Der achtsame Mr. Caine und das allerletzte Lied - Laurence Anholt - E-Book
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Der achtsame Mr. Caine und das allerletzte Lied E-Book

Laurence Anholt

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Beschreibung

Ein englischer Krimi voller Charme - der buddhistische Ermittler Mr. Caine ist zurück! Im zweiten Band der charmanten Krimi-Reihe von Laurence Anholt ermittelt der achtsame Mr. Caine in einem spektakulären Mordfall auf dem Glastonbury Festival. Als die verfeindeten Flynn-Brüder mit ihrer Band "Stigma" die Bühne betreten, wird Ethan Flynn von seiner eigenen Gitarre durch einen Stromschlag getötet. Unversehens reißt es DI Vincent Caine aus seinem selbstvergessenen Tanz. Dann taucht auch schon seine bissige Partnerin DI Shanti Joyce bei dem Festival auf. Bald arbeitet sich das ungleiche Ermittlerduo durch den Festival-Schlamm und eine schwindelerregende Anzahl einander widersprechender Aussagen.  Gegen ihren Willen muss Shanti die Toilette mit allen anderen und das Zelt ausgerechnet mit Vincent Caine teilen, während die beiden versuchen herauszufinden, wer diesen spektakulären Bühnen-Tod in Szene gesetzt haben könnte … Tauchen Sie ein in die Welt dieser charmanten englischen Krimi-Reihe voller skurriler Figuren, Humor und überraschenden Wendungen!  Alle Bände der spannenden britischen Krimi-Reihe: - Band 1: Der achtsame Mr. Caine und die Tote im Tank - Band 2: Der achtsame Mr. Caine und das allerletzte Lied - Band 3: Der achtsame Mr. Caine und der Mittwinter-Mord

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Laurence Anholt

Der achtsame Mr. Caine und das allerletzte Lied

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Kristina Lake-Zapp

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Auf dem Glastonbury Festival steigt die Spannung, als die Band Stigma auftritt, denn zwischen den beiden Bandleadern, den Brüdern Flynn, schwelt der Hass. Gerade stimmen sie ihren »Hit While My Guitar Gently Kills« an, da erleuchtet ein Blitz die Szene – und Ethan Flynn wird von seiner eigenen Gitarre durch einen Stromschlag getötet.

Zen-Ermittler Vincent Caine hatte sich eigentlich auf ein entspanntes Festival gefreut. Nur widerstrebend lässt er sich von Detective Shanti Joyce in die Ermittlungen hineinziehen. Doch dann packt ihn der Jagdinstinkt: Wer hat diesen spektakulären Bühnentod in Szene gesetzt?

Inhaltsübersicht

Kapitel eins | »While My Guitar Gently Kills«

Kapitel zwei | Schock und Schauer

Kapitel drei | Der tanzende Detective

Kapitel vier | Das Dahinscheiden des bleichen Wunderknaben

Kapitel fünf | Ein musikalischer Bilderbuchmord

Kapitel sechs | Ein Schleier aus Tränen

Kapitel sieben | Mörder in der Menge

Kapitel acht | Andeutungen von Sterblichkeit

Kapitel neun | Worthy Farm und Unworthy Farm

Kapitel zehn | Ein finsterer Haufen

Kapitel elf | Die fehlende Tarotkarte

Kapitel zwölf | Totengedenken

Kapitel dreizehn | Die hohlen Augen der Verdammnis

Kapitel vierzehn | Eine Nacht voller Sterne

Kapitel fünfzehn | Ein heißer Stein

Kapitel sechzehn | Villa del Flynn

Kapitel siebzehn | Wenn die Erde bebt

Kapitel achtzehn | In der heiligen Kuppel

Kapitel neunzehn | Kein ungehobelter Eindringling

Kapitel zwanzig | Der magische Berg

Kapitel einundzwanzig | Das Dritte Auge

Kapitel zweiundzwanzig | Rauferei mit einem Skelett

Kapitel dreiundzwanzig | Der Mann hinter der Maske

Kapitel vierundzwanzig | Mond der Verdammnis

Kapitel fünfundzwanzig | Die Tragödie

Kapitel sechsundzwanzig | Das Märchen von Molly Appleyard

Kapitel siebenundzwanzig | Der Pool des Neids

Kapitel achtundzwanzig | Ein halb fertiges Haus

Kapitel neunundzwanzig | Die gnadenlose Schlinge

Kapitel dreißig | Ein Küchengeständnis

Kapitel einunddreißig | Unworthy Ice

Kapitel zweiunddreißig | Die Sehnsucht des Lebens

Epilog

Leseprobe »Der achtsame Mr. Caine und der Mittwinter-Mord«

Kapitel eins

»While My Guitar Gently Kills«

In den Tagen vor Beginn des Glastonbury-Festivals schleppte eine bunt zusammengewürfelte Armee von Feierwütigen ihre Rucksäcke und Zelte durch die schmalen, baumbestandenen Straßen von Somerset in Richtung der mythischen Talsenken der Worthy Farm.

Passierte man eine der Personenschleusen, hatte man das Gefühl, eine andere Welt zu betreten – ein sorgenfreies Utopia, in dem die Luft erfüllt war von hypnotischen Rhythmen, dem würzigen Duft unzähliger Imbissstände und dem klebrigen Geruch von Cannabis.

Die Festivalbesucher ließen ihre Rucksäcke fallen und tauchten für fünf Tage in das ekstatische Chaos der kaleidoskopischen Zeltstadt ein.

Dieses Jahr war ein ganz besonderes. Zum ersten Mal seit den 1970ern würde der wichtigste Hauptact von allen das Festival eröffnen, anstatt es Sonntagabend zu beenden. Der Grund dafür war simpel – die größte Band der Welt konnte sich aussuchen, wann sie auftreten wollte.

Und so pilgerte die Menge am Mittwochnachmittag, angezogen wie von einer unsichtbaren Macht, zum pulsierenden Herzen des Festivals: der Pyramid Stage, die wie ein intergalaktischer Streitwagen in den Himmel ragte. Im Lauf der Jahre hatten immer wieder Größen wie Amy Winehouse, Stevie Wonder, Baaba Maal, David Bowie, Adele, Dolly Parton oder die Rolling Stones auf diesen heiligen Brettern ihr Können unter Beweis gestellt. Pech für die B-Promis auf den anderen Bühnen, die heute Abend vor leeren Feldern würden spielen müssen, weil der andächtige Blick der rund hundertfünfundsiebzigtausend Festivalbesucher und x Millionen Fernsehzuschauer auf der Band ruhten, die sich »Stigma« nannte.

Solange man nicht auf dem Mars lebte, hatte man sich kaum den reißerischen Storys um die Flynn-Zwillinge Ethan und Tyrone entziehen können – den ewigen Debatten, Streitereien und Gerichtsverfahren. Doch jetzt, nach einer bitteren, sieben Jahre andauernden Trennung, hatten Stigma wieder zusammengefunden. Es war selbstverständlich, dass sie als Headliner auftreten würden, und wenn sie das Festival eröffnen wollten, dann hatten sich die Organisatoren und rivalisierenden Bands zu fügen – ob es ihnen passte oder nicht.

Obwohl sie Zwillinge waren, hätten die Flynns nicht verschiedener sein können. Es hieß, sie seien in verschiedenen Jahren geboren: Der ätherische Ethan – in jeder Hinsicht der Erste und Begünstigtere von beiden – war angeblich ein paar Minuten vor Mitternacht zur Welt gekommen, der tyrannische Tyrone – der ewig zornige Zweite – kurz nach Anbruch des neuen Jahres.

Stigma-Fans – auch »Stigs« genannt – wussten, dass die Anfeindungen nur selten von Ethan ausgingen. Er hatte ein sanftmütiges, beinahe feminines Auftreten. Die Bitterkeit war eine Eigenschaft seines gefährlichen Bruders, der nichts als Groll und Verachtung ausstrahlte – jedem, vor allem aber seinem attraktiveren und talentierteren Zwillingsbruder gegenüber. Und genau das war es. Diese Rivalität war ihre Identität. Die Flynn-Zwillinge waren die Schöne und das Biestder Musikwelt.

Trotz Tyrones Feindseligkeit – oder womöglich genau deswegen – hatten die Aufrufe der Stigma-Videos auf YouTube schwindelerregende Zahlen erreicht. Die Songs wurden unzählige Male gestreamt und downgeloadet. Das ungleiche Paar hatte etwas Mesmerisches an sich. Der androgyne Ethan war ein Meister an jedem Instrument, seine Stimme ein kristallklarer Fluss, seine Texte mystische Poesie. Mit seinen weich fallenden Locken, der Andeutung eines Bartschattens und den fein gemeißelten Gesichtszügen wurde er oft mit Marc Bolan oder sogar mit Jesus Christus verglichen. Im Gegensatz dazu war der knurrende, rotzende, kahl rasierte Tyrone ein hinlänglich kompetenter Bassgitarrist, der nichts von dem göttlichen Talent seines Zwillingsbruders abbekommen hatte. Seine mangelnde äußerliche Attraktivität machte er mit aufgepumpten Muskeln wett, die zudem mit grauenhaften Tattoos verziert waren. Tyrone war außerdem Amateurboxer mit einem ausgeprägten Faible für die britische Hardcore-Punkband GBH.

Am frühen Abend hatte sich die riesige Senke des Worthy Valley in einen brandenden Ozean aus fahnenschwenkenden Stigs verwandelt, die erbittert um einen guten Platz kämpften. Es wurden immer mehr, und wie bei Antilopen, die sich um ein Wasserloch drängen, gelang es nur den Stärksten und Tapfersten, ein freies Fleckchen direkt vor der Bühne zu ergattern, wo der Lärm ohrenbetäubend und das erdrückende Gewühl beinahe unerträglich war. Auf den umliegenden Hügeln picknickten Familien im Sonnenschein, während Teenager Cider und Joints herumgehen ließen.

Die dunkle Bühne war leer bis auf ein paar Techniker in knallengen Jeans und Stigma-T-Shirts. Sie überprüften ein letztes Mal die verschiedenen Saiteninstrumente, die im hinteren Teil bei den Verstärkern auf Ständern aufgereiht waren: Akkordzithern, Hackbretter, Lauten, Mandolinen, Sitars und Zithern. Ja, Ethan konnte sie alle spielen – und noch viel mehr.

Jetzt verschwanden sogar die Techniker im finsteren Bühnenschlund, und für zehn lange Minuten brütete die Pyramid Stage still und leer in der Sonne. Die gespannte Erwartung war nahezu greifbar. Würde die Band wirklich auftreten? Tyrone war bekannt dafür, dass er in allerletzter Minute ausrastete und den Auftritt verweigerte.

Zögerlicher Applaus wurde laut und verebbte wieder. Rufe ertönten, gefolgt von Gelächter. Eine überschäumende Bierdose wurde durch die Luft geschleudert.

Und dann, endlich, fiel ein einzelner Scheinwerfer auf eine einsame Gestalt, die von der Seite her auf die Bühne trat. Es handelte sich um die allgegenwärtige kanadische Radiomoderatorin und MC Vula Plenty. Sie wirkte winzig auf der gewaltigen Bühne, doch sie grinste von einem Ohr zum anderen. Alles war okay. Stigma waren da. Sie würden auftreten.

Vula nahm das Mikrofon und begrüßte mit ihrer samtigen Stimme die vielen Zuschauer auf der Worthy Farm und auf der ganzen Welt. Anschließend machte sie ein paar Schritte zurück und forderte die Menge auf, die Band gebührend zu empfangen. »Willkommen in Glastonbury – und hier sind sie: die WAHNSINNSJUNGS … VON … STIGMA!«

Ein kehliger Freudenschrei hallte durchs Tal. Pyrotechniker ejakulierten in den Himmel. Die Bühne war schlagartig in ein grellweißes Licht getaucht, und dann glitt der unübertreffliche Ethan wie ein barfüßiger Balletttänzer über die Bretter. Grazil, feingliedrig, in fließende Gewänder gekleidet. Auf den riesigen Bildschirmen funkelten seine smaragdgrünen Augen vor Güte und Intelligenz.

Das Getöse wurde nicht weniger, als sein Bruder auf die Bühne kam – der fluchende, schwankende Tyrone, eine Bierflasche in der Hand. Mit der anderen entlockte er seiner Bassgitarre ein paar unangenehme Töne.

Jede Stigma-Show war ein einzigartiges Spektakel. Heute Abend wurden die Flynn-Zwillinge von acht Musikern mit Schlagzeug, Keyboard und Blechblasinstrumenten unterstützt, außerdem kamen mehrere Background-Sänger aus der Seitenkulisse, ebenso wie eine exotische Tanztruppe, die die düsteren Charaktere von Tarotkarten verkörperte: den Narren, den Magier, die Hohepriesterin, den Eremiten, den Teufel, die Sonne und den Mond.

Ethan nahm das Mikro und sprach ein paar Minuten lang darüber, wie jung die Brüder noch gewesen waren, als sie das letzte Mal auf dieser Bühne gespielt hatten, und wie ein ganz besonderer Mensch in sein Leben getreten war und ihn zum Umdenken bewegt hatte. Er war kein unbefangener Sprecher – er nuschelte und stotterte schüchtern –, aber sobald er zu singen begann, verwandelte sich das unbeholfene, kindliche Gestammel in flüssiges Silber, wie das Lied eines Märchenvogels.

Der Auftritt begann mit den Stigma-Standards: »Legend of You«, »Tiger in the Subway«, »Heathen Child« und »And For You a Love Song« – bei Letzterem zupfte Tyrone übellaunig an den Saiten seiner Bassgitarre, während Ethan entrückt zu den Klängen von Mandoline und Laute sang. Sein expressives Vibrato schwebte hinaus in die Abendluft, die von unzähligen iPhones und Feuerzeugen in ein tanzendes Lichtermeer verwandelt wurde.

Plötzlich unterbrach der fragile Mann diese außergewöhnliche Darbietung, indem er abrupt zu spielen aufhörte und einen schmalen Finger vor die Lippen legte. Während die Welt um ihn herum verstummte, deutete er über die Bühne und die in seinem Rücken liegenden Felder und Wälder hinweg zu einem konischen Hügel in der Ferne, dem Glastonbury Tor, hinter dem gerade die Sonne in einer melodramatischen Feuersbrunst unterging. Selbst der zynischste Betrachter verspürte die Gänsehaut verursachende Magie des Augenblicks.

Während Laserstrahlen und Stroboskoplichter über den Abendhimmel zuckten, brachten Stigma mehrere Klassiker ihres Bestselleralbums Global Eyes, das so gut wie alle Awards abgeräumt hatte, die die speichelleckerische Musikindustrie zu bieten hatte. Die Jahre der Trennung hatten ihrem Genie nichts anhaben können. Die Menge schmolz dahin und taumelte einem gemeinschaftlichen Orgasmus der Glückseligkeit entgegen … Ethan Flynn stand in Flammen!

Ungefähr zur Hälfte des Auftritts wandte Ethan sich um, schwebte leichtfüßig in den hinteren Teil der Bühne und holte seine legendäre Vintage-Stratocaster – ein glänzendes Wunderwerk der Handwerkskunst, bei den Stigma-Fans bekannt als »Excalibur«. Das Publikum drehte durch; die Sanitäter der St John Ambulance hatten alle Hände voll damit zu tun, sich um jene hysterischen Fans zu kümmern, die vor lauter Wonne in Ohnmacht gefallen waren. Ethan schlang sich den Gitarrenriemen um die Schulter und betrachtete das Instrument so zärtlich wie ein Vater sein neugeborenes Kind. Alle wussten, was jetzt kam, und machten sich bereit, den größten Stigma-Hit aller Zeiten mitzusingen: »While My Guitar Gently Kills« – »Während meine Gitarre sanft tötet«.

Ethan wandte sein bleiches Gesicht seinem schwitzenden Bruder zu, und in dem feinen Lächeln, das Millionen von Bildschirmen erhellte, war die reine Liebe zu sehen, die er für Tyrone und jeden einzelnen seiner ergebenen Fans empfand. Ethan liebte die Welt so sehr, dass er ihr diesen unvergesslichen Song schenken wollte …

Doch als seine Finger den ersten komplizierten Akkord anschlugen, passierte etwas Entsetzliches.

Etwas Folgenschweres.

Etwas im wahrsten Sinne des Wortes Erschütterndes.

Kapitel zwei

Schock und Schauer

Detective Inspector Shanti Joyce saß spät am Abend an ihrem überladenen Schreibtisch, als der Anruf einging.

»Hast du die Nachrichten gesehen, Chefin?«

»Wo denkst du hin, Benno? Glaubst du, ich lümmle vor dem Fernseher?«

»Wirf doch mal einen Blick auf den Auftritt von Stigma in Glastonbury.«

Natürlich hatte Shanti von Stigma gehört – kannte all die trance-dance-mäßigen Nummern wie »Heathen Child« –, aber die Band war nicht wirklich ihr Ding. Und mit Sicherheit auch nicht das von Sergeant »Benno« Bennett.

Normalerweise interessierte sich Shanti nicht für das Festival, doch diesmal würde sie eine Ausnahme machen. Am Sonntagabend trat Soullegende Sista Tremble auf – das war richtige Musik. Shanti hatte vor, den Abend zusammen mit ihrer Mum und einer Flasche Chardonnay vor dem Fernseher zu verbringen. Vielleicht durfte sogar ihr Sohn Paul länger aufbleiben – wenn er sich gut benahm.

Sie erweckte ihr iPad zum Leben und stellte gleich fest, dass das Internet in Flammen stand, als hätte man eine Wunderkerze in einer Kiste mit Feuerwerkskörpern angesteckt. Auf jedem Nachrichtensender und auf sämtlichen Social-Media-Plattformen waren in Endlosschleife die ewig gleichen Bilder zu sehen – der Auftritt von Stigma auf der Pyramid Stage. Ethan Flynn, feingliedrig, mesmerisch und barfuß im Rampenlicht.

Der Gott des Rock nahm seine Gitarre zur Hand, Excalibur. Legte sich den Riemen um den Nacken, hielt inne und lächelte. Doch dann, beim ersten Akkord, drang ein ohrenzerreißender Heulton aus sämtlichen Verstärkern, und aus seinen Fingern schoss ein greller Blitz.

Die fassungslose Menge sah, wie seine langen Haare zu Berge standen. Seine Augäpfel traten hervor. Rauch strömte aus seinen Fingern und Zehen. Und dann fing er an zu tanzen, ein grausiges, eingefrorenes Grinsen im Gesicht, das an ein Zähnefletschen erinnerte. Sein Tanz war nicht das typische Ethan-Flynn-Mädchen-Gezappel. Es war ein ruckartiger, spasmatischer Veitstanz, der schmerzhaft mit anzusehen war. Er zuckte. Er wand und krümmte sich. Seine dürren Glieder flogen durch die Gegend wie eine Zimmerpflanze bei einem Hurrikan.

Ethan Flynn hatte im wahrsten Sinne des Wortes Feuer gefangen.

Irgendwann drehte jemand den Strom ab, und er ging zu Boden. Die Musik erstarb, und Bruder Tyrone und die Background-Sänger bewegten die Münder stumm wie Goldfische. Das raue Grölen der Menge ging in wüstes Geschrei über, als eine seltsam kostümierte Tanztruppe auf den qualmenden Mann zurannte, der die Gitarre umklammerte wie eine riesige Gottesanbeterin ihre Beute.

Shanti starrte ungläubig auf den Bildschirm. Was hatte sie da gerade gesehen? Gehörte das zur Show, oder hatten die Medien weltweit soeben live einen dämonischen Todestanz gestreamt?

Auf der Bühne bat MC Vula Plenty offenbar um Ruhe, doch ohne funktionierendes Mikrofon wurden ihre Worte von dem Gejohle und Geheule der Festivalbesucher verschluckt, das immer mehr in Buhrufe überging.

Hinten auf der Bühne spielte sich eine surreale Szene ab, als die seltsam verkleideten Tänzer Ethans verdrehten, verkohlten Körper in die Seitenkulisse schleppten.

»Ach du liebe Zeit! Benno! Ich sehe es gerade. Das ist Ethan Flynn. Ist er …?«

»Tot. Ja, Chefin.«

»Nun, das tut mir aufrichtig leid. Aber warum erzählst du mir das?«

»Das Dezernat von Keynsham ist für das Festival zuständig, und die Kollegen haben dich dringend als Verstärkung angefordert.«

»Ich fühle mich geschmeichelt. Glaube ich zumindest. Aber warum ausgerechnet ich?«

»Das Festival bringt sie an die Grenzen ihrer Kapazität.«

»Das kann ich gut verstehen, aber es muss doch noch andere DIs geben, die näher dran sind.«

»Aber sie wollen dich, Chefin. Und Caine. Seit ihr zwei den Havfruen-Fall geknackt habt, hat man euch anscheinend zum ›Team für die abgefahrenste Scheiße in ganz Südwestengland‹ erklärt. Ihre Worte, nicht meine.«

»Mein Gott, Benno! Das werde ich bestimmt nicht in meinen Lebenslauf schreiben. Ist Caine denn überhaupt wieder im Dienst?«

»Soll ich ihn für dich ausfindig machen?«

»Ich kümmere mich darum. Du könntest währenddessen für mich das Areal absperren – ich brauche Sichtschutzwände und Polizeiband rund um die Bühne. Stell jede Millisekunde Filmmaterial sicher, die du kriegen kannst. Und Benno … lass keine Menschenseele näher als hundert Meter an den verkokelten Superstar heran.«

Als Shanti ein paar Minuten später ein paar Sachen in ihre Umhängetasche warf, dachte sie über etwas Merkwürdiges nach, das Benno erwähnt hatte, kurz bevor er auflegte.

»Übrigens, Chefin, du weißt, dass die Gerüchteküche längst brodelt, oder?«

»Und um welche Gerüchte geht es?«

»Die Leute nehmen an, dass das kein Unfall war. Dass Ethans Tod …«

»… gewollt war?«

»Ja. Absichtlich herbeigeführt.«

Sie nahm sich ein letztes Mal die Aufnahmen vor, wobei ihr nicht entging, wie Tyrone Flynn auf das Ableben seines Zwillingsbruders reagierte. Man hätte doch davon ausgehen sollen, dass er Erstaunen zeigte. Entsetzen. Fassungslosigkeit. Doch soweit sie sehen konnte, ließ der streitlustige Bruder einfach nur seine Gitarre fallen, trank sein Bier aus und stürmte angewidert von der Bühne.

Als Shanti durch die im Neonlicht flimmernden Korridore eilte, verspürte sie eine vertraute Mischung unterschiedlicher Gefühle: Bestürzung über das, was sie gerade gesehen hatte – immerhin handelte es sich um einen Menschen, einen talentierten jungen Mann, den man in der Blüte seines Lebens erhitzt hatte wie in einer Mikrowelle –, doch daneben auch einen Adrenalinstoß, der berauschender war als jede Droge. Sie hatte man angerufen. Sie, DI Shanti Joyce, hatte man mit dem Job beauftragt. Was immer sich fünfundzwanzig Meilen von hier entfernt zugetragen hatte, fiel in ihren Verantwortungsbereich. Sie allein würde den Fall lösen.

Allein? Die Keynsham-Cops hatten auch Caine angefordert. Sie sah sich selbst gern als einsamen Wolf, doch sie musste zugeben, dass ihr langhaariger Kollege Dinge wusste, von denen sie keine Ahnung hatte, zum Beispiel über die hiesige Geografie. Außerdem kannte er sich vermutlich bestens mit Musik und den Effekten von Starkstrom auf das Nervensystem aus. Wenn sie recht darüber nachdachte, war er mit Sicherheit ein Stigma-Fan. Wahrscheinlich besaß er all ihre Alben, in alphabetischer Reihenfolge sortiert.

Auf dem Weg über den Parkplatz zu ihrem Wagen tätigte Shanti zwei Anrufe. Als Erstes wählte sie die Nummer ihrer Mutter – »Nein, Mum, ich komme nicht bald nach Hause. Geh ins Bett und mach dir keine Sorgen. … Wie lange ich noch weg bin? Mindestens eine Nacht, vielleicht länger. … Wie geht’s Paul? … Nun, gib ihm einen Kuss von mir. … Danke, Mum. Ich hab dich lieb …«

Der zweite Anruf ging an Vincent Caine – den »Veggie Cop«, wie die Kids von Yeovil ihn nannten. Die Chancen, dass er das Gespräch entgegennehmen würde, tendierten gegen null. Er schien die meiste Zeit »in Klausur« in seinem Refugium, einer Holzhütte hoch oben auf der Undercliff in der Nähe von Lyme Regis, zu verbringen. Dies war gewissermaßen der einzige Ort auf der Welt, an dem es kein Netz gab, und genau das mochte Caine. Er wollte »eins sein mit der Natur«. Wollte in Ruhe meditieren. Sie beschloss, ihm eine Chance zu geben – nur eine, wohlgemerkt –, und die Sache ansonsten allein durchzuziehen. Umso erstaunter war sie, als Caine nach ein paarmal Klingeln ihren Anruf entgegennahm.

Kapitel drei

Der tanzende Detective

Wahnsinn! Sie sind tatsächlich drangegangen.«

»Sie müssen lauter sprechen, Shanti. Es ist sehr lärmig hier.«

»Das höre ich, Caine. Wo zum Teufel sind Sie? Beim Gefühlsworkshop in der Männergruppe?«

»Ich kann Sie nicht verstehen, Shanti …«

»Ich sagte … ach, egal. Hören Sie, Caine, es hat einen Todesfall gegeben. Und zwar einen ziemlich sonderbaren. Auf der Pyramid Stage in Glastonbury.«

»Das habe ich mitbekommen.«

»Ja. Die halbe Welt hat das gesehen. Sind Sie bei einer Seance? Was ist das für ein Gekreische?«

»Nein, ich meine, ich habe es direkt mitbekommen. War unmittelbar dabei. Vor zwanzig Minuten … Ich bin auf dem Festival. Ich habe getanzt.«

»Sie haben was? Sie hassen Lärm und Menschenmengen … außerdem gibt es dort bestimmt jede Menge Fleischburger.«

»Ich mag durchaus ein wenig Gesellschaft, und ich mag das Glastonbury-Festival, Shanti. Da gibt es jede Menge Liebe … zumindest bis gerade eben.«

»Wie dem auch sei, Caine, wir übernehmen den Fall. Also rühren Sie sich nicht vom Fleck, ich bin unterwegs.«

»Ich bin im Urlaub, Shanti. Ich habe mir eine Woche freigenommen für das Festival. Es tut mir leid.«

»Das können Sie mir erzählen, sobald ich da bin. Wir treffen uns in einer Stunde vor der Pyramid Stage.«

»Da stehen gut hunderttausend Menschen. Schicken Sie mir eine Textnachricht, wenn Sie angekommen sind, und ich werde Sie schon finden. Aber eins kann ich Ihnen gleich sagen: Bei dem Fall werden Sie auf sich gestellt sein.«

Shanti schaufelte einen Haufen Kram von den Vordersitzen ihres Saabs – Bündel von Aktenordnern, eine Raumstation von Lego, eine ausgelaufene Dose Fanta sowie einen halben, noch essbar aussehenden Mars-Riegel – und dachte an ihren widerwilligen Partner. Caine war Buddhist – warum um alles auf der Welt hatte er von allen Berufen gerade den eines Polizisten ergriffen? Er besaß eine geradezu verblüffende Fähigkeit, Verbrechen aufzuklären. Langsam, achtsam, intuitiv, wie ein Fährtenleser vom Stamme der Apachen. Ein Apachen-Fährtenleser, der in dem Betonklotz arbeitete, in dem die Polizeistation von Yeovil untergebracht war.

Laut Navi fand das Festival auf der Worthy Farm in dem kleinen Dorf Kilton nahe der Stadt Glastonbury statt. Unter normalen Umständen hätte sie bis dorthin keine fünfunddreißig Minuten über die A37 gebraucht, aber sie wusste, dass rund um das Festivalgelände sehr viel Verkehr herrschen würde. Benno hatte ihr geraten, den Wagen so nahe wie möglich beim Five Heads Pub in Kilton stehen zu lassen. Dort würde einer der Polizisten von Keynsham sie in einem Allradwagen abholen und mit Blaulicht zum Tatort bringen.

Himmel, war das aufregend! Sie liebte nichts mehr als ein Offroad-Abenteuer.

Im letzten Licht des Abends fuhr sie an alten Höfen und Apfelgärten vorbei. Vor einem umgebauten Van am Straßenrand verkaufte eine Familie in Batikklamotten mit der Kettensäge gefertigte Holzpilze. Sie entdeckte Schilder von Yoga-Anbietern und Schamanen und hatte den Eindruck, sich inmitten einer unvereinbaren Mischung aus ländlicher Idylle und Boheme zu befinden.

Als sie in das hübsche Dörfchen Kilton hineinfuhr, kam der Verkehr beinahe zum Erliegen; um die stehenden Fahrzeuge herum wogte ihr ein Strom von Fußgängern entgegen – viele schwankten, weil sie stoned waren oder betrunken, manche weinten wegen dem, was sie gesehen hatten.

Es war ein warmer Abend, weshalb die Tür des uralten Five Heads Pubs zu ihrer Rechten offen stand. Drinnen drängten sich kleine Gruppen von Einheimischen an den Tischen und tranken ihre Pints. Shanti sah, wie ein Pärchen mit Dreadlocks und Rucksäcken die Kneipe betrat, zwei magere Lurcher an der Leine. Obwohl sie im Auto saß, konnte sie die Feindseligkeit spüren, die den beiden entgegenschlug. Einen Moment später kamen sie mitsamt den Hunden wieder heraus und setzten ihren Weg fort.

Die Straßen waren von Hunderten Pylonen gesäumt, doch Shanti entdeckte tatsächlich ein freies Fleckchen an einer Steinmauer hinter dem Pub, wo sie ihren Saab abstellen konnte. Vorsichtig schob sie mit der vorderen Stoßstange eines der orange-weißen Verkehrshütchen ein Stück zur Seite.

Binnen Sekunden tauchte ein verärgerter Cop in Warnweste am Fahrerfenster auf. »Was machen Sie da, verdammt noch mal?«, blaffte er.

Shanti setzte in aller Ruhe die Füße auf den warmen Asphalt und zückte ihren Dienstausweis.

»Ich mache meinen Job, Constable. Es hat auf dem Festivalgelände einen größeren Zwischenfall gegeben. Ich bin die leitende Ermittlerin, und in dieser Funktion rate ich Ihnen dringend, im Dienst das Fluchen zu unterlassen, sonst sehe ich mich verdammt noch mal gezwungen, Beschwerde einzureichen. Ich werde mir Ihre Dienstnummer merken.«

»Ich … ähm … entschuldigen Sie, Ma’am. Es war ein langer Tag.«

»Das können Sie laut sagen. Sehen Sie dieses Auto?« Sie deutete auf ihren Saab.

»Ja, Ma’am.«

»Ich liebe dieses Fahrzeug, und Sie werden es unter Einsatz Ihres Lebens bewachen, habe ich mich klar ausgedrückt?«

»Ja, Ma’am.«

Sie zog den Pylon zurück an Ort und Stelle. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen … mein Wagen kommt.«

Ein Land Rover mit blinkenden Lichtern stoppte neben ihnen. Shanti öffnete die Beifahrertür, und während der verlegene Polizist den Verkehr aufhielt, machte die Fahrerin eine Kehrtwendung und schlängelte sich mit heulender Sirene in Richtung Festivalgelände, wobei sie mehrfach auf die steile Straßenböschung auswich, um die stehenden Fahrzeuge zu umrunden.

»DI Shanti Joyce?«, fragte die unerhört junge Frau. »Ich bin ein großer Fan Ihrer Arbeit. Ich habe jedes Detail im Havfruen-Fall verfolgt. Das war einfach unglaublich!«

O mein Gott!, dachte Shanti. Ich habe einen Fanklub. Das muss ich unbedingt Mum erzählen.

Während ihr Fan sie durchs Gedränge lavierte, sammelte Shanti ein paar Hintergrundinformationen. Die Truppe vor Ort hatte im Norden des Festivalgeländes ihre Basis, dazu Ausnüchterungszellen im Präsidium von Keynsham. Bis jetzt hatte man gedacht, für sämtliche Eventualitäten des weltgrößten Open-Air-Festivals gerüstet zu sein, immerhin fand die Veranstaltung seit fast vierzig Jahren erfolgreich statt. Anfangs hatte die Polizei es mit Rauschgifttoten, Drogendealern und nicht angemeldeten Fahrzeugen zu tun gehabt, mit verloren gegangenen Kindern, mehreren Geburten und einigen Herzinfarkten. Sie hatte Zeltdiebstähle verzeichnet, Schlägereien und sexuelle Übergriffe. In den letzten Jahren hatte man die Truppe um eine bewaffnete Einheit aufgestockt, außerdem kreiste wegen der zunehmenden Gefahr terroristischer Anschläge in regelmäßigen Abständen ein Helikopter über dem Gelände. Doch der unerhört dramatische Tod der Musiklegende Ethan Flynn war in einer anderen Liga anzusiedeln. Eine Art Massentrauer war über die Worthy Farm hereingebrochen, und die Polizei musste alles geben, um die aufgelösten Fans von der Leiche fernzuhalten.

»Die Pyramid Stage und die VIP Area im Backstage-Bereich sind abgesperrt, außerdem habe ich gerade erfahren, dass die SOCOs eingetroffen sind.«

Die SOCOs, dachte Shanti. Die Scenes of Crime Officer, die so lange nach Spuren suchen würden, bis sie einen Anhaltspunkt dafür fänden, weshalb um alles auf der Welt der Gott des Rock zu einem Stück Kohle verglüht war.

»Wer ist der Veranstalter des Festivals?«, wollte Shanti wissen.

»Am besten, Sie reden mit MC Vula Plenty. Vula kennt einfach jeden.«

Sie fuhren jetzt über schier endlose Parkplätze, dann holperten sie über zerfurchte Felder auf den hohen, acht Meilen langen Zaun zu, der das eintausendeinhundert Morgen große Gelände umgab.

Als sie hinter einem wendenden Traktor anhalten mussten, fragte die junge Polizistin, ob sie sich Shantis Handy ausleihen dürfe. Shanti reichte es ihr. »Ich würde Ihnen gern eine interaktive Karte des Festivalgeländes herunterladen. Sehen Sie … Da wollen wir hin – und da sind wir jetzt. Dort unten in der Senke ist die Pyramid Stage.«

»Danke«, sagte Shanti und nahm ihr Smartphone wieder an sich. »Das ist in der Tat nützlich.«

Der Land Rover rollte durch eine streng bewachte Durchfahrt für Rettungsfahrzeuge. Kaum befanden sie sich auf dem Festivalgelände, hatte Shanti das Gefühl, sie habe die Grenze zu einem fremden Land mit ganz eigenen Gesetzen überquert. Zentimeter um Zentimeter schob sich der Wagen durch die beinahe undurchdringliche Menge vorwärts, schlängelte sich durch eine Tundra aus Zelten und umkurvte hin und wieder Personen, die reglos im Gras lagen. Gingen diese Menschen eigentlich gar nicht ins Bett?, fragte sich Shanti. Es war später Mittwochabend, mussten die denn nicht am nächsten Morgen zur Arbeit?

Die junge Fahrerin plapperte noch immer, lauter jetzt, um die lärmige, nicht enden wollende Tanzmusik zu übertönen. »Könnten Sie mir vielleicht einen Tipp geben? Wie man ein Verbrechen wie dieses löst, meine ich.«

»Nun … man sollte permanent auf der Hut sein – in jeder noch so kleinen Kleinigkeit, die man zu Gesicht bekommt, in jedem Satz, den man hört, sind womöglich Hinweise versteckt.«

»Verstehe. Aber könnte es sich dabei nicht auch einfach nur um Ablenkungsmanöver handeln?«

»Genau darum geht es – um die Fähigkeit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Übrigens: Noch wissen wir doch gar nicht sicher, ob es sich überhaupt um ein Verbrechen handelt.«

»Das ist richtig. Wenn allerdings ein Star wie Ethan stirbt, ziehen alle gern voreilige Schlüsse. Ich meine, es ist ja allgemein bekannt, dass die Flynn-Zwillinge nicht sonderlich viel füreinander übrighatten – zumindest aus Tyrones Sicht.«

Die Polizistin mit dem jugendlich frischen Gesicht erinnerte Shanti an eine jüngere Ausgabe ihrer selbst – mit Feuereifer bei der Sache, doch mit herzlich wenig Erfahrung. »Ja, das ist etwas, was ich gelernt habe«, sagte sie daher. »Ziehe niemals voreilige Schlüsse. Sie sind jung, also nehmen Sie sich diese Weisheit zu Herzen: Ein guter Detective ist bereit, das Ungewisse zu umarmen.«

»Oh, ich liebe diese Redewendung! Sagt das nicht Vincent Caine immer?«

»Sie kennen Caine?«

»Ich bin ihm nie persönlich begegnet, aber wie ich schon sagte: Ich habe den Havfruen-Fall bis ins kleinste Detail mitverfolgt, und Vincent Caine ist mein Idol. Ich weiß, dass man ihn auch ›den achtsamen Mr. Caine‹ nennt.« Die junge Fahrerin hatte die nervtötende Angewohnheit, am Ende eines jeden Satzes die Stimme zu heben, so als habe sie gerade eine Frage gestellt.

»Sie sollten stets versuchen, noch tiefer in die Sache einzusteigen … Apropos einsteigen: Ich würde gern aussteigen. Lassen Sie mich doch einfach hier raus. Ich kann die Pyramid Stage schon sehen, und ich denke, zu Fuß bin ich schneller.«

Die Polizistin hielt an. »Es war großartig, Sie kennengelernt zu haben. Im Handschuhfach liegt eine Ausgabe des POLICE-Magazins – die, in der über den Havfruen-Fall berichtet wird. Würde es Ihnen etwas ausmachen …?«

»Sie möchten ein Autogramm von mir?«

»Nur wenn Sie nichts dagegen haben. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich gehofft, Sie könnten Inspector Caine dazu überreden, ebenfalls zu unterschreiben …«

 

Shanti schob sich den Riemen ihrer Umhängetasche über die Schulter und drängte sich durch die kunterbunten Budengassen. An den Ständen wurde alles verkauft – von Bob-Marley-Perücken bis hin zu Feenflügeln. Mein Gott, die jungen Leute rauchten hier ganz offen Joints! Wäre sie nicht mit ihren Ermittlungen beschäftigt, würde sie …

Die wogenden Massen brachten sie völlig durcheinander, sodass sie beinahe erleichtert war, als sie endlich auf Caine stieß.

Der hochgewachsene Detective trug eine weite Hose, Wanderstiefel und ein weißes T-Shirt – und er schien sich hier völlig zu Hause zu fühlen. Shanti bemerkte, dass er sich in Gesellschaft einer attraktiven Rothaarigen befand, die mindestens fünf Jahre jünger war als er. Zu ihrer Verärgerung verspürte sie einen Anflug von Eifersucht, den sie schleunigst zurückdrängte. Sie war nur aus einem einzigen Grund hier, nämlich um den Fall zu knacken. Und Gefühl war ein Werkzeug, das sie dabei ganz und gar nicht gebrauchen konnte.

Kapitel vier

Das Dahinscheiden des bleichen Wunderknaben

Okay, Caine, dann mal los.«

»Shanti, ich möchte Ihnen Misty vorstellen. Sie ist …«

»Wir können uns später miteinander bekannt machen, einverstanden? Ist das da der Eingang zum Backstage-Bereich?«

Sie wandte sich gerade rechtzeitig wieder um, um zu sehen, wie Caine die Rothaarige zärtlich auf beide Wangen küsste und ihr tief in die Augen sah.

»Jetzt kommen Sie doch mal her, Caine.«

»Ich sage es noch einmal, Shanti: Ich bin im Urlaub. Ich werde mich nicht in diesen Fall hineinziehen lassen …«

Taub gegenüber seinem Protest, zückte Shanti ihre Dienstmarke, streckte sie den vierschrötigen Security-Männern entgegen und stiefelte mit großen Schritten in die abgeschirmte VIP-Zone, wo Musiker und Festival-Crew bis ins Mark erschüttert vor einer Phalanx von Fahrzeugen standen: Tourbusse mit getönten Scheiben, Wohnmobile, riesige Sattelschlepper voller Ausrüstung. Shanti entdeckte sogar zwei alte Doppeldeckerbusse. Ihr Blick fiel auf verschiedene Zelte: Jurten und Großraumkonstruktionen, ausgestattet mit Bars und Catering-Einrichtungen, um den Ansprüchen jeder Diva, jedes Stars und Sternchens gerecht zu werden. Außerdem gab es reihenweise Container mit Duschen und Toiletten sowie einen riesigen Sitzbereich mit Picknicktischen und Liegestühlen.

Gefolgt von Caine, durchquerte Shanti die VIP-Zone und ging auf die alles überragende Pyramid Stage zu, vor deren Rückseite zwei Ambulanzwagen neben den Vans der SOCO und einer blinkenden Traube von Polizeifahrzeugen parkten. Dunster, Spalding und ein paar von der Belegschaft aus Yeovil befragten tränenüberströmte Techniker und erschütterte Roadies.

Benno kam mehrere schwarz gestrichene Stufen herunter, und Shanti entging nicht, wie respektvoll er und Caine einander begrüßten. Der große, stämmige Benno. Polizist in dritter Generation, der sich stets an die Vorschriften hielt.

»Wie geht es dir, Chefin?«

»Ich bin gar nicht glücklich, Benno. Es trampeln einfach zu viele Menschen an meinem Tatort herum. Wer sind diese Leute?«

Sie nickte in Richtung einer kleinen Gruppe, die sich um eine hübsche Frau Anfang fünfzig geschart hatte und von Trauer überwältigt schien.

»Das ist Queenie Flynn, Chefin. Die Mutter des Verstorbenen. Sie ist die Managerin von Stigma, schon von Anfang an. Die großen Kerle gehören zur Crew, und soweit ich weiß, sind die meisten von ihnen irgendwie mit Ethan verwandt – Neffen, Onkel … Auch die Frauen arbeiten mit. Es handelt sich sozusagen um ein Familienunternehmen. Die Flynns schirmen sich gern ab.«

»Glaubst du, die Mutter wird mit uns reden?«

»Keine Chance. Die arme Frau steht völlig neben sich. Die Sanitäter haben ihr ein Beruhigungsmittel verabreicht, aber sieh sie dir doch nur mal an …«

Queenie Flynn hatte sich von ihren Verwandten gelöst und kniete schluchzend im Gras, dann machte sie Anstalten, in Richtung Bühne zu kriechen. Einige der Flynn-Frauen hielten sie zurück und redeten leise auf sie ein, während sie ihr tröstend übers Haar strichen.

»Finde heraus, wo sie abgestiegen sind, und schick sie ins Hotel oder wohin auch immer.«

»Nach Hause. Das Familienanwesen der Flynns ist nicht weit entfernt. Nur ein kleines Stück außerhalb von Frome.«

Shanti nickte. »Sag Queenie, dass wir ihr einen Besuch abstatten werden, sobald sie in der Lage ist, eine Aussage zu machen.«

»Tut mir leid, Chefin, aber sie wird erst von hier weggehen, wenn die Leiche fortgeschafft ist.«

Auf Caines Gesicht trat ein gequälter Ausdruck des Mitgefühls. »Erzählen Sie uns etwas über Ethans Bruder«, bat er Benno leise.

Shanti hatte das schon einmal erlebt – Caines Widerwille, der Neugier wich. Er konnte nicht anders, als zu helfen.

»Tyrone? Er ist ein aggressiver Fiesling. Scheint sich weitaus mehr für Rekordumsätze zu interessieren als für seinen toten Zwillingsbruder.«

»Er ist vorbestraft, oder?«

»Dreimal schwere Körperverletzung.«

»Nett«, sagte Shanti. »Wo ist er abgestiegen? Oder wohnt er auch auf dem Familienanwesen?«

Benno schüttelte den Kopf. »Tyrone und Ethan sind auf einem Bauernhof in Kilton untergebracht. Dort mieten sich oft die ganz Großen aus der Musikbranche ein. Ich habe Tyrone angewiesen, die Gegend nicht zu verlassen, und ein paar Streifenkollegen in der Nähe des Hofes postiert.«

»Gute Arbeit, Benno«, sagte Shanti. »Ach übrigens: War Ethan Flynn liiert, oder hat er Kinder? Und was ist diesbezüglich mit seinem Bruder?«

»Ethan war nicht verheiratet, hatte aber laut der Boulevardpresse immer mal wieder wechselnde Beziehungen. Tyrone ist verheiratet, und soweit ich weiß, erwartet seine Frau ihr erstes Kind. Deshalb ist sie auch nicht auf dem Festival.«

»Okay, das sind nützliche Informationen. Caine und ich würden jetzt gern den Verstorbenen sehen, wenn das möglich ist.«

»Die Stufen hinauf und dann links. Dawn Knightly und ihr Team sind bereits da.«

»Zu blöd, dass die Leiche von der Bühne geschafft wurde. Ob die Leute wohl jemals lernen werden, an einem Tatort nichts anzufassen?«

»Ich denke, es ging darum, den Toten vor der Öffentlichkeit abzuschirmen. Die Tanztruppe hat ihn von der Bühne in die Seitenkulisse getragen, und dann haben die Sanitäter ihr Bestes gegeben. So verrückt es auch klingen mag: Sie haben sogar versucht, ihn mit einem Defibrillator zurück ins Leben zu holen.«

»Ich nehme an, niemand hat daran gedacht, ein Foto in situ zu machen?«

»Ich glaube nicht, Chefin. Das Ganze war wohl ziemlich chaotisch und hysterisch.«

»Habt ihr die Bühne mit einem Sichtschutz versehen?«

»Wir haben zumindest damit angefangen.«

»Also gut, kommen Sie, Caine. Zeit, der Legende gegenüberzutreten.«

»Aber besser mit leerem Magen«, ließ sich Benno vernehmen. »Ich fürchte, er sieht nicht mehr ganz so gut aus wie zu Lebzeiten.«

Shanti ging bereits auf die Stufen zu, wo sie zwei Einweganzüge sowie zwei Paar Latexhandschuhe von dem dort wacheschiebenden Constable entgegennahm, dann drehte sie sich zu Caine um. Der ihr nicht gefolgt war.

»Herrgott, Caine«, zischte sie. »Tun Sie mir das nicht an! Was ist Ihr Problem?«

Es folgte eine lange Pause.

»Tut mir leid, Shanti. Ich bin nicht gut in solchen Dingen. Ich bin nicht so tough wie Sie. Es ist einfach zu schmerzhaft …«

»Das ist doch nicht zu glauben! Ja, lassen Sie es mich ruhig aussprechen: Sie sind ein Polizist! Das gehört zu unserem Job! Ist Ihnen eigentlich klar, dass dies womöglich der größte Fall meiner ganzen Karriere sein könnte? Unser beider Karrieren, meine ich. Sehen Sie nur – Polizeihubschrauber! Mit Suchscheinwerfern. Wann haben Sie das letzte Mal an einem Fall gearbeitet, bei dem Helikopter eingesetzt wurden?«

»Es ist bloß so, dass …«

»Ich brauche Sie, Caine! Ist es das, was Sie von mir hören wollen?« Mein Gott, seine Augen wurden tatsächlich feucht. »Na schön, würden Sie bitte nur einen einzigen Blick auf den Leichnam werfen? Sie sind echt gut in so was, und das wissen Sie. Wenn Sie es schon nicht für mich tun wollen, dann tun Sie es eben für sie …« Shanti deutete mit dem Kinn auf Ethans im Gras kniende Mutter, die mit weit aufgerissenen Augen zum Himmel betete, dann streckte sie Caine die Hand mit dem Papieranzug entgegen und sah zu, wie er ihn überstreifte, zögernd, gleich einem Kind, das sich für die Schule anzieht.

Die Stufen führten zum Seitenflügel der Bühne, wo eine Gruppe von weiteren Papieranzügen hinter einem Nylonsichtschutz bei der Arbeit war. Als Shanti und Caine näher kamen, sahen sie die vertraute, leicht untersetzte Gestalt von Dawn Knightly, der Leiterin der Spurensicherung, die sich über einen leblosen Körper am Boden beugte. Dawn war ein paar Jahre älter als Shanti, aber zwischen den beiden Frauen hatte die Chemie sofort gestimmt.

»Was hast du für uns, Dawn?«, erkundigte sich Shanti.

Knightlys Augen hellten sich auf, als sie hochblickte und Shanti und Caine entdeckte.

»Ethan Flynn, neunundzwanzig Jahre alt, Musiker der Band Stigma. Vermutliche Todesursache: Stromschlag. Ich habe ein Team losgeschickt, das die Bühne nach DNA-Spuren und Fingerabdrücken absucht, und mein Elektronik-Crack ist auch schon unterwegs. Ihr wisst ja, wie’s läuft: Wir behandeln das Ganze wie einen Mordfall, bis wir das Gegenteil beweisen können.«

»Da habt ihr recht, Dawn. Caine und ich würden uns gern den Leichnam ansehen, wenn das für dich okay ist.«

Dawn richtete sich auf. Als sie einen Schritt von dem Verstorbenen zurücktrat, sah sie, wie Shanti und Caine gleichzeitig zusammenzuckten.

Leichen begegnet man in den unterschiedlichsten Formen und Größen. Die meisten befinden sich in der Horizontale. Manche sehen aus, als würden sie schlafen, doch der verkohlte Rockstar wirkte seltsam verdreht und starr – wie ein riesiger Grashüpfer, der einem Waldbrand zum Opfer gefallen war. Doch das war erträglich. Das Gesicht jedoch brachte die Fanta-Mars-Mischung in Shantis Magen zum Rebellieren – eine billige Maske aus einem Scherzartikelladen mit wild abstehenden Haaren, hervortretenden Augäpfeln und einer spitzen, schwarzen Zunge, die aus dem verzerrten Mund herausragte.

»Uff!« Shanti schnappte nach Luft.

»Möge er in Frieden ruhen«, sagte Caine.

»So etwas habe ich vorher erst einmal zu Gesicht bekommen«, teilte Knightly ihnen munter mit. »Neunzehnhundertachtundneunzig, wenn ich mich richtig erinnere. Ein Kricketspieler, der vom Blitz erschlagen wurde.«

»Okay … Gib mir nur einen Moment«, sagte Shanti, machte ein paar Schritte zurück und schloss die Augen. Während sie tief die Luft von Somerset einatmete, spürte sie den sanften Druck von Caines Hand auf ihrem Arm. Sie dachte an seine nervtötend hübsche Begleiterin, schüttelte seine Hand ab und wappnete sich.

»Todeszeit?«

»Einundzwanzig Uhr vierundvierzig«, sagte Knightly.

»Zeugen?«

»Ungefähr vierundzwanzig Millionen, Chefin«, antwortete Benno, der zu ihnen trat.

»Sehr witzig, Benno. Ich meine, wer war außer ihm auf der Bühne?«

»Die anderen Bandmitglieder – Schlagzeuger, Keyboarder, Blechbläser –, die kostümierten Tänzer, Background-Sänger, eine Roadie-Crew, Sound- und Lichttechniker, MC Vula Plenty, die jeden Moment zu uns stoßen wird, Tyrone, der Bruder, natürlich … und Ethans Mum im hinteren Bereich der Bühne. Die arme Frau hat die ganze Horrorshow mit angesehen.«

Während sie sprachen, näherte sich Caine ehrerbietig dem Leichnam. Vorsichtig berührte er Ethan Flynns Stirn und murmelte eine Art Beschwörungsformel. Anschließend wanderten seine behandschuhten Finger zu den hervorgequollenen Augen, doch ohne Lider ließen sie sich nicht schließen. Caine zog eine Stiftlampe aus der Tasche, kniete sich hin und leuchtete jedes einzelne starre Glied in den verkohlten Klamotten ab. Als Nächstes hob er vorsichtig Ethans schmale Füße an und untersuchte die verbrannten Fußsohlen.

Als Letztes inspizierte er dessen Hände, die zu schwarzen Fäusten geballt waren. Er öffnete die verschmorten Finger und richtete den Strahl der Stiftlampe nacheinander auf die beiden Handflächen. In der Mitte befand sich jeweils eine offene Wunde, aus der schwarzes Blut sickerte.

Mit einem verblüfften Gesichtsausdruck wandte DI Caine sich um und sah das stumme Grüppchen hinter sich an.

»Stigmata«, sagte er.

Kapitel fünf

Ein musikalischer Bilderbuchmord

Warum mussten Sie das sagen, Caine?«

Sie waren von der Leiche zurückgetreten, damit Dawn und ihr Team ihre Arbeit fortsetzen konnten.

»Was sagen?«

»Sie wissen schon: Stigmata. Sie haben sich angehört wie ein Irrer.«

»Stigmata sind Male an den Händen oder Füßen, die den Kreuzigungswunden von Jesus Christus entsprechen. Tatsächlich werden sie auch im Buddhismus und in anderen Glaubenssystemen erwähnt …«

»Ich weiß, was Stigmata sind, ich bin schließlich keine Vollidiotin. Das Unheimliche ist, was Sie mit seinen Händen angestellt haben … Es ist mir beinahe peinlich, das anzusprechen, aber Sie haben daran gerochen. Was alle gesehen haben.«

»Oh, okay. Nun, es heißt, Stigmata hätten einen besonderen Geruch – einen süßlichen Duft wie Blumen, der mitunter auch als der ›Wohlgeruch der Heiligkeit‹ bezeichnet wird. Allerdings konnte ich nichts dergleichen feststellen.«

»Hören Sie, Caine, was unsere Leute betrifft, so ist mir das egal – die sind an Ihre Verschrobenheit gewöhnt. Es geht mir um die Kollegen aus Keynsham, die uns mit Sicherheit für völlig abgedreht halten, wenn sie so etwas mitbekommen. Wussten Sie, dass man uns bereits als das ›Team für die abgefahrenste Scheiße in ganz Südwestengland‹ bezeichnet?«

Caine lächelte schief. »Ach, Shanti, es sollte Sie nicht kümmern, was die Leute reden. Sie sind ein erstklassiger Detective. Der beste.«

»Ja, das bin ich und das weiß ich. Sie sind es, um den ich mir Sorgen mache.«

»Zu Recht. Ich bin für diesen Job einfach nicht gemacht. Jeden Tag denke ich darüber nach, meine Marke abzugeben.«

»Herrgott, Caine, warum sind Sie ständig auf Komplimente aus? Aber wenn es denn sein muss: Benno hält Sie für den kompetentesten Detective, dem er je begegnet ist, und er ist sozusagen als Polizist auf die Welt gekommen.«

»Schon gut, Shanti. Ich möchte Ihnen noch etwas zeigen, was mir aufgefallen ist, und dann werde ich mich aus dem Staub machen.«

Er führte sie um den Sichtschutz des Seitenflügels herum auf die eigentliche Bühne, wo Dawns SOCO-Team hinter den breiten Nylon-Sichtschutzwänden jeden einzelnen Quadratzentimeter mit Fingerabdruckpulver bestäubte und die komplizierte Anlage unter die Lupe nahm: hoch aufragende Türme aus Lautsprechern und Verstärkern, ein riesiges Schlagzeug auf einem Podium, jede Menge Keyboards und eine Reihe altmodischer Saiteninstrumente auf Ständern.

Die hohe Bühne zu betreten war eine schwindelerregende Erfahrung, die für gewöhnlich nur Leute wie Ethan Flynn machten. So weit das Auge reichte, erstreckten sich die funkelnden Lichter des Festivals in die pulsierende Nacht. Die Arena unter ihnen war mit Polizeiband abgesperrt, auf dem grasbewachsenen, etwa dreißig Meter breiten Streifen patrouillierte bewaffnete und berittene Polizei. Dahinter drängte sich eine riesige Menge fassungsloser Stigs, den Blick starr auf die Bühne geheftet, die dilettantisch gebastelten Fahnen schlaff herabhängend, wie bei einer besiegten Armee nach der Schlacht. In dem diffusen Licht zuckten Dutzende Blitze auf.

»Ach du heilige Scheiße«, sagte Shanti zu Caine. »Jetzt weiß ich, wie es sich anfühlt, wenn man unter Beobachtung steht. Ich komme mir vor wie eine Schauspielerin in einem völlig irren Bühnenstück!«

»Ignorieren Sie die Leute einfach«, sagte Caine. »So, hier ist die Stelle, an der er zu Boden gegangen ist. Keine Sorge, der Strom ist abgestellt.« Er führte sie nach vorn an den Rand der Bühne, wo die Mikros vor weiteren, keilförmig aufgestellten Verstärkern standen, und deutete auf die Bretter. »Und das hier ist Excalibur.«

Das tödliche Instrument lag zu ihren Füßen, lackiert und elegant geschwungen.

»Was fällt Ihnen auf, Shanti?«

»Herrgott, ich weiß es nicht … Das Ding ist noch immer mit dem Verstärker verbunden. Es hat einen Leinenriemen. Dort sind Brandflecken, und … o mein Gott, die Fetzen auf den Saiten – ist das verbranntes Fleisch?«

»Schauen Sie auf den Boden und sehen Sie genau hin. Fällt Ihnen etwas auf?«

»Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Partyspielchen, Caine.«

»Da sind Fußabdrücke, Shanti. Nasse Fußabdrücke, die meines Erachtens von Ethan Flynn stammen.«

»Fußabdrücke? Wo?«

Er bückte sich und berührte einen davon, dann betrachtete er prüfend seine behandschuhten Fingerspitzen. Die Fußabdrücke waren lang und schmal und gespenstisch schwach.

»Sie sind bei der Hitze großteils verdampft«, sagte Caine. »Doch wenn man ihnen folgt …« Er richtete sich wieder auf und ging ihr voran. »Wenn man ihnen folgt, stellt man fest, dass sie aus dem hinteren Bereich kommen. Sehen Sie? Von dort drüben, gleich bei den Verstärkern, wo der Boden nass ist. Der Gitarrenständer befindet sich genau in der Mitte, Ethan muss also in die Pfütze getreten sein, als er Excalibur geholt hat.«

»Vielleicht hat er sich eingenässt. Das passiert ständig, wenn Leute sterben.«

»Er ist aber nicht hier gestorben, sondern vorn auf der Bühne.«

»Gut möglich, dass er etwas verschüttet hat. Vielleicht hielt er ein Getränk in der Hand.«

»Tyrone hatte eine Flasche Bier beim Auftritt dabei, aber Ethan trinkt nie auf der Bühne. Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass es sich um Wasser handelt.«

»Entschuldigen Sie, Caine, aber was soll das Ganze? Worauf wollen Sie hinaus?«

»Wie Sie vielleicht wissen, ist Ethan immer barfuß aufgetreten.«

»Ja, aber was hat das mit seinem Tod zu tun?«

»Konduktivität. Die Kombination von Strom, Wasser und nackter Haut ist tödlich.«

Sie starrte ihn mit nur halb verhohlener Ehrfurcht an. »Okay, Caine, Sie sind ein gottverdammtes Genie. Zwanzig Minuten später, und das Wasser wäre weg gewesen. Ich hole jemanden, der Fotos macht und Proben fürs Labor nimmt.«

Caine lächelte.

»Trotzdem ergibt das für mich keinen Sinn«, fuhr Shanti fort. »Sie hatten die Hälfte des Auftritts schon hinter sich, oder nicht? Warum hat Ethan nicht schon vorher einen Stromschlag bekommen?«

»Das habe ich mich auch gefragt. Allerdings bin ich mir ziemlich sicher, dass Excalibur das erste und einzige elektrische Instrument war, das er heute Abend gespielt hat – bei den anderen handelte es sich um altmodische Akustikinstrumente, die er zusammen mit Mikros benutzte, ohne direkte Stromzufuhr.«

»Dann sagen Sie mir, weiser Mann – warum wurde er nicht in der Sekunde gegrillt, in der er die Gitarre vom Ständer genommen hat?«

»Das ist eine gute Frage, aber wenn Sie sich die Filmaufnahmen ansehen, werden Sie bestimmt feststellen, dass er Excalibur am Leinenriemen hochgenommen und nur den Holzkorpus angefasst hat – Leinen und Holz leiten nicht. Der erste Kontakt mit Stromkomponenten – damit meine ich die Saiten – erfolgte, als er den Eingangsakkord anschlug.«

Shanti dachte einen Moment lang nach. »Okay, da haben wir’s. Trotz aller Gerüchte haben wir es hier mit einem bedauerlichen Unfall zu tun. Möglicherweise mit strafbarer Fahrlässigkeit. Eine nasse Bühne, dazu nackte Füße und eine E-Gitarre … KAWUMM! Das ist schwer für die Stigma-Fans, aber ein enttäuschend einfacher Fall für uns.«

»Nicht so schnell, Shanti. Ich fürchte, so leicht ist das nicht. Die Sache ist die: In einer Gitarre fließt kein Strom.«

»Selbstverständlich fließt darin Strom. Das sagt doch schon der Name: E-Gitarre, elektrische Gitarre. Ethan Flynn hat einen Stromschlag bekommen, so viel steht fest.«

»Das werden die Kriminaltechniker bestätigen, aber wenn ich mich richtig erinnere, geht es um Elektromagnetismus. Wenn man die Saiten einer E-Gitarre anschlägt oder zupft, werden die Schwingungen über elektromagnetische Tonabnehmer abgenommen und elektronisch verstärkt wiedergegeben. Dabei wird kein Strom direkt in die Gitarre geleitet. Unter normalen Umständen wäre es so gut wie unmöglich, einen Stromschlag von einer elektrischen Gitarre zu erhalten, geschweige denn eine tödliche Ladung abzubekommen.«

»Genau das habe ich auch gesagt«, ließ sich eine leise Stimme hinter ihnen vernehmen.

Shanti und Caine drehten sich um und sahen sich der berühmten Radiomoderatorin MC Vula Plenty gegenüber, die neben dem korpulenten Benno an ihrer Seite unendlich schlank und elegant wirkte. Sie trug eine locker fallende Haremshose, dazu ein kurzes, besticktes Jäckchen und hatte ein violettes Tuch um den Kopf gebunden.

»So, Ms. Plenty«, sagte Benno. »Dann überlasse ich Sie mal meinen kompetenten Kollegen DI