Königsjagd - Jack Higgins - E-Book

Königsjagd E-Book

Jack Higgins

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sommer 1940. Die Nazis haben den größten Teil Westeuropas erobert. Im portugiesischen Exil verfolgt der Herzog von Windsor gebannt das weitere Schicksal seines Landes und fragt sich, welche Rolle er dabei spielen kann. In Berlin bereitet Hitler die Pläne für eine Invasion Englands vor – und für die Ergreifung des Mannes, den er als Marionettenkönig für das scheinbar schon besiegte Land ausgewählt hat … (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 284

Veröffentlichungsjahr: 2016

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jack Higgins

Königsjagd

Roman

Aus dem Englischen von Jürgen Bavendam

FISCHER Digital

Inhalt

Prolog123456789101112131415Epilog

Prolog

Im Juli 1940 wurde Walter Schellenberg, SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei, von Hitler nach Lissabon geschickt, um den Herzog und die Herzogin von Windsor zu entführen, die damals, nach ihrer Flucht aus dem von den Nazis besetzten Frankreich, in einer Villa in Estoril lebten. Der nun folgende Bericht ist ein Versuch, die Ereignisse zu rekonstruieren, die mit jener abenteuerlichen Episode verbunden waren. Er basiert weitgehend auf historischen Fakten – nur gewisse Abschnitte müssen, der Natur der Sache entsprechend, fiktiv bleiben. Eine Persönlichkeit, deren Verdienste im Lauf der bizarren Geschehnisse besonders deutlich hervortreten, ist der Herzog von Windsor selbst. Deshalb möchte ich das Buch als einen Tribut an diesen tapferen und ehrenwerten Mann verstanden wissen.

1

Kurz nach Mitternacht begann es zu regnen, und der junge portugiesische Polizist holte ein Cape aus seinem Schilderhaus und legte es der Frau wortlos um die Schultern.

Es war kühl geworden, und sie ging die Straße ein Stück hinauf, um warm zu bleiben, hielt dann inne und blickte zurück zur Tejomündung, wo in der Ferne die Lichter von Lissabon leuchteten.

Ein weiter Weg; nicht so weit wie Berlin oder Paris oder Madrid, aber jetzt war sie endlich hier, vor der rosa Stuckvilla in Estoril, am Ziel ihrer Mission. Und müder, als sie jemals in ihrem Leben gewesen war, wünschte sie sich plötzlich, daß alles vorbei sein möge.

Sie ging zurück zu dem Polizisten am Tor. «Bitte», sagte sie auf englisch, «wie lange noch? Ich warte nun schon fast eine Stunde.» Es war unsinnig, weil er sie nicht verstand.

Sie hörte das Motorengeräusch eines Autos, das den Hügel heraufkam, Scheinwerfer blitzten durch die Mimosenbüsche, und dann stoppte ein schwarzer Mercedes nur wenige Meter von ihr entfernt.

Der Mann, der hinten ausstieg, war breitschultrig und kräftig. Er hatte keinen Hut auf, trug eine Brille und hatte die Hände in den Taschen eines dunklen Regenmantels vergraben. Er sagte auf portugiesisch etwas zu dem Polizisten, wandte sich dann an das Mädchen. Sein Englisch war ausgezeichnet.

«Miss Winter, nicht wahr? Miss Hanna Winter?»

«Ja.»

«Würden Sie mir Ihren Paß zeigen?»

Als sie ihn schnell aus der Tasche holte, erschauerte sie wegen der Kälte, so daß ihr das Cape von den Schultern glitt. Er legte es ihr höflich wieder um, nahm dann den Reisepaß.

«Aha – Sie sind Amerikanerin.»

«Bitte», sagte sie, eine Hand an seinem Ärmel. «Ich muß den Herzog sehen. Es ist dringend … sehr dringend.»

Er schaute einen Moment lang stumm auf sie hinab und nickte dann dem Polizisten zu, der das Tor öffnete. Der Wagen rollte näher. Er hielt ihr die Tür auf, und sie stieg ein. Er folgte ihr nach.

Der Mercedes machte einen jähen Satz nach vorn, der Chauffeur riß das Steuer herum, wendete und fuhr wieder den Hügel hinab nach Lissabon.

Sie war in die Sitzecke gepreßt worden, und mit einer beinahe rohen Handbewegung half er ihr, sich wieder aufzurichten, und knipste dann die Wagenbeleuchtung an. In der anderen Hand hielt er immer noch ihren Paß.

«Hanna Winter – Amerikanerin? Das glaube ich nicht.» Er zerriß das Dokument und warf die beiden Hälften zu Boden. «Ich glaube, das hier ist authentischer.»

Der Ausweis, den er ihr gab, war deutsch. Wie hypnotisiert vor Entsetzen starrte sie darauf. Das Bild in dem Dokument war ihr eigenes.

«Fräulein Hanna Winter», sagte er. «Geboren am neunten November neunzehnhundertachtzehn in Berlin. Wollen Sie das bestreiten?»

Sie klappte den Ausweis zu und gab ihn zurück, wobei sie sich krampfhaft bemühte, ihre innere Panik unter Kontrolle zu bekommen. «Ich heiße zwar Hanna Winter, aber ich bin amerikanische Staatsbürgerin. Die Botschaft der Vereinigten Staaten wird das bestätigen.»

«Das Reich gesteht seinen Bürgern nicht das Recht zu, ihre Nationalität nach Belieben zu wechseln. Sie sind als Deutsche zur Welt gekommen, und ich bin ziemlich sicher, daß Sie auch als Deutsche von uns gehen werden.»

Die Straßen waren verlassen, und sie fuhren sehr schnell; sie hatten bereits die Stadt erreicht und näherten sich dem Fluß.

Er sagte: «Eine interessante Stadt, dieses Lissabon. Um beispielsweise in eine ausländische Botschaft zu kommen, muß man sich bei einem portugiesischen Polizeiposten ausweisen. Wenn Sie also versucht hätten, die britische oder amerikanische Botschaft zu betreten, hätten wir Sie ebenfalls erwischt.»

Sie erwiderte: «Das verstehe ich nicht. Als ich hinein wollte, sagte der Mann am Tor, er müsse das erst mit dem Polizeipräsidium abklären.»

«Ganz einfach. Die portugiesischen Justizbehörden haben einem Auslieferungsersuchen stattgegeben. In Sachen Hanna Winter, angeklagt wegen Mordes – dreifachen Mordes. Sie haben sich sogar bereit erklärt, die Angelegenheit beschleunigt zu behandeln.»

«Aber Sie … Sie sind nicht die Polizei.»

«O doch. Nicht gerade die portugiesische, aber immerhin …» Er sprach jetzt deutsch. «Sturmbannführer Kleiber vom Gestapo-Hauptquartier Berlin. Mein Mitarbeiter, Scharführer Günter Sindermann.»

Es war wie ein Alptraum, doch die Mattigkeit, die sie fühlte, war so überwältigend, daß nichts anderes mehr zu zählen schien.

«Und was geschieht jetzt?» fragte sie dumpf.

Kleiber knipste das Licht aus, so daß sie wieder im Dunkeln saßen. «Oh, wir werden Sie nach Haus bringen», sagte er. «Zurück nach Berlin. Keine Sorge. Dort kümmern wir uns dann weiter um Sie …»

Seine Hand lag plötzlich auf ihrem Knie, tastete sich über den seidenen Strumpf zum Oberschenkel.

Das war ein großer Fehler, denn der Ekel, der nun in ihr aufstieg, erweckte sie wieder zum Leben. Sie suchte nach dem Türgriff, hielt den Atem an, als seine Hand höher glitt. Der Mercedes fuhr langsamer, damit ein Sprengwagen ungehindert vorbeikommen konnte. Sie schubste Kleiber mit aller Kraft zur Seite, stieß die Tür auf, ließ sich hinausfallen und überschlug sich zweimal.

Der Schock war so groß, daß sie sich einen Augenblick lang an eine Hausmauer lehnen mußte, als sie wieder auf den Beinen war. Der Mercedes war ein Stück weitergefahren und setzte nun zurück. Sie hatte einen Schuh verloren, aber es war keine Zeit, ihn zu suchen. Sie schleuderte auch den anderen von sich, stürzte in die Gasse zwischen den nächsten beiden Häusern und fing an zu rennen.

Bald war sie am Hafen. Es regnete immer noch stark, und vom Tejo stieg dichter Nebel auf, der von den wenigen Straßenlaternen kaum durchdrungen wurde. In diesem Viertel gab es offenbar keine Geschäfte und Wohnhäuser, nur noch schmale, verfallene Lagerhäuser, die in die Nacht aufragten.

Der Nebel wurde immer dichter, und sie schien allein auf der Welt zu sein, bis sie aus einer schmalen Straße hinter sich die Schritte ihrer Verfolger hallen hörte.

Sie begann erneut zu laufen, geräuschlos, auf bestrumpften Füßen. Sie fror schrecklich – und dann zeichnete sich auf der anderen Straßenseite, zum Fluß hin, ein schwacher Lichtschein ab. Ein roter Neonschriftzug: Joe Jackson’s, und darunter: American Bar.

Sie eilte hinüber, voll verzweifelter Hoffnung, aber drinnen brannte kein Licht, und die Glastüren waren verschlossen. In hilfloser Wut rüttelte sie daran. Neben dem Haus begann ein Pier, an der Seite war noch eine beleuchtete Tür: «Personal.» Sie probierte es auch dort, hämmerte mit den Fäusten daran, als Kleiber mit einer Luger in der linken Hand um die Ecke gerannt kam.

«Du verdammte jüdische Hure», rief er leise. «Ich werd’s dir zeigen.»

Als dann auch Sindermann erschien, drehte sie sich blitzschnell um und lief den Pier entlang in den Nebel.

 

Joe Jackson hatte dunkles, gewelltes Haar, ein bleiches Gesicht, braungrüne Augen; ein Mundwinkel schien ständig zu einem kaum merklichen, ironischen Lächeln verzogen zu sein: das müde, abgeklärte Lächeln eines Mannes, der festgestellt hatte, daß das Leben noch mieser war, als er dachte.

Er hatte montags immer geschlossen. Erstens bekamen so alle einen Tag frei, und zweitens war Anfang der Woche ohnehin wenig los. Und er konnte sich dann jeweils ungestört seinen Büchern widmen, was er gerade tat, als Hanna an der Vordertür rüttelte.

Ein Betrunkener, dachte er, der noch ein Glas haben will, und wandte sich wieder seinen Belegen zu. Kurz darauf hörte er sie am Personaleingang. Er hörte flüsternde Stimmen, dann einen kurzen Schrei. Er zog die rechte obere Schublade seines Schreibtisches auf und nahm eine Browning-Automatik heraus, stand auf und ging schnell aus dem Büro.

Er trug einen marineblauen Pullover und dunkle Hosen. Ein kleiner Mann, nicht mehr als 1,65 oder 1,67 Meter groß, mit relativ breiten Schultern.

Er schloß den Nebeneingang auf und stand lauschend in der Türöffnung. Hinten am Pier erklang wieder ein erstickter Schrei. Er ging langsam, geräuschlos, auf bastbesohlten Sandalen in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war.

Am Ende des Piers stand ein Pfahl mit einer Lampe. In ihrem Licht sah er Hanna Winter, auf dem Rücken liegend. Sindermann hockte auf ihr. Daneben stand Kleiber, mit der Luger in der Hand.

«Und jetzt, Miss Winter», sagte er auf englisch, «eine Lektion in guten Manieren.»

«Das glaube ich nicht», rief Jackson leise.

Kleiber spürte den Aufprall der Kugel am linken Unterarm, wurde gegen das Geländer hinter sich geschleudert und ließ die Luger in das schwarze Wasser plumpsen. Er sagte kein Wort – stand einfach da, umklammerte seinen Arm, wartete auf das, was nun kam.

Hanna Winter, die immer noch von Sindermanns Gewicht auf die Erde gepreßt wurde, blickte mit leeren Augen zu Jackson hoch. Er tippte dem Deutschen mit dem Lauf der Browning an den Hinterkopf.

Sindermann stand auf und hob die Hände. Auf seinem Gesicht war nichts als blinde Wut. Jackson half dem Mädchen auf die Beine. Als sie Halt an ihm suchte, wurde seine Aufmerksamkeit für einen Sekundenbruchteil abgelenkt. Sindermann hechtete mit gesenktem Kopf auf ihn los.

Jackson stieß das Mädchen beiseite und streckte einen Fuß aus. Sindermann strauchelte und sauste weiter, über das Geländer. Sie hörten, wie er unten aufs Wasser klatschte.

Jackson legte ihr wieder den Arm um die Schultern. «Alles in Ordnung?»

«Jetzt ja», sagte sie.

Er zeigte mit dem Browning auf Kleiber, der wartend dastand. Zwischen seinen Fingern sickerte Blut hervor und tropfte zu Boden. «Was machen wir mit dem?»

«Lassen Sie ihn gehen.»

«Keine Polizei?»

«Es ist keine Sache für die Polizei», sagte sie müde.

Jackson nickte Kleiber zu. «Sie haben gehört, was die Dame gesagt hat.»

Der Deutsche wandte sich ab und entfernte sich mit schnellen Schritten. Sie schwankte. Jackson steckte schnell den Browning hinten in den Gürtel und fing sie mit beiden Armen auf.

«Okay, gehen wir ins Haus.»

 

Sie stand zwanzig Minuten unter der heißen Dusche, ehe sie sich abfrottierte und den Morgenmantel anzog, den er ihr gegeben hatte. Die Wohnung befand sich im zweiten Stock an der Rückseite des Lokals, über dem Fluß. Sie war sauber und praktisch und sparsam möbliert, offenbar wenige Dinge von Wert. Der momentane Ruheplatz eines Mannes, der die meiste Zeit seines Lebens auf Wanderschaft gewesen war.

Die Schiebefenster standen offen, und sie fand ihn auf der breiten Holzveranda, wo er, einen Drink in der Hand, über den Fluß schaute. Irgendwo in der Ferne, wo ein Dampfer ins Meer hinausfuhr, ertönte ein Nebelhorn.

Sie erschauerte. «Der einsamste Klang der Welt.»

«Nach Thomas Wolfe geben den Züge von sich», sagte er. «Aber jetzt hole ich Ihnen am besten einen Kognak. Sie sehen aus, als könnten Sie einen brauchen.»

Er sprach amerikanisches Englisch mit Bostoner Akzent. «Woher kommen Sie?» fragte sie.

«Cape Cod. Ein kleines Fischerdorf, es heißt Wilton. Aber das ist schon lange, lange her.» Er reichte ihr den Kognak. «Und Sie?»

«New York, obgleich gewisse Leute das nicht wahrhaben wollen», antwortete sie, einen Schluck Kognak nehmend.

Er zündete sich eine Zigarette an. «Ihre Freunde dort draußen? Sie sagten, es sei keine Sache für die Polizei.»

«Stimmt», erwiderte sie. «Sie sind allerdings Polizisten. Aber von einer Sorte, die es nur im Dritten Reich gibt, Gestapo.»

Jetzt lächelte er nicht mehr. Er schloß das Fenster und drehte sich um, blickte ihr in die Augen.

«Sie sind Joe Jackson, nicht wahr?»

«Ja, aber wir sind uns nie vorgestellt worden.»

«Nein», sagte sie. «Ich weiß trotzdem alles über Sie. Mein Name ist Hanna Winter. Ich bin Sängerin. Geboren in Berlin, aber meine Eltern nahmen mich mit nach Amerika, als ich zwei Jahre alt war. Vor zwei Monaten kehrte ich zurück nach Berlin, um im Club meines Onkels Max zu singen. Kennen Sie einen Pianisten namens Connie Jones?»

Jackson lächelte. «Das kann man wohl sagen. Im Augenblick spielt er mit seinem Trio in Madrid, im Flamenco. Nächste Woche fängt sein Engagement hier an.»

«Vor vierzehn Tagen hat er mich noch in der Bar meines Onkels in Berlin begleitet. Im Garden Room. Er ist derjenige, der mir von dem großen Joe Jackson erzählt hat – dem Besitzer der besten amerikanischen Bar Lissabons. Der mit der Internationalen Brigade in Spanien kämpfte und Jäger gegen die Legion Condor flog.»

Jackson sagte: «Schon gut. Ich kauf’s Ihnen ab.»

Sie sagte: «Haben Sie schon von einem Mann namens Dr. Ricardo de Espirito Santo e Silva gehört?»

«Ein portugiesischer Bankier. Er hat eine Villa in Estoril.»

«Wissen Sie zufällig, wer im Augenblick dort zu Gast ist?»

«Das weiß hier jedes Kind. Der Herzog und die Herzogin von Windsor.»

«Aber nicht mehr lange», sagte sie. «Jedenfalls nicht, wenn die Nazis Erfolg haben.»

Sie begann zu zittern.

«Okay.» Joe hielt einen Moment ihre Arme fest, zog sie dann neben sich auf das Sofa vor dem Kamin. «Jetzt beruhigen Sie sich. Lassen Sie sich Zeit, und erzählen Sie mir alles, was Sie darüber wissen.»

2

Es begann, wenn man so will, mit einem Mann namens Erich von Manstein, der Anfang 1940 Stabschef des bald darauf zum Generalfeldmarschall beförderten Gerd von Rundstedt war.

Von Manstein, später einer der glänzendsten Frontkommandeure, den die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg hervorbrachte, war ein hervorragender Taktiker, der fortwährend die Ansichten seiner Vorgesetzten, insbesondere ihre Pläne zur Invasion Frankreichs und der Niederlande, in Frage stellte.

Angesichts einer drohenden Entlassung, die das Ende seiner Laufbahn bedeutet hätte, führte ihn der Zufall zu einem Abendessen, das Adolf Hitler am 17. Februar 1940 gab. Er benutzte die Gelegenheit, um dem Führer seinen Alternativplan zu erläutern – einen kühnen Panzervorstoß durch die Ardennen zum Ärmelkanal, der die britischen und französischen Truppen voneinander trennen sollte.

Hitler begeisterte sich so sehr für die Idee, daß er nach einiger Zeit glaubte, es sei seine eigene gewesen. Am 10. Mai wurde der Plan mit unglaublichem Erfolg durchgeführt. Binnen wenigen Tagen traten die Armeen der Alliierten einen ungeordneten Rückzug an.

Nur dank Hitlers Entscheidung, die deutschen Panzer am Aa-Kanal zu stoppen, war es möglich, den größten Teil des britischen Expeditionskorps von den Stränden Dünkirchens zu evakuieren. Am Nachmittag des 22. Juni unterzeichneten die Franzosen im Wald von Compiègne – in eben dem alten hölzernen Speisewagen, in dem Marschall Foch den Deutschen im November 1918 seine Bedingungen diktiert hatte – einen Waffenstillstand.

Früh am nächsten Morgen landete Hitler, begleitet von Keitel und einigen ausgesuchten anderen, auf dem Flughafen Le Bourget und wurde nach Paris gefahren. Einer der erfolgreichsten Feldzüge der modernen Kriegsgeschichte war vorüber.

 

In Frankreich, besonders im Süden, brach ein Chaos aus. Die Straßen waren verstopft von Flüchtenden, die verzweifelt zu den Pyrenäen und der spanischen Grenze eilten, darunter viele britische Staatsbürger, die seit Jahren an der Riviera gelebt hatten.

Unter ihnen befand sich auch ein Wagenkonvoi, geführt von einem Buick, der einen schwer beladenen Anhänger zog. In einem kleinen Ort westlich von Arles hatten Gendarmen eine Straßensperre errichtet, um keine Flüchtlinge mehr durchzulassen.

Als der Buick hielt, erhob sich der kleine, beinahe schmächtig wirkende Herr, der neben einer dunkelhaarigen Dame im Fond saß, und war von den Umstehenden deutlich zu sehen. Er lächelte liebenswürdig, aber mit unmißverständlicher Autorität.

«Ich bin der Prinz von Wales», sagte er in makellosem Französisch. «Würden Sie mich bitte passieren lassen?»

Der verantwortliche Offizier erkannte ihn und blickte ihn verblüfft an, um dann zu salutieren und seinen Männern einen schnellen Befehl zuzurufen. Die Sperre wurde hastig entfernt, und der Herzog und die Herzogin von Windsor fuhren mit ihren Begleitern weiter.

 

Als Hanna Winter am Freitag danach ihre Wohnung in der Berliner Königstraße verließ, regnete es. Es war halb neun, eine Stunde vor dem ersten Auftritt des Abends im Garden Room, gut anderthalb Kilometer weiter Unter den Linden. Um diese Zeit gab es keine große Aussicht auf ein Taxi; sie würde sich also beeilen müssen. Auf der anderen Straßenseite parkte ein Mercedes. Sie schaute hoffnungsvoll hin, sah, daß es ein Privatauto war, und begann zu laufen.

Zwei junge Männer kamen um die Ecke auf sie zu. Sie trugen irgendeine Naziuniform, sie wußte allerdings nicht, welche. Es gab heutzutage so viele verschiedene Uniformen. Sie blieben stehen, versperrten ihr den Weg, harte und grausame Gesichter unter den Schirmmützen, unheilverkündend. Sie mußte sich auf etwas gefaßt machen, und sie wußte es.

«Papiere», sagte der eine.

Sie erinnerte sich an die oberste Regel von Onkel Max: Nie Angst zeigen. «Ich bin Amerikanerin», antwortete sie gelassen.

«Wird’s bald?» Er schnippte mit den Fingern. Sie holte ihren Reisepaß aus der Handtasche und reichte ihn ihm.

«Hanna Winter, zweiundzwanzig Jahre. Ein gutes Alter.» Sein Begleiter lachte, und er gab ihr das Dokument zurück. «Und Ihre Aufenthaltsgenehmigung.»

Der andere trat näher, genoß die Szene sichtlich, entkleidete sie mit seinen Blicken. Zögernd holte sie das Papier heraus.

Er lachte begeistert. «Sieh dir das an. Eine Jüdin.» Er kam noch näher. «Wo ist dein Stern, Judenweib? Du weißt, daß es eine schwerwiegende Übertretung ist, ohne Judenstern auf die Straße zu gehen. Wir werden etwas tun müssen.»

Er war jetzt ganz dicht vor ihr, trieb sie rückwärts zu dem Gang zwischen zwei Häusern. Sie hörte eine zuschlagende Autotür und sah einen Mann aus dem Fond des Mercedes kommen und über die Straße gehen.

«Das reicht», rief er in gedämpftem Ton durch den Regen. Er war mittelgroß, trug einen Hut mit heruntergezogener Krempe und einen schwarzen Ledermantel. Im Mundwinkel hing eine Zigarette.

Der junge Mann, der sie bedrängt hatte, knurrte wütend: «Hauen Sie ab, oder Sie können was erleben. Dies ist eine Angelegenheit für die Polizei.»

«Wirklich?» sagte der Mann ruhig. «Fräulein Winter, stimmt das? Mein Name ist Schellenberg. Ich habe den kleinen Wortwechsel drüben im Auto mitbekommen. Fühlen Sie sich von diesen Männern belästigt?»

«Sie ist Jüdin und treibt sich ohne ihren Davidsstern auf der Straße herum.»

«Und amerikanische Staatsbürgerin, wenn ich richtig gehört habe. Stimmt das, Fräulein?»

Sein Lächeln strahlte einen harten Charme aus, der von einem Schmiß auf der Wange unterstrichen wurde, und ihr Magen zog sich aus einem unerklärlichen Grund vor Erregung zusammen.

«Ja», sagte sie.

Eine Hand packte Schellenbergs Arm und schüttelte ihn wütend. «Hauen Sie endlich ab. Es sei denn, Sie wollen unbedingt eins in die Fresse bekommen.»

Schellenberg war nicht im mindesten beeindruckt. «Ich muß schon sagen, Sie sind ein sehr unartiger kleiner Junge.»

Er wedelte lässig mit der rechten Hand. Zwei Männer in Uniformen, die so schwarz waren wie der Mercedes, stiegen aus dem Wagen und liefen über die Straße. Auf ihren Ärmelaufschlägen waren mit Silberfäden die Buchstaben RFSS aufgenäht – die Abkürzung für Himmlers persönlichen Stab: Reichsführer SS.

Schellenberg sagte: «Ich denke, hier ist eine kleine Lektion angebracht.» Er nahm das Mädchen am Arm. «Mein Fräulein.»

Während er sie mit festem Griff über die Straße führte, hörte sie einen Schlag, einen Schmerzensschrei, aber sie blickte sich nicht um.

 

Eine Viertelstunde später fuhr der Mercedes vor dem Garden Room an den Bordstein und hielt. Hans, der Portier, trat langsam näher und machte ein erstauntes Gesicht, als er sah, wer im Wagen saß. Er öffnete den Wagenschlag, und Schellenberg stieg aus, drehte sich dann um, um ihr behilflich zu sein.

«Hier arbeiten Sie also?» Er betrachtete die Fotos in dem Schaukasten unter dem Plakat. «‹Hanna Winter und das Connie Jones Trio vom Albany Club, New York.› Klingt ganz interessant. Ich muß an einem der nächsten Abende mal vorbeischauen.»

Sie sagte ruhig: «Ich bin Jüdin, das wissen Sie inzwischen, und wie Sie auf den Bildern sehen können, ist Connie ein Neger. Ich glaube kaum, daß wir für einen Angehörigen der Herrenrasse von Interesse sein können.»

«Oh, sagen Sie das nicht. Soweit ich weiß, haben Sie immer ein erlesenes Publikum.» Er lächelte freundlich. «Sollen wir hineingehen?»

«Ich nehme den Personaleingang.»

«Ich benutze dagegen immer die Vordertür.»

Er hatte sie wieder am Arm genommen, und sie ging mit, ohne etwas einzuwenden. Hans riß die Tür für sie auf. Ihr Onkel stand am Empfangstisch und unterhielt sich mit dem Garderobenmädchen. Er war ein verschmitzter, kleiner, freundlicher Herr mit vollem grauem Haar und Stahlbrille, der es trotz seiner weißen Smokingjacke fertigbrachte, irgendwie schmuddelig zu wirken.

Beim Anblick seiner Nichte und Schellenbergs verschwand sofort das Lächeln von seinem Gesicht, und er eilte den Neugekommenen entgegen.

«Hanna, Kleines, was ist passiert? Hast du Schwierigkeiten?»

«Ich hatte welche, aber das ist dank Herrn Schellenberg vorbei. Darf ich vorstellen, mein Onkel, Max Winter.»

«Guten Abend, Herr Winter», sagte Schellenberg liebenswürdig und wandte sich wieder an Hanna.

Sie war gerade zweiundzwanzig geworden, ein zierliches, fast mageres Mädchen mit hübschen Beinen; ein eher reizvolles als schönes Gesicht mit hohen Wangenknochen, dunklen Augen und schwarzen Haaren, die sie entgegen der Mode lang trug.

Er nahm ihre rechte Hand und hielt sie einen Moment fest. «Und jetzt, mein Fräulein, wo ich Sie in einem besseren Licht sehe, bin ich entschlossener denn je, to catch your act – ist das nicht der amerikanische Ausdruck? Aber heute abend habe ich leider keine Zeit mehr dafür.»

Er hob ihre Hand an die Lippen, und sie war sich abermals jener seltsamen, unwillkommenen Erregung bewußt.

«Herr Winter.»

Er ging hinaus, und als Hanna ihren Onkel ansah, registrierte sie, daß er ziemlich bleich geworden war. «Onkel Max, was ist los?»

«Dieser Mann», flüsterte er. «Wo hast du ihn kennengelernt? Weißt du denn nicht, wer er ist? Er ist Walter Schellenberg, SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei. Heydrichs rechte Hand.»

 

Hanna Winter wurde im November 1918, zwei Tage ehe der Waffenstillstand den schrecklichsten aller Kriege beendete, geboren. Ihr Vater, Simon Winter, früher Geiger bei den Berliner Philharmonikern, emigrierte 1920 nach Amerika und eröffnete gemeinsam mit seinem Schwiegervater in New York ein kleines Restaurant in der 42. Straße. In der Prohibitionszeit entwickelte sich das Lokal zu einem außerordentlich beliebten Nachtclub. Wegen einer Brustverwundung, die er als Infanterist an der Somme erlitten hatte, war seine Gesundheit nie gut gewesen, und er starb im Juli 1929.

Nach der Prohibition wurde der Club wieder ein Restaurant und ging unter der klugen Führung von Hannas Mutter glänzend. Hanna war zu einem braven jüdischen Mädchen erzogen worden, das eines Tages heiraten, Kinder bekommen, ein geregeltes bürgerliches Leben führen sollte.

Vielleicht wäre es so gekommen, aber eine Sache stand dieser Entwicklung im Wege: Hanna Winter hatte eine ungewöhnlich schöne Stimme. Sie entdeckte ihr Talent durch Zufall, als sie mit einer Schüler-Jazzband in der High-School sang. Von jenem Tag an kannte sie nur noch ein Ziel.

Schon mit siebzehn Jahren war sie mit Benny Goodman im Paloma Ballroom in Hollywood aufgetreten. Dann war sie als Bandsängerin mit Artie Shaw und Tommy Dorsey auf Tournee gegangen.

Am besten war sie jedoch in dem kleineren Rahmen eines Clubs oder Cabarets, möglichst von einem guten Trio begleitet. Dann konnte sie selbst durchschnittlichen Schlagern eine Intensität verleihen, die vielleicht an das heranreichte, was Bessie Smith mit dem Blues gemacht hatte.

Und sie hätte jetzt zusammen mit Bing Crosby in den Paramount-Studios in Hollywood einen Film drehen können, wäre nicht Onkel Max gewesen, der jüngere Bruder ihres Vaters, der die ganze Familie in Angst und Schrecken versetzt hatte, als er – obgleich seit fünfundzwanzig Jahren naturalisierter Amerikaner – 1937 in seine Heimatstadt zurückgegangen war, um dort einen Nachtclub zu eröffnen.

Deshalb war Hanna jetzt in Berlin. Um ihn zu überzeugen, daß es höchste Zeit war, Hitler-Deutschland wieder zu verlassen. Aber die Ereignisse waren ihr zuvorgekommen. Der Blitzkrieg an der Westfront war vorbei, die Nazis standen am Kanal und betrachteten England als nächste Etappe, von der sie nur noch ein lächerlicher Wasserstreifen trennte.

Sie schminkte sich gerade, als an der Tür geklopft wurde und ihr Onkel eintrat. Er zog sich einen Stuhl heran und zündete sich, während er sie im Spiegel beobachtete, eine der kleinen Zigarren an, die er bevorzugte.

«Nun … was ist geschehen?»

Sie erzählte es ihm schnell, wobei sie sich fertig schminkte, und ging dann hinter den Paravent, um sich umzuziehen.

«Nicht gut», sagte er. «Vielleicht wäre es angebracht, wenn ich dir einige Dinge erklärte. Die SS ist heute in Deutschland allmächtig, und innerhalb der Organisation gibt es noch einen speziellen Nachrichtendienst – den SD. Heydrich leitet ihn, obwohl er Himmler weiterhin untergeordnet ist.»

«Und Schellenberg?»

«Er leitet die Abteilung für Gegenspionage, aber wichtiger ist die Tatsache, daß er Heydrichs Favorit ist. Seine rechte Hand.» Sie antwortete nicht, als sie sich das lange schwarze Kleid über den Kopf streifte und achtgab, daß das Make-up nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde. «Verstehst du, was das bedeutet?»

«Ehrlich gesagt, nein», sagte sie, hinter dem Wandschirm hervorkommend und sich umdrehend, damit er die Knöpfe an der Rückseite des Kleids zuknöpfen konnte. «So viele Titel – so viele Namen. Es ist alles sehr verwirrend. Und die Uniformen – jeder zweite, den man trifft, scheint eine zu tragen.»

Er nahm ihre Hand. «Wir sind hier nicht in der zweiundvierzigsten Straße, Hanna.»

Sie setzte sich ihm gegenüber. «Das stimmt, Onkel Max. Laß uns also nach Haus fahren.»

«Du fährst», sagte er. «Ich habe alles arrangiert – Fahrkarten und alles.»

«Wie bitte?»

«Connie und die Jungs fahren Montag morgen mit dem Zug nach Paris. Dort nehmen sie den Schlafwagen nach Madrid – zusammen mit dir.»

«Und wann wurde dies alles beschlossen?»

«Heute. Die Jungs treten eine Woche lang im Flamenco Club auf. Das hast du doch gewußt.»

«Ich bin aber nicht mitengagiert.»

«Nein, aber du fährst einfach weiter nach Lissabon, von dort gehen viele Schiffe nach New York. Vielleicht bekommst du sogar einen Platz im Wasserflugzeug – im Clipper.»

«Und du?»

«Ich habe hier noch einige Sachen zu erledigen.»

«Dann fahre ich auch nicht.»

«O doch, du fährst, Kleines.» Noch nie hatte seine Stimme diesen Tonfall gehabt, wenn er mit ihr sprach. Er tätschelte ihre Hand und stand auf. «Wir haben heute abend eine Menge Gäste. Ich gehe jetzt besser und schaue nach, wie das Essen ankommt.»

Als er die Tür erreicht hatte, sagte sie: «Onkel Max, du steckst in irgend etwas drin, nicht wahr? Ist es eine ernste Sache?»

Er lächelte liebevoll. «Bis nachher. Wenn du die Gäste erobert hast, Kleines.»

Die Tür schloß sich leise hinter ihm, und sie saß da und starrte in den Spiegel, unfähig, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Einen Augenblick später klopfte es wieder, und Connie Jones steckte den Kopf ins Zimmer.

«Bist du soweit?»

Sie zwang sich zu einem Lächeln. «Weiter geht’s nicht.»

Connie war ein großgewachsener, ungeschliffen wirkender Neger von 45 Jahren, mit kurzgeschnittenen, ergrauenden Haaren. Er war in New Orleans zur Welt gekommen und aufgewachsen und konnte seit dem frühen Alter von sieben Jahren wie ein Meister Klavier spielen, aber Noten konnte er bis heute noch nicht lesen.

«Trouble?» fragte er, sich auf den Rand ihres Schminktisches setzend.

«Onkel Max hat mir eben gesagt, daß ich Montag mit euch fahren muß.»

«Stimmt. Vierzehn Stunden bis Paris, dann von der Gare d’Austerlitz im Nachtexpreß nach Madrid! Ich kann den Staub dieser Stadt nicht schnell genug von meinen Füßen schütteln.» Er zündete sich eine Zigarette an. «Du machst dir Sorgen um den alten Herrn, nicht wahr?»

«Er sagt, er kommt nicht mit, aber wenn er hierbleibt …»

«Dein Onkel Max weiß besser als jeder andere, was er tut, Darling. Ich würde mich da nicht einmischen.» Er nahm ihre Hand. «Du grübelst zu viel, und das ist nicht gut, weil wir gleich eine Show hinlegen müssen. Vorwärts.»

Sie holte tief Luft, stand auf und folgte ihm durch die Tür, wo sie sich sofort wieder der typischen Geräusche des Nachtlokals bewußt wurde. Gesprächsfetzen, Lachen, Gläserklirren. Die Atmosphäre war von einer Elektrizität, die nie ihre Wirkung auf sie verfehlte.

Zwei andere Schwarze warteten im Halbdunkel neben dem kleinen Podest, beide jünger als Connie. Billy Joe Hale, der Bassist, und Harry Graf, der Schlagzeuger. Sie drückten ihre Zigaretten aus und traten mit Connie auf die Minibühne.

Hanna wartete, bis die Scheinwerfer die Bühne in grellweißes Licht tauchten und die Stimme von Onkel Max aus dem Hintergrund des Raumes ertönte: «Und nun präsentiert der Garden Room voll Stolz … die unübertreffliche Hanna Winter, direkt aus New York!»

Während Connie und die Jungs ein mitreißendes Arrangement des «St. Louis Blues» intonierten, trat sie unter donnerndem Beifall auf das Podium und begann, sich alles von der Seele zu singen.

 

Reinhard Heydrich stammte, im Gegensatz zu vielen anderen führenden Nationalsozialisten, aus besseren Verhältnissen. Aufgrund eines Ehrenverfahrens mußte er seinerzeit aus der Marine ausscheiden, trat dann umgehend der SS bei, und bald darauf bestimmte Himmler ihn zu seinem Stellvertreter. Den Aufstieg zum Leiter der Geheimen Staatspolizei in Berlin hatte er nicht nur seinen Führungsqualitäten und seiner überlegenen Intelligenz, sondern mindestens ebensosehr seinem totalen Mangel an Menschlichkeit zu verdanken.

Als Schellenberg eintrat, saß er am Schreibtisch seines Büros in der Prinz-Albrecht-Straße und trug noch die Galauniform eines SS-Obergruppenführers, denn er hatte gerade mit Hitler in der Reichskanzlei gespeist.

«Ah, da sind Sie ja, Schellenberg», sagte er leutselig. «Wie ich höre, waren Sie heute abend sehr beschäftigt. Sie haben sich ritterlich um die kleine amerikanische Sängerin bemüht, um dieses Fräulein Winter …»

«Gibt es eigentlich etwas, das Sie nicht wissen?» sagte Schellenberg. «Es ist noch kaum eine halbe Stunde her!»

«In unserer bösen Welt überlebt man nur, wenn man alles weiß, was es über alles und jeden zu wissen gibt, mein lieber Schellenberg.»

«Was in diesem Fall zu bedeuten scheint, daß die Leute, die für mich arbeiten, zuerst zu Ihnen kommen, um Meldung zu erstatten.»

«Selbstverständlich», lächelte Heydrich. «Erzählen Sie mir von ihr. Wie lange wird sie schon beschattet?»

«Seit ihrer Ankunft. Zwei Monate.»

«Und sie hat Ihnen wirklich die kleine Inszenierung von heute abend abgekauft?»

«Ich glaube, ja.»

«Was wollen Sie eigentlich von ihr? Einlaß in ihr Kämmerlein oder Informationen?»

«Sie wissen doch, daß wir es auf ihren Onkel abgesehen haben», antwortete Schellenberg. «Die Tatsache, daß er amerikanischer Staatsbürger ist, kompliziert die Angelegenheit.»

«Aber er ist gebürtiger Deutscher», sagte Heydrich ungeduldig. «Ich habe seine Akte gesehen, und Bürger des Reichs haben nicht das Recht, die Nationalität zu wechseln.»

«Die Amerikaner könnten da anderer Ansicht sein», entgegnete Schellenberg. «Und es ist kaum der geeignete Zeitpunkt, Washington zu verstimmen.»

«Sind wir in der Sache Winter nun weitergekommen oder nicht?»

«Nicht richtig. Wie Sie seiner Akte entnehmen können, besuchte er als junger Mann die Berliner Universität und war Mitglied der Kommunistischen Partei. Ich glaube, er ist ein Agent der Sowjets. Er hat zweifellos etwas mit dem bolschewistischen Untergrund zu tun, und wahrscheinlich hilft er auch mit, Juden illegal aus dem Reich zu schleusen.»

«Worauf warten Sie dann? Verhaften Sie ihn.»

«Noch nicht», sagte Schellenberg. «Wenn wir noch ein bißchen Geduld haben, bekommen wir nicht nur ihn, sondern seine ganze Organisation dazu. Er wird rund um die Uhr überwacht.»

Heydrich runzelte die Stirn, nickte dann. «Sehr gut. Ich gebe Ihnen noch eine Woche. Sieben Tage, und dann …» Er stand auf. «Was steht jetzt auf Ihrem Programm?»

Schellenberg wußte, was nun kommen würde. «Nach Hause gehen und mich hinhauen», antwortete er trotzdem.

«Unsinn.» Heydrich grinste. «Der Abend ist noch jung. Wir machen einen kleinen Zug durch die Gemeinde. Schenken Sie sich ein Glas ein, ich ziehe nur schnell Zivil an.»

Er ging hinaus, und Schellenberg seufzte, trat an den Barschrank und griff zu einer Flasche Scotch.

Er war in Saarbrücken geboren – 1910, als Sohn eines Klavierbauers. Kultiviert, intelligent und sprachbegabt, hatte er sich mit neunzehn Jahren an der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn eingeschrieben, zwei Jahre später aber begonnen, Rechtswissenschaften zu studieren.

Der vielversprechende, aber mittellose junge Mann sah seine Chance, als die NSDAP1933 an die Macht kam: Er ging auf den Vorschlag eines seiner Professoren ein, der SS beizutreten. Seine Sprachbegabung erregte die Aufmerksamkeit Heydrichs, der ihn sofort zum SD abstellte, wo er eine kometenhafte Karriere machte.

Eine Reihe erfolgreicher Geheimdienstoperationen hatte Schellenbergs Stellung gefestigt, vor allem das Unternehmen Venlo im Jahr 1939, bei dem er einen Angehörigen des Widerstands gespielt hatte, um das Vertrauen von drei in Holland tätigen Agenten des britischen Geheimdienstes MI 5 zu gewinnen. Das führte dazu, daß die drei Männer von SS-Leuten auf deutsches Gebiet verschleppt wurden.

Vom Führer persönlich dekoriert, war er zum Brigadeführer und Polizei-Generalmajor befördert worden, obgleich er erst dreißig Jahre alt war.

Er hatte selbstverständlich Feinde, aber Heydrich und dessen Frau mochten ihn so sehr, daß sie ihn in die maßgeblichen Berliner Kreise einführten. Das kostete freilich seinen Preis, nicht zuletzt die gelegentlichen nächtlichen Touren mit Heydrich, der einen kaum zu stillenden sexuellen Appetit hatte und sich am wohlsten fühlte, wenn er die Bars und Nachtclubs vom Kurfürstendamm und Alexanderplatz unsicher machen konnte.

Die größte Ironie lag indessen darin, daß Walter Schellenberg kein Nazi war. Heydrich, Himmler, sogar Hitler verließen sich mit der Zeit stillschweigend auf sein Urteil in Geheimdienstfragen, doch im Grunde identifizierte er sich nicht mit den Machthabern, hegte für sie ebensoviel Verachtung wie für sich selbst: ein neutraler Beobachter des tragischen Mummenschanzes.

Der Regen prasselte ans Fenster, als er das Glas hob und seine Betrachtungen mit einem spöttischen Prost beendete.

3

Am Donnerstag kurz vor zwölf Uhr mittags arbeitete Schellenberg in seinem Büro in der Prinz-Albrecht-Straße, als das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Er erkannte die Stimme des Anrufers sofort – von Ribbentrop, der Reichsaußenminister.

«Schellenberg, sind Sie frei? Ich würde gern kurz mit Ihnen reden. Könnten Sie herüberkommen?»

«Etwas Besonderes?» fragte Schellenberg.

«Eine Sache von allergrößter Wichtigkeit.»

Schellenberg rief danach sofort Heydrich an und informierte ihn, denn er wußte, wie ungehalten sein Chef werden konnte, wenn Außenstehende seine persönliche Autorität ignorierten, indem sie den Dienstweg umgingen und seine Mitarbeiter auf diese Weise einspannten. Diesmal war Heydrich allerdings neugierig und wies ihn an, zu Ribbentrop zu fahren – und ihm anschließend genauestens zu berichten.

 

Von Ribbentrop empfing Schellenberg in seinem privaten Arbeitszimmer im Außenministerium.

«Schön, daß Sie gleich gekommen sind. Setzen Sie sich, ich komme sofort zur Sache. Ich spreche übrigens im Namen des Führers persönlich mit Ihnen über diese Angelegenheit. Es versteht sich also von selbst, daß sie absolut geheimgehalten werden muß.»

Schellenbergs Interesse erwachte sofort. «Ich verstehe.»

«Haben Sie zufällig den Herzog von Windsor kennengelernt, als er neunzehnhundertsiebenunddreißig seine Deutschlandreise machte?»