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Dies ist die Geschichte des kühnsten deutschen Kommandounternehmens im Zweiten Weltkrieg: der versuchten Entführung Churchills. Die perfekte Planung und der irrwitzige Ablauf, vor allem aber die meisterhafte Mischung aus authentischer Zeitgeschichte und dramatischer Darstellung reißen den Leser mit wie kein anderes Buch seiner Art. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 553
Veröffentlichungsjahr: 2016
Jack Higgins
Roman
Dies ist die Geschichte des kühnsten deutschen Kommandounternehmens im Zweiten Weltkrieg: der versuchten Entführung Churchills. Die perfekte Planung und der irrwitzige Ablauf, vor allem aber die meisterhafte Mischung aus authentischer Zeitgeschichte und dramatischer Darstellung reißen den Leser mit wie kein anderes Buch seiner Art.
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Jack Higgins ist eines der vielen Pseudonyme, unter denen der 1929 in Newcastle geborene Autor Harry Patterson Thriller veröffentlicht. Von seinen mehr als 60 Titeln wurden viele zu Bestsellern, teilweise mit Gesamtauflagen von über 5 Millionen verkauften Exemplaren. Mehrere seiner Bücher wurden verfilmt.
Jetzt ist das Schlachtfeld [...]
Punkt null Uhr morgens [...]
Ich stand in der [...]
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
[Bildteil]
Jetzt ist das Schlachtfeld ein Land aufrechtstehender Leichen; wer den Tod sucht, wird überleben; wer mit dem Leben davonzukommen hofft, wird sterben.
Wu Ch’i
Punkt null Uhr morgens am Sonnabend, dem 6. November 1943, ging bei Heinrich Himmler, Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, eine kurze Nachricht ein: Der Adler ist gelandet. Sie bedeutete, daß eine kleine Einsatzgruppe deutscher Fallschirmjäger zum selben Zeitpunkt sicher in England gelandet und nun auf dem Sprung war, den britischen Premierminister Winston Churchill aus dem Landhaus in Norfolk nahe der Küste zu entführen, wo er ein ruhiges Wochenende verbrachte. Ich habe versucht, die Ereignisse um jenes erstaunliche Unternehmen wieder aufleben zu lassen. Es besteht mindestens zu fünfzig Prozent aus historisch belegten Tatsachen. Der Leser möge selbst entscheiden, inwieweit der Rest erdacht oder erdichtet ist …
Jack Higgins
Ich stand in der katholischen Kirche von Studley Constable in Nord-Norfolk an der englischen Ostküste und bewunderte die prachtvolle gotische Architektur. Da hörte ich hinter mir Füße über die Steinplatten scharren, und eine kühle, energische Stimme sagte: «Kann ich Ihnen behilflich sein?»
Ich wandte mich um und sah einen Priester vor dem Zugang zur Kapelle stehen, einen großen, hageren Mann in verblichener, schwarzer Soutane. Das eisengraue Haar war kurz geschoren, und die Augen saßen tief in den Höhlen, als sei er erst kürzlich krank gewesen, ein Eindruck, den die straffgespannte Haut über den Wangenknochen noch verstärkte. Ein seltsames Gesicht.
«Pater Voreker?»
«Der bin ich.»
«Ich habe eben mit dem alten Mann draußen gesprochen, dem Totengräber. Er meinte, Sie könnten mir vielleicht helfen.» Ich streckte die Hand aus. «Mein Name ist Jack Higgins, Schriftsteller.»
Ehe er meine Hand ergriff, verging einige Zeit. Er wirkte auf mich ziemlich reserviert. «Und wie könnte ich Ihnen helfen, Mr. Higgins?»
«Ich schreibe über geschichtliche Themen. Gestern war ich drüben in St. Margaret, in Cley. Auf dem dortigen Friedhof gibt es eine Grabplatte. Sie kennen sie vielleicht? Für einen gewissen James Greeve …»
Er unterbrach mich sofort: «… der Sir Cloudesley Shovel half, die Schiffe im Hafen von Tripolis in der Barbarei zu verbrennen, am 14. Januar 1676. Aber diese Inschrift ist in der ganzen Gegend berühmt.»
«Nach meinen Ermittlungen hatte Greeve, als er Kapitän der Orange Tree war, einen Steuermann namens Charles Gascoigne, der später Kapitän in der Marine wurde. Er starb sechzehnhundertdreiundachtzig an einer alten Verwundung, und es scheint, daß Greeve ihn nach Cley bringen ließ, wo er dann begraben wurde.»
«Aha», sagte er höflich, aber ohne besonderes Interesse. Ja, es klang sogar eine Spur Ungeduld mit.
«Auf dem Friedhof von Cley ist aber keine Spur von Gascoigne zu finden, auch nicht in den Kirchenbüchern», sagte ich.
«Und jetzt glauben Sie, er könnte hier sein?»
«Er wurde als Junge katholisch erzogen, also kam ich auf die Idee, er könnte auch in seinem Glauben begraben worden sein. Und deshalb suche ich hier.»
«Leider ganz umsonst.» Der Geistliche stemmte sich hoch. «Ich bin jetzt seit achtundzwanzig Jahren hier in St. Mary und ich kann Ihnen versichern, daß ich nie auf irgendeine Erwähnung dieses Charles Gascoigne stieß.»
«Macht nichts», sagte ich. «Stört es Sie, wenn ich mich trotzdem ein bißchen auf dem Friedhof umsehe, nachdem ich nun schon mal hier bin?»
«Warum nicht? Wir haben ein paar interessante Steine. Ich möchte Ihnen besonders den Westteil empfehlen. Frühes achtzehntes Jahrhundert», sagte Pater Voreker.
Ich begann mit dem Westteil und nahm mir methodisch jeden einzelnen Grabstein vor. Sie waren wirklich sehenswert. Behauen und mit lebhaften und ziemlich kruden Reliefen von Knochen, Schädeln, Sanduhren und Erzengeln geschmückt. Interessant, aber für meine Suche eine völlig falsche Epoche.
Ich stand jetzt neben dem Grab, das der Totengräber vorhin frisch ausgehoben hatte und gestand mir meine Niederlage ein. Wegen des Regens war eine Zeltbahn über die Öffnung geworfen, und das eine Ende war in die Grube gerutscht. Ich bückte mich, um es wieder zurechtzuziehen, und als ich mich gerade wieder aufrichten wollte, sah ich etwas Sonderbares.
Ein, zwei Meter entfernt, am Fuß des Turms dicht an der Kirchenmauer, lag eine flache Grabplatte in einem grünen Grashügel. Am Kopfende sah man einen prachtvollen Totenschädel mit gekreuzten Knochen, darunter die Namen eines Wollhändlers, Jeremiah Fuller, seiner Frau und seiner zwei Kinder. In meiner Hockstellung aber sah ich außerdem, daß darunter noch eine zweite Platte lag.
Ich wurde von einer merkwürdigen Erregung gepackt. Ich kniete nieder, beugte mich über die Grabplatte und versuchte, mit den Fingern darunterzufassen, was sich als sehr schwierig erwies, aber dann, ganz plötzlich bewegte sich der Stein. Die Platte glitt zur Seite, rutschte über den Rand des Hügels, und dann kam die Enthüllung. Es war einer der erstaunlichsten Augenblicke meines Lebens, denn ich sah vor mir einen schlichten Stein mit einem deutschen Kreuz zu Häupten. Die Inschrift darunter war deutsch, aber meine mittelmäßigen Kenntnisse dieser Sprache reichten aus, sie zu entziffern.: «Hier ruhen Oberstleutnant Kurt Steiner und 13 deutsche Fallschirmjäger, gefallen am 6. November 1943.»
Ich kauerte im Regen, prüfte meine Übersetzung sorgfältig auf ihre Richtigkeit. Sie stimmte wirklich und ergab dennoch keinen Sinn. Erstens wußte ich zufällig, daß die Überreste der 4925 deutschen Krieger, die im Ersten und Zweiten Weltkrieg in Großbritannien als Kriegsgefangene gestorben waren, 1967 in den neu angelegten deutschen Soldatenfriedhof in Cannoch Chase in Staffordshire überführt worden sind.
Aber abgesehen davon, was in aller Welt hatten deutsche Fallschirmjäger 1943 in Norfolk zu suchen gehabt? «Gefallen», besagte die Inschrift. Nein, es war völlig absurd. Jemand mußte sich einen schlechten Scherz erlaubt haben. Es konnte gar nicht anders sein.
Alle weiteren Überlegungen zum Thema wurden mir durch einen scharfen, erbosten Ausruf abgeschnitten. «Was, zum Teufel, fällt Ihnen ein?»
Trotz der unkirchlichen Ausdrucksweise kam der Ruf von Pater Voreker, der mit aufgespanntem schwarzen Regenschirm zwischen den Grabsteinen herbeihumpelte.
Ich rief: «Das dürfte Sie interessieren, Pater. Ich habe einen tollen Fund gemacht.»
Als er näher kam, merkte ich, daß etwas nicht stimmte, denn sein Gesicht war weiß vor Erregung. «Wie können Sie es wagen, diesen Stein anzufassen. Sakrileg … Das ist das einzige Wort für Ihr Tun!»
«Schon gut», sagte ich. «Tut mir leid. Aber sehen Sie doch, was ich darunter entdeckt habe.»
«Ich geb’ den Teufel drum, was Sie darunter entdeckt haben! Schieben Sie ihn wieder an seinen Platz!»
Jetzt wurde ich wütend. «Seien Sie doch nicht albern. Begreifen Sie nicht, was hier steht? Wenn Sie nicht deutsch können, dann erlauben Sie, daß ich es Ihnen übersetze. Hier liegen die Leichen von Oberstleutnant Kurt Steiner und dreizehn deutschen Fallschirmjägern, gefallen am 6. November 1943. Finden Sie das denn nicht ausgesprochen sensationell?»
«Nicht besonders.»
«Wollen Sie sagen, Sie wissen es schon?»
«Nein, natürlich nicht.» Er wirkte jetzt alarmiert, eine Unruhe schwang in seiner Stimme, so als wolle er etwas verbergen. «Würden Sie bitte den alten Stein wieder an seinen Platz rücken?»
Ich insistierte: «Wer war er, dieser Steiner? Was war hier los?»
«Ich sagte Ihnen bereits, daß ich keine Ahnung habe», erwiderte er und wirkte noch nervöser.
Und dann fiel mir etwas ein. «Sie waren doch 1943 hier, nicht wahr? Auf der Tafel in der Kirche habe ich gelesen, daß Sie die Pfarrei damals übernommen haben.»
Jetzt wurde er barsch. «Zum letzten Mal: werden Sie jetzt diesen Stein wieder so hinlegen, wie Sie ihn fanden?»
«Nein», sagte ich. «Das kann ich leider nicht.»
Merkwürdig, aber er schien sich wieder einigermaßen in der Gewalt zu haben. «Wie Sie wollen», sagte er. «Dann darf ich Sie bitten, sich unverzüglich zu entfernen.»
Angesichts seiner Entschiedenheit schien jede weitere Debatte sinnlos, also sagte ich nur: «Gut, Pater, wenn Sie es so wünschen.»
Ich war auf dem Gräberweg angelangt, als er mir nachrief: «Und kommen Sie nicht wieder. Sonst werde ich auf der Stelle die Ortspolizei rufen.»
Ich ging durch das Tor, stieg in meinen Peugeot und fuhr ab. Seine Drohung kümmerte mich nicht. Ich war viel zu aufgeregt, viel zu fasziniert.
Ich hielt am Straßenrand neben dem Fluß, zündete mir eine Zigarette an und dachte in Ruhe über das Erlebte nach. Pater Voreker hatte nicht die Wahrheit gesagt, das lag offensichtlich auf der Hand. Er hatte den Grabstein schon früher gesehen, kannte seine Bedeutung, davon war ich überzeugt. Im Grunde war es ein Witz. Ich war nach Studley Constable gekommen auf der Suche nach Charles Gascoigne. Statt seiner hatte ich etwas viel Aufregenderes entdeckt. Ein echtes Rätsel, aber die Frage war: Was sollte ich unternehmen?
Die Lösung erschien fast im gleichen Moment in Gestalt des Totengräbers, den ich auf dem Kirchhof nach Pater Voreker gefragt hatte. Ich hielt an, stieg rasch aus dem Wagen und sprach ihn an: «Hallo, Sie wissen doch Bescheid, oder? Was steckt hinter diesem Grabstein …? Wer war Steiner …? Was ist damals hier passiert?»
Er grinste pfiffig und paffte eine Rauchwolke in den Regen. «Wieviel?»
Ich wußte sofort, was er meinte, wollte ihn aber noch eine Weile zappeln lassen. «Was meinen Sie mit: wieviel?»
«Wieviel’s Ihnen wert ist, was über Steiner zu erfahren.»
Er lehnte sich an den Wagen, blickte mich an und wartete. Ich zog meine Brieftasche, nahm einen Fünf-Pfund-Schein heraus und hielt ihn in die Höhe. Die Augen des Mannes, der, wie ich später erfuhr, Laker Armsby hieß, funkelten, und er griff danach. Ich zog die Hand zurück.
«O nein. Zuerst möchte ich ein paar Antworten.»
«Auch recht, Mister. Was möchten Sie wissen?»
«Dieser Kurt Steiner … wer war das?»
Er grinste, die Augen wurden wieder unstet, das schlaue verschlagene Lächeln erschien. «Ganz einfach», sagte er. «Das war der Deutsche, der mit seinen Leuten hergekommen ist, um Mr. Churchill zu erschießen.»
Ich war so verblüfft, daß ich einfach dastand und ihn anstarrte. Er schnappte sich den Fünfer aus meiner Hand, machte kehrt und trabte auf unsicheren Beinen davon.
Es gibt Dinge im Leben, die einen mit solcher Wucht treffen, daß man sie zunächst nicht zu fassen vermag. Der Verstand weigert sich, die Wirklichkeit zu begreifen, man verschafft sich eine Atempause, bis man in der Lage ist, zu reagieren.
In einem solchen Zustand befand ich mich nach der überraschenden Eröffnung des Totengräbers. Nicht, weil sie so unglaublich klang. Meine Lebenserfahrung hat mich gelehrt, daß man eine Sache nur als unmöglich zu bezeichnen braucht, damit sie mit ziemlicher Sicherheit eine Woche später wirklich passiert. Nein, sondern, weil das, was Armsby gesagt hatte – wenn es der Wahrheit entsprach –, von so ungeheuerlicher Tragweite war, daß mein Denken noch gar nicht mitkam. Immerhin begriff ich jetzt das merkwürdige Verhalten Pater Vorekers besser.
Ich eilte ins Hotel, packte meine Koffer, bezahlte die Rechnung und machte mich auf die Heimfahrt, zur ersten Atempause auf einer Reise, die sich über ein Jahr meines Lebens hinziehen sollte. Ein Jahr, das mich durch Hunderte von Akten, Dutzende von Interviews und um den halben Erdball jagte. Nach San Francisco, Singapur, Argentinien, Hamburg, Berlin, München, Warschau und Belfast. Jeder dieser Orte sollte einen weiteren Stein für dieses abenteuerliche Puzzle liefern, sollte mich zur Wahrheit führen und Aufschluß über die Zentralfigur des Rätsels geben, über Kurt Steiner.
Ausgelöst wurde das Ganze eigentlich durch einen Mann namens Otto Skorzeny, der am Sonntag, dem 12. September 1943, einen der verwegensten Handstreiche des Zweiten Weltkriegs erfolgreich durchgeführt hatte; was Adolf Hitler wieder einmal zu seiner großen Genugtuung bewies, daß er, wie gewöhnlich, recht gehabt hatte und das Oberkommando der Wehrmacht unrecht.
Kurz vorher hatte Hitler plötzlich wissen wollen, warum die deutsche Wehrmacht keine Sonderkommandos habe, wie sie sich bei den Engländern seit Kriegsbeginn so glänzend bewährten. Um ihn zufriedenzustellen, beschloß das Oberkommando, eine solche Truppe zu schaffen. Skorzeny, ein junger Leutnant der Waffen-SS, wegen einer Verwundung «garnisonsverwendungsfähig in der Heimat» geschrieben, saß damals müßig in Berlin herum. Er wurde zum Hauptmann befördert und mit der Leitung der deutschen Sondereinsätze betraut, was weiter nichts zu bedeuten hatte und somit ganz im Sinne des OKW war.
Doch zu dessen Leidwesen erwies Skorzeny sich als glänzender Soldat und wie geschaffen für die ihm übertragene Aufgabe, und die Ereignisse sollten ihm bald Gelegenheit geben, beides in spektakulärer Weise zu demonstrieren.
Am 3. September kapitulierte Italien, Mussolini wurde abgesetzt und Marschall Badoglio ließ ihn festnehmen und von der Bildfläche verschwinden. Hitler drängte darauf, daß sein ehemaliger Verbündeter aufgefunden und befreit werde. Es schien ein Ding der Unmöglichkeit, und sogar Erwin Rommel meinte dazu, er sehe keinen Vorteil in einem solchen Unternehmen und hoffe nur, daß es nicht ihm aufgehalst werde.
Das wurde es nicht, denn Hitler persönlich übertrug die Aufgabe Skorzeny, der sich mit Energie und Entschlossenheit daranmachte und bald herausfand, daß Mussolini im Sporthotel auf dem fast 3000 Meter hohen Gran Sasso in den Abruzzen gefangengehalten und von zweihundertfünfzig Mann bewacht wurde.
Skorzeny sprang mit fünfzig Fallschirmjägern aus mehreren Lastenseglern ab, stürmte das Hotel und befreite Mussolini, der in einem winzigen Fieseler Storch zunächst nach Rom und von dort über Wien und München mit einer Ju 52 zur Wolfsschanze geflogen wurde, in Hitlers Hauptquartier, das bei Rastenburg in einem düsteren, feuchten und dicht bewaldeten Teil Ostpreußens lag.
Diese Leistung brachte Skorzeny eine ganze Menge Orden einschließlich des Ritterkreuzes ein und eröffnete ihm eine Karriere, die ihn zu zahlreichen ähnlich kühnen Taten führen und noch bei Lebzeiten zu einer Legende machen sollte. Das Oberkommando der Wehrmacht, das, wie die Generalität fast aller Armeen, tiefes Mißtrauen gegen dergleichen irreguläre Methoden hegte, zeigte sich unbeeindruckt.
Nicht so der Führer. Er war außer sich vor Begeisterung, tanzte, wie er seit der Einnahme von Paris nicht mehr getanzt hatte, und in dieser Stimmung war er noch immer, als er am Abend des Mittwoch nach Mussolinis Ankunft in Rastenburg eine Lagebesprechung in der Konferenzbaracke einberief, um die Ereignisse in Italien und die künftige Rolle des Duce zu erörtern.
Das Kartenzimmer war mit seiner Holztäfelung an Wänden und Decke überraschend behaglich. Am einen Ende stand ein runder Tisch mit elf Binsenstühlen, in der Mitte des Tisches eine Vase mit Blumen. Das andere Ende des Raumes nahm der lange Kartentisch ein. Zu der kleinen Gruppe von Männern, die dort die Lage an der Italienfront besprachen, gehörten neben Mussolini auch Joseph Goebbels, Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda und Generalbevollmächtigter für den totalen Kriegseinsatz; ferner Reichsführer-SS Heinrich Himmler, Chef der deutschen Polizei und der Geheimen Staatspolizei, und Admiral Wilhelm Canaris, Chef des Militärischen Nachrichtendienstes, der «Abwehr».
Bei Hitlers Eintritt nahmen alle Haltung an. Er war in leutseliger Laune, die Augen funkelten, ein leichtes, starres Lächeln lag um seine Lippen.
Er trat auf Mussolini zu und schüttelte ihm herzlich die Hand, hielt sie mit beiden Händen fest. «Sie sehen heute abend besser aus, Duce. Entschieden besser.»
Für alle übrigen Anwesenden sah der italienische Diktator erschreckend aus. Müde und apathisch, kaum noch eine Spur des alten Feuers. Daß er tags zuvor die Neue Sozialistische Republik Italien proklamiert hatte, war nur auf Drängen Hitlers geschehen.
Er rang sich ein schwaches Lächeln ab, und der Führer klatschte in die Hände. «Nun, meine Herren, was soll unser nächster Schritt in Italien sein? Was hält die Zukunft bereit?» Er wandte sich an Himmler. «Was meinen Sie, Reichsführer?»
Himmler nahm den Kneifer ab und polierte umständlich die Gläser, während er antwortete: «Den totalen Sieg, mein Führer. Daß der Duce hier in unserer Mitte weilt, beweist hinlänglich, wie brillant Sie die Lage zu meistern wußten, nachdem dieser Verräter Badoglio einen Waffenstillstand unterzeichnete.»
Hitler nickte mit ernster Miene und wandte sich an Goebbels. «Und Sie?»
Goebbels’ dunkle Augen loderten vor Begeisterung. «Ich auch, mein Führer. Die Befreiung des Duce hat im Reich und im Ausland großes Aufsehen erregt. Freund und Feind sind der Bewunderung voll. Wir können einen gewaltigen moralischen Sieg für uns verbuchen, dank Ihrer alles überragenden Führung.»
«Jedenfalls nicht dank meiner Generale.» Hitler wandte sich an Canaris, der mit leicht ironischem Lächeln auf die Karte hinabblickte. «Und Sie, Herr Admiral? Finden Sie auch, daß wir einen gewaltigen moralischen Sieg errungen haben?»
Offenheit konnte Hitler gegenüber gefährlich oder lohnend sein, man wußte es nie. Daher ist Canaris kaum zu tadeln, wenn seine aufrichtige Antwort einen Ausbruch hervorrief.
«Mein Führer, die italienische Kriegsflotte liegt jetzt direkt unter den Geschützen der Festung Malta vor Anker. Wir mußten Korsika und Sardinien räumen, und es gehen Meldungen ein, wonach unsere früheren Alliierten sich bereits anschicken, auf der Gegenseite zu kämpfen.»
Hitler war bleich geworden, die Augen glitzerten, ein leichter Schweißfilm erschien auf seiner Stirn, aber Canaris fuhr fort: «Was die vom Duce proklamierte Neue Sozialistische Republik Italien angeht …», hier zuckte er die Achseln. «Bisher hat sich kein einziges neutrales Land, nicht einmal Spanien, zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen bereitgefunden. Und, so leid es mir tut, mein Führer, meiner Meinung nach wird dies auch nicht geschehen.»
«Ihre Meinung!» brach Hitler wütend los. «Ihre Meinung? Sie sind genauso übel wie meine Generale. Wenn ich auf die höre, was passiert dann? Fehlschläge auf der ganzen Linie.» Er trat zu Mussolini, der bestürzt schien, und legte ihm einen Arm um die Schultern. «Verdanken wir es dem Oberkommando, daß der Duce hier ist? Nein, er ist hier, weil ich auf der Schaffung einer Kommandoeinheit bestanden habe, weil meine Intuition mir sagte, daß es das einzig Richtige sei.»
Goebbels blickte besorgt, Himmler so ruhig und rätselhaft wie immer, aber Canaris gab nicht auf. «Ich bitte, das nicht als Kritik an Ihnen persönlich zu verstehen, mein Führer.»
Hitler war ans Fenster getreten und blickte hinaus, die Hände auf dem Rücken zu Fäusten geballt. «Ich habe einen Instinkt für derlei Dinge, und ich wußte, wie erfolgreich ein solches Unternehmen sein konnte. Eine Handvoll tapferer Männer, die das Letzte wagen.» Er wirbelte herum zu den Anwesenden. «Am neunten September führte Major Walter Gericke mit dem zweiten Bataillon des sechsten Fallschirmjägerregiments einen Angriff aus der Luft auf das Hauptquartier der italienischen Streitkräfte und nahm fast das gesamte Oberkommando und den Generalstab gefangen. Eine brillante und wagemutige Tat, die meine These beweist.»
«Ebenso wie das Gran-Sasso-Unternehmen, mein Führer», warf Goebbels ein.
«Ohne mich hätte es kein Gran-Sasso-Unternehmen gegeben, denn ohne mich hätte es keinen Skorzeny gegeben.» Hitler wurde ruhiger. «Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, Herr Admiral, aber schließlich, was haben Sie und Ihre Leute von der Abwehr in jüngster Zeit geleistet? Mir scheint, alles, was Sie können, ist Verräter hervorzubringen wie diesen Dohnanyi.»
Hans von Dohnanyi, der für die Abwehr gearbeitet hatte, war im April wegen Hochverrats verhaftet worden, zusammen mit seinem Schwager, Pastor Bonhoeffer, und Hans Müller.
Canaris war jetzt bleicher denn je, er hatte sich wirklich auf gefährlichen Boden begeben. Er sagte: «Mein Führer, ich hatte keineswegs die Absicht …»
Hitler ignorierte ihn und wandte sich Himmler zu. «Und Sie, Reichsführer, was meinen Sie?»
«Ich teile Ihre Auffassung vollständig, mein Führer», erwiderte Himmler. «Vollständig! Allerdings bin ich ein wenig voreingenommen. Skorzeny ist schließlich SS-Offizier. Andererseits hätte ich das Gran-Sasso-Unternehmen für eine Sache, gehalten, die den Brandenburgern auf den Leib geschrieben ist.»
Er bezog sich auf die «Division Brandenburg», eine Eliteeinheit, die bald nach Kriegsbeginn zur Übernahme von Sonderaufträgen aufgestellt worden war.
(Viele der Freiwilligen, die aus Abenteuerlust bei den Brandenburgern dienten, waren gebildete Leute und beherrschten mehrere Sprachen.) Befehligt wurden die Männer angeblich von der Abteilung II der Abwehr, die auf Sabotageaufgaben spezialisiert war. Trotz Canaris’ Bemühungen war diese Elitetruppe größtenteils hinter den russischen Linien in Blitzeinsätzen, die wenig einbrachten, aufgerieben worden.
«Genau», sagte Hitler. «Was haben Ihre kostbaren Brandenburger geleistet? Nichts, was der Rede wert wäre. Nachdem britische Fallschirmspringer im Februar 1942 die Radarstation in Bruneval erfolgreich überfallen und geheimes Gerät mitnehmen konnten, versprachen Sie mir, unsere Fallschirmjäger würden als Vergeltungsmaßnahme einen Überfall auf die Fernmelde-Forschungsanstalt in Swanage durchführen, und was passiert? Nichts!»
«Aber, mein Führer», sagte Canaris. «Die Briten erwarteten einen solchen Überfall. Daher verlegten sie das Forschungszentrum mit Sack und Pack nach Malvern weit im Landesinneren. Dort wäre ein Überfall unmöglich gewesen.»
«Ausreden», sagte der Führer. «Das ist alles, was Sie können.»
Er steigerte sich jetzt wieder in Zorn, und wie immer bei solchen Gelegenheiten schien er fähig, erstaunliche Fakten aus seinem fabelhaften Gedächtnis zu holen.
«Als diese Division Brandenburg aufgestellt wurde, nannte man sie Einsatzgruppe für militärische Sonderaufträge, und ich erinnere mich, gehört zu haben, daß ihr erster Kommandant, von Hippel, Ihnen sagte, wenn er mit den Jungens fertig sei, würden sie imstande sein, den Teufel aus der Hölle zu holen. Ein Witz, Herr Admiral! Denn, soweit ich mich entsinne, haben sie mir nicht einmal den Duce geholt. Dafür mußte ich selber sorgen.»
Seine Stimme war zum Crescendo angeschwollen, die Augen sprühten Feuer. «Nichts!» schrie er. «Nichts haben Sie mir geholt, und mit solchen Männern und solchen wunderbaren Hilfsmitteln hätten Sie imstande sein müssen, mir Churchill aus England zu holen, wenn ich es verlangt hätte.»
Es herrschte völliges Schweigen, während Hitler von einem Gesicht zum anderen blickte. «Etwa nicht?»
Mussolini sah gehetzt aus, Goebbels nickte eifrig. Aber Himmler goß Öl ins Feuer, indem er ruhig sagte: «Warum nicht, mein Führer? Möglich ist schließlich alles, auch ein Wunder, wie Sie bewiesen haben, indem Sie den Duce vom Gran Sasso herunterholten.»
«Ganz recht.» Hitler war jetzt wieder ruhig. «Eine wunderbare Gelegenheit, uns zu zeigen, was die Abwehr kann, Herr Admiral.»
Canaris war völlig perplex. «Mein Führer, verstehe ich recht, Sie meinen …?»
«Schließlich hat eine englische Kommandoeinheit Rommels Hauptquartier in Afrika angegriffen», sagte Hitler, «und ähnliche Gruppen überfielen mehrmals die französische Küste. Soll ich glauben, daß die deutschen Jungens weniger fähig sind?» Er klopfte Canaris auf die Schulter und sagte aufmunternd: «Halten Sie sich dran, Herr Admiral. Bringen Sie den Laden in Schwung. Ich bin absolut überzeugt, daß Ihnen etwas einfallen wird.» Wieder wandte er sich an Himmler: «Meinen Sie nicht auch, Reichsführer?»
«Gewiß», erwiderte Himmler ohne Zögern. «Zu allermindest eine Durchführbarkeits-Analyse kann die Abwehr sicherlich erstellen.»
Er lächelte leicht zu Canaris hinüber, der wie vom Donner gerührt da stand. Er befeuchtete sich die Lippen und sagte heiser: «Zu Befehl, mein Führer.»
Hitler legte ihm eine Hand auf die Schulter. «Gut. Ich wußte, daß ich mich auf Sie verlassen kann, wie immer.» Dann winkte er die Umstehenden mit einer ausholenden Bewegung heran und beugte sich über die Landkarte. «Und jetzt, meine Herren, die Lage in Italien.»
Canaris und Himmler kehrten noch in dieser Nacht mit einer Dornier nach Berlin zurück. Sie verließen Rastenburg zur gleichen Zeit, fuhren aber in zwei Wagen die vierzehn Kilometer bis zum Flugplatz. Canaris kam eine Viertelstunde zu spät, und als er schließlich die Dornier bestieg, war er nicht in bester Laune. Himmler saß bereits angeschnallt, und nach sekundenlangem Zögern setzte Canaris sich neben ihn.
«Panne?» fragte Himmler, als das Flugzeug die Piste entlangrumpelte und gegen den Wind manövrierte.
«Reifen geplatzt.» Canaris lehnte sich zurück. «Übrigens, vielen Dank. Sie waren eine große Hilfe da draußen.»
«Immer gern zu Diensten», erwiderte Himmler.
Die Maschine hatte jetzt abgehoben, die Motoren brummten stärker, als sie höher stiegen. «Mein Gott, heute abend war er aber wirklich in Fahrt», sagte Canaris. «Churchill holen. Haben Sie schon mal etwas so Verrücktes gehört?»
«Nachdem Skorzeny ihm Mussolini vom Gran Sasso geholt hat, wird die Welt nie wieder sein wie vorher. Der Führer glaubt jetzt an Wunder, und das wird Ihnen und mir das Leben zunehmend schwerer machen, Herr Admiral.»
«Mussolini war eine tolle Sache», sagte Canaris. «Aber, ohne Skorzenys Meisterleistung im geringsten schmälern zu wollen, Winston Churchill würde noch eine ganz andere Sache sein.»
«Ach, ich weiß nicht», sagte Himmler. «Ich habe die Wochenschauen des Gegners gesehen, wie Sie auch. Heute in London, morgen in Manchester oder Leeds. Er wandert durch die Straßen mit dieser Zigarre im Mund und redet mit den Leuten. Ich würde sagen, von allen großen Führern auf der Welt ist er wahrscheinlich am wenigsten abgeschirmt.»
«Wer’s glaubt …», sagte Canaris mürrisch. «Die Engländer mögen alles sein, aber Narren sind sie nicht. Military Intelligence fünf und sechs beschäftigt Scharen junger Männer, die Oxford oder Cambridge besucht haben und einem ohne lange Vorrede eine Kugel in den Bauch jagen. Und nehmen Sie mal den Alten selber. Trägt wahrscheinlich eine Pistole in der Rocktasche, und ich wette, er ist noch immer ein Meisterschütze.»
Eine Ordonnanz brachte ihnen Kaffee. Himmler sagte: «Sie beabsichtigen also nicht, die Sache voranzutreiben?»
«Sie wissen genausogut wie ich, was passieren wird», erwiderte Canaris. «Heute ist Mittwoch. Bis Freitag hat er die Schnapsidee vergessen.»
Himmler nickte hinterhältig und trank einen Schluck Kaffee. «Ja, vermutlich haben Sie recht.»
Canaris stand auf. «Würden Sie mich jetzt bitte entschuldigen. Ich glaube, ich schlafe ein Weilchen.»
Er setzte sich auf einen anderen Platz, wickelte sich in eine bereitliegende Decke und machte es sich für den dreistündigen Flug so bequem wie möglich. Als er einen Blick hinüber zu Himmler warf, war ihm, als starre der Reichsführer ihn an, bis er feststellte, daß dessen Augen geschlossen waren und sich nur das Licht der abgeblendeten Lampe im silbernen Kneifer spiegelte. Wie immer fühlte Canaris sich bei Himmlers Anblick unbehaglich, und nicht ohne Grund.
Wilhelm Canaris war ein schlauer alter Fuchs. Sein Element war die Intrige, das Spiel um des Spiels willen, woraus sich seine lebenslange Tätigkeit im Geheimdienst erklärte. Blutvergießen hingegen verabscheute er, übrigens die einzige Eigenschaft, die er mit Himmler gemeinsam hatte, dem es bei der Besichtigung eines seiner Vernichtungslager einmal sehr übel geworden war.
Canaris war traditionsgemäß rechts orientiert, liebte sein Vaterland leidenschaftlich und sah in Hitler einen ordinären Zerstörer. In Wahrheit hatte er – und darin bestand sein großes und gefährliches Geheimnis – seit seiner Ernennung zum Chef der Abwehr im Jahr 1935 an der Herbeiführung von Hitlers Sturz gearbeitet. Er war immer mit äußerster Vorsicht zu Werk gegangen, hatte sich jedoch am Rande an mehreren Verschwörungen beteiligt, die einen radikalen Umschwung zum Ziel gehabt hatten und allesamt gescheitert waren.
Jetzt zog das Netz sich enger zusammen. Von Dohnanyi, Pastor Bonhoeffer und Müller waren im April verhaftet worden, und obwohl Canaris sich jeder direkten Teilnahme stets sorgfältig ferngehalten hatte, konnte man nie sicher sein, was jemand in den Kellern der Prinz-Albrecht-Straße unter den Händen der Gestapo auspacken würde.
Mein Gott, wie er sie haßte! Ihre albernen Uniformen, ihren ordinären Klimbim, ihren pathologischen Sadismus. Daß wegen einer solchen Handvoll Schweine ein großes Volk so tief sinken konnte, war für ihn immer wieder unfaßbar. Er gähnte erschöpft. Na ja, bis jetzt hatte er die Meute stets abschütteln können, und noch verfügte er über ein paar Tricks, an denen selbst Reichsführer Heinrich Himmler sich die Zähne ausbeißen würde. Er gähnte wieder, schloß die Augen und schlief ein.
Von drüben beobachtete ihn Himmler mit kalten, starren Augen. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos. Ein Toter hätte auf seinem Sessel liegen können, wenn nicht ein Muskel in der rechten Wange unablässig gezuckt hätte.
Als Canaris das Gebäude der Abwehr am Tirpitz-Ufer 74–76 betrat, war es fast schon hell. Der Fahrer, der ihn in. Tempelhof abholte, hatte die beiden Lieblingsdackel des Admirals mitgebracht, und als Canaris ausstieg, tollten sie hinter ihm her, während er strammen Schritts die Wachen passierte.
Er ging direkt in sein Büro hinauf, zog unterwegs seinen Marinemantel aus und gab ihn der Ordonnanz, die ihm die Tür aufhielt. «Kaffee», befahl der Admiral. «Literweise Kaffee.» Der Mann wollte bereits die Tür hinter sich schließen, als Canaris ihn zurückrief. «Ist Oberst Radl im Haus?»
«Ich glaube, er hat heute in seinem Büro übernachtet, Herr Admiral.»
«Schön, sagen Sie ihm, ich möchte ihn sprechen.»
Die Tür schloß sich. Er war allein und plötzlich sehr müde, als er sich in den Schreibtischsessel sinken ließ. Canaris pflegte einen schlichten Stil. Das Büro war altmodisch und relativ karg möbliert, der Teppich abgetreten. An der Wand hing ein Porträt Francos mit Widmung. Auf dem Schreibtisch stand ein marmorner Briefbeschwerer mit drei Bronzeaffen darauf, die nichts Böses sahen, hörten oder sprachen.
Er atmete tief, um sich wieder in den Griff zu bekommen. Schwachheiten konnte er sich nicht leisten, denn er bewegte sich auf schmalem Grat in dieser durchgedrehten Welt. Es gab Dinge, von denen er vermutete, daß nicht einmal er sie wissen sollte. Zum Beispiel vor ein paar Monaten der Versuch zweier höherer Offiziere, Hitlers Maschine auf dem Flug von Smolensk nach Rastenburg in die Luft zu sprengen. Dazu kam die ständige Ungewißheit, was passieren mochte, wenn von Dohnanyi und seine Freunde zusammenbrechen und aussagen würden.
Die Ordonnanz erschien mit einem Tablett, darauf eine Kaffeekanne, zwei Tassen und ein Kännchen echte Sahne, inzwischen in Berlin eine Rarität. «Stellen Sie es ab», sagte Canaris. «Ich bediene mich selbst.»
Die Ordonnanz zog sich zurück, und als Canaris den Kaffee eingoß, wurde an die Tür geklopft. Der Mann, der das Büro betrat, hätte geradewegs von einer Truppenparade kommen können, so tadellos war seine Uniform. Oberst der Gebirgsjäger, mit dem Orden für den Winterkrieg und dem Verwundetenabzeichen in Silber ausgezeichnet und mit einem Ritterkreuz am Hals. Sogar die Klappe auf seinem rechten Auge wirkte vorschriftsmäßig, desgleichen der schwarze Lederhandschuh an seiner linken Hand.
«Ah, da sind Sie ja, Radl», sagte Canaris. «Trinken Sie eine Tasse Kaffee mit, und machen Sie wieder einen normalen Menschen aus mir. Wenn ich von Rastenburg komme, habe ich immer mehr das Gefühl, ich brauchte einen Wärter … ich oder jemand anderer.»
Max Radl war dreißig und sah, je nach Tag und Wetter, zehn bis fünfzehn Jahre älter aus. Er hatte im Winterkrieg 1941 das rechte Auge und die linke Hand verloren und arbeitete seit seiner Abstellung in die Heimat für Canaris. Er war jetzt Chef von Amt III, einer Dienststelle der Z-Abteilung, der Abwehrzentrale, das dem Admiral direkt unterstand. Amt III war für besonders schwierige Aufgaben zuständig und daher war Radl ermächtigt, seine Nase in jede beliebige andere Abwehrabteilung zu stecken, ein Privileg, das ihn bei seinen Kollegen alles andere als beliebt machte.
«War es so schlimm?»
«Schlimmer», erwiderte Canaris. «Mussolini wirkte wie ein wandelnder Automat, Goebbels hüpfte wie immer von einem Fuß auf den anderen wie ein zehnjähriger Schuljunge, der dringend aufs Klo muß.»
Radl blinzelte, denn er fühlte sich stets ausgesprochen unbehaglich, wenn der Admiral so von diesen mächtigen Persönlichkeiten sprach. Obwohl die Büros täglich nach Mikrophonen abgesucht wurden, konnte man nie wirklich sicher sein.
Canaris fuhr fort: «Himmler so herzerfrischend leichenhaft wie eh und je, und der Führer …»
Radl unterbrach hastig: «Noch eine Tasse Kaffee, Herr Admiral?»
Canaris setzte sich wieder. «Redete von nichts anderem als vom Gran Sasso. Was das Ganze für ein verdammtes Wunder sei und warum die Abwehr nicht etwas ähnlich Spektakuläres fertigbringe.»
Er sprang auf, trat ans Fenster und lugte durch die Vorhänge in den grauen Morgen hinaus. «Wissen Sie, was er uns vorschlägt, Radl? Wir sollen ihm Churchill holen.»
Radl fuhr jäh auf. «Du lieber Gott, das kann er doch nicht ernst meinen?»
«Wer weiß? Heute ja, morgen nein. Er hat nicht ausdrücklich gesagt, ob er ihn lebend oder tot haben möchte. Diese Sache mit Mussolini ist ihm zu Kopf gestiegen. Jetzt scheint er rein alles für möglich zu halten. Den Teufel aus der Hölle holen, wenn’s sein muß, so hat er sich emphatisch ausgedrückt.»
«Und die anderen? Wie haben sie es aufgenommen?» fragte Radl.
«Goebbels blieb beflissen wie immer, der Duce wirkte bestürzt. Himmler war der gefährliche Mann. Gab dem Führer in allem recht. Sagte, wir könnten uns zumindest einmal mit dem Plan befassen. Eine Durchführbarkeits-Analyse aufstellen, so drückte er sich aus.»
«Verstehe, Herr Admiral.» Radl zögerte. «Glauben Sie, es ist dem Führer ernst damit?»
«Natürlich nicht.» Canaris ging zu dem Feldbett in der Ecke, schlug die Decken zurück, setzte sich und begann, seine Schuhbänder zu lösen. «Er hat es bereits vergessen, ich weiß, wie er in solchen Momenten ist. Redet allen möglichen Unsinn daher.» Er legte sich auf das Feldbett und deckte sich zu. «Nein, ich würde sagen, der Haken liegt bei Himmler. Er will mich zur Strecke bringen. Er wird ihn eines schönen Tages, wenn’s ihm in den Kram paßt, an den ganzen Quatsch erinnern, und wäre es nur, damit ich als Befehlsverweigerer dastehe.»
«Was soll ich also tun?»
«Genau das, was Himmler vorschlug. Eine Durchführbarkeits-Analyse ausarbeiten. Einen schönen, ausführlichen Bericht, der so aussieht, als würden wir uns wirklich hineinknien. Zum Beispiel: Churchill ist im Augenblick in Kanada, ja? Reist vermutlich per Schiff zurück. Sie können es so darstellen, als hätten Sie ernsthaft erwogen, zum entsprechenden Zeitpunkt und an der entsprechenden Stelle ein U-Boot einzusetzen. Schließlich geschehen, wie unser Führer mir persönlich vor noch nicht ganz sechs Stunden versicherte, noch immer Wunder, wenn auch nur unter der richtigen göttlichen Eingebung. Krogel soll mich in eineinhalb Stunden wecken.»
Er zog die Decke über den Kopf, Radl knipste das Licht aus und ging. Er war alles andere als glücklich, als er sich wieder in sein Büro begab, und nicht nur wegen der lächerlichen Aufgabe, die Canaris ihm zugeteilt hatte. So etwas gehörte zur Routine. Radl selber bezeichnete das Amt III häufig als die «Abteilung für höheren Blödsinn».
Nein, was ihm Sorgen machte, war die Art, wie Canaris sprach, und da Radl zu den Leuten gehörte, die sich selber gegenüber gern ehrlich sind, gestand er sich ein, daß es ihm nicht nur um den Admiral ging. Er dachte auch an sich und an seine Familie.
Theoretisch hatte die Gestapo keine Gerichtshoheit über Männer in Wehrmachtsuniform. Aber Radl hatte schon zu viele Kameraden einfach von der Erdoberfläche verschwinden sehen, um das zu glauben. Der teuflische «Nacht-und-Nebel-Erlaß», aufgrund dessen eine große Zahl Unglücklicher buchstäblich vom nächtlichen Dunkel verschlungen wurde, fand angeblich nur auf Einwohner besetzter Gebiete Anwendung. Radl wußte indes sehr wohl, daß sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt über fünfzigtausend nichtjüdische deutsche Staatsbürger in Konzentrationslagern befanden. Seit 1933 waren insgesamt fast zweihunderttausend dort gestorben.
Als er sein Büro betrat, sichtete Stabsfeldwebel Hofer, sein Adjutant, gerade die soeben eingetroffene Nachtpost. Hofer war ein stiller, dunkelhaariger Mann, achtundvierzig, Gastwirt aus dem Harz, ein erstklassiger Skiläufer, der sein Geburtsdatum gefälscht hatte, um noch eingezogen zu werden. Er hatte unter Radl in Rußland gekämpft.
Radl setzte sich an den Schreibtisch und blickte düster auf das Foto seiner Frau und der drei Töchter, die in den bayerischen Bergen in Sicherheit waren. Hofer, der die Zeichen kannte, gab ihm eine Zigarette und ein kleines Glas Cognac aus einer Flasche Courvoisier, die in der untersten Schreibtischlade verwahrt war.
«So schlimm, Herr Oberst?»
«So schlimm, Hofer», antwortete Radl. Dann kippte er seinen Cognac und brachte es ihm schonend bei.
Und damit hätte die Sache ihr Bewenden haben können, wäre nicht ein seltsamer Zufall passiert. Am Morgen des 22. September, genau eine Woche nach seinem Gespräch mit Canaris, saß Radl am Schreibtisch und mühte sich durch den Stapel von Papieren, die sich während seiner dreitägigen Stippvisite in Paris angesammelt hatten.
Er war nicht in bester Stimmung, und als die Tür aufging und Hofer eintrat, blickte er stirnrunzelnd auf und sagte ungehalten: «Herrgott, Hofer, ich wollte doch in Ruhe gelassen werden. Was ist denn schon wieder?»
«Verzeihung, Herr Oberst. Soeben wurde mir ein Bericht vorgelegt, der Sie interessieren könnte.»
«Woher kommt der Bericht?»
«Von Abwehr Eins.»
Also von der Abteilung für militärische Spionage im Ausland; und Radls Neugier regte sich, wenn auch nur zögernd. Hofer stand abwartend da, den Umschlag an sich gedrückt, und Radl legte seufzend die Feder nieder. «Na schön, legen Sie los.»
Hofer öffnete das Kuvert. «Es ist der jüngste Bericht eines Agenten in England. Deckname Star.»
Radl warf einen Blick auf die erste Seite, während er nach einer Zigarette griff. «Mrs. Joanna Grey also.»
«Sie sitzt in Nord-Norfolk, an der Küste, Herr Oberst. In einem Dorf namens Studley Constable.»
«Aber natürlich!» sagte Radl mit erwachender Begeisterung. «Ist sie nicht die Frau, die uns die Einzelheiten über die Oboe-Installation geliefert hat[*]?» Er ging kurz die ersten Seiten durch und runzelte die Stirn. «Ein ganzer Schwung. Wie kriegt sie das nur rüber?»
«Sie hat einen ausgezeichneten Kontakt bei der spanischen Botschaft. Ihre Lieferungen kommen per Diplomatengepäck. Besser als die Post. Durchschnittliche Zustellungszeit drei Tage.»
«Bemerkenswert», sagte Radl. «Wie oft berichtet sie?»
«Einmal im Monat. Sie hat auch Funkverbindung, benutzt sie aber selten, obwohl sie wie üblich dreimal pro Woche eine Stunde lang auf Empfang ist, für den Fall, daß sie benötigt wird. Ihr Verbindungsmann bei uns ist Hauptmann Meyer.»
«In Ordnung, Hof er», sagte Radl. «Holen Sie mir Kaffee, ich lese den Bericht.»
«Den interessantesten Abschnitt habe ich rot angestrichen, Herr Oberst, auf Seite drei. Ich habe auch eine britische Generalstabskarte der Gegend beigelegt», sagte Hofer und ging.
Der Bericht war vorzüglich abgefaßt, gescheit und voll brauchbarer Informationen. Allgemeine Beschreibung der Lage in der betreffenden Gegend, Verlegung zweier neuer amerikanischer B 17-Geschwader südlich der Bucht Wash, eines B 24-Geschwaders bei Sheringham. Lauter gutes und verwertbares Material, wenn auch nichts Aufregendes. Und dann kam er zu Seite drei und dem kurzen, rot angestrichenen Absatz, und sein Magen zog sich vor nervöser Erregung zusammen.
Eine einfache Geschichte. Der britische Premierminister Winston Churchill sollte am Vormittag des Sonnabend, 6. November, eine Bomber-Basis der Royal Air Force in der Nähe der Bucht Wash besichtigen. Anschließend war der Besuch einer Fabrik bei King’s Lynn und eine kurze Rede vor den Arbeitern vorgesehen.
Dann kam der interessante Teil. Churchill würde nicht sofort nach London zurückkehren, sondern das Wochenende auf der Besitzung Sir Henry Willoughbys in Studley Grange verbringen, nur fünf Meilen vom Dorf Studley Constable entfernt. Ein reiner Privatbesuch, die Einzelheiten vermutlich streng geheim. Im Dorf wußte bestimmt keine Seele von diesem Plan, aber Sir Henry, hoher Marineoffizier a.D., hatte offenbar der Versuchung nicht widerstehen können, sich Joanna Grey anzuvertrauen, mit der er, wie es schien, eng befreundet war.
Radl saß da und starrte nachdenklich auf den Bericht, dann nahm er die von Hofer beigelegte Generalstabskarte heraus und entfaltete sie. Die Tür ging auf, und Hofer erschien mit dem Kaffee. Er stellte das Tablett auf den Tisch, goß eine Tasse ein und blieb mit unbewegter Miene wartend stehen.
Radl blickte auf. «Los, Sie Teufelssohn, zeigen Sie mir, wo der Ort ist. Ich nehme an, Sie wissen es.»
«Selbstverständlich, Herr Oberst.» Hofer legte einen Finger auf die Bucht Wash und fuhr südwärts an der Küste entlang. «Studley Constable, und hier an der Küste liegen Blakeney und Cley. Die drei Orte bilden ein Dreieck. Ich habe in Mrs. Greys Bericht von vor dem Krieg nachgesehen. Eine einsame Gegend, sehr ländlich. Ein langer, breiter Küstenstreifen und Salzsümpfe.»
Radl brütete eine Weile über der Karte und faßte dann einen Entschluß. «Schicken Sie mir Hauptmann Meyer. Ich möchte ihn sprechen, aber sagen Sie ihm nicht einmal andeutungsweise, worum es geht.»
«Jawohl, Herr Oberst.»
Hofer ging zur Tür. «Und noch etwas, Hofer», fügte Radl hinzu, «ich brauche jeden Bericht, den sie jemals geschickt hat. Alles, was wir über die ganze Gegend hier haben.»
Die Tür schloß sich, und plötzlich schien es im Zimmer sehr still zu sein. Radl griff nach einer seiner Zigaretten.
Er trat ans Fenster und empfand eine seltsame Leere. Letzten Endes war alles eine Farce. Der Führer, Himmler, Canaris – wie Figuren eines Schattenspiels. Nichts Greifbares, nichts Reales, und dazu noch diese alberne Geschichte – dieser Churchill-Quatsch. Während die Männer an der Ostfront zu Tausenden fielen, mußte er sich die Zeit mit blödsinnigen Spielchen vertreiben, bei denen doch nichts herauskommen konnte.
Er kam sich erbärmlich und nutzlos vor. Ein Klopfen an der Tür riß ihn aus seinen trüben Gedanken. Der Mann, der ins Zimmer trat, war mittelgroß und trug einen Tweedanzug. Das graue Haar war unordentlich, und eine Hornbrille verbarg seine Augen.
«Da sind Sie ja, Meyer. Freut mich», sagte Radl.
Hans Meyer war damals fünfzig. Im Ersten Weltkrieg war er U-Bootkommandant gewesen, einer der jüngsten in der deutschen Marine. Seit 1922 arbeitete er beim Geheimdienst und war beträchtlich schärfer, als er aussah.
«Herr Oberst», sagte er förmlich.
«Setzen Sie sich, Meyer, setzen Sie sich.» Radl wies auf einen Stuhl. «Ich lese gerade den jüngsten Bericht eines Ihrer Agenten. Deckname Star. Hochinteressant.»
«Ach ja.» Meyer nahm die Brille ab und putzte sie mit einem schmuddeligen Taschentuch. «Joanna Grey. Eine bemerkenswerte Frau.»
«Erzählen Sie mir von ihr.»
Meyer überlegte. «Was möchten Sie wissen, Herr Oberst?»
«Alles!» sagte Radl.
Meyer zögerte noch eine Weile, am liebsten hätte er gefragt: «Warum?» Aber er beherrschte sich. Er setzte die Brille wieder auf und berichtete.
Joanna Grey, geborene Van Oosten, war im März 1875 in der kleinen Stadt Vierskop im Oranjefreistaat zur Welt gekommen. Ihr Vater war Farmer und Prediger der Holländischen Reformierten Kirche und hatte als Zehnjähriger den Großen Treck der Buren mitgemacht, die zwischen 1836 und 1838 aus der Kapkolonie in das Neuland nördlich des Oranjeflusses gezogen waren, um der britischen Herrschaft zu entrinnen.
Joanna hatte mit zwanzig Jahren einen Farmer namens Dirk Jansen geheiratet. Ihre Tochter kam 1898 zur Welt, ein Jahr vor dem Ausbruch der Feindseligkeiten mit den Briten, dem sogenannten Burenkrieg.
Van Oosten stellte eine berittene Truppe auf und fiel im Mai 1900 bei Bloemfontein. Noch im gleichen Monat ging der Krieg theoretisch zu Ende, doch die folgenden zwei Jahre sollten die tragischste Epoche des ganzen Konflikts werden, ein erbitterter Kleinkrieg zahlreicher Partisanengruppen, die auf abgelegenen Farmen Unterschlupf und Hilfe suchen mußten.
Auch Dirk Jansen focht, wie so viele seiner Landsleute, in einer solchen Gruppe. Als am 11. Juni 1901 eine britische Patrouille auf der Suche nach ihm bei den Jansens Hausdurchsuchung hielt, war Dirk bereits seit zwei Monaten tot. Er war, ohne daß seine Frau es erfahren hatte, in einem Gebirgslager seinen Verwundungen erlegen. Nur Joanna, ihre Mutter und das Kind waren im Haus. Sie hatte sich geweigert, auf die Fragen des Captain zu antworten, und war in der Scheune einem verschärften Verhör unterzogen und dabei zweimal vergewaltigt worden.
Ihre Beschwerde beim Distriktskommandanten wurde abgewiesen. Die Briten waren bereits dazu übergegangen, im Kampf gegen die Partisanen Farmen niederzubrennen, ganze Landstriche zu entvölkern und die Bewohner in die berüchtigten Konzentrationslager zu stecken.
Die Lager wurden miserabel verwaltet. Seuchen brachen aus und rafften in vierzehn Monaten über zwanzigtausend Menschen dahin, unter ihnen Joanna Jansens Mutter und das Kind. Sie selbst überlebte nur dank der aufopfernden Pflege eines englischen Arztes namens Charles Grey, der in das Lager geschickt worden war, nachdem dessen skandalöser Zustand in England bekannt geworden war und öffentliche Entrüstung ausgelöst hatte.
Ihr Haß auf die Briten nahm pathologische Formen an, brannte sich ihr unauslöschlich ein. Dennoch nahm sie Charles Greys Antrag an und heiratete ihn. Sie war damals achtundzwanzig, hatte Mann, Kind und alle Angehörigen verloren und besaß keinen Penny.
Kein Zweifel, Grey liebte Joanna aufrichtig. Er war fünfzehn Jahre älter als sie, zuvorkommend, freundlich und anspruchslos. Mit den Jahren entwickelte sie ihm gegenüber eine gewisse Zuneigung, empfand jedoch stets auch ein Gefühl der Gereiztheit und Ungeduld wie mit einem schwierigen Kind.
Er ließ sich von einer Londoner Bibelgesellschaft als Missionsarzt anstellen und arbeitete jahrelang in Rhodesien, Kenia und schließlich bei den Zulus. Joanna konnte seine Sorge um diese Kaffern, wie sie sagte, nie verstehen, aber sie schickte sich darein genau wie in den stumpfsinnigen Schulunterricht, den sie für die Schützlinge ihres Mannes abhalten mußte.
Im März 1925 erlitt Grey einen tödlichen Schlaganfall, und nach Ordnung seiner Hinterlassenschaft stand Joanna als Fünfzigjährige mit einem Vermögen von rund 150 englischen Pfund wiederum allein auf der Welt. Ein weiterer schwerer Schicksalsschlag, aber sie gab nicht auf. Sie ging als Erzieherin zu einer britischen Beamtenfamilie nach Kapstadt.
Während dieser Zeit begann sie, sich für die Unabhängigkeitsbestrebungen der Buren zu interessieren. Sie besuchte die regelmäßigen Versammlungen einer der radikalen Organisationen, die Südafrika aus dem britischen Empire lösen wollten. Bei einer solchen Veranstaltung lernte sie den deutschen Ingenieur Hans Meyer kennen; er war zehn Jahre jünger als sie. Es kam zu einer kurzen Romanze, der einzigen echten physischen Zuneigung, die Joanna seit ihrer ersten Ehe erlebt hatte.
Meyer war in Wahrheit als Agent des deutschen Marine-Geheimdienstes in Kapstadt und hatte den Auftrag, Informationen über Flotteneinrichtungen in Südafrika zu sammeln. Joanna Greys Arbeitgeber war beim britischen Flottenkommando beschäftigt, und sie konnte ohne großes Risiko aus dem Safe des Privathauses gewisse interessante Dokumente entnehmen, sie Hans Meyer zum Kopieren überlassen und wieder an Ort und Stelle zurücklegen.
Schon aus Liebe zu Meyer tat sie es gern. Aber es gab noch einen tieferen Grund. Zum erstenmal konnte sie den Engländern eins auswischen, eine Art Vergeltung üben für das, was sie ihr angetan hatten.
Meyer kehrte nach Deutschland zurück, schrieb ihr aber regelmäßig. Dann, im Depressionsjahr 1929, als für die meisten Leute die Welt in Scherben fiel, hatte Joanna Grey zum erstenmal im Leben Glück.
Sie erhielt ein Schreiben einer Anwaltsfirma in Norwich: Eine Tante ihres verstorbenen Mannes habe ihr ein Häuschen am Rand des Dorfes Studley Constable in Nord-Norfolk und eine Jahresrente von etwas über viertausend Pfund vermacht. Die Sache hatte nur einen Haken: Die alte Dame hatte das Haus sehr geliebt und in ihrem Testament ausdrücklich verfügt, daß Joanna Grey es zu ihrem ständigen Wohnsitz machen müsse.
In England leben. Beim bloßen Gedanken sträubte sich alles in ihr, aber wie sah die Alternative aus? Ein Sklavendasein als Hauslehrerin und die Aussicht auf bittere Armut im Alter. Sie besorgte sich ein Buch über Norfolk und las es sehr genau. Besonders das Kapitel über das nördliche Küstengebiet.
Die Ortsnamen waren ihr spanische Dörfer. Stiffkey, Morston, Blakeney, Cley-next-the-Sea. Salzmarschen, Geröllstrände. Sie konnte sich kein Bild machen, also schrieb sie an Hans Meyer um Rat. Meyer schrieb postwendend zurück, sie solle unbedingt hinziehen, er werde sie so bald wie möglich dort besuchen.
Es war die glücklichste Entscheidung ihres Lebens. Das Häuschen erwies sich als reizendes georgianisches Haus mit fünf Schlafzimmern und stand in einem ummauerten Garten von einem halben Tagwerk. Norfolk, damals noch die ländlichste Grafschaft Englands, hatte sich seit dem 19. Jahrhundert kaum verändert, und Joanna konnte in einem Dorf wie Studley Constable als wohlhabende Frau und angesehene Persönlichkeit gelten. Und noch etwas kam hinzu: Sie verliebte sich in ihre neue Umgebung, in die Salzmarschen und die Geröllstrände, und war so glücklich wie noch nie.
Meyer verbrachte den Herbst des gleichen Jahres in England und besuchte sie mehrmals. Die beiden machten lange Spaziergänge. Joanna zeigte ihm alles: die Strände, die sich ins Unendliche hinzogen, die Salzmarschen, die Dünen von Blakeney Point. Kein einziges Mal erwähnte er ihre Zusammenarbeit in Kapstadt, kein einziges Mal fragte sie nach seiner gegenwärtigen Tätigkeit.
Sie korrespondierten weiterhin, und 1935 besuchte sie ihn in Berlin. Er zeigte ihr, was der Nationalsozialismus in Deutschland geschaffen hatte. Sie war geblendet von allem, was sie sah. Von den Riesenaufmärschen, der Fülle von Uniformen, den strammen jungen Männern, den lachenden, glücklichen Frauen und Kindern. Auch sie fand, daß dies die neue Ordnung sei, das einzig Richtige.
Als die beiden eines Nachts auf der Allee Unter den Linden nach Hause spazierten, nachdem sie in der Oper gewesen waren und den Führer persönlich in seiner Loge gesehen hatten, eröffnete Meyer ihr in aller Ruhe, daß er jetzt bei der Abwehr sei und fragte sie, ob sie für seine Dienststelle als Agentin in England arbeiten würde.
Sie sagte ohne langes Zögern zu, denn der Gedanke erfüllte sie mit einer Erregung, die sie noch nie empfunden hatte. Und so wurde sie mit sechzig Jahren Agentin, sie, die typische englische Lady, als die sie in ihrer Umgebung galt, mit ihrem freundlichen Gesicht, ihrer Vorliebe für ausgedehnte Wanderungen in Tweedrock und Pullover, ihren schwarzen Stöberhund auf den Fersen. Eine reizende weißhaarige Dame, die in einem kleinen Gelaß hinter der Wandvertäfelung ihres Schreibzimmers ein Funkgerät versteckt hatte und an der spanischen Botschaft über einen Kontaktmann verfügte, der alle sperrigen Sendungen in seinem Diplomatengepäck nach Madrid schaffte, von wo aus sie an den deutschen Geheimdienst weitergeleitet wurden.
Sie lieferte gutes Material. Da sie beim Women’s Voluntary Service, dem freiwilligen weiblichen Hilfskorps, diente, hatte sie Zugang zu vielen militärischen Einrichtungen und wußte bald Einzelheiten über die meisten Flugplätze der Royal Air Force in Norfolk und andere interessante Details zu berichten.
Ihren größten Erfolg hatte sie Anfang 1943, als die Royal Air Force zwei neue Fernleit-Radaranlagen für Bombenflugzeuge in Dienst stellte, die den Erfolg der Nachtangriffe gegen Deutschland beträchtlich steigern sollten.
Die wichtigste, genannt Oboe, operierte im Verbund mit zwei Bodenstationen in England. Die eine, Maus genannt, war in Dover, die andere, Katze, in Cromer an der Küste von Nord-Norfolk.
Es war unglaublich, wie bereitwillig die RAF-Leute einer liebenswürdigen Dame vom Hilfskorps, die Bibliotheksbücher und Tee verteilte, alles sagten, was sie wußten, und während einer Reihe von Besuchen bei der Oboe-Station in Cromer hatte Joanna überdies ausgiebigen Gebrauch von einer ihrer Minikameras machen können. Ein kurzer Anruf bei Señor Lorca, ihrem Kontaktmann an der spanischen Botschaft, am nächsten Tag eine Bahnfahrt nach London, ein Treffen im Green Park, und der Fall war erledigt.
Innerhalb von vierundzwanzig Stunden hatte die Information über Oboe per Diplomatengepäck England verlassen, nach sechsunddreißig Stunden legte sie ein hocherfreuter Hauptmann Meyer auf den Schreibtisch Admiral Canaris’ in dessen Büro am Tirpitz-Ufer.
Als Meyer mit seinem Vortrag zu Ende war, legte Radl den Stift beiseite, mit dem er sich Notizen gemacht hatte. «Eine fabelhafte Frau», sagte er. «Höchst bemerkenswert. Sagen Sie, was hat sie an Trainingskursen mitgemacht?»
«Alles Nötige, Herr Oberst», erwiderte Meyer. «Sie hat 1936 und 1937 ihren Urlaub in Deutschland verbracht. Beide Male erhielt sie unsere übliche Grundausbildung: Code, Funken, Umgang mit der Kamera, einfache Sabotagetechniken. Nichts allzu Spezielles mit Ausnahme ihres Morse-Codes, der ganz ausgezeichnet ist. Sie war natürlich nie für einen härteren physischen Einsatz vorgesehen.»
«Nein, natürlich nicht. Und die Ausbildung mit der Waffe?»
«War nicht weiter nötig. Sie ist im Veld aufgewachsen. Konnte schon als Zehnjährige einem Hirsch auf achtzig Meter Entfernung ein Auge ausschießen.»
Radl nickte, blickte nachdenklich ins Leere, und Meyer fragte vorsichtig: «Geht es um irgend etwas Besonderes, Herr Oberst? Vielleicht könnte ich behilflich sein?»
«Noch nicht», erwiderte Radl, «aber es ist möglich, daß ich Sie demnächst brauche. Im Moment genügt es, wenn alle Unterlagen über Joanna Grey meinem Büro übergeben werden. Und … bis auf weiteres keinen Funkkontakt.»
Meyer erschrak, er konnte sich nicht beherrschen. «Bitte, Herr Oberst, wenn Joanna in Gefahr sein sollte …»
«Keine Spur», sagte Radl. «Ich kann Ihre Besorgnis verstehen, glauben Sie mir, aber im Augenblick kann ich Ihnen wirklich nicht mehr sagen. Die Sache unterliegt strengster Geheimhaltung, Meyer.»
Meyer riß sich zusammen. «Gewiß, Herr Oberst. Bitte um Verzeihung, aber ich bin seit langem mit der Dame befreundet.»
Er ging. Kurz darauf kam Hofer aus dem Vorzimmer herein, unterm Arm trug er mehrere Akten und gerollte Landkarten. «Die gewünschten Unterlagen, Herr Oberst. Ich habe auch zwei britische Seekarten des Küstengebiets mitgebracht, die Nummern einhundertacht und einhundertsechs.»
«Hauptmann Meyer hat Anweisung, Ihnen alles auszuhändigen, was er über Joanna Grey hat. Er darf keine Funkverbindung mehr mit ihr aufnehmen», sagte Radl. «Von jetzt an sind Sie dafür zuständig.»
Er griff nach einer Zigarette, und Hofer zückte ein Feuerzeug, das aus der Hülse einer russischen 7,62-mm-Patrone gefertigt war. «Machen wir denn weiter, Herr Oberst?»
Radl blies eine Rauchwolke und blickte zur Decke. «Kennen Sie die Werke von Jung, Hofer?»
«Der Herr Oberst weiß, daß ich vor dem Krieg Bier und Wein ausgeschenkt habe.»
«Jung spricht von der Synchronizität, dem zeitlichen Zusammenstimmen von Ereignissen, das ihnen schicksalhafte Motivation zu verleihen scheint.»
«Herr Oberst …?» sagte der Stabsfeldwebel höflich.
«Zum Beispiel diese Sache hier. In einem Augenblick der Überreiztheit stellt der Führer, der Himmel möge ihn schützen, versteht sich, an uns das absurde Ansinnen, wir sollten Skorzenys Gran-Sasso-Unternehmen zu übertrumpfen suchen, indem wir ihm Churchill holen, ob tot oder lebendig, sagt er allerdings nicht. Ein Witz! Aber da reckt die Synchronizität ihren häßlichen Kopf aus einem ganz gewöhnlichen Abwehrbericht. Ein kurzer Hinweis, daß Churchill nur zehn Kilometer von der Küste entfernt in einem abgelegenen Landhaus in der gottverlassensten Gegend Englands ein Wochenende verbringen wird. Verstehen Sie jetzt? Zu jedem anderen Zeitpunkt wäre Mrs. Greys Bericht ohne weitere Konsequenzen geblieben.»
«Dann machen wir also weiter, Herr Oberst?»
«Sieht so aus, als hätte das Schicksal sich eingeschaltet, Hof er», sagte Radl. «Wie lange, sagten Sie, sind Mrs. Greys Berichte mit dem spanischen Diplomatengepäck unterwegs?»
«Drei Tage, Herr Oberst, wenn jemand sie in Madrid sofort übernimmt. Auch unter schwierigsten Bedingungen nicht länger als eine Woche.»
«Wann ist der nächste Zeitpunkt für unsere Funkmeldungen?»
«Heute abend, Herr Oberst.»
«Gut. Funken Sie ihr Folgendes verschlüsselt.» Wieder blickte Radl in angestrengtem Nachdenken zur Decke. Er versuchte, seine Gedanken möglichst knapp zu formulieren. «Sehr interessiert an Ihrem Gast vom 6. November. Möchten auf einen Sprung vorbeischauen und ihn überreden, mit uns zurückzureisen. Erwarten Ihren baldigen Bescheid mit allen nötigen Angaben auf dem üblichen Weg.»
«Ist das alles, Herr Oberst?»
«Ich glaube, ja.»
Es war Mittwoch, in Berlin ein regnerischer Tag, aber als Pater Philip Voreker aus dem Pfarrhaus von St. Mary kam und durch das Dorf Studley Constable hinkte, schien die Sonne.
Philip Voreker war damals ein großer, hagerer junger Mann von dreißig Jahren, die Soutane betonte noch seine Hagerkeit. Sein Gesicht war verzerrt vor Schmerz und Anstrengung, als er auf seinen Stock gestützt dahinhumpelte – kein Wunder, denn er war erst vor vier Monaten aus dem Lazarett entlassen worden.
Dem jüngeren Sohn eines Chirurgen aus der Harley Street in London und vielversprechenden Cambridge-Studenten war eine glänzende Zukunft prophezeit worden. Dann hatte er sich, zum Mißfallen seiner Eltern, für den Priesterberuf entschieden, das englische Kolleg in Rom besucht und war dem Jesuitenorden beigetreten.
1940 war er Feldgeistlicher bei den britischen Fallschirmjägern geworden und war zum erstenmal im November 1942 zum Fronteinsatz in Tunesien gekommen, wo er mit Einheiten der First Parachute Brigade zur Eroberung des Flugplatzes von Oudna, zehn Meilen vor Tunis, abgesprungen war. Aber die Einheit hatte sich über fünfzig Meilen offenen Geländes unter pausenlosem Luftbombardement und ständigem Artilleriebeschuß zurückkämpfen müssen.
Hundertachtzig Mann schafften es. Zweihundertsechzig fielen. Voreker hatte Glück gehabt; allerdings hatte ihm eine Kugel den rechten Fußknöchel zerschmettert. Bis er einen Verbandplatz erreichte, war bereits Sepsis eingetreten. Der linke Fuß wurde amputiert, und Philip Voreker war felduntauglich.
Die Pfarrei Studley Constable war ihm zugewiesen worden, weil er nicht nur körperlich ein schwerkranker Mann war, sondern auch den seelischen Schock nicht überwinden konnte. Seine Vorgesetzten hofften, das unkomplizierte Leben eines Dorfgeistlichen könne seine Genesung fördern.
Voreker wußte das und grämte sich zutiefst darüber. Es fiel ihm damals schwer, ein freundliches Gesicht zu machen, aber er lächelte doch, als er sich Park Cottage näherte und Joanna Grey auftauchen sah, die ihr Fahrrad schob und von ihrem Hund begleitet wurde.
«Wie geht es Ihnen, Pater?» sagte sie. «Ich habe Sie seit Tagen nicht gesehen.»
Sie trug Tweedrock und hochgeschlossenen Pullover unter einem gelben Regenmantel, und um das weiße Haar war ein Seidenschal gebunden. Mit ihrer südafrikanischen Sonnenbräune, die nie ganz verblaßt war, sah sie hübsch aus.
«Ganz gut», sagte Voreker. «Nur daß ich allmählich sterbe vor Langeweile. Eine einzige Neuigkeit gibt es, seit wir uns zuletzt sahen. Erinnern Sie sich an meine Schwester Pamela? Sie ist zehn Jahre jünger als ich, zur Zeit Corporal im Weiblichen Hilfskorps der Air Force.»
«Natürlich erinnere ich mich», sagte Mrs. Grey. «Was ist mit ihr?»
«Sie wurde zur Bomberbasis von Pangbourne verlegt, nur fünfzehn Meilen von hier, also werde ich sie von Zeit zu Zeit zu sehen kriegen. Sie kommt übers Wochenende her.»
«Das freut mich aber.» Joanna Grey schwang sich aufs Fahrrad.
«Schach heute abend?» fragte er hoffnungsvoll.
«Warum nicht? Kommen Sie um acht und essen Sie mit mir. Muß jetzt weiter.»
Sie radelte am Fluß entlang davon, der Hund lief hinterher. Ihre Miene war ernst geworden, eine Fülle von Problemen gingen ihr im Kopf herum. Die Funkmeldung, die am Vorabend vom Hauptquartier der Abwehr in Berlin über die Relaisstation Flosberg an der holländischen Küste eingegangen war, hatte ihr einen gewaltigen Schock versetzt. Sie hatte sie dreimal dechiffriert, um ganz sicher zu gehen, daß ihr kein Irrtum unterlaufen war.
Bis fünf Uhr morgens hatte sie kaum geschlafen. Sie hatte die Lancaster- und Whitley-Bomber gehört, die meerwärts nach Deutschland gestartet und ein paar Stunden später zurückgekehrt waren. Endlich war sie doch noch eingeschlafen und zu ihrem eigenen Erstaunen um halb acht Uhr voll Tatendrang erwacht.
Es war ihr, als hätte sie zum erstenmal eine wirklich wichtige Aufgabe zu erfüllen. Dieser Plan mit Churchill – der war einfach unglaublich.
Sie lachte laut auf. Ha, das würde den verdammten Engländern gar nicht passen. Ein weltbewegendes Ereignis auf ihre Kosten …
Als sie den Hügel zur Hauptstraße hinunterfuhr, ertönte hinter ihr ein Hupsignal, und eine kleine Limousine überholte sie und hielt am Wegrand. Der Mann am Steuer hatte einen großen, weißen Schnurrbart und den blühenden Teint eines wackeren Whiskytrinkers. Er trug die Uniform eines Oberstleutnants der Home Guard.
«Morgen, Joanna», rief er jovial.
Die Begegnung hätte nicht gelegener kommen können. Sie ersparte Mrs. Grey einen für nachmittags geplanten Besuch in Studley Grange. «Guten Morgen, Sir Henry», sagte sie und stieg vom Fahrrad.
Er kletterte aus dem Wagen. «Wir haben Samstagabend ein paar Leute da. Bridge und so weiter. Danach Abendessen. Nichts Aufregendes. Jean meint, es könnte Ihnen Spaß machen.»
«Wie reizend von Lady Willoughby. Schrecklich gern», sagte Joanna Grey. «Sie muß eine Menge um die Ohren haben, so kurz vor dem großen Tag.»
Sir Henry blickte ein wenig besorgt drein und senkte die Stimme. «Joanna, Sie haben doch mit niemandem darüber gesprochen, wie?»
Joanna Grey setzte eine angemessen entrüstete Miene auf. «Natürlich nicht. Sie haben es mir doch im strengsten Vertrauen mitgeteilt.»
«Hätte es eigentlich überhaupt nicht sagen sollen, aber ich weiß doch, daß ich Ihnen vertrauen kann, Joanna.» Er legte ihr den Arm um die Taille. «Keinen Ton über Samstagabend, altes Mädchen, mir zuliebe, ja? Laß nur einen einzigen was spitzkriegen, und schon erfährt’s das ganze Land.»
«Für Sie tu’ ich alles, das wissen Sie», sagte sie ruhig.
«Wirklich, Joanna?» Seine Stimme wurde heiser, und sie fühlte einen leicht zitternden Schenkel an ihrem Bein. Er riß sich sofort wieder los. «So, muß jetzt weiter. Zonenstabsbesprechung in Holt.»
«Sie müssen schrecklich aufgeregt sein», sagte sie. «Der Premier unter Ihrem Dach!»
«Bin ich auch. Sehr große Ehre.» Sir Henry strahlte. «Er möchte ein bißchen malen, und Sie kennen ja die malerische Aussicht von Studley Grange.» Er stieg wieder in den Wagen. «Bin vorhin am jungen Voreker vorbeigefahren. Finde nicht, daß er besonders gut aussieht.»
«Er hat wohl im Moment eine ziemlich schlechte Strähne», sagte sie.
«Verständlich, wenn man’s bedenkt. Noch vor ein paar Monaten bei der Fallschirmtruppe, im Einsatz, ganzer Kerl und so. Jetzt geht’s bloß noch darum, wie er die Textilpunkte für einen neuen Talar zusammenkriegt. Übrigens, wo wollen Sie denn hin?»
Auf diese Frage hatte sie die ganze Zeit gewartet. «Nur ein bißchen die Vögel beobachten. Vielleicht drüben in Cley oder in den Marschen. Ich weiß noch nicht. Im Moment sind interessante Zugvögel auf der Durchreise.»
«Dann passen Sie nur gut auf.» Sein Gesicht war ernst. «Und denken Sie dran, was ich Ihnen gesagt habe.»
Als Kommandeur der Home Guard besaß er alle möglichen Spezialkarten der Küstenbefestigung in seinem Abschnitt mit Angabe sämtlicher verminter Strände und – was noch wichtiger war – der Strände, die nur angeblich vermint waren. Einmal hatte er, besorgt um ihr Wohlergehen, zwei volle Stunden lang mit ihr zusammen die Karten studiert und ihr genau gezeigt, welche Stellen sie auf ihren ornithologischen Streifzügen keinesfalls betreten dürfte.
«Ich weiß, daß ständig Änderungen vorgenommen werden», sagte sie. «Vielleicht könnten Sie gelegentlich wieder einmal mit Ihren Karten bei mir vorbeikommen und mir nochmals eine Instruktionsstunde erteilen.»
Seine Augen wurden leicht glasig. «Wäre Ihnen das lieb?»
«Natürlich. Heute nachmittag zum Beispiel bin ich zu Hause.»
«Nach dem Lunch», sagte er. «Komme gegen zwei.» Er brauste davon.
Joanna Grey stieg wieder aufs Rad und fuhr hinunter zur Hauptstraße, Patch, ihr Hund, trabte hinterdrein. Armer Henry. Sie hatte ihn wirklich gern. Wie ein Kind; und so leicht zu lenken.
Nach einer halben Stunde schwenkte sie von der Küstenstraße ab und radelte einen Deich entlang durch ödes Marschland, das die Bewohner der Gegend Hobs End nannten. Eine eigenartige Landschaft: kleine Buchten, Schlammniederungen und übermannshohe Schilfbahnen, ausschließlich von Vögeln bevölkert; Brachvögeln, Wasserläufern und Wildgänsen, die aus Sibirien kamen, um in den Schlammniederungen zu überwintern.