Der achtsame Mr. Caine und die Tote im Tank - Laurence Anholt - E-Book
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Der achtsame Mr. Caine und die Tote im Tank E-Book

Laurence Anholt

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Beschreibung

Die berühmt-berüchtigte Künstlerin Kristal Havfruen wird tot aufgefunden - in einem Tank mit Formaldehyd treibend. In Laurence Anholts Krimi müssen der Zen-Ermittler Vincent Caine und seine ironische Partnerin Shanti Joyce sich zusammenraufen, um den spektakulären Mord aufzuklären. Ein charmanter Krimi und Auftakt der neuen Serie um den achtsamen Buddhisten Mr. Caine. An einem Juliabend versammeln sich zweihundert Gäste, um der Eröffnung der Retrospektive von Kristal Havfruen beizuwohnen. Doch als die Kunstliebhaber den Saal betreten, schwimmt in dem Tank mit Formaldehyd nicht wie geplant eine Kristal-Puppe - sondern Kristal selbst. DI Shanti Joyce, die nach dem Ende ihrer Ehe und einer missglückten Mordermittlung von London nach Yeovil gezogen ist, erkennt schnell, dass der Fall eine unkonventionelle Herangehensweise erfordert. Also schlägt sie sich zur abgelegenen Hütte von Vincent Caine durch, seines Zeichens Buddhist und ein brillanter Detective. Gemeinsam, doch selten einer Meinung, tauchen die beiden in Kristals Bohème-Freundeskreis ein und decken ein Geflecht aus Eifersucht und Hass auf, das bis in ihre Zeit an der Kunsthochschule zurückreicht. Doch bald wird Shanti Joyce und Vincent Caine klar, dass darunter ein komplexeres Motiv verborgen liegt. Kann das Zusammenspiel von Shantis toughem Pragmatismus und Caines ruhiger Intuition die beiden zum Mörder führen?

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Laurence Anholt

Der achtsame Mr. Caine und die Tote im Tank

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Kristina Lake-Zapp

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Über dieses Buch

Die berühmt-berüchtigte Künstlerin Kristal Havfruen wird tot aufgefunden - in einem Tank mit Formaldehyd treibend. In Laurence Anholts Krimi müssen der Zen-Ermittler Vincent Caine und seine ironische Partnerin Shanti Joyce sich zusammenraufen, um den spektakulären Mord aufzuklären. Ein charmanter Krimi und Auftakt der neuen Serie um den achtsamen Buddhisten Mr. Caine.

 

An einem Juliabend versammeln sich zweihundert Gäste, um der Eröffnung der Retrospektive von Kristal Havfruen beizuwohnen. Doch als die Kunstliebhaber den Saal betreten, schwimmt in dem Tank mit Formaldehyd nicht wie geplant eine Kristal-Puppe - sondern Kristal selbst.

DI Shanti Joyce, die nach dem Ende ihrer Ehe und einer missglückten Mordermittlung von London nach Yeovil gezogen ist, erkennt schnell, dass der Fall eine unkonventionelle Herangehensweise erfordert. Also schlägt sie sich zur abgelegenen Hütte von Vincent Caine durch, seines Zeichens Buddhist und ein brillanter Detective.

Gemeinsam, doch selten einer Meinung, tauchen die beiden in Kristals Bohème-Freundeskreis ein und decken ein Geflecht aus Eifersucht und Hass auf, das bis in ihre Zeit an der Kunsthochschule zurückreicht. Doch bald wird Shanti Joyce und Vincent Caine klar, dass darunter ein komplexeres Motiv verborgen liegt. Kann das Zusammenspiel von Shantis toughem Pragmatismus und Caines ruhiger Intuition die beiden zum Mörder führen?

Inhaltsübersicht

Kapitel eins | Das HappeningKapitel zwei | Der feuchtkalte Geruch des TodesKapitel drei | Die ultimative PerformanceKapitel vier | Der Cop in der HütteKapitel fünf | Ein Fall für Geduld und AchtsamkeitKapitel sechs | Ein karmischer MordKapitel sieben | Der weinende WitwerKapitel acht | Liebe bis zum UmfallenKapitel neun | Die tödliche SireneKapitel zehn | Das Haus der KnochenKapitel elf | Die Tauben aus dem ParadiesKapitel zwölf | Die kalte Kammer des TodesKapitel dreizehn | Der KristallsargKapitel vierzehn | Eine gelöste ZungeKapitel fünfzehn | Wie man einen Mord begehtKapitel sechzehn | Milly, Molly und MordKapitel siebzehn | Der nackte FlüchtlingKapitel achtzehn | Das gespenstische MädchenKapitel neunzehn | Eine unheilvolle SymbioseKapitel zwanzig | Tee für den MörderKapitel einundzwanzig | Der Arm des GesetzesKapitel zweiundzwanzig | Doughnuts auf de TotenbettKapitel dreiundzwanzig | All die tödlichen DetailsKapitel vierundzwanzig | Das Motel im MoorKapitel fünfundzwanzig | Die Flügel einer TaubeKapitel sechsundzwanzig | Ich kann Sie nicht am anderen Ufer lassenKapitel siebenundzwanzig | Sechs Monate späterDank
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Kapitel eins

Das Happening

An einem goldenen Abend im Juli versammelten sich über zweihundert Kunstliebhaber vor einer unglaublich hippen Galerie in Somerset.

Sie ließen per Fernbedienung die Verriegelung ihrer teuren Autos zuschnappen und mäanderten anschließend durch das wogende Gras der umliegenden Gärten zu einem Fiberglaspavillon, der geformt war wie ein riesiger Mutterleib auf Stelzen.

Unter den Erwählten waren Kritiker, Londoner Kunsthändler, Prominente aus der Musik- und Fernsehbranche sowie Freunde der Künstlerin.

Im lärmigen Inneren des Pavillons wurden Wangenküsse ausgetauscht und Selfies gemacht, Gläser funkelten, nackte Schultern glänzten, Kellner mit Pferdeschwanzfrisur und Tabletts voller Kanapees und Champagner schwebten durch das Gewühl. Eine verunsicherte Gruppe lokaler Würdenträger drängte sich neben dem Eingang zusammen, der die Form einer Vagina hatte.

Ringsherum flackerte ein körniger Film über die halbrunden Wände. Die kultivierte Menge musste nicht extra daran erinnert werden, dass es sich bei den stummen Bildern einer nackten und schockierend schönen, jungen Künstlerin – den Kopf zurückgeworfen in Ekstase, die Glieder verschlungen mit denen ihres Geliebten –, um Szenen ihrer berühmt-berüchtigten Studienarbeit mit dem Titel Preconception handelte, eine Art Wortspiel, was so viel wie »Vor der Schwangerschaft« bedeutete oder auch einfach »Vorurteil«, »vorgefasste Meinung«.

Es war nicht nur der Film, der vor Elektrizität knisterte. Auch die Tatsache, dass gleich die verrufene Performance-Künstlerin Kristal Havfruen höchstselbst vor die Menge treten würde, die sich viele Jahre von der Kunstszene ferngehalten hatte, ließ die Luft vor angespannter Vorfreude vibrieren. Wenn Kristal den heutigen Abend ausgewählt hatte, um aus der Versenkung aufzutauchen, dann würde das nicht ohne eine Explosion vonstattengehen.

Es gab Gerüchte, dass ein weiteres Happening stattfinden sollte.

Havfruens Fans waren hellauf begeistert: Die Frau war eine Naturgewalt – eine Künstlerin mit der Vorstellungskraft einer Frida Kahlo und dem theatralischen Gehabe einer Marina Abramović. Am Rand der Menge murrten ein paar Skeptiker über eine Karriere, die sich über Fördermittel definierte. Havfruen war eine Künstlerin, an der sich die Geister schieden.

»Ist sie nun da oder nicht?«, fragte ein bärtiger Mann im Rock.

»Selbstverständlich ist sie da«, erwiderte sein Begleiter. »Schließlich ist Kristal das Kunstwerk!«

Um exakt neunzehn Uhr fünfundvierzig wurde die trubelige Menge im Pavillon durch den silbrigen Klang eines Löffels, der auf eine Champagnerflöte traf, zum Schweigen gebracht. Alle Augen richteten sich auf einen kantigen Mann in einem Anzug mit Schottenmuster, der ein ironisches Menjoubärtchen über seiner leicht schweißig glänzenden Oberlippe zur Schau trug.

»Meine Damen und Herren, willkommen in der Meat Hook Gallery. Für diejenigen, die mich nicht kennen: Mein Name ist Saul Spencer. Es ist mir eine gewaltige Ehre, Kurator dieser bahnbrechenden Retrospektive zu sein. Ich bin mir sicher, Sie finden es genauso aufregend wie ich, einen Blick auf das Lebenswerk der berühmten Künstlerin Kristal Havfruen werfen zu dürfen, das endlich an einem Ort versammelt ist. Ich habe jede Menge Spekulationen darüber vernommen, ob Kristal heute Abend zu uns stößt, und ich könnte Sie sicher noch länger auf die Folter spannen – ich kann Ihnen aber auch verraten, dass die Künstlerin tatsächlich anwesend ist. Kristal hat fast einen Monat damit zugebracht, die atemberaubende Show auf die Beine zu stellen, die wir gleich genießen werden.

Die Ausstellung ist in chronologischer Reihenfolge aufgebaut, und es freut mich über alle Maßen, Ihnen verkünden zu dürfen, dass Kristal ein bedeutendes neues Werk exklusiv für die Meat Hook Gallery geschaffen hat. Wir werden es als Höhepunkt des heutigen Abends in der Hauptgalerie enthüllen. Dieses Kunstwerk war bis dato ein streng gehütetes Geheimnis, das nicht einmal ich zu Gesicht bekommen habe. Es liegt also ein spannender Abend vor uns. Wenn Sie so freundlich wären, mir zu folgen – ich führe Sie zu den weiteren Räumlichkeiten der Galerie. Bitte nehmen Sie sich Zeit, die Gärten zu genießen, die heute Abend absolut prächtig aussehen, und geben Sie acht, wenn wir an den Teichen vorbeikommen.«

Wie Kinder dem Rattenfänger folgten die Gäste Spencers hagerer Gestalt, strömten aus dem Mutterleib und über die gekiesten Wege zu den Ausstellungsräumen. Eine einzelne Libelle schwebte über dem Wasser, die letzten Sonnenstrahlen warfen Giacometti-Schatten über die Rasenflächen, und wegen der plötzlichen Frische zogen die Damen ihre Pashmina-Schals enger um die Schultern.

Nun betraten sie die prächtige Meat Hook Gallery – eine elegante Verbindung von elisabethanischen Landwirtschaftsgebäuden und postmodernem Glas und Stahl.

Über ihren Köpfen verkündete ein Banner:

 

KRISTAL HAVFRUEN – EIN LEBEN

 

Hinter der Tür warnte ein kleinerer Hinweis:

 

Manche Ausstellungen sind für Kinder unter achtzehn Jahren nicht geeignet.

Es werden Werke gezeigt, die Ihr sittliches Empfinden verletzen könnten.

 

Im ersten Raum wurden sie von einem weiteren Film empfangen, der auf die gesamte Breite einer Wand projiziert wurde. Es handelte sich um die Fortsetzung des Films im Pavillon, und obwohl die Aufnahmen einen leichten Gelbstich hatten, was an dem damals verwendeten Klebstoff lag, gelang es ihnen noch immer, die Gäste scharf nach Luft schnappen zu lassen. Das hier war Kristals berühmte Abschlussarbeit an der Falmouth School of Art. Sie zeigte eine dramatisch angestrahlte Matratze auf der Bühne eines rappelvollen Theatersaals. Auf der Matratze kämpfte eine junge Kristal Havfruen mit den letzten Wehen. Mit einem finalen Pressen bäumte sich ihr elfenbeinfarbener Körper auf, und ein wimmerndes Baby glitt aus ihr heraus, um das Licht der Welt zu erblicken. Das erste Geräusch, das auf seine winzigen Ohren traf, war Applaus.

Was immer die Leute von Havfruen hielten – niemand hatte auch nur annähernd so viel Chuzpe. Das Außergewöhnlichste aber war selbstverständlich das Baby, das heute Abend hier war, mitten unter ihnen: Kristal Havfruens Sohn Art.

Mittlerweile vierundzwanzig Jahre alt, hatte es Art zu einem erfolgreichen Werbefachmann gebracht. Man hatte ihn schon früher entdeckt in seinem modisch zerknitterten Anzug und seinen langen, spitzen Stiefeln. Doch wo war er jetzt?

 

In exakt jenem Augenblick befand sich Art in einer der Kabinen in den Unisex-Toilettenräumen der Meat Hook Gallery, eifrig damit beschäftigt, sich schneeweiße Lines CK1 in die Nase zu ziehen, was momentan die Droge seiner Wahl war – Kokain, vermischt mit einer niedrigen Dosis Ketamin.

Als er damit fertig war, wischte er sich mit seinem zarten Handrücken die Nasenlöcher ab und wusch sich an dem Schweinetrogwaschbecken das Gesicht. Anschließend schlüpfte Art Havfruen zurück in die Ausstellungsräume, gestärkt durch den süß ausbalancierten Doppelkick von Marschpulver und Pferde-Tranquilizer, und spürte, wie der Anblick der gertenschlanken Kunst-Aficionados um ihn herum ein Kribbeln in seinem Schritt auslöste.

Die Gäste hatten sich in einem Raum mit hoher Decke versammelt, einem ehemaligen Kuhstall, der von einer frühen bildnerischen Arbeit Kristals dominiert wurde. Bei dem Ausstellungsstück handelte es sich um einen lebensgroßen Neonbaum, der vollgehängt war mit etwas, das man beim ersten Hinsehen für verschiedenfarbige Äpfel halten konnte und das sich erst bei genauerer Betrachtung als tadellos gearbeitete Föten aus Acrylharz entpuppte. Ein gedrucktes Schild erklärte, dass das Werk den Titel Forbidden Fruit – »Verbotene Früchte« – trug und dass es sich bei dem leicht verschrumpelten, schlangenähnlichen Ding in dem Formaldehydtank zwischen den Wurzeln des Baums um die Nabelschnur von Havfruens neugeborenem Kind handelte.

Kein Wunder also, dass Art Havfruen einen Anflug von Paranoia und Unwohlsein verspürte, als er auf einen kopfsteingepflasterten Hof hinaustrat, um frische Luft zu schnappen. Es war eine seltsame und schwere Last, nicht nur Sujet so vieler berühmter Werke seiner Mutter zu sein, sondern das Werk an sich.

Auf dem Hof wurde er mit einer weiteren Vision seiner Mutter konfrontiert: einer riesigen, in der Hocke kauernden Superfrau, die den Titel Pissing Kristal – »Pissende Kristal« – trug. Die hyperreelle Plastik zeigte die Künstlerin in dem für sie typischen kurzen weißen Spitzenkleid und den klobigen kirschroten Dr.-Martens-Stiefeln, wie sie mithilfe einer genialen Technik einen nicht endenden, gurgelnden Wasserstrahl aus sich herausströmen ließ.

 

Das Wachpersonal der Meat Hook Gallery, das während der Show diskret auf Hockern Platz genommen hatte, schnappte die gemurmelten Beobachtungen der Gäste auf, die schockiert oder fasziniert waren und von Plagiat oder Anlehnung an Künstler wie Damien Hirst, Ron Mueck und Yayoi Kusama sprachen.

Es war kein Geheimnis, dass Havfruen ihre Werke nicht selbst anfertigte; stattdessen nahm sie die Dienste hoch qualifizierter Techniker in Werkstätten und Fertigungsanlagen in ganz Südwestengland in Anspruch. Wie sie bekanntermaßen einst einer skeptischen Kunstberichterstatterin von Channel 4 erklärt hatte: »Dinge herstellen kann jeder, aber nur wenige wagen zu träumen.«

In den hell erleuchteten Galerieräumen hatte sich eine Gruppe von Familienmitgliedern und alten Freunden der Künstlerin wiedergefunden. Die Jahre hatten Falten, eine gebückte Haltung und weiße Haare mit sich gebracht, was in manchen Fällen ziemlich schockierend wirkte. Marlene Moss, die frühere Leiterin der Fakultät für Malerei an der Falmouth School of Art, wirkte in ihrem Rollstuhl wie ein zerbrechliches Vöglein. Sie wurde der Reihe nach von ihren ergebenen ehemaligen Studenten geschoben, die sie oft als ihre Kinder bezeichnete. Bemerkenswert unter ihren Protegés war Kristals Ehemann Callum Oak, selbst ein talentierter Künstler, wenngleich weitaus konventioneller als seine Frau. Die Ähnlichkeit mit dem gemeinsamen Sohn Art war deutlich zu erkennen; Callum war ein gut aussehender Mann mit lockigen Haaren, der auch mit über vierzig noch jungenhaft wirkte. Ein weiterer ehemaliger Student und lebenslanger Freund der Familie Havfruen-Oak war Oliver Sweetman, ein ewig grinsender, rothaariger Riese, der aufgrund seiner jahrelangen allgegenwärtigen Präsenz Kristals Assistant und Fotograf geworden war.

Die Gäste zogen weiter in die älteren Räumlichkeiten, ehemalige Schweineställe, Scheunen und Schlachthäuser, die in luftige, weiß gekalkte Räume verwandelt worden waren. Hier hingen noch immer die Fleischhaken, denen die Meat Hook Gallery ihren Namen zu verdanken hatte. Die Räume waren vollgepackt mit Arbeiten aus Havfruens mittlerer Schaffensperiode. Es gab glänzende Aquarien, in denen schockierend lebensechte Figuren trieben oder durch die amniotische Flüssigkeit tauchten. Modell und Star dieser aquatischen Tableaus war jedes Mal das narzisstische Abbild von Kristal höchstselbst, unheimlich klein oder von alarmierender Größe, aber immer in einem kurzen weißen Spitzenkleid und roten Dr. Martens.

Entlang eines Korridors zeigten Bildschirme Interviews von Kunstprogrammen und Archivfilmmaterial, das die Künstlerin bei der Arbeit in ihren Studios präsentierte. Es war faszinierend, Kristal zuzusehen; sie war so wortgewandt, dass man leicht vergaß, dass Englisch ihre Zweitsprache war. Das Seltsame an ihr war allerdings, dass sie nie lächelte. Ja, ihre grünen Augen funkelten, aber die wohl mit Absicht lippenstiftverschmierten Lippen blieben fest verschlossen.

Es war kurz nach zwanzig Uhr dreißig, als Saul Spencer, der Kurator im Schottenkaroanzug, vor den eisenbeschlagenen Türen der Hauptgalerie stehen blieb. Das blassgelbe Licht verlieh ihm das unheimliche Aussehen eines Zeremonienmeisters bei einer Monstrositätenshow. Ungeduldig wartete er darauf, dass auch die letzten Nachzügler eintrafen. Als alle da waren, stellte er sich auf die Zehenspitzen und flüsterte theatralisch: »Meine Damen und Herren, hinter diesen Türen werden wir … was entdecken? Wer kann das schon wissen? Ich ganz sicher nicht. Selbst die, die Kristal verunglimpft haben, werden feststellen, wie sie mit unseren Emotionen spielt. Sie ist in der Tat eine Schöpferin von Gefühlen. Ich hege keinen Zweifel daran, dass uns etwas Unvergessliches erwartet. Sind Sie bereit, meine Damen und Herren? Na dann: Türen auf!«

Hinter ihm schoben uniformierte Angestellte die gut geölten Türen auf, und Saul Spencer ließ die fiebernde Menge den letzten Ausstellungsraum betreten.

Die Hauptgalerie war ein riesiges, kathedralenähnliches Gewölbe mit hoher Decke und Steinwänden. Die Kunstliebhaber sahen sich mit zusammengekniffenen Augen im Halbdunkel um. Hier war nur eine einzige Arbeit ausgestellt. Ein düsteres Objekt, das sorgfältig auf einem Podium genau in der Mitte positioniert war. Ein rechteckiger Glastank, nicht viel größer als ein Kühlschrank, gefüllt mit Flüssigkeit wie ein Aquarium.

Die Gäste bildeten ehrfürchtig einen Kreis. Das einzige Geräusch, das die Stille durchbrach, war ein leises Schniefen von Art Havfruen sowie das Surren von Rädern, als Marlene Moss über die Steinplatten rollte.

Und dann, in einem ohrenbetäubenden Augenblick, explodierte die Stille und verwandelte sich in die tosenden Klänge von Beethovens Neunter Sinfonie. Sämtliche Gäste sprangen gleichzeitig in die Luft, aber noch bevor sie sich erholen konnten, richtete sich ein halbes Dutzend Scheinwerfer, gleißend wie Laserstrahler, auf den Glastank.

Unter die dröhnende Musik mischten sich das Lachen, Nach-Luft-Schnappen, Aufschreien und Seufzen des aufgeschreckten Publikums.

Auf dem versiegelten Deckel des Tanks stand ein Paar glänzend roter Dr.-Martens-Stiefel.

Im Inneren war eine ätherische Vision von Schönheit zu sehen – ein frappierend realistisches Modell von Kristal Havfruen, in eine fötale Position gebracht. Die grünen Augen waren weit geöffnet, die langen Finger trieben in bernsteinfarbener Flüssigkeit. Die Knie des Kristal-Modells waren angezogen wie bei einer Inka-Mumie, ihr schlanker Körper umhüllt von weißer Spitze, die sich bauschte wie bei einem Taufkleid.

Die künstlerische Ausführung war verblüffend, doch was das Stück so zutiefst verstörend machte, war, dass es Kristal – anders als alles andere, was sie bis dahin geschaffen hatte – in ihrer exakten Lebensgröße zeigte, so, wie sie jetzt aussah: eine dreiundvierzig Jahre alte Frau mit vorstehenden Knochen und feinen Falten in ihrem schönen Gesicht. Wenn man genau hinsah, stellte man fest, dass dieses Gesicht nicht aus Kunstharz oder Fiberglas geschaffen war. Nein, die Haut wirkte weich, die perfekt gearbeiteten Glieder wogten wie filigrane Tentakel. Ihr blondes Haar floss um ihren Kopf und bildete einen schimmernden Heiligenschein.

Einige Gäste, die weiter hinten standen, konnten nichts sehen und drängten sich durch die Menge zur Scheibe des phosphorisierenden Glastanks.

»Erstaunlich lebensecht«, murmelte eine Frau.

»Unglaublich«, pflichtete ihr ein anderer Gast bei.

»Bis auf die letzte Pore, jedes Detail.«

»Die Krähenfüße rund um die Augen.«

»Und ist das … ein Blutstropfen? Da, an der Seite von ihrem Hals? Sehen Sie?«

Während die Gäste alarmiert in das bernsteinfarbene Aquarium starrten, stiegen auf einmal mehrere kleine Blasen von den geschminkten Lippen auf und trieben an die Oberfläche wie eine Perlenkette.

Saul Spencer, der in einer Ecke des Raumes stand, spürte, wie ihn die Furcht umwaberte wie ein dichter Nebel. Hektisch erregte er die Aufmerksamkeit eines seiner Angestellten und deutete mit Daumen und kleinem Finger ein ans Ohr gedrücktes Telefon an, während er gleichzeitig mit den Lippen ein einziges, unmissverständliches Wort formte:

»Polizei!«

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Kapitel zwei

Der feuchtkalte Geruch des Todes

Als das Handy in ihrer Tasche vibrierte, konzentrierte sich Detective Inspector Shanti Joyce gerade auf eine Maus, die durch einen Wald spaziert.

Sie hatte die Stelle erreicht, an der die Maus dem warzennasigen Grüffelo begegnet, und stellte erleichtert fest, dass ihr Sohn Paul endlich eingeschlafen war.

»Ich hoffe, es ist wichtig, Benno«, zischte sie ins Telefon, trat hinaus in den Flur und schloss leise die Kinderzimmertür hinter sich. »Und damit meine ich nicht einfach nur wichtig, sondern lebenswichtig.«

»Sieht ganz danach aus, Chefin.«

Shanti fühlte, wie sich ihr Puls beschleunigte. Im Grund hatte sie auf einen Anruf wie diesen gewartet.

Unten in der Küche trank sie mit großen Schlucken eine halbe Tasse lauwarmen Kaffee, während Benno sie über die Vorgänge in der Meat Hook Gallery ins Bild setzte. Shanti schlüpfte in ihre Laufschuhe, griff nach ihrer Jacke und rief nach ihrer Mutter, die im Wohnzimmer fernsah.

Noch vor ein paar Minuten hatte sie sich auf ein, zwei Gläser Merlot, ein Bad, ein Stündchen vor der Glotze und eine Mikrowellenmahlzeit mit Mum gefreut, bis sie schließlich sanft eingedämmert wäre, doch nun hatte Bennos Anruf sie hellwach gemacht.

Eilig stieg sie ins Auto, startete den Motor und legte den Sicherheitsgurt an, dann gab sie Gas und fuhr aus der ruhigen Sackgasse.

Die Geschichte klang bizarr: Der Leichnam einer Künstlerin trieb auf ihrer eigenen Ausstellung in einem Glastank, gefüllt mit Formaldehyd.

Shanti dachte daran, wie sie zum ersten Mal mit dem stechenden Geruch der Chemikalie konfrontiert worden war. Sie hatte während ihrer Ausbildung zusammen mit ihren Mitstreitern eine Leichenhalle besucht. Der Leichnam war mehrere Monate alt, weshalb das Fleisch gummiartig und gelb geworden war, doch es war der Geruch, der sie verfolgte: ein strenger, beißender Gestank, der einem durch die Nasenlöcher bis in den hintersten Winkel des Schädels stieg, wo er für eine sehr lange Zeit festhing. Die Männer waren entsetzt zurückgeschreckt, einer war sogar umgekippt. Aber nicht Shanti Joyce. Sie war aus hartem Holz geschnitzt, und ihr stahlharter Kern war der Grund dafür, warum sie mit Anfang dreißig zum Detective Inspector aufgestiegen war.

Doch das war schon lange her. Vor dem verpfuschten Fall und dem Umzug nach Südwestengland. Vor der elenden Scheidung.

Ihre Entschlossenheit, alles ins Lot zu bringen – zumindest, was den Fall anging –, schien ihren Saab 900 auf den mit Blättern übersäten Straßen von Somerset zu befeuern, sie so schnell wie möglich zum Ziel zu bringen. Das Navi zeigte an, dass es bis zur Galerie nur noch vierzehn Meilen auf der A359 waren. Sie würde in neun Minuten da sein.

Shantis Augen blieben an dem Müllhaufen im Fußraum hängen – achtlos weggeworfenes Sandwichpapier, ein Paar Fußballsocken von Paul sowie mehrere Ordner mit unerledigtem Papierkram. Der Anblick ließ sie zusammenzucken. Eigentlich hieß Shanti Shantala, aber schon als kleines Mädchen hatte man sie nur »Shanti« genannt. Ihre damaligen Kollegen im Norden von London hatten den Namen übernommen und waren sogar so weit gegangen, ihr chaotisches Büro als »Shanti Town« zu bezeichnen.

Sie erreichte ihr Ziel, bog auf den in gedämpftes Licht getauchten Parkplatz ein und ließ das Fenster herunter, um mit dem uniformierten Polizisten am Tor zu sprechen.

»Sorgen Sie dafür, dass niemand rein- oder rauskommt, Dunster. Nicht mal Jesus Christus höchstpersönlich.«

»Jawohl, Chefin. Die Sanitäter sind unterwegs. Was soll ich tun, wenn Jesus am Steuer sitzt?«

»Hör zu, Dunster, wenn du lieber als Komiker arbeiten möchtest, kann ich das arrangieren.«

Sie parkte neben vier Streifenwagen und einem großen Van, der dem HazChem-Team gehörte – die Kurzform für Hazardous Chemicals –, welches stets eingesetzt wurde, wenn gefährliche Chemikalien im Spiel waren. Shanti ließ den Blick über die umgebauten Farmgebäude und eine Reihe unverständlicher Skulpturen im Hof schweifen, dann stieg sie aus und ging durch die blaulichtpulsierende Nacht.

Sergeant Bennett, der Mann, der die Begegnung zwischen Maus und Grüffelo vereitelt hatte, trat auf sie zu. Shanti mochte Benno. Er war ein älterer Cop mit Töchtern im Teenageralter. Einer der wenigen männlichen Polizisten, dessen Augen nicht über ihren Körper glitten, wenn sie miteinander sprachen.

»Erster Eindruck, Benno?«

»Bizarr. Ausgesprochen bizarr. Die Sache ist doppelt kompliziert, denn wir haben es mit einem Chemieunfall zu tun. Ich habe die Räumlichkeiten evakuieren lassen, draußen warten etwa zweihundert Gäste. Solange das HazChem-Team kein grünes Licht gibt, darf niemand rein.«

»Ich brauche Zutritt, Benno.«

»Das weiß ich, Chefin. Sie werden sich schick machen müssen.«

Er führte Shanti in den Geschenkeladen der Meat Hook Gallery, wo ein dürrer Mann mit einem Menjoubärtchen wartete. Sein Schottenkaroanzug roch schwach nach Formaldehyd.

»Saul Spencer«, stellte er sich vor und streckte eine zitternde Hand aus. »Ich bin der Kurator. Das Ganze kommt mir vor wie ein Albtraum. Die ganze Zeit über denke ich, ich wache wieder auf und …«

»Albträume riechen nicht, Mr. Spencer. Hier dagegen stinkt es wie in Frankensteins Labor, weshalb wir davon ausgehen können, dass die Sache real ist.«

Ihre Worte klangen härter als beabsichtigt, doch innerlich verwandelte sich Shanti gerade von der Mutter in den Cop, und Galgenhumor war Teil ihres Panzers. Sie folgte Benno und Spencer zwischen den rätselhaften Kunstwerken hindurch zum fraglichen Ausstellungsraum, und mit jedem Schritt wurde der Übelkeit erregende Gestank stechender.

»Zur Hauptgalerie geht es hier entlang«, sagte Spencer mit aschfahlem Gesicht. Und dann presste er sich plötzlich ein Taschentuch mit Paisleymuster auf den Mund, würgte heftig und flüchtete den Gang entlang wie eine spillerige Spinne.

Ein Mann in einem blauen Kapuzenoverall mit Schutzbrille und Atemschutzmaske bewachte die großen Metalltüren des Hauptausstellungsraums.

Er streckte eine behandschuhte Hand aus und reichte jedem von ihnen ein Paket mit Schutzkleidung. Als sie komplett ausstaffiert waren, fühlte sich Shanti, als habe sie eine Welt der eingeschränkten Empfindungen betreten, in der die Kommunikation beeinträchtigt war und das Sichtfeld erst ein paar Schritte von ihr entfernt begann.

Der Officer des HazChem-Teams überprüfte ihre Kleidung auf undichte Stellen rund um Handschuhe und Stiefelränder. Endlich nickte er und drückte eine Hälfte der schweren Tür auf.

Shanti hatte gedacht, sie hätte in ihrem Job schon alles gesehen, aber der Anblick ließ sie nach Luft schnappen. In dem riesigen Raum bewegten sich Außerirdische langsam durch das trübe Licht. Auf einem von Scheinwerfern erhellten Podest neben einem umgekippten Tank unternahm ein maskierter Officer Wiederbelebungsübungen an dem schlaffen, tropfnassen Körper einer Frau in einem weißen Kleid. In einer sich ausbreitenden Pfütze aus bernsteinfarbener Flüssigkeit lag ein Paar roter Dr.-Martens-Stiefel.

Benno tippte Shanti auf die Schulter, und als sie sich zu ihm umwandte, sah sie, dass er ihr ein Zeichen gab. Zwei Finger an der Kehle und ein einfaches Kopfschütteln bedeuteten in jeder Sprache dasselbe – die Porzellanfrau war tot.

Binnen weniger Minuten übernahm Shanti die Führung. Es mussten Fotos von der Leiche gemacht werden. Das Gebiet sollte mit Polizeiband abgesperrt werden – und das da drüben ebenfalls. Sie checkte die Eingänge – die große Doppeltür mit einer Rampe für Gabelstapler und Rollstühle, außerdem zwei Notausgänge, die sie untersuchte und dann vorsichtig mit den Fingerspitzen öffnete, um für etwas Luft zu sorgen.

Das war die entscheidende Stunde, in der einem die Hinweise wie Sand zwischen den Fingern zerrinnen konnten.

Draußen trafen weitere Rettungswagen ein, blinkende Lichter zuckten durch die Nacht wie auf einem Rummelplatz. Auf dem gekiesten Bereich und dem Rasen dahinter standen an die zweihundert elegant gekleidete Kunstliebhaber, die jammerten und erstickte Laute von sich gaben wie bezahlte Trauergäste bei einer römischen Beerdigung. Im Gegensatz zu der Selfies schießenden Meute, die sich in London an Tatorten versammelte, wich diese Gruppe so weit wie möglich vom Ort des Geschehens zurück; einige der Versammelten ließen ihre tränenden Augen oder gereizten Kehlen von den Ersthelfern behandeln.

Shanti bedeutete Benno, ihr zu folgen, verließ die Hauptgalerie durch einen der Notausgänge und setzte Kapuze und Atemmaske ab. In dem Overall war es heiß wie in einer Sauna, und die kalte Luft tat ihren Lungen gut.

»Herrgott, Benno, jeder dieser Leute könnte ein Zeuge sein. Sieh nur, die latschen über das ganze Gelände. Können wir die nicht irgendwo zusammentreiben und anfangen, die Aussagen aufzunehmen?«

»Die HazChem-Jungs haben das Restaurant freigegeben«, erwiderte Benno. »Sollen wir sie dorthin bringen?«

»Okay, aber sie dürfen auf keinen Fall durch die Galerie gehen.«

»Es gibt einen Seiteneingang.«

»Gut. Kümmerst du dich darum, Benno? Sorg dafür, dass sie Platz nehmen, und treib Kaffee oder sonst was auf. Keinen Alkohol. Lass Decken verteilen, wenn welche benötigt werden. Ich brauche von jedem den Ausweis und eine Erstaussage – keine Ausnahmen. Sollte irgendwer etwas Ungewöhnliches bemerkt haben, gib mir Bescheid. Falls jemand Fotos gemacht hat, will ich das Handy haben. Ach ja, bring die Leute wenn möglich dazu, dass sie sich von den sozialen Medien fernhalten. Und schick jemanden los, der jedes Nummernschild auf dem Parkplatz notiert.«

Ein großer, lockiger Mann, der sich in eine Foliendecke gehüllt hatte, lehnte an einer Wand. Er schien in einer ausgesprochen schlechten Verfassung zu sein. Sein Anzug war triefnass, seine Schultern zuckten. Mehrere Umstehende versuchten, ihn zu trösten.

»Wer ist das, Benno?«

»Das ist der Witwer, Callum Oak. Ich habe seine Aussage aufgenommen. Er war der Erste, dem auffiel, dass Kristal in dem Tank trieb – anders als bei den übrigen sonderbaren Kunstwerken. Er hat versucht, den Deckel anzuheben, aber er war fest verschlossen. Daraufhin ist er durchgedreht und hat das ganze Ding umgekippt, und dann konnte er den Deckel endlich aufstemmen und Kristal herausziehen. Leider sind dabei auch mehrere Liter Formaldehyd ausgelaufen. Es war absolut grauenvoll, denn er hat versucht, ihr eine Mund-zu-Mund-Beatmung zu geben, wobei er jede Menge von dem Zeug abgekriegt haben muss.«

Während sie sprachen, wurde der Mann in einen Rollstuhl verfrachtet und zu einem der Rettungswagen gebracht, sein ganzer Körper zuckte vor Schock und Elend. Keine Chance, ihn heute Abend zu befragen.

Als Benno die Menge zum Restaurant führte, musterte Shanti die an ihr vorbeiziehenden Gesichter – einige wirkten sichtlich gequält, andere eher aufgeregt und staunend. Und wie immer beschwerten sich ein paar tatsächlich über die Unannehmlichkeiten. Unter den Letzten, die Benno zum Restaurant folgten, entdeckte sie den dünnen Kurator, Saul Spencer.

»Auf ein schnelles Wort, Mr. Spencer.«

Er sah sie mit Leichenbittermiene an und nickte.

»Ich habe einige Kameras unter dem Dach der Hauptgalerie bemerkt, und vermutlich gibt es noch weitere. Sind die allesamt funktionsfähig?«

»Ja, es gibt eine Videoüberwachung in jedem Raum des Gebäudes.«

»Ich will nicht, dass auch nur eine Millisekunde der Aufzeichnungen verloren geht. Ist das klar?«

»Ja. Ich werde mich sofort darum kümmern.«

»Wer hat die Ausstellung vorbereitet?«

»Nun, mein Team war in alles involviert, nur nicht in das, was in der Hauptgalerie stattfinden sollte. Was dieses Werk anbetraf, hat Kristal auf absolute Geheimhaltung bestanden.«

»Ist das nicht seltsam?«

»Nein, nicht wirklich. Kristal liebte ein bisschen Theater.«

»Ich nehme an, es gab eine Lichtshow – mit dramatischer Musik und Scheinwerfern. Wer war dafür zuständig?«

»Kristal hatte alles an einen Bewegungsmelder mit Zeitverzögerung gekoppelt. Er wurde aktiviert, als wir die Galerie betraten.«

»Okay, ich versuche, eine Liste der Schlüsselfiguren bei diesem Zwischenfall zusammenzustellen. Abgesehen von Ihnen, versteht sich.«

»Bin ich etwa ein Verdächtiger?«

»Das haben Sie gesagt, Mr. Spencer, nicht ich. Wer wusste denn sonst noch von diesem Kunstwerk?«

»Nur sehr wenige Leute. Lassen Sie mich überlegen … Da war zum einen Kristals Assistent, ein alter Freund der Familie namens Oliver Sweetman. Ein großer, lustiger Kerl – er ist heute Abend hier. Dann vermutlich ihr Ehemann, Callum Oak. Ich denke schon, dass er eingeweiht war.«

»Er ist gerade in einem Rettungswagen weggebracht worden.«

»Der arme Mann. Das waren aber auch schon alle. Außer Art natürlich.«

»Art?«

»Art Havfruen ist Kristals und Callums Sohn. Haben Sie je von A Boy Named Art – ›Ein Junge namens Art‹ gehört?«

»Da muss ich passen, aber ich komme gern später darauf zurück. Nur um sicherzugehen, dass ich das richtig verstanden habe: Die einzigen Personen, die wussten, was Kristal in der Hauptgalerie plante, waren ihr Assistent Oliver Sweetman, ihr Sohn Art Havfruen und möglicherweise ihr Ehemann Callum Oak.«

»Das ist korrekt.«

»Aber irgendwer muss doch den Glastank geliefert haben. Was wissen Sie darüber?«

»Entschuldigung, das hätte ich erwähnen müssen. Wir arbeiten mit einem auf Kunstwerke spezialisierten Transportunternehmen zusammen, das sich MasterMoves nennt und in der Kunstwelt sehr bekannt ist … ›Wir passen auf Ihren van Gogh auf, solange die Moneten stimmen‹ – verstehen Sie?«

Shanti blickte ihn befremdet an.

»MasterMoves ist wochenlang zwischen der Galerie und Kristals Studio hin- und hergefahren«, fuhr Spencer fort. »Sie haben sämtliche Kunstwerke für die Ausstellung gebracht. Der Tank in der großen Galerie muss ihre letzte Lieferung gewesen sein; ich habe heute Nachmittag zwei Männer gesehen, die eine Kiste auf einen Gabelstapler luden. Wahrscheinlich war darin der Tank. Er wurde über eine Rampe durch die Doppeltüren in die Hauptgalerie gebracht. Die Jungs von MasterMoves arbeiten ausgesprochen schnell und effizient, aber davon können wir uns selbst überzeugen, sobald wir die Bänder aus den Überwachungskameras haben.«

»Was ist mit dem Formaldehyd? Wann wurde das in den Tank gefüllt?«

»So etwas ist nicht Kristals Sache. Ich gehe davon aus, dass der Tank bereits gefüllt und fest verschlossen geliefert wurde. Ich weiß, dass sich in den kleineren Ausstellungsräumen mehrere mit Formaldehyd gefüllte Behälter befinden, da ich deren Installation überwacht habe. Sie wurden alle bereits gefüllt geliefert, es wäre sonst auch gar nicht möglich gewesen, den Transport zu versichern.«

Am Ende der zum Seiteneingang des Gebäudes schlurfenden Menge machte ein blassgesichtiger junger Mann lautstark seinem Unmut Luft.

»Sie können mich hier nicht festhalten!«, blaffte er. Er trug einen zerknitterten Anzug und spitze Stiefeletten, das blonde Haar war zu einer Stachelfrisur geformt. Wild gestikulierend, als halte er eine feurige Rede, schritt er auf dem gekiesten Weg auf und ab.

»Das ist der Sohn«, flüsterte Spencer. »Art Havfruen.«

»Entschuldigen Sie mich«, sagte Shanti, »ich muss dringend mit ihm reden.« Sie wandte sich ab und ging auf den aufgebrachten Mann zu. »Beruhigen Sie sich, Mr. Havfruen«, beschwichtigte sie ihn, doch sein Benehmen wurde von Minute zu Minute befremdlicher.

Selbst in der Dämmerung brauchte sie nur einige Sekunden, um zu begreifen, dass der ungesund aussehende Bursche high wie ein Airbus war. Seine Pupillen waren geweitet, und er wirkte völlig überdreht – wahrscheinlich Koks oder Speed.

Plötzlich ging Art Havfruen auf sie los. »Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind, verdammte Scheiße?«, stieß er wütend hervor. »Meine Mutter ist da drin, und ich werde behandelt wie ein gottverdammter Krimineller!«

Jetzt, wo sie ihn direkt vor sich hatte, konnte Shanti die weißen Pulverreste rund um seine Nasenlöcher erkennen. Havfruen knirschte mit den Zähnen. »Mir ist bewusst, wie schrecklich das hier für Sie ist«, sagte sie, »aber bitte treten Sie einen Schritt zurück und beruhigen sich, Mr. Havfruen. Wir versuchen herauszufinden, was passiert ist. Ich bin mir sicher, dass das auch in Ihrem Sinne ist.«

Er stach mit dem Zeigefinger in ihre Richtung. Nur wenige Zentimeter vor ihren Augen hielt der Finger inne. »Sie haben doch keine Ahnung, was ich will!«

»Nehmen Sie Ihren Finger aus meinem Gesicht, Mr. Havfruen.«

Der Finger bewegte sich und bohrte sich hart in ihre Schulter. »Sagen Sie mir nicht, was ich zu tun habe.«

Der Plastikoverall beeinträchtigte ihre Bewegungen, trotzdem gelang es Shanti, in einer einzigen, fließenden Bewegung den angriffslustigen Zeigefinger zu packen und Havfruen den Arm auf den Rücken zu drehen.

»Du tust mir weh, Miststück!«, schrie er und versuchte, sich loszureißen.

»Und Sie hindern vorsätzlich einen Officer an der Ausübung seiner Pflicht.«

Vielleicht war sie ein bisschen zu energisch gewesen, aber Shanti reagierte auf aggressive Männer extrem allergisch. »Sergeant Bennett, wären Sie so freundlich, Mr. Havfruen zum Restaurant zu begleiten? Ihm bleibt die Wahl zwischen Kaffee und Handschellen – das ist mir gleich.«

»Das können Sie nicht machen«, jammerte Havfruen.

»Paragraf 89 des Polizeigesetzes von 1996 sagt, dass wir das durchaus können«, stellte Benno klar.

Havfruen versuchte ein letztes Mal, sich Shantis Griff zu entwinden, wobei sein Jackett aufsprang. Aus der Innentasche fiel ein kleiner Plastikbeutel und landete auf dem Kiesweg.

Shanti blickte zu Boden. »Oh, ich glaube, Sie haben etwas verloren, Mr. Havfruen. Keine Sorge, ich kümmere mich darum und bringe es für Sie zum Fundbüro.«

Benno fasste Art Havfruen fest am Arm und führte ihn zum Restaurant, während Shanti sich bückte und den aufgeplatzten Beutel aufhob, der eine zarte, weiße Puderwolke auf dem Kies hinterlassen hatte. Sie aktivierte die Taschenlampenfunktion ihres Handys, nahm eine Fingerspitze voll Pulver und hielt es sich an die Nase. Die Spurensicherung war bereits auf dem Weg hierher und würde jeden Augenblick da sein. Sie würde die Stelle kennzeichnen, an der das Tütchen auf den Boden gefallen war, und den kleinen Beutel den Kriminaltechnikern überlassen, damit die ihn eintüten und später untersuchen konnten. Wenigstens regnete es heute Abend nicht. Was immerhin etwas war.

Das HazChem-Team hatte ein lärmiges Ventilationssystem angeworfen, um die Formaldehyddämpfe aus der Galerie zu vertreiben. Als Shanti ihre Kapuze aufsetzte, roch sie ihn erneut – den feuchtkalten Geruch des Todes.

In der Ferne hörte sie das widerhallende Gezeter des Jungen namens Art, der etwas über Schikane und Menschenrechte von sich gab. Sie wusste, dass es eine lange Nacht werden würde, aber das machte ihr nichts aus. Abgesehen von dem schlafenden Achtjährigen in Yeovil und ihrer Mum, interessierten sie nur zwei Dinge: diese Ermittlung erfolgreich abzuschließen und den Ruf von DI Shanti Joyce wiederherzustellen.

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Kapitel drei

Die ultimative Performance

Um Mitternacht erinnerte die Szenerie in der Hauptgalerie an eine Dada-Theaterproduktion.

Shanti und Benno, die beiden Hauptdarsteller, bekleidet mit weißen Papieranzügen und Schuhüberziehern, standen in der Mitte der Bühne neben dem umgekippten Glastank, ins Gespräch vertieft.

Um sie herum, im grellen Licht der von der Spurensicherung aufgestellten Scheinwerfer, krochen die SOCOs – kurz für Scenes Of Crime Officer – über den Boden wie Asseln. Die verschüttete Flüssigkeit war aufgewischt, der Steinboden mit Wasser abgespült worden, Luftmessgeräte hatten den Raum als unbedenklich freigegeben.

Das Opfer, Kristal Havfruen, war für tot erklärt worden. Man hatte ihren tropfnassen Leichnam in einen Leichensack gepackt und auf einer Rollbahre davongeschoben. Die Erstaussagen der Gäste waren allesamt aufgenommen, und man hatte ihnen gestattet, nach Hause zu gehen.

Es schien so, als würde Shantis inständige Bitte, den Vorfall nicht in den sozialen Medien zu erwähnen, auf taube Ohren stoßen. Benno teilte ihr mit, dass sich das verstörende Bild von Kristal in dem Formaldehyd-Aquarium bereits rasend schnell unter dem Hashtag #WerHatKristalGetötet verbreitete. Schlimmer noch: Unter den Gästen waren zahlreiche Journalisten gewesen, und mehrere große Redaktionen kämpften um die Story. So oder so – Kristal Havfruen war ins Rampenlicht zurückgekehrt.

Kristals Sohn Art, dessen Zorn sich in mitleiderregende Schluchzer aufgelöst hatte, war ins Präsidium gebracht worden, wo man ihn wegen des Besitzes einer noch näher zu bestimmenden Substanz vernahm.

Shanti entdeckte Dawn Knightly, die Leiterin der Spurensicherung, die in einer Ecke der Galerie etwas in ihr iPad tippte. Sie kannten sich erst seit wenigen Monaten, und Shanti war mehrere Jahre jünger als sie, aber die beiden Frauen, die schon fast alles gesehen hatten, fanden sofort einen Draht zueinander.

»Stehst du auf Kunst, Dawn?«

Knightly, die ein rundes, freundliches Gesicht hatte, steckte die roten Dr.-Martens-Stiefel in eine große Polyethylentüte. »Wenn ich ehrlich bin, gehe ich lieber ins Pub, aber ich muss zugeben, dass das hier echt spannend ist. Eine Leiche in einem Tank mit Formaldehyd. So was hab ich noch nie gesehen.«

»Was ist dein erster Eindruck?«

»Der Leichnam schien unversehrt, abgesehen von einer leichten Quetschung am Brustkorb, wie man sie nach Wiederbelebungsmaßnahmen vorfindet. Es gibt keine Abwehrverletzungen, nichts, was darauf hinweist, dass sie sich gegen einen Angreifer gewehrt hat. Trotzdem bin ich auf etwas Ungewöhnliches gestoßen …«

»Ja?«

»Seitlich am Hals ist ein grober Einstich, der aussieht, als stamme er von einer stümperhaft gesetzten Subkutanspritze.«

»Das ist interessant. Hast du im Ausstellungsraum irgendwelche Hinweise gefunden?«

Knightly hob die Tüte in die Höhe. »Die Stiefel standen auf dem Deckel des Tanks – man hat mir erklärt, dass das Teil des Kunstwerks war. Normalerweise ist Glas der ideale Untergrund für Fingerabdrücke, aber wir haben keine gefunden. Nur die von Oak, der den Tank umgestoßen hat.«

»Ich habe mir sagen lassen, dass diese Kristal Havfruen eine … wie sagt man noch gleich dazu, Benno?«

»Performance-Künstlerin, Chefin.«

»Richtig. Nun, dass sie eine Performance-Künstlerin war. Eine Darstellerin ohne Talent.«

»Die Großen und Wichtigen, die sich hier versammelt haben, werden da anderer Meinung sein.«

Shanti zog eine Augenbraue in die Höhe. Sie war durch die anderen Räume gegangen, hatte den Neonbaum und die Nabelschnur in dem Glasbehälter zwischen den Wurzeln gesehen. Die in Flüssigkeit treibenden Figuren und die Videos, die in ihren Augen an Pornografie grenzten. Um Gottes willen, wer fiel denn auf so ein Zeug herein? Das war ja wie in Des Kaisers neue Kleider. So wie sie es sah, hatte die Künstlerin ihr Leben damit zugebracht, sich selbst zum Kunstwerk zu machen. Shanti kam ein Gedanke.

»Nimm’s mir nicht krumm, Dawn, aber können wir angesichts der Selbstbesessenheit dieser Frau mit Sicherheit ausschließen, dass sie sich umgebracht hat? Wäre das nicht die ultimative Performance?«

»Der Gedanke ist mir auch schon gekommen«, räumte Knightly ein. »Doch alles spricht dagegen. Zunächst einmal passt die Einstichwunde an ihrem Hals nicht zu einem Selbstmord. Hinzu kommt, dass sich der natürliche Instinkt einschaltet, wenn man ertrinkt, was bedeutet, dass man anfängt, mit aller Kraft um sein Leben zu kämpfen, erst recht in einem Glastank mit unverdünntem Formaldehyd.«

»Seht mal«, schaltete sich Benno ein und hielt sein Handy hoch. »Sie treibt seelenruhig dahin. Deshalb hat ja auch jeder gedacht, es handele sich um ein Modell.«

Der befremdende Anblick der in fötaler Haltung zusammengekauerten Frau ließ Shanti erschaudern.

»Dann denkst du also, sie war tot, als sie in den Tank gelangte?«

»Ich verwette meine Pension darauf, dass man sie betäubt hat«, ließ sich die Leiterin der Spurensicherung vernehmen. »Aber das werden wir ja bald herausfinden.«

»Du spielst mit hohem Einsatz, Dawn«, stellte Shanti fest, dann überlegte sie einen Moment. »Vielleicht hat sie sich am Vorrat des Juniors bedient und sich selbst unter Drogen gesetzt.«

»Vergiss es«, widersprach Knightly. »Sie wäre entweder zu benommen gewesen, um in den Tank zu klettern, oder zu klar, um zu ertrinken. Nein. Dahinter steckt mehr.«

Sie legte eine behandschuhte Hand auf den umgekippten Tank.

»Der Witwer, Callum Oak«, fuhr sie nach einem kurzen Augenblick fort, »hat das Ding hier auf die Seite gestoßen, was verdammt schwer gewesen sein muss. Laut den Aussagen der Gäste hat er versucht, das Glas mit einem Stuhl zu zerschmettern, bevor er sich am Deckel zu schaffen gemacht hat. Am Ende mussten sie Werkzeug herbeischaffen, um ihn aufzustemmen, und Kristal ist herausgeglitten wie ein Baby bei der Geburt. Irgendwer hat die ganze Show gefilmt. Aber hier kommt der entscheidende Punkt, Shanti – der Tank war von außen verschlossen.«

»Glaubst du, sie hat jemanden überredet, sie unter Drogen zu setzen und in den Behälter zu sperren? Du weißt schon – eine letzte, Aufmerksamkeit heischende Performance?«

»Klingt für mich ziemlich weit hergeholt. Aber selbst wenn das der Fall wäre, sind wir immer noch auf der Suche nach einem Mörder.«

»Du willst also sagen, dass …«

Knightly schmunzelte. »Du kennst mich. Vor der Obduktion sage ich gar nichts, aber ich setze auf Mord, Shanti. Auf einen schönen, kunstvoll ausgeführten Mord.«

 

Die Scheinwerferlichter des Saab durchschnitten die samtene Schwärze der schmalen Straße. Auf dem Beifahrersitz rutschte Benno unbehaglich hin und her, bis er schließlich einen Plastik-Stegosaurus unter seinem Hintern hervorzog.

»Entschuldige die Unordnung, Benno. Ich bin noch nicht ganz mit Auspacken fertig.«

»Mach dir keine Gedanken, Chefin«, erwiderte er wenig überzeugend.

Sie hatte dem Sergeant angeboten, ihn mitzunehmen, um ihn unterwegs ausquetschen zu können.

»Sag mal, Benno, du hast doch mitbekommen, worauf Dawn wettet, oder?«

»Sie tippt auf Mord.«

»Ich traue ihrem Instinkt. Aber ist dir klar, was das bedeutet? Es bedeutet, dass ein Killer sein Unwesen in Südwestengland treibt – ein wahnsinniger Killer. Was für ein Mensch würde sonst so etwas tun? Jemanden unter Drogen setzen, in einen Tank mit Formaldehyd sperren und öffentlich zur Schau stellen? Da muss man schon eine so verdrehte Psyche haben wie … wie …«

»Wie eine Nabelschnur in einem Glasbehälter.«

»Exakt. Ich muss ihn finden, Benno.«

»Ich frage mich, was für ein Motiv dahintersteckt, Chefin. Geld? Rache? Eifersucht? Liebe? Warum sollte jemand Kristal Havfruen umbringen wollen?«

»Um ehrlich zu sein, stellt ihre sogenannte Kunst in meinen Augen ein mehr als ausreichendes Motiv dar.«

»Verdächtigst du den Sohn?«

»Den Schneejungen? Er ist es definitiv wert, genauer unter die Lupe genommen zu werden. Ich würde gern wissen, was für eine Beziehung er zu seiner Mum hatte, wenngleich ich bezweifle, dass er über die notwendigen Fähigkeiten verfügt, etwas so Aufwendiges auf die Beine zu stellen.«

Ein schwarz-weißer Dachs wuselte vor ihnen her wie ein pummeliger Sträfling auf der Flucht. Seit ihrem Umzug von Camden waren vier Monate vergangen, aber Shanti war sich nicht sicher, ob sie sich jemals an die Nächte hier draußen gewöhnen würde. An das Fehlen von Straßenlaternen. An das Fehlen von Menschen. Doch dann dachte sie an die verschiedenen Wohngebiete der Innenstadt an einem Sonntag in den frühen Morgenstunden, und die Nacht in Südwestengland kam ihr vor wie eine warme Umarmung.

»Was ist mit dem Ehemann, Benno?«

»Callum Oak? Er war definitiv am Boden zerstört, obwohl die Formaldehyddämpfe natürlich alle zum Weinen gebracht haben.«

»Wo wohnt er?«

Benno blätterte im Schein einer Taschenlampe sein Notizbuch durch. »Da haben wir’s ja. Mangrove House, kurz vor Sidmouth.«

»Wo ist das?«

Mit gespieltem Akzent antwortete Benno: »Ich vergesse immer, dass du nicht aus der Gegend kommst. East Devon. Ungefähr vierzig Meilen entfernt.«

»Und er hat dort mit Kristal gelebt?«

»Soweit ich weiß, ja.«

»Dann ist da noch Saul Spencer, der Kurator. Und dieser große Bursche, Oliver Sweetman, ein Freund der Familie. Er ist ein bisschen seltsam, findest du nicht? Hört nie auf zu grinsen.«

»Chefin, die Sache könnte simpler sein, als du denkst.«

»Inwiefern?«

»Die Ausstellungsräume sind mit Überwachungskameras ausgestattet. Wenn wir Glück haben, sehen wir den Täter bei der Arbeit – wenn er den Tank öffnet und … du weißt schon …«

»Sie hineinstößt. Mag sein. Vielleicht war Kristal aber auch bereits in dem Tank, als er geliefert wurde. Mensch, Benno, das ist die erste Gelegenheit für mich, den Arschlöchern in der Kantine zu beweisen, was ich draufhabe. Und es bedeutet mir verdammt viel, dich auf meiner Seite zu wissen. Verfolgst du die Sache im Präsidium weiter, damit ich nach Hause zu meinem Sohn fahren kann? Geh das Material der Überwachungsbänder durch. Durchkämme die Aussagen der Gäste nach Auffälligkeiten. Überprüfe die Autokennzeichen und finde heraus, ob irgendwelche Verstöße vorliegen, selbst wenn es sich bloß um einen Strafzettel wegen Falschparkens handelt. Kleb ein paar Namen und Gesichter auf eine Tafel, wenn es hilft. Fang an, einen Zeitstrahl zu erstellen. Vor allem wünsche ich mir, dass du Art Havfruen unter die Lupe nimmst. Man hat ihm Blut abgenommen, oder?«

»Ja. Der Kerl ist ein wandelnder Chemiebaukasten. Morgen früh bekommen wir die vollständige Analyse.«

Shanti spürte, wie sich in ihr der vertraute Konflikt aufbaute, der bei ihr dieselben Beschwerden hervorrief wie eine Magenverstimmung. Morgen war Sonntag, und sie hatte Paul versprochen, den Tag mit ihm zu verbringen. Nichtsdestotrotz stand sie förmlich in Flammen vor lauter Adrenalin. Heute Nacht würde sie kein Auge zutun, das wusste sie. Im Kopf endlos Tatverdächtige zu vernehmen – das war ihr Ding. Natürlich wäre es schwer für die Familie, aber eine Frau war tot, und sie konnten ihren durchgeknallten Sohn nicht lange festhalten. Außerdem mussten sie dringend dem Witwer, Callum Oak, einen Besuch abstatten, und zwar in derselben Minute, in der er aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Darüber hinaus galt es, eine Ermittlung anzupacken, solange der Fall noch heiß war. Paul würde das verstehen – er war total stolz auf seine Mum. Neulich hatte er verlauten lassen, dass er eines Tages selbst gern Detective wäre.

Shanti wurde klar, dass sie dringend ein weiteres Paar Augen und Ohren brauchen würde, wenn Benno an seinen Schreibtisch im Präsidium gefesselt war. Vorzugsweise gehörten diese Augen und Ohren jemandem, der sich in diesem Teil der Welt so gut auskannte, wie Benno es tat. Sie wollte nicht das kleinste Detail übersehen, und zwei Köpfe waren nun mal besser als einer. Im Geiste ging sie die übrigen Teammitglieder durch. Bei ihrer Ankunft war sie schockiert gewesen, wie klein die Mannschaft war – ein Präsidium, das man durch Kürzungen bis auf die Knochen abgespeckt hatte. Ihr fiel niemand ein, den man zu ihrer Unterstützung abstellen konnte. Benno würde jede verfügbare Hand brauchen, und am Wochenende ging es immer hoch her.

»Weißt du jemanden, der mir assistieren könnte, Benno? Jemand, der gut ist. Kein einfältiger Trottel.«

»Hm … in Wincanton und Crewkerne gibt es ein paar clevere Jungs. Aber glaub mir, Chefin, man wird dir bestimmt nicht die Spitzenkräfte auf unbestimmte Zeit zur Verfügung stellen.«

Schweigen machte sich im Wagen breit, als beide Cops über das altbekannte Dilemma grübelten – wie sie ihren Job trotz eines ständig schrumpfenden Budgets erledigen konnten.

»Da fällt mir jemand ein …«, sagte Benno nach einer Weile zögernd in die Stille hinein.

»Schieß los.«

»Es gibt noch einen weiteren DI in Yeovil … Es ist der, dessen Schreibtisch du geerbt hast, um genau zu sein.«

Shanti hatte den Geist jenes Detectives gespürt, als sie ihren neuen Arbeitsplatz bezogen hatte. Die makellos aufgeräumte, saubere Schreibtischoberfläche – das genaue Gegenteil von Shanti Town. Die wohlgeordneten Akten und Schubladen, die mit obsessiver Sorgfalt ausgerichteten Arbeitsmaterialien. Was in ihren Augen weit über eine leichte Zwangsneurose hinausging. Sie dachte an die Post, die eine Zeitlang für ihn eingegangen war, adressiert an … Wie war noch gleich sein Name?

»Caine, nicht wahr? Detective Inspector Vincent Caine.«

»Obwohl … schlag dir das doch lieber aus dem Kopf, Chefin. Mir wird schon noch jemand anders einfallen.«

»Warum? Was ist er für ein Mensch, Benno?«

»Mal unter uns, Chefin: Ich mag den Mann, aber die meisten aus dem Team kamen nicht mit ihm klar. Vince ist ein seltsamer Mensch. Ein bisschen distanziert. Nicht interessiert an einem Glas Bier nach Feierabend. Zieht seine eigene Gesellschaft vor. Er mag gute Witze wie jeder andere auch, aber er wird ungehalten, sobald es darin um etwas Rassistisches, Homophobes oder Sexistisches geht, und genau damit hatten manche der Jungs hier ihre Schwierigkeiten. Er hat seine Zeit damit verbracht, schräge Bücher zu lesen – Buddhismus, Achtsamkeit und den ganzen Quatsch. Er konnte großartig mit jungen Menschen umgehen, hatte soweit ich weiß aber keine Familie oder Kinder. Nicht unbedingt der geborene Detective, könnte man meinen, allerdings …«

»Allerdings was, Benno?«

»Allerdings war er absolut brillant. Der beste DI, den ich je kennengelernt habe, und das waren einige. Er hatte eine etwas ungewöhnliche Herangehensweise – bedächtig, intuitiv und eher unkonventionell, so ganz und gar nicht nach Lehrbuch.« Er lächelte. »Vince hatte einen blöden Spitznamen …«

»Ja?«

»Die Kids in der Stadt nannten ihn den ›Veggie Cop‹.«