Der achtsame Mr. Caine und der Mittwinter-Mord - Laurence Anholt - E-Book
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Der achtsame Mr. Caine und der Mittwinter-Mord E-Book

Laurence Anholt

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Beschreibung

Schwarzhumoriger Krimi-Spaß für alle Freunde der Achtsamkeit: »Der achtsame Mr. Caine und der Mittwinter-Mord« ist der 3. Teil der humorvollen Krimi-Reihe »Vincent Caine ermittelt«. Ausgerechnet am Mittwinter-Morgen erwartet die versammelte New-Age-Gemeinde in Stonehenge ein bizarrer Anblick: Von einem der Steine baumelt die grün bemalte Hand einer Leiche. Als »Experten für schräge Fälle« nehmen der achtsame Detective Vincent Caine und seine Partnerin Shanti Joyce die Ermittlungen auf.  Das Mordopfer, der exzentrische Adlige Hector Lovell-Finch, hatte sich nicht nur mit seiner Exfrau und seinem Sohn verkracht, sondern auch mit dem Militär, auf dessen Gelände er unerlaubt Ausgrabungen betrieben hat. Nur mit ihrer besonderen Kombination aus Achtsamkeit und Tatkraft können Shanti und Caine diesen heiklen Fall lösen! Mit einem herrlichen Sinn für schwarzen Humor schickt der britische Autor Laurence Anholt den achtsamen Mr. Caine und seine achtsamkeitsgeplagte Kollegin Shanti Joyce in ihren 3. Fall. Die humorvolle Krimi-Reihe aus England ist in folgender Reihenfolge erschienen: - Der achtsame Mr. Caine und die Tote im Tank - Der achtsame Mr. Caine und das allerletzte Lied - Der achtsame Mr. Caine und der Mittwinter-Mord

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Laurence Anholt

Der achtsame Mr. Caine und der Mittwinter-Mord

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Kristina Lake-Zapp

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Ausgerechnet am Mittwinter-Morgen erwartet die versammelte New-Age-Gemeinde in Stonehenge ein bizarrer Anblick: Von einem der Steine baumelt die grün bemalte Hand einer Leiche. Als »Experten für schräge Fälle« nehmen der achtsame Detective Vincent Caine und seine Partnerin Shanti Joyce die Ermittlungen auf. 

Das Mordopfer, der exzentrische Adlige Hector Lovell-Finch, hatte sich nicht nur mit seiner Exfrau und seinem Sohn verkracht, sondern auch mit dem Militär, auf dessen Gelände er unerlaubt Ausgrabungen betrieben hat. Nur mit ihrer besonderen Kombination aus Achtsamkeit und Tatkraft können Shanti und Caine diesen heiklen Fall lösen!

Inhaltsübersicht

Widmung

TÖDLICHER TAGESANBRUCH

EIN RICHTIGER STONEHEAD

DER KARMA-COP

DER MÖRDER IN DER MENGE

DIE WINDE DER VERGANGENHEIT

EIN PORTAL FÜR DIE TOTEN

EIN WUNDERSCHÖNER RITUALMORD

EIN NAME VON NUKLEARER SPRENGKRAFT

DIE GRÖSSTE STORY SEIT CHRISTI GEBURT

OPERATION MITTWINTER

DAS EHRENWERTE PARLAMENTSMITGLIED FÜR DIE UNTERWELT

UNFUCKINGBELIEVABLE

MAJOR MCABLE

STEINZEIT-NED

EINE BLUTIGE KLINGE

DER TRÄUMENDE DETECTIVE

EIN ORT NAMENS EVOL

DIE KRÄUTERHEILKUNDIGE MIT DEM GEBROCHENEN HERZEN

DIE ERLEUCHTUNG

EIN PFLEGEHEIM FÜR EINSTIGE STARS

DNA LÜGT NICHT

DIE TRAGISCHE GESCHICHTE VON TALIN TULL

IHR FÜHLENDEN WESEN

KLONHENGE

WIE DIE STEINZEITMENSCHEN SCHWERE GEWICHTE HOBEN

EIN PARALYSIERTER HUND

EIN BUDDHIST IN EINER KASERNE

ENDLICH ACHTSAM

RETTET DEN SONNENAUFGANG

TAGEBUCH EINES TOTEN

DER FINSTERE LORD DES TODES

BLUT VON MEINEM BLUTE

DER TEMPEL DER WINDE

EIN TEUFLISCHES DÉNOUEMENT

DAS WEIHNACHTSGESCHENK

Mit Liebe für Claire, mein Mittwinter-Mondkind

Kapitel eins

TÖDLICHER TAGESANBRUCH

Schnee.

Schnee fiel.

Schnee fiel sanft vom Himmel auf die Salisbury Plain.

Zuerst bildete er eine feine Puderschicht auf dem gefrorenen Gras, dann wirbelten die Schneeflocken wie Asche durch die Luft. Während der Nacht war ein heftiger Schneesturm von Osten über die Hochebene hereingebrochen, der die Schafe dazu trieb, an Böschungen und Hecken Schutz zu suchen.

Es war Wintersonnenwende – die kurze Zeitspanne, in der die Erde aus ihrer Umlaufbahn zu geraten scheint. In der die Dunkelheit mit dem Licht ringt. In der unsere Vorfahren zusammenkamen, um sich ihr heidnisches Gebräu einzuverleiben. Eine Zeit des Opferns und Sterbens.

Nachdem der Schneesturm vorbeigezogen war, blieb nur noch der Wind. Nur der heulende Wind und die Krähen, wie zerlumpte Hexen über einer Welt kreisend, die so weiß war wie die leeren Blätter einer ungeschriebenen Geschichte.

 

In dem austerngrauen Licht vor Tagesanbruch setzte sich eine Prozession vom Besucherzentrum in Stonehenge in Richtung Steinkreis in Bewegung. Über zweitausend Menschen, geduckt gegen den beißenden Wind, angeführt von skandierenden Druiden und allerlei New-Age-Spinnern. Ihnen folgten Touristen in leuchtenden Wetterjacken, Fotografen und neonbekleidete Mitarbeiter von English Heritage, dem ehemaligen Amt für Denkmal- und Naturpflege, heute eine Organisation, die sich der Verwaltung und Pflege in Staatsbesitz befindlicher Denkmäler und archäologischer Stätten widmet.

Inmitten des Gedränges befand sich ein neunzehnjähriges Mädchen namens Jojo Bloom, das in einem mit Kondenswasser beschlagenen Taxi vom Bahnhof Salisbury eingetroffen war, bekleidet mit einer silbernen Pufferjacke, die taillenlangen Zöpfe unter der pelzverbrämten Kapuze versteckt. Jojo war hier, um eine mystische Erfahrung zu machen, doch was sie nicht wusste, war, dass die Wintersonnenwende ihr Leben für immer verändern sollte.

Die vielfüßige Menge mit ihren Gewändern, Geweihen und Folklorekostümen schlängelte sich durch die Sicherheitsabsperrungen und wurde von gutmütigem Wachpersonal mit Sturmhauben nach Flaschen, Messern oder Sprühfarbe abgetastet. Man rechnete nicht mit Unannehmlichkeiten, und es wurde auch lediglich ein Mann mit einem Pferdekopf und einer Tasche voll Ecstasy aus dem Verkehr gezogen.

Als sich die Prozession dem Tempel ohne Dach näherte, war die Luft erfüllt von dem Kra! Kraa! Kraaa! der knopfäugigen Wächter – den Rabenvögeln, Krähen, Dohlen und Raben, die seit Jahrhunderten ihre windzerzausten Nester in die Lücken zwischen den aufrecht stehenden Tragsteinen und den horizontalen Decksteinen des monumentalen Bauwerks quetschten.

Die Versuchung, ins Innere des Steinkreises zu drängen, war groß, doch ein Gefühl der Ehrfurcht hielt die Besucher davon ab. Langsam bildeten sie einen Gürtel rund um die Steine und starrten auf die jungfräuliche Schneedecke am Boden, hie und da aufgewühlt von an den Dreizack des Teufels erinnernden Vogelspuren.

Als die letzten Nachzügler eingetrudelt waren, hob der Oberdruide eine Hand, die rot war vor Kälte. Er hatte einen ausladenden Schmerbauch und einen Bart, der Ähnlichkeit mit einer Kumuluswolke aufwies. Ein Feuer speiender Drache prangte auf seinem weißen Gewand. Der Mann war von Beruf Imker. Jetzt hielt er einen Stechpalmenzweig in die Höhe, übervoll mit roten Beeren, und rief mit dröhnender Stimme: »Nach der Dunkelheit der längsten Nacht nehmen wir Abschied vom Ilexkönig!« Sein Atem bildete in der eisigen Luft eine Wolke, weiß wie sein Bart.

Der Zweig ging über in die greifenden Finger seiner Gefährtin zur Linken – einer Teilzeithexe aus Aylesbury –, dann wanderte er weiter von Hand zu Hand, vorbei an den Blausteinen, vorbei an den Sarsentrilithen, vorbei am Schlachtstein und dem Altarstein, bevor er endlich zu dem fettleibigen Druiden zurückkehrte.

Alle Augen waren auf den weiß gewandeten Mann gerichtet, der nun den Ilexzweig in einen Kessel zu seinen Füßen warf und sich bückte, um einen Eichenzweig aufzuheben.

»Der Eichenkönig des Lichts ist wiedergeboren«, übertönte er mit donnernder Stimme den heulenden Wind. »Aufs Neue herrschen unser Gott und unsere Göttin gemeinsam. Das Licht kehrt zurück in unser Land … SEIET GESEGNET!«

»SEIET GESEGNET!«, echoten die Anhänger.

In der Menge konnte Jojo Bloom ihre Begeisterung kaum zügeln, denn der Druide hatte die Zeremonie perfekt getimt. Exakt um acht Uhr neun erschien am Osthimmel der oberste Teil der Sonnenscheibe. Viertausend Hände wurden verschränkt. Und dann fiel zu ihrer aller Verblüffung ein Laserstrahl aus Sonnenlicht wie eine Schwertklinge durch den steinernen Korridor.

Es ertönten Ah- und Oh-Rufe, gefolgt von Jubel, Jauchzen und Freudengeschrei – ein Moment, der von Tausenden iPhones festgehalten wurde.

So oft war der Tagesanbruch von einer Wolkenbank verschleiert worden, doch heute war die Sonne unverstellt flammend rot in ihrer vollen Pracht zu bewundern.

Nun rückte die blinzelnde Menge vor in die Umarmung des Monuments, frohlockend vor Freude über die Nähe zu den heiligen Steinen, die Hände ausgestreckt, um die rauen Flechtenoberflächen der Sarsensteine zu streicheln und zu liebkosen.

Manche küssten die Steine. Andere meditierten. Joints wurden angezündet, Hörner voll Met herumgereicht. Flötenklänge ertönten und vermischten sich mit Gitarrenrhythmen zu einer wilden, misstönenden Kakofonie. Im Herzen des dachlosen Tempels schlug eine sich wild gebärdende Frau mit hennabemalten Händen eine Stammestrommel.

Unter einem mächtigen Trilithen öffnete Jojo Bloom ihre federgeschmückten Zöpfe, schüttelte die Haare aus und tanzte einen ungestümen Tanz für die neu anbrechende Zeit, wurde eins mit der Wintersonnenwende und den Steinen. Ihr Körper zuckte. Ihre Augen waren geschlossen. Ihre Finger zeichneten animalistische Formen in den sonnenglitzernden Morgen.

Die Polizisten bei den mobilen Toilettenhäuschen entspannten sich; Sanitäter tranken Tee aus den mitgebrachten Thermoskannen; Wachleute streichelten ihre Hunde. Wieder einmal schien es so, als wären die Götter den hilflosen Sterblichen wohlgesinnt.

Zuerst ignorierte Jojo Bloom den warmen Tropfen, der auf ihrer Wange landete. Als ein weiterer folgte, nahm sie an, es handele sich um geschmolzenen Schnee. Doch als er bis zu ihrer Lippe rollte und sie ihn mit der Zunge ableckte, schmeckte sie etwas Süßes, Metallisches. Sie öffnete die Augen und fuhr sich mit der Hand über die Wange. Als sie sie zurückzog, bemerkte sie Blut auf ihren Fingerspitzen. Sie verspürte einen Anflug von Panik. Hatte sie sich im Gesicht geschnitten, und wenn ja, wie?

Sie starrte zu dem Deckstein über ihrem Kopf hinauf und sah eine Hand aus dem daraufliegenden Schneeberg baumeln. Eine Hand, wie sie noch nie eine gesehen hatte.

Um Jojo herum bildete sich eine Menschenmenge, die sich voller Ehrfurcht aneinanderklammerte. Die Hand war groß. Die Hand war grün. Blut tropfte von der Hand, rote Kugeln, wie Ilexbeeren.

Jojo schrie.

Kapitel zwei

EIN RICHTIGER STONEHEAD

Detective Inspector Shantala Joyce balancierte auf einem Stuhl, den sie im Polizeipräsidium von Yeovil auf eine Schreibtischplatte gestellt hatte. Sie zielte sorgfältig und wollte gerade abdrücken, als ihr Handy klingelte.

»Verflucht noch mal, Benno, ich hoffe, es ist wichtig«, schimpfte sie, als sie den Anruf entgegennahm.

Sergeant Bennetts Baritonstimme klang angespannt.

»Viel zu tun, Chefin?«

»Ich hänge buchstäblich in der Luft, Benno.«

»Nun, das hier wird dich auf den Boden zurückholen. Ist ein ziemlicher Schocker.«

»Gib mir einen kurzen Augenblick, okay?« Wieder zielte sie sorgfältig und tackerte die weihnachtliche Papiergirlande mit einer Heftklammer an den Styropordeckenplatten fest. Zufrieden begutachtete sie ihr Werk, dann kletterte sie vorsichtig vom Schreibtisch. »Schieß los, Benno.«

»Also gut. Du weißt doch, wo ich wohne, oder? Am Stadtrand von Salisbury, nicht weit von Stonehenge entfernt.«

»Ja, Benno, das weiß ich. Sicherlich ist es dort ganz entzückend. Du und deine Frau, ihr könnt euch glücklich schätzen.«

»Es ist etwas passiert bei den Steinen«, sagte er. »Ziemlich bizarr, wenn du mich fragst.«

Shanti nahm ihren Kaffee von dem bambusfarbenen Aktenschrank und stellte das Handy auf Lautsprecher.

»Was ist das für ein Geheule, Benno? Ich kann dich kaum verstehen.«

»Das ist der Wind, Chefin.«

Obwohl die Büros hinlänglich beheizt waren, fühlte Shanti, wie sie innerlich fröstelte. »Stonehenge ist aber nicht unser Zuständigkeitsbereich, oder?«, fragte sie hoffnungsvoll.

»Nicht unbedingt. Aber das Präsidium in Wiltshire hat explizit dich und DI Vince Caine angefragt. Sie haben schon wieder diese Formulierung verwendet – die, die du so hasst.«

Shanti seufzte. »Welche Formulierung?«

»Seit ihr den Havfruen-Fall geknackt und dann auch noch den Mord an Ethan Flynn aufgeklärt habt, hat sich die Bezeichnung ›Team für die abgefahrenste Scheiße in ganz Südwestengland‹ etabliert.«

Der Kaffee unten in der Tasse war pulverig und vermischt mit dem nicht ganz aufgelösten Zucker. Bitter und süß zugleich. Der anerkennenden Formulierung nicht unähnlich.

»Ich bin zutiefst gerührt, Benno, aber leider müssen sie sich jemand anderen suchen – vorzugsweise keine alleinerziehende Mutter, schon gar nicht in der Woche vor Weihnachten.«

»Das verstehe ich, Chefin. Allerdings mache ich diesen Job nun schon mein Leben lang, genau wie mein Vater und vor ihm mein Großvater, und so ein Fall ist mir noch nie untergekommen. Ich bin jetzt vor Ort, und ich sage dir, da ist etwas absolut Unheimliches im Gange. Du und Vince, ihr seid die Einzigen, die dafür infrage kommen.«

Sie sah sich im Büro um. Lamettafäden hingen einsam und verlassen über Trennwänden und Monitoren. An der Pinnwand prangte eine Handvoll Weihnachtskarten aus den örtlichen Geschäften. Aus dem Aufenthaltsraum drang das dröhnende Gelächter von Dunster und Spalding, die sich anscheinend in einer Art manisch-demobilisierter Stimmung befanden, wie sie in der Weihnachtszeit häufig vorkam. Shanti seufzte. Sogar die unregelmäßig blinkenden Lichter des Weihnachtsbaums schienen nur dazu da zu sein, ihr auf die Nerven zu gehen.

Noch während sie all das in sich aufnahm, löste sich die gut zwanzig Meter lange Papiergirlande von der Decke, segelte majestätisch durch die Luft und landete auf den Teppichfliesen.

»Ich glaube kaum, dass du Caine dazu bringen kannst, seine Winterklausur zu unterbrechen. Er feiert Weihnachten nicht. Hast du vergessen, dass er Buddhist ist?«

»Ich denke, da irrst du dich«, widersprach Benno.

»Wieso? Ist er konvertiert?«

»Ich will damit sagen, dass er bereits im Taxi sitzt. Er müsste in ungefähr zehn Minuten bei dir sein.«

»Warte. Wie bitte? Wie konntest du Kontakt mit ihm aufnehmen? Rund um Caines Hütte gibt es keinen Empfang. Ihm gefällt das so.«

»Ich hatte Glück. Er war auf dem Weg nach Lyme, genau wie ich, um Vorräte einzukaufen. Ich habe ihn am Straßenrand aufgelesen und ins Bild gesetzt. Es hat mich genauso überrascht wie dich, aber er war total aus dem Häuschen, als ich ihm die Details erzählte. Er wollte sich gleich ein Taxi nach Yeovil ins Präsidium nehmen. Anscheinend ist Vince ein richtiger ›Stonehead‹.«

»Ein ›Stonehead‹?«, fragte Shanti verständnislos.

»So nennt man diejenigen, die verrückt sind nach den alten Steinen – glühende Stonehenge-Fans sozusagen.«

»Klar ist er verrückt danach«, sagte Shanti. Vor ihr inneres Auge trat das Bild ihres langhaarigen Kollegen – in voller Druidenmontur und mit weit ausgebreiteten Armen. »Dann weihe mich halt ebenfalls in die Details ein, aber ich mache keine Versprechungen.«

»Also gut. Du weißt, was für ein Tag heute ist?«

»In der Tat. Heute ist Dienstag, der einundzwanzigste Dezember. Der Tag der Weihnachtsfeier. Und aus traditionellen und zutiefst sexistischen Gründen bleiben die Vorbereitungen dafür an der einzigen verfügbaren Frau hängen. In diesem Fall an mir, Benno.«

»Ehrlich, Chefin, ich hatte wirklich die Absicht …«

»Letztes Jahr – mein erstes Weihnachten an diesem trostlosen Ort – habe ich dem gesamten Team Wichtelgeschenke gekauft und zum Teil sogar selbst gebastelt. Siebenundzwanzig Personen. Und rate mal, was ich im Gegenzug bekommen habe?«

»Deodorant, Chefin. Das hast du mir erzählt.«

»Hübsch eingepackt, das muss ich zugeben. Aber tatsächlich ein Deo. Ein Herrendeo, wohlgemerkt. Damit kann ich so richtig was anfangen. Ich nehme es überall mit hin, und siehe da: Es wirkt wahre Wunder …«

»Bei allem Respekt, aber das hier ist doch um einiges wichtiger als die Weihnachtsfeier im Präsidium. Heute ist Wintersonnenwende, allgemein bekannt als Weihnachtscountdown oder Julfest. Und trotz der Wetterbedingungen versammelten sich wie jedes Jahr zahlreiche Menschen, um die Feierlichkeiten zu begehen. Um acht Uhr dreiundzwanzig, kurz nach Tagesanbruch, tanzte eine junge Dame namens Jojo Bloom unter einem der Trilithen …«

»Was ist denn ein Trilli…?«

»Eine Art Durchgang, bestehend aus zwei Tragsteinen und einem Deckstein, wie ein riesiges Krocket-Tor. Ein Tropfen Blut ist ihr ins Gesicht gefallen. Als sie aufschaute, entdeckte sie eine Hand – eine riesige grüne Hand, die mehrere Meter über dem Boden baumelte. Ich betrachte sie gerade – und ich kann den Umriss eines gewaltigen Mannes ausmachen, der unter einem Haufen Schnee auf dem Deckstein liegt. Richtig sehen tut man aber nur die Hand, die im Wind hin und her schwingt.«

»Und warum ist die Hand grün?«, wollte Shanti wissen.

»Könnte ein Heide sein. Du wirst schon sehen, davon gibt es hier jede Menge: Druiden, Schamanen … Während wir sprechen, nehmen sich die Kollegen vom Präsidium in Wiltshire gerade einen Herrn mit Pferdekopf vor.«

»Moment mal … willst du damit sagen, dass außer dem Team noch andere Leute am Tatort sind?«

»Ungefähr zweitausend, grob geschätzt. Normalerweise wären es so um die fünftausend, aber wegen des Wetters sind diesmal weniger gekommen.«

»Ach du liebe Güte! Gibt es einen Ort, an dem wir sie in Ruhe befragen können?«

»English Heritage hat uns das Besucherzentrum zur Verfügung gestellt. Es ist ungefähr zwei Meilen von den Steinen entfernt, die Räumlichkeiten werden dir gefallen. Es ist hübsch und warm dort, und es gibt eine prima Kantine mit frischem Kaffee und Mince Pies, falls du die magst.«

»Klingt, als hätten wir es mit einem Verbrechen genau nach meinem Geschmack zu tun. Und wir sind sicher, dass er tot ist?«

»Er ist tot, Chefin. Letzte Nacht herrschten Temperaturen um minus neun Grad. Noch rätselhafter als die Steine selbst ist jedoch die Frage, wie zur Hölle er da raufgekommen ist. Ich bin kein abergläubischer Mann, aber der Anblick jagt einem Schauder über den Rücken. Warum ausgerechnet heute?«

»Um diese Jahreszeit schnellt die Anzahl der Verbrechen immer in die Höhe. ›Weihnachtskriminalität‹ nennt man das. Als ich noch in Camden gearbeitet habe, gab es immer irgendeine festliche Messerstecherei oder einen hübsch verpackten Raubüberfall …«

»Ich meine die Wintersonnenwende, Chefin. Hier, bei diesen Steinen, glaubt man …«

»Was?«

»Die Alten glauben, dass aus den Grabhügeln auf der Hochebene Urkräfte aufsteigen.«

»Schön und gut, aber leider sind wir Polizisten, Benno. Wir glauben nicht an solchen Unsinn. Ist sonst schon irgendwer vor Ort?«

»Dawn Knightly und ihr SOCO-Team sind gerade eingetroffen. Das Problem ist, dass Dawn niemandem erlaubt, bei diesen Wetterbedingungen auf die Steine zu klettern.«

»Was will sie tun? Bis zum Frühjahr warten?« Wie sollten die Scenes of Crime Officer ihren Job machen, wenn sie keine Spuren sicherstellen konnten?, fragte sich Shanti stirnrunzelnd.

»Sie hat ein Gerüst angefordert, das rund um den Trilithen aufgebaut werden soll. Das Ganze will sie mit einer Zeltplane ummanteln und überdachen lassen, außerdem braucht sie einen Generator und Scheinwerfer. Jetzt gerade sausen Gerüststangen durch die Luft wie in einem Buster-Keaton-Film.«

»Wie schön für Dawn. Es geht doch nichts über Sicherheit und Komfort. Wie lange wird es dauern, bis alles aufgebaut ist?«

»Bis du hier bist, ist das Ganze sicher fertig.«

»Warte, ich habe nicht gesagt …«

Shanti trat an das beschlagene Fenster, wischte mit dem Ärmel eine kreisrunde Fläche frei und blickte hinunter auf die graue Straße, um Ausschau nach einem Taxi zu halten.

»Ich kann dich nicht hören, Chefin.«

»Ich denke nach.«

Worüber sie nachdachte, war Paul. Ihre Liebe zu dem Jungen war eine Art süße Qual, und seit einem Monat versprach sie ihm Tag für Tag, das großartigste aller Weihnachtsfeste mit ihm zu feiern. Einen Mord konnte man aufklären, die Zwickmühle moderner Mutterschaft nicht.

»Ich werde meinen Beliebtheitsgrad auch nicht gerade steigern«, sagte Benno, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Das Timing ist ungünstig, da stimme ich dir zu, aber es sind immerhin noch vier Tage bis Weihnachten. Wenn wir uns jetzt zu Anfang ordentlich ins Zeug legen, können wir die Ermittlungen unter Umständen für kurze Zeit auf Eis legen.«

»Sehr witzig, Benno.«

Drei Stockwerke tiefer hielt ein Taxi am Bordstein an. Shanti beobachtete, wie ein hochgewachsener Mann an der Beifahrerseite ausstieg und dem Fahrer die Hand schüttelte, als wären sie schon ewig befreundet.

Ihr Kollege sah dem davonfahrenden Wagen nach. Was um Himmels willen hatte er da bloß an? Shanti kniff die Augen zusammen. Er trug einen langen, schweren Wintermantel, Handschuhe, Wanderstiefel, einen grauen Schal und eine fellgefütterte Fliegermütze mit riesigen Seitenklappen, die aussahen wie herabhängende Ohren, in den Nachböen des nächtlichen Schneesturms flatternd. Über seine Schulter hatte er einen abgewetzten Leinenbeutel geschlungen.

»Caine ist da«, sagte Shanti ins Handy. »Wir sind in einer Stunde bei dir.«

»Das weiß ich zu schätzen, Chefin.«

»Du weißt, was du unterdessen zu tun hast: Lass das Gelände absperren und stell Posten auf. Ich möchte die Kontaktdaten von jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind haben, und wenn irgendjemand etwas gesehen hat, und sei es auch nur eine Schneeballschlacht, benötigen wir eine detaillierte Aussage. Mit Ausnahme der Spurensicherung darf sich keine Menschenseele dem seltsamen grünen Riesen nähern.«

»Verstanden. Ach, übrigens …«

»Ja, Benno?«

»Du solltest dich warm anziehen. Mütze, Thermounterwäsche, das volle Programm.«

»O Gott, ist es so kalt?«

»Kalt wie ein Pinguinpenis, Chefin.«

 

Sie wusste, dass er nicht reinkommen würde – die beigefarbenen Flure und Räume waren für einen Mann wie Caine ein Gräuel. Sie wusste, dass er geduldig auf den Stufen vor dem Polizeipräsidium warten würde, so fehl am Platz wie ein Polarfuchs aus den Wäldern, der sich zwischen die Betonbauten von Yeovil verirrt hatte.

Vielleicht spürte er, dass sie ihn beobachtete, denn er schaute hinauf und hob grüßend die Hand. Sogar von hier oben konnte sie das betörende Lächeln auf seinem olivfarbenen Gesicht erkennen.

Shanti wandte sich ab und fing an, ein paar grundlegende Dinge in ihre Tasche zu stopfen: Taschenlampe, Pfefferspray, Handschellen, Schokolade. Als sie damit fertig war, nahm sie ihre Lederjacke und eilte in den Aufenthaltsraum, in dem ein halbes Dutzend uniformierte Kollegen saßen und einander schmutzige Witze erzählten.

»Tut mir leid, wenn ich euch den Spaß verderbe, aber die Party ist vorbei.«

»Ach, Chefin!«

»Mutmaßlicher Mord in Stonehenge. Ich fahre mit DI Caine zum Tatort.«

»Sie werden doch nicht etwa die Weihnachtsfeier absagen?«

»Vielleicht. Wahrscheinlich. Mal sehen, wie’s läuft. Ihr müsst hier die Stellung halten. Bleiben Sie nüchtern, Spalding.«

»Warum ich, Chefin?«

»Weil Sie derjenige sind, der jetzt schon mindestens eine Flasche Skol intus hat.«

Kapitel drei

DER KARMA-COP

Mit quietschenden Reifen setzte Shanti rückwärts aus der Parklücke und lenkte den Saab über den vereisten Parkplatz auf die Straße.

»Wie geht es Ihnen, Shanti?«, fragte Caine und ordnete das Durcheinander aus Spielsachen, Akten, Büchern und Einwickelpapieren zu seinen Füßen. »Sie sehen …«, er betrachtete sie mit sanftem Blick, »… glänzend aus.«

Der Mann verströmte einen ganz speziellen Duft – etwas, was man nicht in den Läden kaufen konnte. Nach Kiefern. Weihrauch. Erde.

Trotzdem würde sie sich nicht darauf einlassen. Sie hatte einen Job zu erledigen und zu Hause einen Sohn, der sie brauchte. Gefühle waren da gänzlich überflüssig. Die Tatsache, dass Caine mit diesem Zen-artigen Lächeln und einem Dreitagebart auf den markanten Wangenknochen von der Undercliff aufgetaucht war und mehr als einmal ihr Herz berührt hatte, spielte keine Rolle.

Als sie zu sprechen begann, erinnerten ihre Worte an die Heftklammern aus dem Tacker, mit dem sie im Büro die Papiergirlande an die Decke geschossen hatte.

»Also. Schnellste Route nach Stonehenge. Caine? Benno sagt, die meisten Nebenstraßen sind unpassierbar.«

»Nehmen Sie die A359 nach Sparkford«, erwiderte er, als würde er ein Gedicht rezitieren. »Dann fahren Sie nach Osten auf die A303 Richtung Andover. Das sind maximal fünfundvierzig Minuten.«

Obwohl es noch nicht einmal neun Uhr dreißig war, wimmelte es auf den Gehsteigen von Einkaufslustigen – normale Familien, die normale Dinge taten. Ein Wald aus eingenetzten Weihnachtsbäumen sorgte dafür, dass Shanti sich noch schlechter fühlte.

»Sie können sie jetzt absetzen«, sagte sie.

»Was denn, Shanti?«

»Die Mütze, Caine. Ich komme mir vor wie in einer Beatrix-Potter-Geschichte.«

Als er die Fliegermütze absetzte und seine Haare ausschüttelte, wurde der Wagen erfüllt von dem flüchtigen Duft seines Zedernholzshampoos.

Caine wollte einfach nicht begreifen, dass ein Tatort ein Kriegsgebiet war und dass sie in diesem Moment ihre Rüstung anlegte. Emotionen ausschalten. Verstand einschalten. Dieser Karma-Cop war viel zu soft.

»Raus mit der Sprache«, sagte sie. »Warum waren Sie so versessen darauf, mit an Bord zu kommen? In meinem gesamten Berufsleben bin ich nie einem zögerlicheren Polizisten begegnet, und jetzt erzählt mir Benno, dass Sie sich förmlich ins Taxi gestürzt haben.«

Sie musste ihm nicht das Gesicht zuwenden, um sich das gütige Lächeln vorzustellen, die dunklen Augen, tief und unergründlich wie zwei Ölquellen.

»Ich gebe zu, er hat mich neugierig gemacht. Ein Leichnam auf dem Deckstein eines Trilithen in Stonehenge. In der Nacht der Wintersonnenwende. Wie um alles in der Welt befördert man eine Leiche sieben Meter hoch in die Luft?«

»Ich denke, die Frage kann ich Ihnen beantworten. Mit einer Hebebühne oder einem Gabelstapler.«

»Das ist durchaus möglich, allerdings hätte man in dem Fall Spuren im Schnee finden müssen. Ich gehe davon aus, dass das Ganze weitaus mysteriöser ist.«

»Sie können mir nichts vormachen. Ich kenne Ihr wahres Motiv …«

»Tatsächlich?«

»Geben Sie es zu: Diese Winterklausurgeschichte ist doch ein bisschen traurig, oder? Mutterseelenallein in einer Hütte im Wald zu hocken, während der Rest der Welt feiert.«

»Meditation ist weder fröhlich noch traurig, Shanti.«

»Wie Sie, Caine. Sie sind auch weder fröhlich noch traurig. Nur nervig.«

Die Stadt war voller, als sie erwartet hatte. Kurz überlegte sie, ob sie das Blaulicht einschalten sollte, aber das war bei diesen Straßenverhältnissen riskant. Man musste nur auf eine vereiste Stelle geraten, und schon würden die Fußgänger umkippen wie Schokoweihnachtsmänner.

»Aber Sie haben recht«, sagte Caine. »Es gibt noch einen anderen Grund – ich arbeite gern mit Ihnen zusammen. Das wissen Sie doch, oder?«

»Klar. Wir können dieses Thema in aller Kürze abhandeln: Ich bin mir sicher, Sie erinnern sich an die Regeln, die schrecklich einfach sind. Stellen Sie sich eine Trennlinie zwischen Pflicht und Vergnügen vor …« Ihre Finger strichen über die Handbremse zwischen ihnen, als stünde sie stellvertretend für besagte Trennlinie. »Auf der einen Seite ist der Job, den es zu erledigen gilt – der heroische Kampf für die Gerechtigkeit. Auf der anderen Seite ist … hm … anderes Zeugs, das hier nichts zur Sache tut.«

Sie überfuhr die rote Ampel auf der Spitze des Hügels und bog scharf nach rechts auf die A359 ein, die übersät war mit schmutzigen Schneewehen. Hier draußen war gestreut worden, und Shanti fing an, sich an den langsameren Fahrzeugen vorbeizuschlängeln, was ihr wiederholtes Hupen sowie zornige Beschimpfungen der anderen Fahrer einbrachte.

»Sie fahren sehr schnell, Shanti.«

»Ich bin hervorragend dafür ausgebildet, Caine. Wenn ich mich richtig erinnere, bin ich beim Fahrsicherheitstraining für Fortgeschrittene ›Fahrerin des Jahres‹ geworden. Ich nehme an, Sie hingegen haben die Fahrradprüfung bestanden?«

»Sie sind eine brillante Fahrerin, und mir ist bewusst, wie kostbar die Zeit ist … die Goldene Stunde und all das, aber ohne zu sehr ins Detail gehen zu wollen: Bei den Steinen ist alles gefroren, wir haben daher vermutlich etwas mehr Zeit als sonst.«

»Bleiben Sie einfach still sitzen wie ein braver Junge und überlassen Sie das Fahren mir.«

Sie hatte die Heizung aufgedreht, und Caine schnallte sich ab und fing an, sich aus seinem dicken Mantel zu schälen. Als er es geschafft hatte, drehte er sich nach hinten und legte ihn ordentlich gefaltet zusammen mit seinem Schal und der Mütze auf den Rücksitz. Shanti beging den klassischen Fehler, auf die Stelle zwischen Hemd und Jeans zu blicken, die dabei sichtbar wurde. Klar, dass seine Ernährung während der Klausur unzureichend war. Aus irgendeinem Grund schoss ihr das Wort »Waschbrett« durch den Kopf.

Caine schnallte sich wieder an und betrachtete die Landschaft, wo sich verschneite Felder wie frisch gewaschene Bettdecken bis zum Horizont erstreckten.

»Sehen Sie sich das an, Shanti – das Mittwinterlicht. Ist das nicht außergewöhnlich? Sie hätten heute Morgen die Undercliff sehen sollen, es war, als befände man sich in einer anderen Welt.«

Das stimmte. Von der weißen Puderzuckerlandschaft ging eine Leuchtkraft aus, die so intensiv war, dass man davon Kopfschmerzen bekam.

»Erzählen Sie mir von Stonehenge«, bat sie ihn. »Benno meint, Sie seien ein echter Kenner.«

»Das würde ich nicht behaupten, aber als Teenager war ich ziemlich fasziniert davon …«

»Hing in Ihrem Zimmer etwa ein Poster des Bauwerks an der Wand?«

»Nun, ich … Woher wissen Sie das?«

Sie hasste den Sarkasmus in ihrer Stimme, daher sagte sie schlicht: »War nur so eine Vermutung.«

»Möchten Sie wissen, woher mein Interesse damals rührte?«

»Ich nehme an, ich werde es gleich erfahren.«

Er sah sie begeistert von der Seite an. »Erinnern Sie sich an Unsere Nachbarn aus der Jungsteinzeit?«

»Das müssen Sie mir näher erklären.«

»Als Teenager habe ich Unsere Nachbarn aus der Jungsteinzeit geliebt – eine großartige Fernsehsendung. Sie müssen doch noch die Titelmelodie im Kopf haben …« Er summte ein seltsames Klagelied, bis Shanti ihm einen scharfen Blick zuwarf. »Die Sendung lief etwa zehn Jahre«, fuhr er fort. »Ich weiß noch genau, wie enttäuscht ich war, als sie abgesetzt wurde. Als hätte man mir etwas sehr Kostbares genommen. Nun ja, im Wesentlichen ging es darum, dass eine Gruppe experimenteller Archäologen in einer Stammesgemeinschaft in der Nähe von Stonehenge zusammenlebte, drei oder vier Familien mit Kindern in meinem Alter. Die Gemeinschaft baute Rundhütten und kleidete sich in Häute und Felle, genau wie unsere Vorfahren. Jede Woche erwarb man eine neue Fähigkeit – Nahrungssuche, Körperkunst oder die Bearbeitung von Feuersteinen.«

»Unverzichtbar in Camden Town.«

»Wissen Sie was, Shanti? Ich habe meine Unsere Nachbarn aus der Jungsteinzeit-Bücher noch immer, und – bitte behalten Sie das für sich – ich habe vor, eins davon Paul zu Weihnachten zu schenken.«

Herrje! Warum musste er das tun? Eine Erinnerung kam in ihr hoch: Paul, der Caine über den Küstenpfad folgte, umgeben von Sonnenschein und Glück. Die beiden suchten nach Wildspuren, sammelten Feuerholz, spitzten Stöcke an … Der Junge vergötterte Caine.

»Beschränken Sie sich auf die Fakten, bitte«, sagte sie kurz angebunden. »Nur das Notwendigste.«

»Also gut: Stonehenge ist ein komplexer Kreis aus aufrecht stehenden Steinen, der mittlerweile zum Weltkulturerbe zählt, erbaut etwa dreitausend Jahre vor Christus. Was mich als Jugendlicher echt umgehauen hat, war, dass diese gigantischen Steine von weit her herbeigeschafft wurden – manche kommen aus den Preseli-Bergen in Wales.«

»Aha, ein Ring aus alten Steinen, die von woanders auf die Hochebene gebracht wurden.«

»Magische Steine, Shanti.«

»Andere Wortwahl, Caine.«

»Dann eben äußerst mysteriöse Steine. Das spürt man innerlich.«

»Wie Periodenschmerzen.«

Wieder das gütige Lächeln.

Er griff in den Fußraum und sammelte ein paar Legos auf. »Vielleicht liegt es daran, dass die Technologie so anachronistisch erscheint«, sagte er. »Es ist einfach unglaublich, dass die Trilithen zusammengesteckt sind wie riesige Legosteine. Man findet daran Zapfenverbindungen wie die eines Zimmermanns. Außergewöhnlich raffiniert.«

»Ich nehme an, die Menschen damals hatten nicht viel anderes zu tun.«

»Aber es handelt sich um die Steinzeit, Shanti! Mehr als Geweihe und Feuersteine hatten sie nicht zur Verfügung, und Blaustein ist härter als Granit. Das gibt einem so viele Rätsel auf …«

»Wenn Sie jetzt das Wort ›UFO‹ aussprechen, springe ich aus dem Wagen.«

Er legte die Legosteine ordentlich ins Handschuhfach.

»Warten Sie, bis Sie dort stehen – es ist unmöglich, sich nicht davon in den Bann ziehen zu lassen.«

»Aber wozu dient der Ort, Caine? Ich meine, welche Bedeutung haben die Steine?«

»Das ist ja gerade das Faszinierende – niemand kann das mit Bestimmtheit sagen. Eines allerdings habe ich bei Unsere Nachbarn aus der Jungsteinzeit gelernt: Stonehenge war ein Himmelskalender – ein Steinzeitcomputer, könnte man sagen. Und das bedeutendste Ereignis des astronomischen Jahres findet genau jetzt statt … heute.«

»Die Wintersonnenwende ist am kürzesten Tag des Jahres, richtig?«

»Ja. Unsere Hälfte des Planeten erreicht dann die maximale Neigung weg von der Sonne. In Wahrheit geht es jedoch ausschließlich um Sex.«

»Nein, tut es nicht. Ich habe mehrfach im Stau gestanden und auf diese Steine gestarrt, und die sind alles andere als sexy.«

»Da wären unsere Vorfahren anderer Meinung. Sie betrachteten die Wintersonnenwende als einen Moment himmlischer Ekstase, in dem Mutter Erde vom Sonnengott geschwängert wird. Sie findet nämlich exakt neun Monate vor der Ernte statt.«

»Herr im Himmel, gib mir Kraft.«

»Ich nehme an, es schenkte den Menschen in den kargen Monaten einen Funken Hoffnung. Stellen Sie sich das doch nur einmal vor! Es gab ein Festgelage, halluzinogene Tänze und – ich wage es kaum auszusprechen – Menschenopfer.«

»Augenblick mal. Sie wollen doch nicht etwa sagen …«

»Der Leichnam auf den Steinen? Ich habe keine Ahnung. Aber wir werden es herausfinden.«

Shanti überholte einen ausladenden Lkw. Aufspritzender Schneematsch landete auf der Windschutzscheibe, was sie dazu zwang, blind zu fahren, bis die Scheibenwischer ihren Dienst taten.

»Tja, dafür bleiben uns genau drei Tage, Caine – höchstens vier. Ich weiß, dass Ihr Terminkalender ziemlich leer ist, auf mich hingegen warten zu Hause so einige Herausforderungen …«

»Ach, Shanti. Es tut mir leid, das zu hören. Ich weiß, wie schwer es für Sie ist. Möchten Sie darüber reden?«

»Nicht unbedingt, nein«, antwortete sie, aber sie erzählte es ihm trotzdem. »Pauls Dad hat ihn über Weihnachten zu sich einladen wollen, aber er macht das nur, um mir eins auszuwischen. Er bietet Paul alle möglichen Dinge an, bei denen ich nicht mithalten kann. Es tut dem Jungen nicht gut, das ist der Punkt. Wann immer Paul seinen Vater besucht, kommt er völlig durcheinander zurück, und Mum und ich brauchen eine Ewigkeit, um ihn wieder in die Spur zu bringen. Und deshalb … deshalb habe ich ihm ein dämliches Versprechen gegeben, das ich doch niemals halten kann.«

»Was für ein Versprechen?«

»Ach, ich … ich habe ihm das beste Weihnachtsfest aller Zeiten versprochen.«

»Das ist wundervoll. Was für eine fantastische Mutter Sie sind, Shanti.«

»Eine fantastische Mutter? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Pauls Freundin Sienna ist im Augenblick mit ihrer Mummy und ihrem Daddy unterwegs nach Lappland, um den Weihnachtsmann zu treffen. Sie wollen eine Rentierschlittenfahrt mit Glöckchenklingeln machen. Und wo sind wir, Caine? Wir fahren östlich von Yeovil auf der A303 zu einer Leiche und einem Haufen alter Steine!«

»Aber so ist es nun mal – Pauls Mum ist leitende Ermittlerin in einem wichtigen Fall. Sie ist wie Superwoman. Sie sind Pauls Mum, Shanti!«

»Ach, Caine.« Tränen stiegen ihr in die Augen. »Wie schaffen Sie es nur, mich auszuhalten?«

»Ich verrate es Ihnen, Shanti: Das Universum hat uns zusammengewürfelt, weil Sie der einzige Mensch sind, der mir das Gefühl gibt …«

Sie manövrierte um einen Streuwagen und damit ums Thema herum.

»Wir kommen dem Ziel schon näher …«

Halb vergraben in einer tiefen Schneewehe stand ein Schild, auf dem das bekannte Fallgittermotiv von English Heritage abgebildet war.

»Im Taxi habe ich mich an ein Zitat erinnert«, sagte Caine. »Ein kluger Mensch hat einmal gesagt, dass jede Generation das Stonehenge bekommt, das sie verdient.«

»Und welches verdient unsere Generation?«

»Das der Reglementierung, nehme ich an. Man stellt sich für ein Ticket innerhalb eines vorgegebenen Zeitfensters an. Man besteigt den Shuttlebus zum Bauwerk und umrundet es im Uhrzeigersinn hinter einer Absperrung aus Seilen.«

»Benno hat mir erzählt, heute Morgen hätten Menschen zwischen den Steinen getanzt.«

»O ja. Heute ist eine Ausnahme. Kontrollierter freier Zugang, so nennt man das. Bei der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche, der Sommersonnenwende, der Herbst-Tagundnachtgleiche und heute, bei der Wintersonnenwende, werden die Regeln etwas großzügiger ausgelegt, und die Besucher dürfen das Monument betreten. Ich denke, man verzichtet sogar auf den Eintritt. Vermutlich ist das ein Zeichen der Anerkennung der religiösen Rechte derjenigen, die Stonehenge als heiligen Ort betrachten.«

»Und wer tut das?«

»Wicca-Anhänger. Heiden. Druiden.«

»Druiden gibt es nicht wirklich, oder?«

»Gewiss gibt es sie.«

»Dann existieren womöglich historisch begründete Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen?«

»Das ist korrekt. Die Steine dienten stets als Blitzableiter für widerstreitende Fraktionen – Archäologen, Umweltschützer, Landbesitzer, New-Age-Reisende, das Militär, Politiker, die Tourismusindustrie, Heiden … Nehmen Sie doch nur die jüngste Kontroverse um den Bau des Straßentunnels. Je nachdem, welche Sichtweise man vertritt, ist Stonehenge ein wichtiges spirituelles Zentrum für die Menschen oder ein empfindlicher archäologischer Schatz, der von den Behörden geschützt werden sollte.«

»Ich vertrete Letzteres.«

»Hm. Ich würde sagen, es geht darum, für ein Gleichgewicht zwischen den beiden Standpunkten zu sorgen, auch wenn das sicher eine heikle Angelegenheit ist. Im Allgemeinen jedoch trete ich für Freiheit und elementare Menschenrechte ein.«

»Das liegt daran, dass Sie im Grunde Ihres Herzens ein Anarchist sind. Sie haben den völlig falschen Beruf ergriffen, ist Ihnen das eigentlich bewusst? Man sollte Ihren Berufsberater feuern!«

»Da haben Sie absolut recht, Shanti. Es vergeht kein einziger Tag, an dem ich nicht darüber nachdenke, meine Dienstmarke abzugeben.«

»Ja, ja. Das ist der Moment, in dem Detective Inspector Caine gern ein Kompliment über seine intuitiven Ermittlerfähigkeiten hören möchte …«

»Inuit-Fähigkeiten wären heute sicherlich nützlicher.«

»Zum Glück sind wir da, Sie können also Ihre Fuchsfellmütze wieder aufsetzen, wenn wir uns auf den Weg zu unserem Date mit einem grünen Kadaver machen.«

Kapitel vier

DER MÖRDER IN DER MENGE

Das Besucherzentrum von Stonehenge war ein modernistischer Bau, der sich wie ein Reiher mit ausgebreiteten Flügeln aus Glas und Kastanienholz auf der windgepeitschten Hochebene niedergelassen hatte. Es erinnerte Shanti an einen Flughafen, zumal man das eigentliche prähistorische Monument, das gut zwei Meilen östlich lag, von dort aus nicht sehen konnte.

Als sie sich der Schranke zum Parkplatz näherten, stürmte eine Meute laut rufender, sensationslüsterner Schlagzeilenjäger auf den Wagen zu und drückte auf nahezu beängstigende Weise ihre Kameras gegen die Autofenster.

»Ach du lieber Himmel, wie lange sind die denn schon hier?«, fragte Shanti den bewaffneten Uniformträger, der ihre Dienstausweise kontrollierte.

»Ungefähr vierzig Minuten, Ma’am«, antwortete er durch seine Sturmhaube. »Es werden von Minute zu Minute mehr.«

Zuverlässig wie immer, hatte Benno die letzte freie Parklücke mit einem Verkehrshütchen für sie reserviert. Shanti quetschte sich zwischen zwei Streifenwagen und stellte den Motor ab. Der Parkplatz war komplett belegt, nicht nur mit den Autos, zerbeulten Lieferwagen und Motorrädern der Wintersonnenwendfeier-Teilnehmer, sondern auch mit Einsatz- und Rettungsfahrzeugen, den Vans der SOCO und zwei olivgrünen Militärlastern.

Ein brutaler Wind schlug ihnen entgegen, als sie aus dem Saab stiegen und in den blendend weißen Morgen traten. Shanti schnappte nach Luft und lehnte sich Halt suchend gegen den Wagen, dann klappte sie den Jackenkragen hoch und wankte zum Kofferraum, wo sie Wanderschuhe anzog, einen Schal um den Hals wickelte und anschließend Handschuhe und die mauvefarbene Mütze überstreifte, die ihre Mutter ihr vor vielen Jahren gestrickt hatte. Schon damals waren ihr die beiden Bommel überflüssig erschienen.

»Sagen Sie nichts, Caine«, zischte sie, als sie seinen fragenden Blick bemerkte.

Getragen von einem Wald aus Stahlstreben, schien das gewellte Dach des Besucherzentrums unter seiner Schneelast zu ächzen. Die beiden DIs betraten einen breiten Durchgang, in dem sich eine gespenstische Reihe unbemannter Ticketschalter befand. Weiter vorn öffnete sich der Durchgang zum Busbahnhof, der mit einer glitzernden Eisschicht überzogen war. Zu ihrer Rechten befanden sich das Museum und die »Stonehenge Experience«, wo die Besucher mithilfe von Virtual-Reality-Brillen einen Eindruck von den Steinen aus der Nähe vermittelt bekamen. Zur Linken stand der Glaskubus mit dem Andenkenladen voller Stonehenge-Krimskrams: Geschirrtüchern, Postern des monumentalen Steinkreises und einer Reihe von Stonehenge-Schneekugeln. Warum war sie noch nie mit Paul hier gewesen? Er würde es lieben. Vielleicht verkauften sie im Laden ja auch T-Shirts mit dem Aufdruck Schlechteste Mutter des Jahres.

Bennos stämmige Gestalt zeichnete sich hinter der gewaltigen Glasfront des Cafés ab, wo er unerschütterlich Wache stand. Die automatischen Schiebetüren glitten auseinander, und Caine und Shanti betraten das lärmige Innere, das aussah wie ein riesiges Aquarium, gefüllt mit Tausenden exotischer Fische.

Es dauerte eine ganze Minute, bis sie das chaotische Wimmelbild entwirrt hatten – Heiden, Hexen, Ritter, Touristen und schräg gekleidete Scholasten saßen dicht gedrängt an den klobigen Designertischen. Manche schienen unter Schock zu stehen oder an Unterkühlung zu leiden, andere schluchzten erschüttert und wurden von einem Team von Sanitätern und Kadetten versorgt, die heiße Getränke und Foliendecken brachten. Am gegenüberliegenden Ende des Raumes hockte eine Gruppe Tee trinkender, festlich gewandeter tätowierter Druiden. Der Boden unter ihren Füßen war voller Schneematsch, auf der Tischplatte vor ihnen lagen Motorradhelme.

Benno kam auf Caine und Shanti zu, um sie zu begrüßen, das Gesicht gerötet vor Kälte und Sorge. Aus Gründen, die Shanti nie ganz verstanden hatte, schien der alterfahrene Sergeant Caine zu bewundern – mehr noch: Er verehrte ihn nahezu –, und auch jetzt nickte er dem jüngeren Mann respektvoll zu.

»Danke, dass ihr so schnell gekommen seid«, sagte er.

»Sieht so aus, als wäre uns die Presse zuvorgekommen«, stellte Shanti fest, nahm die Strickmütze ab und stopfte sie in ihre Tasche. »Wie konnte das passieren, Benno?«

»Es wird dir nicht gefallen, Chefin, aber anscheinend befinden sich einige Influencer und Lokalpressefuzzis unter den Besuchern, die die laufenden Ermittlungen mehr oder weniger live streamen. #stonehenge kann man bereits auf sämtlichen Plattformen verfolgen.«

»Genau das, was wir brauchen«, murmelte Shanti und schüttelte entsetzt den Kopf.

»Ich nehme an, das ist die perfekte Story für diese Jahreszeit«, mutmaßte Caine.

Shanti ließ den Blick über das Durcheinander schweifen. Hier fehlte definitiv jemand, der entschlossen das Ruder in die Hand nahm. Sie gab sich einen Ruck und schaltete ihren Ermittlerinnenmodus ein. Leitende Ermittlerin, wohlgemerkt.

»Okay, Benno, wir sollten alles Menschenmögliche tun, um das Chaos so schnell wie möglich aufzulösen. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Leute hier auch gern nach Hause möchten.«

»Wir machen schon Fortschritte«, versicherte er ihnen. »Seht ihr die Frau von der Spurensicherung dort drüben? Sie ist dabei, Beweismittel zu sammeln, und sie hat alles auf Video. Die Kollegen und ich nehmen die Kontaktdaten jedes einzelnen Anwesenden auf und gleichen sie mit den Nummernschildern der Fahrzeuge auf dem Parkplatz ab. Mir entgeht niemand, das könnt ihr mir glauben.«

»Darauf verlassen wir uns voll und ganz«, sagte Caine mit warmer Stimme. »Kennst du als Einheimischer eigentlich irgendwen von diesen Leuten?«

»Ein oder zwei. Den Bikern bin ich schon mal begegnet, und ich kenne einige der Armeeoffiziere …«

»Ja, erzähl uns etwas über die«, bat Shanti. »Was ist mit den Soldaten? Ich hatte sie nicht angefordert.«

Eine Gruppe sehr junger Kadetten räumte das Mobiliar um und bot den älteren Besuchern unter dem wachsamen Auge eines aalglatten Offiziers im Kampfanzug Unterstützung an.

»English Heritage unterhält eine langjährige Beziehung zu den hiesigen Kasernen«, sagte Benno. »Die dort stationierten Truppen könnten nicht zuvorkommender sein. Ich stelle euch dem Major vor …«

»Vielleicht später«, lehnte Shanti ab. »Ich möchte nicht undankbar erscheinen, aber das ist eine Polizeiangelegenheit. Wenn wir knapp besetzt sind, fordern wir Unterstützung aus Yeovil an – ich habe bereits die Weihnachtsfeier abgesagt. Mehr oder weniger.«

»Darüber werden die Kollegen aber gar nicht glücklich sein, Chefin«, gab Benno zu bedenken.

»Glücklich? Das hier ist doch kein Song von Pharrell Williams!« Bevor einer von den beiden »Because I’m happy« summen konnte, fuhr sie fort: »Wie kommen wir von hier aus zum Tatort?«

»Dawn weiß, dass ihr da seid«, sagte Benno. »Sie gibt uns Bescheid, wenn sie und ihr Team so weit sind. Bis dahin möchtet ihr vielleicht einen Kaffee trinken …«

Wie aufs Stichwort schob ein hochgewachsener Bursche einen Rollwagen aus der Küche. Benno reichte Shanti einen Cappuccino und Caine eine Tasse Tee. Es gab sogar ein kleines Töpfchen mit Honig aus der Region, der sich Henge Hives nannte, als stammte er aus steinzeitlichen Bienenstöcken von der Hochebene.

»Gibt es irgendwen, mit dem wir uns näher befassen sollten?«, erkundigte sich Caine und rührte einen Löffel voll in seinen Tee.

»Seht ihr die junge Dame dort hinten? Neben dem Kerl mit dem weißen Bart …«

»Hier hat jeder Mann einen weißen Bart«, stellte Shanti fest. »Ich komme mir vor wie bei einer Weihnachtsmännervollversammlung.«

»Silberne Pufferjacke und Zöpfe. Das ist Jojo Bloom. Sie hat die Leiche entdeckt.«

Das Mädchen in Silber war aschfahl und wirkte seltsam erstarrt, als wäre es gefroren. Zu ihren Füßen kniete eine junge Polizistin, die versuchte, sie zu trösten.

»Sieht aus, als wäre sie traumatisiert«, sagte Caine. Auf seinem Gesicht spiegelte sich schmerzliches Mitgefühl.

»Sie ist tatsächlich ein bisschen durch den Wind«, pflichtete Benno ihm bei. »Wir haben sie ausführlich befragt, konnten aber nichts von Bedeutung aus ihr herausbekommen. War zur falschen Zeit am falschen Ort, mehr steckt wohl nicht dahinter. Ihre Mutter ist schon unterwegs. Meine neue Praktikantin ist bei ihr.«

»Gibt es irgendwelche Hinweise auf die Identität des Opfers?«, fragte Shanti. »Vielleicht wurde jemand als vermisst gemeldet?«

»Fehlanzeige. Aber die meisten Leute liegen wohl noch im Bett und können deshalb niemanden vermissen.«

»Bett – wie schön wäre das denn?«, murmelte Shanti, dann wandte sie sich wieder an ihren Sergeant. »Wir brauchen eine Einsatzzentrale. Gibt es hier einen Raum, den wir dafür benutzen können, Benno?«

Benno schüttelte den Kopf und ließ den Blick durch den Glaskubus wandern. »Ich glaube nicht. Allerdings habe ich Wandschirme gesehen und einen Projektor. Wir könnten die Druiden bitten, sich an einen anderen Tisch zu setzen, und den hinteren Bereich der Kantine abtrennen – und schon hätten wir eine annehmbare Einsatzzentrale.«

»Kümmerst du dich darum, Benno? Caine und ich werden ein Teambriefing durchführen, sobald wir vom Tatort zurück sind.«

Ein leicht panischer Ausdruck huschte über Caines Gesicht. Er war kein geborener Redner, der gern vor der Öffentlichkeit sprach.

»Wie schmeckt der Kaffee?«, fragte Benno. »Wenn du möchtest, gibt es auch Croissants. Diese Kantine ist weiß Gott auf einem anderen Niveau als unsere.«

Shanti hatte nicht gefrühstückt, und der Duft nach frischem Gebäck war betörend, doch ein gewisses Dringlichkeitsgefühl trieb sie zur Eile.

»Noch eine Frage, Benno«, schaltete sich Caine ein. »Ich war ein paarmal zur Sonnenwende in Stonehenge, und ich bin jedes Mal zu Fuß über die Ebene gekommen. Wie können wir sicher sein, dass uns keiner der Besucher entwischt ist?«

»Gutes Argument«, erwiderte der. »Das ist das einzig Positive an diesem Wetter. Wie du richtig sagtest: Normalerweise strömen die Besucher aus allen Richtungen über Nebenstraßen und Fußwege herbei, doch nach dem Schneesturm gestern Nacht hat die Security beschlossen, den Zutritt auf den Haupteingang zu beschränken. Das bedeutet, dass alle so hergekommen sind wie ihr.«

»Dann könnte sich der Täter also in diesem Moment unter uns befinden?«, überlegte Shanti.

»Das ist durchaus möglich.« Benno nickte.

»Der Mörder in der Menge«, sinnierte sie.

Sie beobachteten die Streifenkollegen, die sich systematisch vorarbeiteten und zunächst die älteren Leute und diejenigen mit Kindern befragten, damit sie endlich nach Hause fahren konnten. Danach kamen die Aufdringlichen – die Arroganten, Streitlustigen, die sich wie immer zu wichtig fühlten, um sich so lange zu gedulden, bis sie an der Reihe waren.

Benno nahm einen Anruf entgegen. Während er telefonierte, zog er den Reißverschluss seiner Jacke auf.

»Das war Dawn«, sagte er. »Sie hatte Probleme mit dem Licht, aber das Gerüst steht, und die Kriminaltechniker haben angefangen, den Tatort zu durchkämmen. Also, sobald ihr bereit seid, fahre ich euch hin. Sie geht davon aus, dass ihr bei der Ausgrabung dabei sein wollt …«

»Ausgrabung?«, fragte Shanti argwöhnisch.

»Der Leichnam muss aus dem Schnee ausgegraben werden, Chefin.«

Eine Abneigung gegen den Tod ist ein Urinstinkt, welcher sich als Trauma, Angst, Beklommenheit oder Abgestoßenheit bis hin zu Übelkeit manifestiert. Diese Instinkte sind der Weg der Natur, Krankheiten, Ansteckungen und lebensgefährdende Bedrohungen zu vermeiden. Etwa einer von hundert kann lernen, diese inhärenten Reaktionen außer Kraft zu setzen – Chirurgen, Soldaten, Bestatter, Pathologen und ermittelnde Polizisten. Shanti war nicht immun dagegen – ein Geheimnis, das sie sich kaum selbst eingestehen wollte. Der tote Mann, der sie auf der Hochebene erwartete, erfüllte sie zu gleichen Teilen mit Faszination und eiskalter Furcht.

Kapitel fünf

DIE WINDE DER VERGANGENHEIT

Eingeklemmt zwischen Seilen, Schaufeln, Leitkegeln und einem dicken roten Rammbock saß Caine auf dem Rücksitz von Bennos Land Rover und betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. Ihm entging nicht, dass die blütenweiße Hochebene im Gegensatz zu der nassen, matschigen Asphaltstraße vollkommen unberührt schien.

Die Stimmen im vorderen Teil des Wagens klangen gedämpft und einschläfernd, wie während langer Autofahrten in seiner Kindheit.

»Das ist dieselbe Strecke, die die Shuttlebusse nehmen«, erklärte Benno. »Hier sind heute früh alle Besucher entlanggezogen.«

Die Sonnenwende hatte Caine schon immer auf seltsame Weise berührt. Es war ein unbeschreibliches Ereignis, das mit der Aufhebung der Zeit zu tun hatte. Wie der Bardo-Zustand, von dem die alten Buddhisten sprachen. Eine Art Zwischenzustand, der Übergang zwischen Tod und Wiedergeburt.

»Kannst du dich an frühere Zwischenfälle in Stonehenge erinnern?«, hörte er Shanti wie aus weiter Ferne fragen.

»Keine von Bedeutung«, antwortete Benno. »Zumindest nicht seit den Achtzigern. Damals gab es das sogenannte Stonehenge Free Festival, ein Musikfestival, das jedes Jahr zur Zeit der Sommersonnenwende zwischen den Steinen stattfand. Nackte Feierwütige, die auf den Steinen tanzten …«

»Da warst du aber nicht dabei, oder, Benno?«, fiel ihm Shanti ins Wort.

»Das war vor meiner Zeit. Aber ich erinnere mich, dass Dad eines Tages zutiefst schockiert nach Hause kam. Es war zu gewalttätigen Konflikten gekommen zwischen den Festivalbesuchern, die viele abfällig als travellers, also›Reisende‹, bezeichneten, und der Polizei von Wiltshire, als diese einen Friedenskonvoi auf dem Weg aufs Gelände zu stoppen versuchte.«

Caine zwang sich, in die Parallelwelt der Polizeiroutine zurückzukehren. »Die Schlacht im Bohnenfeld«, meldete er sich zu Wort.

»Ich dachte, Sie würden schlafen«, sagte Shanti.

»Ein bahnbrechender Moment in der britischen Überwachungsgeschichte«, ergänzte Caine. »Alles wurde gefilmt – man findet noch heute Videos auf YouTube.«

»Ja. Wenngleich nicht gerade die Glanzstunde britischer Überwachungsgeschichte«, pflichtete Benno ihm bei.

»Apropos Überwachung«, sagte Shanti. »Es muss hier doch Kameras geben. Haben wir irgendwelche Videoaufnahmen von gestern Nacht?«

Benno hielt sich in der Mitte der langen, schnurgeraden Straße, auf der außer ihnen niemand unterwegs war.

»Da habe ich gute und schlechte Nachrichten für euch«, antwortete er. »Es gibt eine Livestreamingkamera, die sich ›Stonehenge Skyscape‹ nennt. Sie ist solarbetrieben und verfügt über eine 220-Grad-Fischaugenlinse. Theoretisch kann man die Steine damit rund um die Uhr betrachten, und zwar von überall auf der Welt.«

»Ich höre ein Aber heraus«, sagte Shanti.

»Aber leider sind die Aufnahmen von letzter Nacht überwiegend weiß«, fügte Benno prompt hinzu.

»Du meinst, es klebt Schnee vor der Linse?«, fragte Caine.

»Richtig. Man sieht, wie gegen fünf der Schneesturm aufzieht. Kurz darauf setzen sich Schneeflocken auf der Linse ab. Und dann ist alles weiß.«

»Ausgesprochen praktisch«, befand Shanti. »Da, wo ich herkomme, hätte man das mit einer Sprühdose erledigen können.«

»Es muss doch noch andere Kameras geben«, wunderte sich Caine.

»Am Besucherzentrum jede Menge, aber leider hat das Securityteam wegen des Wetters früh Feierabend gemacht. Danach sind keinerlei Aktivitäten mehr zu verzeichnen.«

»Du hast uns noch gar nichts über die Sicherheitsleute erzählt«, sagte Shanti.

»Den Job hat eine Firma namens GoodGuys aus Salisbury übernommen. Das sind anständige Kerle, darunter auch ein paar ehemalige Polizisten, Kollegen meines Vaters. Normalerweise unternehmen sie nachts regelmäßige Patrouillengänge um die Steine, vor allem vor der Sonnenwende.«

»Was für ein wunderbarer Job«, ließ Caine sich vernehmen. »Und gestern Nacht haben sie das nicht getan?«

»Einer von ihnen hat zugegeben, dass er und seine Kollegen nach mehreren Stunden Wachdienst im Van nach Hause gefahren sind. Die Temperaturen waren weit in den Minusbereich gesunken, und sie waren der festen Überzeugung, dass bei diesem Wetter niemand aufkreuzen würde. Außerdem war Quizabend in der Stonehenge Tavern.«

»Mein Gott«, stöhnte Shanti. »Wann also hatte jemand das letzte Mal freie Sicht auf die Steine, bevor heute Morgen die Besucher über das Gelände hereinbrachen?«

»Die Securityleute von GoodGuys sind sich hundertprozentig sicher, dass noch keine Leiche auf dem Deckstein lag, als sie Feierabend gemacht haben. Meine neue Praktikantin ist ein wahres Recherchegenie, und es ist ihr gelungen, in den sozialen Netzwerken ein paar hübsche Fotos von gestern aufzustöbern – überwiegend von Touristen fotografiert. Auf dem Trilithen war definitiv nichts zu sehen – weder am Vormittag noch am Nachmittag. Was nahelegt, dass sich der Vorfall entweder gestern in den späten Abendstunden oder heute früh bei Tagesanbruch ereignete.«

»Und das wiederum legt nahe, dass ein Mörder mitten in einem Schneesturm hier aufgetaucht ist und einen blutenden grünen Riesen auf den Deckstein eines riesigen Trilli… Krocket-Tors gehievt hat«, fasste Shanti zusammen.

»Das nennt man Trilith, Chefin.«