jamsession „‚Heroes‘“ von David Bowie gesungen hatte, was wiederum die Aufmerksamkeit von Composition Of Sound weckte.

Laut Marlow erkannte Clarke sofort Gahans Potenzial, bevor er ihn ein wenig später anrief, um ihn für Composition Of Sound als Sänger zu rekrutieren. Die nunmehr mit Gore zum Quartett angewachsenen Composition Of Sound begannen im Frühling 1980 regelmäßig zu proben. Clarke steuerte mehrere Songs bei, die bald schon das Rückgrat des frühen Depeche-Mode-Materials bilden würden. So etwa „Photographic“. Die Ernsthaftigkeit und musikalische Begabung, die sowohl Clarke als auch Gore an den Tag legten, machten Composition Of Sound rasch zu einem weitaus professionelleren Projekt als alle bisherigen Bands der beiden.

Endlich ließen sie nun die Auftritte in Jugend- und Wohnzimmern sowie Proberäumen hinter sich, um fortan vor zahlenden Zuschauern zu spielen. Ihren ersten Gig mit Dave Gahan als Sänger absolvierten Composition Of Sound am 14. Juni 1980 bei einer Disco-Veranstaltung der Nicholas School. Unter anderem spielten sie dort neben Covers der Beach Boys und von Roxy Music auch „Ice Machine“, „Photographic“ sowie die Gore-Komposition „Tora! Tora! Tora!“.

Im Sommer 1980 schlug Clarke den anderen Bandmitgliedern vor, ein Demo aufzunehmen, das er dann an Plattenfirmen schicken könne. Darauf enthalten waren die Songs „Ice Machine“, „Photographic“ und „Radio News“. Letzteres war eine an Gary Numan angelehnte Nummer, die aber nicht veröffentlicht wurde. Sämtliche Tracks stammten aus der Feder von Clarke. Bei ihren frühen Gigs spielten sie auch „Television Set“, das Depeche Mode aber nie aufnehmen sollten, da nicht Clarke, sondern Jason Knott es geschrieben hatte. „Tomorrow’s Dance“ zählte ebenfalls zur Setlist dieser Tage. Zwar zeichnete sich Clarke für den Track verantwortlich, doch blieb auch er unveröffentlicht. Auch „Reason Man“, dessen Einstieg stark an die Titelmelodie von Doctor Who erinnerte, wurde live gespielt, schaffte es jedoch nicht aufs erste Album. Dieses Schicksal teilte der Song mit „Addiction“ (beziehungsweise „Closer All The Time“ oder „Ghost Of Modern Time“), das wiederum Clarkes spätere Band Yazoo vorwegzunehmen schien.

Das fertige Demo erhielten die Labels Beggars Banquet, Rough Trade und zum Schluss noch Mute Records. Daniel Miller bezeichnete Composition Of Sound zunächst abschätzig als „Möchtegern-New-Romantics“, wie man 2005 in einer Ausgabe von Mojo nachlesen konnte. Miller stolperte erneut über die Band, als sie sich inzwischen in Depeche Mode umbenannt hatte und am 12. November 1980 einen schicksalshaften Gig im Vorprogramm des Mute-Acts Fad Gadget im Bridge House im Londoner Viertel Canning Town absolvierte. Der Live Sound der Gruppe sprach ihn viel stärker an, woraufhin er sie sofort unter Vertrag nahm. Beinahe ebenso beeindruckend wie die Darbietung der Band empfand er die Reaktion des Publikums: „Die Leute tanzten und schauten nicht auf die Band. Dave war noch sehr schüchtern. Er stand wie angenagelt da, sang die Texte und bewegte sich keinen Zentimeter vom Fleck. Und dennoch sprang der Funke über.“ Miller erinnerte sich später, dass die Band von Anfang an musikalisch sehr reif wirkte. „Sie hatten großartige Popsongs“, verriet er gegenüber Electronic Beats. „Ihre Nummern waren sehr gut strukturiert und geschickt arrangiert – nur mithilfe eines Drumcomputers und dreier monophoner Synthesizer. Die Melodien, die Gegenstimmen waren großartig. Es war ziemlich perfekt. Zumindest fast.“

Als er 2006 im Making-of-Video zu Speak & Spell über den per Handschlag besiegelten Deal mit Mute sprach, kommentierte Andy Fletcher lapidar: „Wir waren Working-Class-Jungs aus Basildon und hatten fast keine Kohle, weshalb wir uns auf den Typen einließen, der uns kein Geld anbot, bloß weil wir ihm vertrauten und die Musik auf seinem Label mochten.“

Depeche Modes erste offizielle Studioaufnahme war „Photographic“, das auf der Compilation Some Bizzare [sic!] neben Songs von The The, Soft Cell und Blancmange im Dezember 1980 erschien. Etwa zur selben Zeit begab sich die Band mit Daniel Miller ins Studio, um an ihrem Debütalbum Speak & Spell zu arbeiten.

Aus bescheidenen Anfängen entstehen mitunter große Dinge …

So hätte niemand, der 1980 dabei war, ahnen können, dass Depeche Mode später weltweit Erfolge feiern und ganze Stadien füllen würden. Ja, sogar in die Rock and Roll Hall of Fame wurden sie 40 Jahre später aufgenommen. Hier soll nun anhand aller Alben und aller Songs die mehrere Jahrzehnte umfassende Geschichte von Depeche Mode erzählt werden.

Speak & Spell (1981)

Mitwirkende:

Dave Gahan: Leadgesang

Martin Gore: Keyboards, Begleitgesang, Leadgesang bei „Any Second Now (Voices)“

Andy Fletcher: Keyboards, Begleitgesang

Vince Clarke: Keyboards, Programmierung, Begleitgesang

Aufgenommen in den Blackwing Studios, London, Dezember 1980 bis August 1981

Produzenten: Depeche Mode, Daniel Miller

Alle Songs von Vince Clarke, außer „Tora! Tora! Tora!“ und „Big Muff“ von Martin Gore

UK-Erscheinungsdatum: 6. November 1981 (ursprünglich für den 5. Oktober 1981 geplant)

US-Erscheinungsdatum: 11. November 1981

Label: Mute

Laufzeit: 44:58

Höchste Chartplatzierungen: UK: 10; USA: 192; Deutschland: 49; Neuseeland: 45; Schweden: 21

Die Musiker von Depeche Mode, die fast alle noch wie Schuljungen aussahen – und immerhin waren sie das bis vor kurzem ja auch noch –, versammelten sich im Dezember 1980 in den Tape One Studios im Londoner East End, um sich unter Daniel Millers Aufsicht auf ihre ersten Aufnahmesessions einzulassen. Die Band hatte keinen formellen Vertrag mit Miller, doch willigte dieser ein, ihre Debütsingle zu veröffentlichen. Wie es weiterging, würde sich dann schon weisen. Zudem gab es Interesse seitens eines DJs und Veranstalters namens Stephen „Stevo“ Pearce, der ein „futuristisches“ Sampler-Album mit dem Titel Some Bizzare kompilierte. Miller versprach, „Photographic“ für Stevos Projekt aufzunehmen – in einer Version, die sich stark von jener auf Speak & Spell unterschied. „Dreaming Of Me“ wurde hingegen als erste Single auserkoren, für die Depeche Mode ihren Live-Standard „Ice Machine“ als B-Seite wählten.

Als Electronic-Band reisten Depeche Mode mit leichtem Gepäck, was sich bei den Gigs in Southend und London bereits als überaus praktisch herausgestellt hatte. So kreuzten sie im Studio mit ihren drei billigen Synthies und einem Drumcomputer auf. Miller steuerte noch seinen eigenen ARP-600-Synthesizer bei, der sofort Vince Clarke auf den Plan rief, als er bemerkte, dass sich das gute Stück programmieren ließ, was bedeutete, dass nicht jede einzelne Note live gespielt werden musste. Miller hatte eine musikalische Vision, der Depeche Mode folgen sollten – und Vince Clarke schien damit einverstanden zu sein. Bereits früher hatte Miller eine gar nicht real existierende Electronic-Band namens Silicon Teens mit dem Fad-Gadget-Frontmann Frank Tovey kreiert. Gemeinsam performten sie elektronisch angehauchte Coverversionen alter Rock- und Pop-Evergreens. Miller war überzeugt, dass sich der Weg zum Erfolg für eine elektronisch ausgerichtete Band in den frühen 1980er Jahren mithilfe einer Handvoll eingängiger Pop-Melodien bewältigen lassen müsste. Vince Clarke schien der richtige Kandidat dafür zu sein, ebendiese bereitzustellen – und Depeche Mode könnten die Silicon Teens aus Fleisch und Blut werden.

Die Termine der Aufnahmesessions zu Depeche Modes Debütalbum Speak & Spell orientierten sich an den jeweiligen Jobs, denen die Bandmitglieder weiterhin nachgingen. So arbeitete Martin Gore als Kassierer in einer Filiale der NatWest Band in der Fenchurch Street. Andy Fletcher verdingte sich ebenso im Finanzsektor bei der Sun Life Insurance im Herzen Londons. Der 18-jährige Dave Gahan besuchte immer noch das Southend Technical College und dekorierte zudem Schaufenster diverser Londoner Geschäfte. Nur der Gelegenheitsarbeiter Vince Clarke hatte genug Zeit – und vor allem Motivation –, um sich de facto hauptberuflich um die kreativen Agenden der Band zu kümmern, indem er sowohl Musik als auch Texte schrieb.

Im Verlauf einer zweitägigen Session, die dieses Mal in den Blackwing Studios stattfand, die sich in einer ehemaligen Kirche in Southwark befanden, nahm die Band „Dreaming Of Me“ und „Ice Machine“ auf. Wie ein Schwamm saugte Clarke das Studio- und musikalische Knowhow sowie allerlei Tricksereien des gut zehn Jahre älteren Daniel Miller auf. Gahan, Gore und Fletcher stießen erst in den Abendstunden hinzu. Nach einem langen Arbeitstag, an dem er Mannequins in feinen Zwirn gehüllt hatte, sang Gahan die Lead­stimme zu beiden Tracks, wie er es schon so oft bei den Auftritten von Composition Of Sound und Depeche Mode getan hatte. Diese ersten Aufnahmen veranlassten Seymour Stein vom amerikanischen Label Sire Records, einen Vertriebsdeal für Amerika mit der Band abzuschließen.

Im Sommer 1981 fanden sich Depeche Mode erneut im selben Studio ein, um einen Nachfolger für das in den Charts, im Radio und bei Kritikern erfolgreiche „Dreaming Of Me“ aufzunehmen. Da die Band an den Wochenenden gelegentlich auftrat und zwei Drittel ihrer Besetzung tagsüber immer noch regulären Jobs nachgingen, orientierte sich der Ablauf dieser Sessions stark an jenem vom vorigen Dezember. Miller zeigte Clarke neuerlich, wie er das Maximum aus den futuristischen Instrumenten und der Studioausrüstung herauskitzeln konnte. Clarke standen in den Blackwing Studios immerhin 16 Einzelspuren zur Verfügung. Am Gesang konnte jedoch erst gearbeitet werden, nachdem Gahan vom Southend Technical College zunächst nach London gereist und dann nach Southwark gekommen war.

Mit Clarke war Miller glücklicherweise auf einen geborenen Songwriter mit Gespür für eingängigen Pop einerseits und elektronische Instrumente andererseits gestoßen. Der bahnbrechende Track „New Life“ und die dritte Single „Just Can’t Get Enough“ waren einfach gute Songs mit publikumstauglichen Hooks. Dann gab es auf Speak & Spell mit „What’s Your Name?“ und „I Sometimes Wish I Was Dead“ noch Songs, die an Popnummern aus den Sixties erinnerten. (Letzterer trotz seines ominösen Titels.) Als ob jemand Beatles-­Kompositionen für die neuen elektronischen Instrumente der Achtzigerjahre frisch arrangiert hätte. Die Texte zeichneten sich durch straightes Storytelling aus, doch ergab ein Großteil von ­Clarkes lyrischen Beiträgen nicht viel Sinn und passte einfach nur gut zur jeweiligen Melodie. „Er sucht zunächst nach einer Melodie“, so Gore über Clarkes Songwriting, „dann ergänzt er sie mit Worten, die sich reimen.“ Selbst Clarke räumte ein: „Die Songs verfügten über keinerlei Botschaft und hatten echt bescheuerte Texte …“

Nachdem „New Life“ bis auf Platz 11 der UK-Charts geklettert und die Band wiederholt bei Top Of The Pops aufgetreten war, nahmen sich die Jung-Popstars Fletcher und Gore schließlich ein Herz und kündigten ihre Brotjobs. Gahan schmiss sein Kunststudium. Auf sie wartete der Pop-Olymp. Depeche Mode waren endgültig startklar.

Doch dann beschloss ihr Songwriter Vince Clarke, der Band den Rücken zu kehren.

„New Life“ 3:43

Obwohl es sich nicht um die erste Singleauskopplung der Band handelte (das war „Dreaming Of Me“), war es „New Life“, mit dem Depeche Mode so richtig in das öffentliche Bewusstsein vordrangen. Daher war es nur logisch, dass dieser bereits bekannte Titel auch als Opener des Debütalbums der Band fungieren sollte. Die Nummer bietet die perfekte Mischung aus den zeitgenössischen Synthesizer-Sounds von 1981 und den unsinnigen Texten, die einen großen Teil der New-Romantic-Bewegung charakterisierten, zu der sich Depeche Mode aber nur ungern zählten. Aus den Texten geht klar hervor, dass es dem Songwriter Vince Clarke mehr um den Klang der Worte als um ihre eigentliche Bedeutung ging. Dieser perfekte, etwa dreiminütige Popsong beginnt zunächst behutsam, ja fast majestätisch, mit sanft angeschlagenen Keyboard-Klängen. Nach 23 Sekunden zieht das Tempo an, und der computerisierte Drumbeat setzt ein, gefolgt von Gahans Gesang bei der 35-Sekunden-Marke. Nach gerade einmal einer halben Minute sind Depeche Mode angekommen.

Die Struktur des Songs ist eher unkonventionell – das Break zwischen Gesang und Backbeat, das kurz vor der Zwei-Minuten-Marke kommt, dauert länger, als die meisten Hörer wahrscheinlich erwartet haben, gefolgt von dem gesungenen Höhepunkt („Aaahhhh“) nach drei Minuten, bei dem alle vier Mitglieder einstimmen. Der Song strotzt nur so vor Jugendlichkeit und Begeisterung darüber, zu Beginn der 1980er Jahre in einer Band zu spielen.

Nach ihrer Veröffentlichung am 13. Juni 1981 hielt sich die Single „New Life“ 15 Wochen in den UK-Charts, nachdem sie auf Platz 55 eingestiegen war – gegenüber Platz 57, der höchsten Position der Debütsingle „Dreaming Of Me“, bereits ein Fortschritt. Der Song lief im Verlauf von mehreren Wochen immer öfter im Radio, woraufhin er in den Charts bis Position 11 kletterte. „New Life“ schaffte es zwar nicht in die Top-10, verkaufte sich aber insgesamt rund 500.000 Mal und bescherte den Newcomern drei Playback-Auftritte in Top Of The Pops – am 25. Juni, 15. Juli und 29. Juli.

Mute hatte sich die Ausgaben für ein Musikvideo gespart, und der unmittelbare Erfolg von „New Life“ war für alle eine Überraschung. Die Band schaffte es auch zum ersten Mal aufs Titelblatt von Smash Hits: Die vier ordentlich gekleideten Milchgesichter zierten die Ausgabe, die zwischen dem 9. und 22. Juli 1981 erhältlich war. Hot Press bezeichnete den Track als „ehrlichen Synthpop“, während Sounds ihn mit einem „Ausflug ins Grüne“ verglich. „New Life“ hielt sich einige Jahre in der Setlist – bis 1985. In den USA erreichte „New Life“ Ende August 1981 immerhin Platz 29 in den Billboard Dance Club Songs Charts und behauptete sich dort ganze zwölf Wochen. Als Visitenkarte, die die Ankunft von Depeche Mode bekanntgab, war „New Life“ sowohl thematisch als auch musikalisch kaum zu übertreffen.

„I Sometimes Wish I Was Dead“ 2:16

Der kürzeste Track auf Speak & Spell. Der Song mit dem eigentümlichen Titel ist eine von mehreren frühen Depeche-Mode-Nummern, die an Sixties-Popsongs erinnern. Bubblegum-Pop für das elektronische Zeitalter, wenn man so will. Wie zahlreiche andere Tracks auf Speak & Spell beginnt auch dieser mit einem fast schon kitschigen Synthie-Riff, das mit dem Einsetzen des Rhythmus an Tiefgang gewinnt. Gesangsharmonien gibt es hier im Überfluss, was sich wie ein roter Faden durch einen Großteil des Albums zieht. Aufgrund von Titeln wie diesem hier pries der Record Mirror das Album als „spritzig und kurz, wie der beste Pop sein sollte“. Sich seiner selbst durchaus bewusst – der Text verweist auf die „New sounds all around“ –, widmet sich Clarke Themen wie dem Tanzen und Teenager-Beziehungen. Eben jene Dinge, die auch im Leben der Band eine Rolle spielten. Letztlich ging es hier um eine Form „moderner Liebe“, und die Musik von Depeche Mode war dafür von zentraler Bedeutung. „I Sometimes Wish I Was Dead“ wurde als Flexi-Single in Ausgabe #11 des Magazins Flexipop! veröffentlicht, für das sich Dave Gahan lächelnd in einen Sarg legte. (Eine seltsame Vorwegnahme seiner späteren Possen auf Tournee.) Der Track auf der Flexi-Disc-Veröffentlichung trug den falschen Titel „Sometimes I Wish I Was Dead“ und war nur 2:12 lang. Das Intro unterschied sich zwar radikal von der Albumversion, doch der Rest wurde bis auf leichte Änderungen bei den mittleren Harmonien und dem langgezogenen Outro beibehalten.

„Puppets“ 3:55

Dieser Song, den Gahan bei frühen Auftritten mitunter als „Operator“ ankündigte, war der erste Track auf Speak & Spell, der als Hinweis auf jene Düsternis gelesen werden kann, auf die sich Depeche Mode einst spezialisieren sollten. Von Beginn an ist „Puppets“ kantiger, melancholischer und langsamer als die beiden Auftaktnummern. Der Text wird seinem Titel gerecht und deutet eine von einseitiger Dominanz geprägte Beziehung an: „You think you’re in control … I’ll be your operator, baby/I’m in control.“ Hierbei handelt es sich nicht um Clarkes üblichen federleichten Pop, sondern um einen Schritt weg von jenem Electro-Bubblegum und hinein in Gefilde, die man eher von Kraftwerk kannte. Textlich ist „Puppets“ ein Vorbote jener späteren Mode-Tracks, die Martin Gore irgendwo zwischen Perversion und Prunk ansiedelte.

Die Synthies bei „Puppets“ mögen Leichtigkeit vermitteln, aber der Text kommuniziert Schwermut, untermalt von einem spannungsgeladenen Synthie-Violinen-Crescendo, das auch auf dem Soundtrack eines Horrorfilm-Leihvideos aus diesen Tagen eine gute Figur gemacht hätte. Der Track entspricht dem Blickwinkel eines kontrollsüchtigen Beziehungspartners, wobei Gahans fast schon geflüsterte Darbietung die nervöse Grundstimmung des subversiven Textes noch betont.

Der Song lässt sich aber auch ganz anders deuten. So behauptet etwa Clarkes einstmalige Freundin Deb Danahay: „‚Puppets‘ klang wie ein Love Song, doch handelt er eigentlich von Drogen.“ Die Nummer prägt eine düstere Atmosphäre, die im krassen Kontrast zur beschwingten Synthie-Melodie steht. Der eindringliche Rhythmus treibt den Track schließlich seinem langgezogenen Finale entgegen.

„Boys Say Go!“ 3:03

Vince Clarke schrieb für die frühen Depeche Mode eine Reihe von perfekten Popsongs. Viele davon waren schlichte Liebeslieder, die oft die jugendlichen Sehnsüchte der noch nicht lange der Schule entwachsenen Bandmitglieder selbst sowie die ihrer Plattenkäufer widerspiegelten. „Just Can’t Get Enough“ kann hier als Paradebeispiel genannt werden. Clarke war nicht nur das musikalischste und textlich versierteste Mitglied der Urbesetzung der Band, sondern verfügte auch über kommerzielles Gespür. Er lernte von Daniel Miller, wie man Musik „produzierte“, aber er lernte auch, wie man Musik an das größtmögliche Publikum verkaufte.

Der frühe Synthie-Pop übte in den Jahren 1980 bis 81 unleugbar einen großen Reiz auf Schwule aus. Zweideutige Sexualität war allgegenwärtig – von Gary Numan (war er ein Roboter?) bis hin zu Annie Lennox (war sie ein Er?). Clarke sprach die schwule Community auf Speak & Spell vor allem mit den Songs „Boys Say Go!“ und „What’s Your Name?“ an. Die zweideutige Sexualität, die Popmusik so oft in sich vereint, stand in den 1980er Jahren nun viel stärker im Vordergrund als je zuvor. (Der einzigartige David Bowie bildete im Jahrzehnt zuvor eher die Ausnahmen als die Regel.) Genau in diese Stimmung platzte „Boys Say Go!“, eine Explosion homoerotischer Melodien, die von einem Fußballtribünen-Sprechchor eingeleitet wurde. Texte wie „Take me for a ride“ sollten in späteren Songs auch in der Ära nach Clarke wiederkehren (etwa in „Never Let Me Down Again“), aber es ist der Refrain „Boys meet, boys get together/Boys meet, boys live forever“, der das sexuelle Terrain und die Energie des Songs verdeutlicht. Oder vielleicht war es doch, wie die Band einmal behauptete, einfach nur ein Song über das Ausgehen auf ein paar Bier mit den Jungs?

„Nodisco“ 4:11

Trotz aller Beweise, die das Gegenteil belegten, etwa Songs wie „Big Muff“ und „Boys Say Go!“, behaupteten Depeche Mode beharrlich, nicht vom Disco Sound der 1970er Jahre beeinflusst zu sein. „Nodisco“ gibt sich sowohl musikalisch als auch textlich vergeblich Mühe, sich von Donna Summer („I Feel Love“, 1977) und Konsorten zu distanzieren. Auch Kraftwerk und Gary Numan standen hier offensichtlich Pate. Umso lustiger, dass der Track von jemandem zu handeln scheint, der in einem New-Wave-Club wie dem Blitz im Stil von John Travolta in Saturday Night Fever auf der Tanzfläche dem Discofieber frönt: „Sometimes when I wonder if you’re taking a chance/This ain’t no disco/And you know how to dance.“ Wer zu Synthie-Pop tanzte, bewegte sich oft zwangsläufig wie ein Roboter. Dave Gahan war ein höchst widerwilliger Tänzer während Depeche Modes frühesten Performances, bei denen er oft bloß sachte hin und her swingte. Ganz anders als in späteren Jahren, als er in die Rolle eines Rock-Gottes schlüpfte, der wie eine Mischung aus Iggy Pop und Mick Jagger wirkte.

„Nodisco“ ist definitiv das Paradebeispiel für Vince Clarkes Nonsens Lyrics. So bestehen berechtigte Zweifel daran, dass er selbst wusste, was er damals genau meinte – aber immerhin klang es gut. Der pulsierende elektronische Beat nimmt eine zentrale Rolle ein, doch darüber schmiegt sich eine hübsche Synthie-Melodie, die eher an die düstere, abgründigere Tonalität von Tracks wie „Photographic“ oder „Puppets“ angelehnt ist, wobei der Song jedoch den nötigen textlichen Rückhalt vermissen lässt. Der instrumentale Mittelteil legt nahe, welches Potenzial die Nummer besessen hätte, doch letzten Endes hinterlassen Zeilen wie „Baby don’t you let go“ und „There’s a thousand watts in you“ doch zu wünschen übrig.

„What’s Your Name?“ 2:41

Obwohl er als ein weiteres feines Beispiel für Pop in der Machart der 1960er Jahre im frischen Gewand der elektronischen 1980er durchging, war „What’s Your Name?“ dennoch ein relativ belangloser Track, den Martin Gore auf dem zweiten Depeche-Mode-Album A Broken Frame trotzdem noch einmal in Erinnerung rufen würde. Ursprünglich trug der Song den Titel „Pretty Boy“, womit er der zweite homoerotisch angehauchte Track auf Speak & Spell war – ein musikalisch wie textlich simpler Love Song, bei dem ein Junge offenbar über einen anderen Jungen sang. „All the boys, we got to get together/All the boys together we can stand“ klang, als wäre dafür in „Boys Say Go!“ kein Platz mehr gewesen. Auch der harmonische Chorgesang war hier wieder zu hören. Wenn Gore das Wort „pretty“ buchstabiert, klingt das wie direkt aus einem Bubblegum-Track aus den 1960er Jahren, während sich der fröhliche Zwischenruf, der den Höhepunkt des Songs markiert, ungeniert bei „New Life“ bedient. Der Legende nach intendierte Vince Clarke den Song als Antwort auf ein falsches Zeitungszitat, dem zufolge er der Ansicht sei, dass „gut aussehende“ Bands eher Erfolg hätten. Nicht ganz grundlos nannten sowohl Gore als auch Andy Fletcher „What’s Your Name?“ in einer Folge der Show Popworld auf Channel 4 im Jahr 2005 als jenen Song, der ihnen von Depeche Mode am wenigsten gefalle. Dementsprechend selten kam er bei den Konzerten der Band zum Einsatz – zuletzt 1982 im Rahmen der See You Tour.

„Photographic“ 4:44

Die zweite Seite der LP startet mit einem von Depeche Modes stärksten Frühwerken. Der Song ist ein wenig länger, mit einem hübschen rhythmischen Aufbau, bevor der Gesang schließlich einsetzt. Der schlichte Refrain – „I take pictures/Photographic pictures“ und „Bright light/Dark room“ – ist einfach perfekt, wird mit jeder Wiederholung besser und verleiht dem Song Struktur. Clarkes wie immer mysteriöser Text ließ reichlich Interpretationsspielraum. So könnte der Song von einem Stalker handeln, der das Objekt seiner sexuellen Begierden unablässig fotografiert. Auch könnte es hier um einen Tatort-Fotografen gehen, der ein Mordopfer ablichtet, das gleichzeitig auch die Freundin dieses Protagonisten ist.

Die ersten Textzeilen erinnern stark an Numan, samt solchen Synth-Pop-Obsessionen wie Licht, Augen, Karten und Programmen. „The years I spend thinking/Of a moment we both knew“ könnte man einfach nostalgisch deuten – ein Mann betrachtet ein Foto einer verflossenen Liebe. Der Song wurde etliche Male überarbeitet und ist einer der wenigen frühen Tracks, deren Evolution gut dokumentiert ist. Songwriter Clarke fertigte bereits im Frühsommer 1980, als die Band noch Composition Of Sound hieß, ein primitives Heim-Demo an. (Die anderen Songs, die er damals als Demo festhielt, waren „Television Set“ und zwei titellose Nummern – die eine erinnerte an John Foxx und hieß möglicherweise „Sunday Morning“, während die andere sich als Titelmelodie für eine 1970er-Science-Fiction-Show geeignet hätte.) Die Demoversion von „Photographic“ ist etwas schneller, getriebener und fast schon Punk. Clarkes gesanglicher Ansatz ist deklarativer, während die Synthie-Instrumentierung einen ungeschliffenen Eindruck vermittelt. Im selben Sommer entstand ein weiteres Demo. Das Tempo wurde hierfür gedrosselt, ähnlich wie beim fertigen Albumtrack, was auch auf den Gesang zutraf, den nunmehr Dave Gahan beisteuerte. Der klickende Schlagzeug-Sound, der hier durchgehend verwendet wird, nervt jedoch und schaffte es auch nicht auf die fertige Version. Die erste professionelle Aufnahme des Songs (im November 1980) war die noch düsterere Version, die auf Some Bizzare [sic] veröffentlicht wurde und in einem mittleren Tempo gehalten ist, zwischen dem schnellen ersten Demo und der langsameren, eindringlichen Version, die die zweite Seite des Albums Speak & Spell eröffnet.

„Tora! Tora! Tora!“ 4:34

Der Titel stammt von jenem Codesignal, das von den japanischen Bombern verwendet wurde, die am 7. Dezember 1942 Pearl Harbor angriffen und die USA in den Zweiten Weltkrieg verwickelten. Es war auch der Titel eines Films von 1970, in dem die Ereignisse rund um den Angriff geschildert wurden. Richard Fleischer führte Regie, und die Besetzung bestand sowohl aus amerikanischen als auch japanischen Schauspielern. Das zweisilbige Wort „tora“ bedeutet im Japanischen „Tiger“ und wurde verwendet, um zu verdeutlichen, dass der Angriff auf Amerika völlig überraschend – quasi aus dem Hinterhalt – erfolgte.

„Tora! Tora! Tora!“, der erste von zwei Songs auf Speak & Spell von Martin Gore, war in mehrfacher Hinsicht ein Ausreißer. Der Song ist viel langsamer und bedächtiger als viele der anderen Tracks – mitsamt schwerfälligem Keyboard, das zusammen mit behäbiger Rhythmus-Begleitung die eigentliche Melodie ankündigt. Gahans Gesang ist ebenso schwermütig, wobei er die letzte Silbe jeder Zeile in die Länge zieht. Trotzdem ist auf der Zielgeraden des Songs eine gewisse Dringlichkeit zu spüren, die dem Ganzen etwas Vitalität verleiht. Handelt der Song nun von den Ereignissen in Pearl Harbor oder doch von der Entstehung des Films? Die Zeile „I played an American“ legt Letzteres nahe, aber es steht auch eine Analogie zwischen Liebe und Krieg im Raum: „They were raining from the sky/Exploding in my heart“ kann man als Anspielung auf einen Bombenhagel lesen. Es könnte sich aber auch darauf beziehen, wie es sich anfühlt, wenn man sich verliebt. So gesehen könnte „You took my love then died that day“ auch das Ende einer Affäre oder den Tod eines geliebten Menschen andeuten. Es gibt eine Fan-Theorie, die besagt, dass sich das Thema Selbstmord durch viele der Songs auf Speak & Spell zieht, was nur beweist, dass man diese frühen Texte so interpretieren kann, wie es einem gefällt!

„Big Muff“ 4:20

Gores zweiter Song ist ein Instrumentalstück, wie es auf vielen frühen Synthie-Pop-Alben zu finden war. Doch Depeche Mode hielten länger als die meisten anderen Acts daran fest. Der Titel, der im Englischen missverständlich gedeutet werden kann – „muff“ ist auch Slang für „Schambehaarung“ –, bezieht sich auf ein weithin gebräuchliches, in Amerika angefertigtes Distortion-Effekt-Pedal. Auch wenn es sich bei „Big Muff“ bloß um eine Abwandlung von Electro-Disco handeln mag, ist die Nummer auf seltsame Weise fesselnd, besonders für jeden, dessen Musikgeschmack in den späten 1970ern oder frühen 1980er Jahren geprägt wurde. Die Band spielt im Stil von Geoff Love mit den Möglichkeiten der neuen Technologie und ahmt mit ihren innovativen Instrumenten eine ältere Spielart von Musik nach. Das Stück wurde als Einleitung für einige der ersten Konzerte der Band im Jahr 1980 verwendet und blieb bis zur Ära rund um die Veröffentlichung von Construction Time Again von 1983-84 ein Teil ihres Live-Sets. Gerade zu Beginn ihrer Karriere war die Live-Version viel rauer als die glatte Version auf Speak & Spell.

„Any Second Now (Voices)“ 2:35

Ein weiterer von einem Film inspirierter Titel. In Any Second Now von 1969 spielte Stewart Granger einen Fotografen, der plant, seine Frau zu ermorden. (Hey, vielleicht handelte „Photographic“ ja ebenfalls davon.) Es ist ein sehr gefühlvoller Track – und die erste Nummer, die Martin Gore in der Rolle des Leadsängers sah. Der Text nimmt Bezug auf filmische Aspekte – „the same film“ und „vivid pictures“ –, doch scheint der Song letzten Endes von Angst und Zweifeln zu handeln, die sich im Verlauf der ersten intimen Momente zu Beginn einer Beziehung ergeben können: „She remembered all the shadows and the doubts.“ Auch „warnings“ und „messages“ sowie ein Augenblick, der „almost slips away“, werden thematisiert, doch letztlich endet alles gut „as you touch my hand“. Der Song profitiert sicher von Gores sanfterem Gesang – eine Finte, die die Band auch in Zukunft gern zum Einsatz bringen sollte, um mit einer wehmütigeren Alternative zu Gahans Interpretationen aufwarten zu können, vor allem, als mit der Zeit Gores Beiträge zu Depeche Mode immer düsterer wurden.

„Just Can’t Get Enough“ 3:40

Speak & Spell schließt mit der triumphalen dritten Single aus dem Jahr 1981: „Just Can’t Get Enough“. Nachdem „Dreaming Of Me“ nur wenige Hörer für sich hatte begeistern können, nutzten Depeche Mode „New Life“ als Sprungbrett, um sich ins Pop-Bewusstsein zu katapultieren. Das Stück wurde im Sommer 1981 in den Blackwing Studios aufgenommen, wo Speak & Spell produziert wurde. Es war der letzte Track, den Vince Clarke beisteuerte, und es war die erste Nummer, zu der ein Musikvideo entstand, um es zu promoten. Infolgedessen wurde „Just Can’t Get Enough“ bei seiner Veröffentlichung im September 1981 Depeche Modes erster Top-10-Hit und erreichte Platz 8 der UK-Singles-Charts. Der Titel war auch die erste ­US-Single der Band und erreichte auf der anderen Seite des Großen Teiches immerhin Platz 26 der Hot Dance Club Play Charts von Billboard. „Just Can’t Get Enough“ ist einer der wenigen Tracks von Depeche Mode, die sich durchgängig im Live-Set halten konnten und auch bei der Memento Mori-Tour von 2023-24 gespielt wurden. Der Text ist eingängig, wobei sich Clarke an der Pop-Romantik der 1960er Jahre orientierte. Er vereint alle Kerneigenschaften der frühen Depeche Mode – ohrwurmverdächtige Synthies, einen Mitsing-Refrain und einen simpel gehaltenen Aufbau. Im Gegensatz zu sämtlichen anderen Lyrics von Clarke bestehen auch keinerlei Zweifel hinsichtlich der Bedeutung des Songtexts.

Für das Video, für das ganz offensichtlich nur ein geringes Budget zur Verfügung stand, wurde Clive Richardson als Regisseur engagiert. Darin sah man die Bandmitglieder – allesamt in Leder gehüllt (Fletch trug sogar ein Lederkäppi, was er vielleicht hätte bleiben lassen sollen) –, wie sie den Song performten, während eine Handvoll Models, denen unleugbar der unnachahmliche Charme der 1980er Jahre anhaftete, eine kesse Sohle aufs Parkett zauberten. Clarke wirkt zurückhaltend und gibt sich reserviert, während die Kamera viel Aufmerksamkeit den Fingern auf den Keyboards widmet – als ob dies der Schlüssel zu diesem schrägen neuen Sound der Zukunft wäre. Zwischen die Bilder der Performance wurden Szenen geschnitten, die zeigen, wie die Jungs und Mädels sich im Londoner Ausgehviertel South Bank amüsierten. Sie sitzen dabei in einem Café und tun so, als ob sie – mehr schlecht als recht – den Refrain singen.

„Just Can’t Get Enough“ erfreute sich großer Beliebtheit und markierte die wahre Niederkunft von Depeche Mode als Avataren des Elektropop – noch mehr, als es der New-Wave-Song „New Life“ vermocht hatte. Es war schlichtweg ein großartiger Popsong, der mit einer frischen Instrumentierung umgesetzt wurde. Der Track bewies auch langen Atem und große Nachhaltigkeit, indem er in allen möglichen Filmen, Fernsehserien und Werbespots angespielt wurde. Bereits 1982 war der Song in der romantischen Filmkomödie Summer Lovers zu hören. Später kam er unter anderem in der romantischen Komödie Eine Hochzeit zum Verlieben (1998) und der britischen Komödie Der Sohn von Rambow (2007) zum Einsatz. In mehreren Fernsehserien wurde der Track ebenfalls verwendet, darunter in Folgen von American Horror Story und Philip K. Dicks Electric Dreams sowie in Episoden von Masters Of Sex, Gossip Girl und The Comeback. Werbespots für Samsung, Churchill Insurance, die amerikanischen Einzelhandelsketten Target, Walmart und Staples und viele andere verließen sich auf den Wiedererkennungswert und die Zugkraft von „Just Can’t Get Enough“. Es handelt sich zudem um jenen Song von Speak & Spell, der am häufigsten live gespielt wurde, nämlich von 1980 bis zum ersten Teil der Memento Mori Tour insgesamt 625 Mal.

Weitere Songs

„Dreaming Of Me“ 3:42

Jener Song, den Depeche Mode am 20. Februar 1981 als ihre allererste Single veröffentlichten, schaffte es nicht einmal auf ihr Debütalbum, was auf die lauwarme Rezeption in den UK-Singles-Charts zurückzuführen war, wo nicht mehr als Platz 57 drin war. Fast schon bizarr: Die Platte feierte größere Erfolge in den USA, wo sie als Import-Single immerhin Platz 47 erreichte und sich 17 Wochen lang in den Billboard Dance Club Songs Charts halten konnte. Der Text nimmt stellenweise die inhaltliche Ausrichtung von „New Life“ vorweg, wenn da Filme sowie das Filmen an sich, aber auch das Verschmelzen von Gesichtern besungen wird, während die Harmonien wie ein Probelauf für das Finale zu „New Life“ anmuten. Gahans Gesang wirkt ein wenig roher, und alles in allem ist der Track ein bisschen weniger kommerziell als „New Life“, doch handelt es sich trotz allem um gut gemachten frühen Synthie-Pop. Der Song wurde 1983 aus der Setlist der Band gestrichen. In einer Konzertkritik zu einem Gig vom 16. Februar 1981 im Cabaret Futura beschrieb Smash Hits „Dreaming Of Me“ als „einfach wunderbar … geschmackvoll und melodiös, tanzbar und intelligent – es sollte ein Riesenhit sein“. Es kam leider anders, doch findet die Nummer immer noch Gefallen bei Depeche-Mode-Fans, die versuchten, den Song zu seinem 30. Geburtstag noch einmal in die UK-Charts zu hieven. Zwar misslang dies, doch stieg der Track in Deutschland immerhin noch einmal auf Platz 45.

„Ice Machine“ 3:53

Die B-Seite zu „Dreaming Of Me“. Hier werden bereits die abgründigeren Facetten der Band, abseits von Vince Clarkes Synthie-Pop, angedeutet. So wie die A-Seite fand auch dieser Song keinen Platz auf Speak & Spell, obwohl man ihn als richtungsweisend für die spätere Ausrichtung der Band nach Clarkes Abschied lesen kann. „Ice Machine“ haftet mehr als nur ein zarter Hauch von Kraftwerk an, wohingegen der Text in gängiger New-Romantic-Fasson auf Dinge anspielt, die nur vage und nicht greifbar sind. Als Gesamtpaket vermittelte die Single „Dreaming Of Me“/„Ice Machine“ einen Vorgeschmack auf den Sound der Zukunft.

„Shout!“ 3:46

„Shout!“, das als B-Seite von „New Life“ veröffentlicht wurde, umgibt eine gewisse mysteriöse Note und repräsentiert beiderlei textliche Herangehensweisen von Clarke. Einerseits gibt es hier Pseudo-­Beatles-Zeilen wie „I wanna hold your hand/We’ve got to get it right“ und andererseits obskure Anspielungen à la „She was silent trying to be/Like the girl who acted on the TV“ oder „Dangerous and beautiful the/Radio transmissions that I have to know“. Rein musikalisch gibt „Shout!“ mehr her: Hier stehen Sirenengeräusche und nicht der Gesang im Fokus. Auch funktionierte die Nummer live überraschend gut, wie Gahans Darbietung bei den Konzerten in Hamburg im Jahr 1984 zeigte. Zu diesem Zeitpunkt war bereits Alan Wilder zu ihnen gestoßen und ihr musikalischer Stil weiter gereift. Doch „Shout!“ fügte sich gut ein, da der Gesang viel lauter gemischt war, als bei einem Konzert erforderlich. Die Live-Version strotzt nur so vor Echo-Effekten und Verve und kommt gut beim Publikum an. Als Draufgabe gibt es noch ein paar für Depeche Mode damals typische Metall-Geräusche. Ein Paradebeispiel dafür, wie selbst das vermeintlich schwächste Material, wenn man es richtig anpackt, zu einem Live-Knaller umgestaltet werden kann.

„Any Second Now“ 3:08

Die Instrumentalversion des gleichnamigen Albumtracks, welche als B-Seite von „Just Can’t Get Enough“ erschien, womit es gleichzeitig das erste Instrumental war, das die Band veröffentlichte.

A Broken Frame (1982)

Mitwirkende:

Dave Gahan: Leadgesang

Martin Gore: Keyboards, Begleitgesang, zusätzlicher Gesang bei „The Meaning Of Love“ und „Shouldn’t Have Done That“

Andy Fletcher: Keyboards, Begleitgesang

Aufgenommen in den Blackwing Studios, London, Dezember 1981 bis Juli 1982

Produzenten: Daniel Miller, Depeche Mode

Alle Songs von Martin Gore

Veröffentlicht am 27. September 1982

Label: Mute

Laufzeit: 40:55

Höchste Chartplatzierungen: UK: 8; USA: 177; Deutschland: 56; Neuseeland: 43; Schweden: 22

Gerade als Depeche Mode – eine Band, die vorwiegend aus Teenagern bestand – 1981 mit zwei Hit-Singles und dem starken Debütalbum Speak & Spell der Durchbruch gelungen war, verloren sie ihren kreativen Anführer. Von allen vier Bandmitgliedern war Vince Clarke in musikalischer Hinsicht das reifste. Er war etwas älter und hatte den Großteil der Nummern auf Speak & Spell geschrieben – Martin Gore hatte zwei Songs beigesteuert, von denen einer ein Instrumental war. Wie gewonnen so zerronnen: So musste es dem verbliebenen Trio vorgekommen sein.

Clarke war ausgestiegen, da er sich nicht im Einklang mit der restlichen Gruppe wähnte. Er stand nur ungern im Rampenlicht, wie das etwa Gahan tat. Zudem verspürte er zu viel kreativen Druck bei Depeche Mode, obwohl er bloß als ein Viertel des großen Ganzen wahrgenommen wurde. Die Musik von Depeche Mode als „Produkt“ promoten zu müssen war schließlich der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Er hasste sämtliche Fernsehauftritte, vor allem, wenn es sich dabei um Formate für Kinder und Jugendliche handelte – und davon gab es reichlich zu absolvieren, da sich damals im britischen Fernsehen nur wenige Sendungen rein auf Popmusik konzentrierten. Clarke wollte sich nicht unbedingt auf der Titelseite von Smash Hits sehen. Dass Clarkes Ausstieg unmittelbar bevorstand, wurde Daniel Miller von Mute Records klar, als sie vor der Veröffentlichung von Speak & Spell auf eine kurze Tour aufbrachen. Als sie nach Großbritannien zurückkehrten, ließ Clarke die Katze aus dem Sack. Er würde Depeche Mode verlassen. Zwar wollte er noch die Tournee durch die Heimat absolvieren, doch danach beabsichtigte er, seinen Abschied offiziell zu verkünden.

Für eine Formation aus dem Synthie-Bereich waren Depeche Mode immer schon eine starke Live-Band. Obwohl sie anfangs nur ein paar Typen waren, die schüchtern hinter ihren Keyboards standen und Dave Gahan noch Lichtjahre von seiner späteren Rock-Gott-Persona entfernt war, hinterließen sie dennoch einen markanten Eindruck. So hatten sie es ja auch ihrem Potenzial als Live Act und ihrer Wirkung auf das Publikum zu verdanken, dass sie sowohl das Interesse von Daniel Miller und auch Seymour Stein von Sire Records auf sich gezogen hatten. Zwischen der jeweiligen Veröffentlichung der ersten Singles waren sie weiterhin durchwegs auf britischen Bühnen präsent und begannen, auch in Europa Fuß zu fassen. Gahan überwand allmählich seine anfängliche Zurückhaltung und wurde zu jener Art Frontmann, den die Band brauchte. Mit seiner sehr gefühlvollen Stimme hauchte er ihrem unvergleichlichen Synthie-Pop Leben ein. Barney Hoskins verglich die Reaktion des Publikums auf die Band im NME mit nichts weniger als einem „Zustand der Entrückung“.

Ein weiteres Problem bestand für Clarke im mangelnden Interesse seiner Bandkollegen an den technischen Details, die ihren Sound erst ermöglichten. Keines der übrigen Bandmitglieder schien sich für neue Entwicklungen in der Synthesizer-Technologie zu interessieren oder dafür, wie diese ihren sich gerade erst entwickelnden Sound beeinflussten. Als sie begannen, das für jeden Act so schwierige zweite Album zu diskutieren, schien der Konsens zu sein, einfach eine Art Neuauflage von Speak & Spell zu machen, was Clarkes musikalische Ambitionen nicht befriedigte. Im Alter von 21 verließ er jene Band, die gerade begonnen hatte, sich einen Namen zu machen. Er verfolgte seine musikalischen Ziele in weiterer Folge mit Yazoo (zusammen mit Alison Moyet aus Basildon; Clarke hatte ihren großen Debüt-Hit „Only You“ ursprünglich Depeche Mode angeboten, die ihn aber ablehnten), dann The Assembly und letzten Endes zusammen mit Andy Bell als eine Hälfte des Zwei-Mann-Acts Erasure.

Der Abschied von Clarke kam zwar nicht gänzlich überraschend, war aber auch nicht wirklich erwartet worden. Nun sahen sich die restlichen Mitglieder gezwungen, das, was auf andere vielleicht wie ein Teenager-Spaß wirkte, in eine dauerhafte Sache zu verwandeln. Infolgedessen wurde die Aufgabenverteilung zwischen Gahan, Gore und Fletcher besser organisiert und somit eindeutig professioneller. Der musikalisch weniger versierte Fletcher unterstützte fortan Daniel Miller intensiver beim Management der Band, sowohl hinsichtlich finanzieller als auch kreativer Agenden, was bis dahin Clarke übernommen hatte, während Gore nun in die Rolle des zwischenzeitlich alleinigen Songwriters schlüpfte und Clarkes fröhliche Dur-Tonart durch mollgefärbte Kompositionen ersetzte. Gahan erfüllte weiterhin seine Rolle als Leadsänger und Frontmann. Daniel Miller erwähnte einmal, dass die Möglichkeit, einen Schlussstrich zu ziehen und Depeche Mode aufzulösen, nie ernsthaft in Erwägung gezogen wurde: Die Jungs hatten begonnen, ihr neues Popstar-Leben zu sehr zu genießen – was Clarke hingegen schwerfiel. Gahan sagte 1982 im Gespräch mit Sounds: „Ich glaube, Vince war vielleicht ein bisschen überrascht, wie wir reagiert haben, aber wir waren doch ziemlich gut vorbereitet.“

Für die anstehenden Konzerte wurde rasch Ersatz für Clarke gefunden. Die Band brauchte ein viertes Mitglied für ihre zwei Abende in New York im Januar 1982, weshalb sie eine unscheinbare Anzeige im Melody Maker schaltete: „Namhafte Band sucht Synthesizer-Spieler, muss unter 21 sein.“ Natürlich meldeten sich darauf zahlreiche Kandidaten, da in derselben Ausgabe auch über Clarkes Ausstieg aus der Band berichtet wurde, weshalb sich jeder zusammenreimen konnte, um wen es sich bei der „namhaften Band“ handelte. Von den Bewerbern, die daraufhin vorspielten, stach ein Aspirant klar heraus: Alan Wilder. Er war zwar nicht „unter 21“, sondern sogar über 22 (Baujahr 1959, im Gegensatz zu den anderen Sixties-Kids bei Depeche Mode), aber er verfügte über das nötige Talent, um als fit für die Bühne zu gelten. Wilder unterschied sich stark von den anderen Depeche-Mode-Mitgliedern: Er war nicht nur älter und stammte aus der Mittelschicht, sondern war als Musiker sogar professionell geschult.

Sich einer Popband anzuschließen, war Wilders Traum gewesen, seitdem er in den 1970er Jahren Marc Bolan und David Bowie angehimmelt hatte. Er spielte dann eine Zeitlang in einer Gruppe namens The Dragons und ein paar anderen Bands, doch keine davon kam je vom Fleck. Obwohl er den frühen Sound von Depeche Mode als „naiv“ abtat, empfand er ihre musikalische Zielsetzung dennoch als „interessant“. Fürs Erste wurde er als reine Aushilfskraft für die Tour engagiert. Die angestammten Bandmitglieder machten ihm klar, dass sie nicht auf der Suche nach einem festen vierten Mitglied befanden. Wilder hatte zwar den Eindruck, dass er sehr wohl etwas Sinnvolles beizusteuern imstande wäre, doch musste er warten, bis seine Zeit gekommen war.

So begaben sich Depeche Mode im November 1981 zu dritt ins Studio, um mit den Aufnahmen zu ihrem zweiten Album A Broken Frame zu beginnen. Zunächst wollten sie bloß eine neue ­Single einspielen, um Gore etwas mehr Zeit zu verschaffen, um genug Material für ein ganzes Album zu schreiben. Das Ergebnis war „See You“ – ein alter Song von Gore, den er bereits vor Depeche Mode komponiert hatte und der einst das Repertoire von Norman & The Worms bereichert hatte. Die Originalversion war noch ein bisschen schlicht und musste von Gore und Miller zuerst auf den neuesten Stand gebracht werden.

Gores sich langsam entfaltendes Potenzial als Songwriter wurde auch ganz klar durch die Trennung von seiner Freundin Anne Swindell beeinflusst. Sie hatte die Band auf Tour begleitet und mit Gahans Freundin (und späterer Ehefrau) Jo Fox sowie Clarkes Freundin Deb Danahay den Depeche Mode Information Service gegründet. Die Beziehung zwischen Gore und Swindell stand schon länger unter keinem guten Stern. Gore beschrieb Swindell als „fromme Christin“, während er sich von seinen früheren religiösen Überzeugungen verabschiedet hatte und die neuen Freiheiten, die Depeche Mode boten, auch ausnutzte, um andere Facetten seiner Persönlichkeit zu erforschen. All das sollte er nun in sein Songwriting einbringen, sowohl auf A Broken Frame als auch später.