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Der gnadenlose Kampf zweier Männer, die eine alte, böse Rechnung zu begleichen haben, ist Mittelpunkt der verblüffend gebauten Handlung. Beide sind zu Hause in der Welt der Agenten und dunklen Drahtzieher. Martin Brosnan, der sich eigentlich von den nervenzerfetzenden Einsätzen zurückziehen will, ist ein Idealist Graham Greenescher Prägung, und sein Idealismus wird einmal zuviel mißbraucht. Sein Gegenspieler ist ein knochenharter Söldnertyp, der für Geld und aus Freude am bitterbösen Spiel selbst den wahnwitzigsten Auftrag annimmt. Dieser Roman des international erfolgreichen Thriller-Autors Jack Higgins zeigt besonders überzeugend, wie glänzend er sein Handwerk beherrscht – die raffinierte Mischung aus Dramatik, authentischen Fakten und einfallsreicher Fiktion, mit der er Spannung zu absoluter Höhe treibt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 356
Veröffentlichungsjahr: 2016
Jack Higgins
Die Teufelsrose
Roman
Aus dem Englischen von Jürgen Bavendam
FISCHER Digital
Vietnam 1968
Der Rettungshubschrauber schwebte in tausend Fuß Höhe über das Delta. Der schwer armierte Geleithelikopter, ein Huey Cobra, hielt sich links von ihm. Es sah nach Regen aus, die Wolken über dem Dschungel hingen tief, und am fernen Horizont grollte Donner.
In einer Ecke der Rettungsmaschine saß Anne-Marie Audin mit geschlossenen Augen an eine Kiste voll Lazarettmaterial gelehnt. Sie war eine zierliche Frau mit olivfarbenem Teint und schwarzen Haaren, die – eine Konzession an die Lebensumstände an der vietnamesischen Front – millimeterkurz geschnitten waren. Sie trug eine offene Fallschirmspringerjacke, ein Buschhemd aus Khaki und lange Hosen, die in französische Fallschirmspringerstiefel gesteckt waren. Das Auffallendste an ihr waren die beiden Kameras, zwei Nikons, die sie an Lederriemen um den Hals trug; die großen Taschen ihrer Jacke enthielten nicht etwa Munition, sondern verschiedene Objektive und Dutzende von 35-Millimeter-Filmen.
Der junge Sanitäter, der neben dem schwarzen Zugführer saß, musterte sie mit unverhohlener Bewunderung. Die beiden oberen Knöpfe ihres Buschhemds waren offen und gaben den Ansatz der festen Brüste frei, die sich leicht hoben und senkten, während sie schlief.
«Lange her, seit ich sowas gesehen habe», sagte er.
«Kann man wohl sagen, Junge.» Der Zugführer reichte ihm eine Zigarette. «Wo die schon überall gewesen ist! Letztes Jahr ist sie sogar mit dem Fünfhundertdritten in Katum gesprungen. Sie hat alles hinter sich, was du dir vorstellen kannst. Vor sechs oder sieben Monaten hat Life einen Bericht über sie gebracht. Sie ist aus Paris, kannst du das fassen? Und aus einer von den Familien, denen ein großes Stück der Bank von Frankreich gehört.»
Der Junge riß erstaunt die Augen auf. «Was, zur Hölle, macht sie dann hier?»
Der Zugführer griente. «Mich darfst du nicht fragen. Ich weiß nicht mal, was ich hier mache.»
«Haben Sie eine Zigarette für mich?» fragte Anne-Marie.
Ihre Augen sind grüner als alles, was ich je gesehen habe, dachte der Zugführer, als er ihr eine Schachtel zuwarf. «Behalten Sie sie.»
Sie schüttelte eine heraus und zündete sie mit einem alten, aus einer Messingpatrone gefertigten Feuerzeug an, schloß dann wieder die Augen, ließ die Zigarette zwischen zwei Fingern nach unten baumeln. Der Junge hatte natürlich recht gehabt. Was machte sie hier, die junge Frau, die alles hatte? Einen Großvater, der sie vergötterte, einer der reichsten und mächtigsten Industriellen Frankreichs. Einen Vater, der Indochina überlebt hatte, um dann in Algerien zu fallen, Colonel der Infanterie, fünfmal dekoriert, Ritter der Ehrenlegion. Ein wirklicher Held und tot, wie es sich für einen Helden ziemt.
Ihre Mutter, die sich nie von dem Schlag erholt hatte, war zwei Jahre später mit dem Auto bei Nizza verunglückt. Anne-Marie dachte oft, das Steuer sei in jener Nacht auf der Gebirgsstraße absichtlich herumgerissen worden, damit der Porsche über die Böschung in die Tiefe stürzte.
Armes kleines reiches Mädchen. Ihr Mund verzog sich zu einem ironischen Lächeln, ihre Augen waren noch geschlossen. Die Häuser, die Villen, das Personal, die feinen englischen Schulen und dann die Sorbonne; ein Jahr in der erstickenden Universitätsatmosphäre hatte ihr gereicht. Ach ja, nicht zu vergessen die Affären und der kurze Drogenflirt.
Was sie gerettet hatte, war die Kamera. Seit ihrer ersten Kodak, mit acht Jahren, hatte sie eine Schwäche für Fotografie gehabt, die sich im Lauf der Jahre zu «Anne-Maries kleinem Hobby» entwickelte, wie ihr Großvater sich ausdrückte.
Nach der Sorbonne hatte sie mehr daraus gemacht. Sie hatte sechs Monate bei einem der besten Pariser Modefotografen gelernt, war dann als festangestellte Fotografin zu Paris-Match gegangen. In nur einem Jahr hatte sie sich einen Namen gemacht, aber es war nicht genug gewesen, nicht annähernd genug, und als sie darum gebeten hatte, nach Vietnam geschickt zu werden, hatte man sie ausgelacht.
Also hatte sie gekündigt, um frei zu arbeiten, und hatte ihren Großvater in einer langen, hartnäckigen Diskussion schließlich soweit gebracht, seinen enormen politischen Einfluß geltend zu machen, um ihr vom Verteidigungsministerium die notwendigen Papiere zu verschaffen. An jenem Tag hatte eine neue Anne-Marie vor ihm gestanden: ein Mädchen von rücksichtsloser Entschlossenheit, das ihn überraschte. Ihn wider Willen mit Bewunderung erfüllte. Sechs Monate, hatte er gesagt. Höchstens sechs Monate, und sie hatte es versprochen, aber schon damals hatte sie ohne jeden Zweifel gewußt, daß sie das Versprechen nicht halten würde.
Sie hielt es nicht, denn als die Zeit um war, war es zu spät, um kehrtzumachen. Sie war berühmt, ihre Fotos erschienen in den großen europäischen und amerikanischen Zeitschriften. Time, Paris-Match, Life, alle hatten diese verrückte französische Göre, die in Katum mit den Paras abgesprungen war, unter Exklusivvertrag nehmen wollen. Das Mädchen, dem kein Job zu strapaziös oder zu gefährlich war.
Was sie auch gesucht haben mochte, sie fand jedenfalls heraus, was der Krieg war – zumindest in Vietnam. Keine Bilderbuchschlachten. Keine Fanfarenstöße, kein fernes Trommelrühren, das die Herzen schneller schlagen ließ. Sondern blutige Straßenkämpfe bei der Tet-Offensive in Saigon; die Sümpfe im Mekong-Delta, die Dschungel im zentralen Hochland. Die Geschwüre an den Beinen, die sich wie Säure durch den Knochen fraßen und Narben hinterließen, die nie verschwinden würden.
Und so war sie hierher gekommen, in diesen Hubschrauber. Den ganzen Morgen hatte sie bei strömendem Regen in Pleikic auf eine Transportmöglichkeit nach Din To gewartet, bis der Sanitätstrupp sie auflas. Gott, war sie müde, müde wie noch nie in ihrem Leben. Vielleicht habe ich das Ende von etwas erreicht, dachte sie. Sie runzelte die Stirn. Und dann stieß der Zugführer einen lauten Ruf aus.
Er hing in der offenen Tür und zeigte nach Osten, wo eben, ein paar hundert Meter weiter, eine Flamme in den Himmel geschossen war. Der Hubschrauber schwenkte in die Richtung und ging tiefer, gefolgt von dem Huey Cobra.
Anne-Marie war aufgesprungen und stand nun gebückt neben dem Zugführer, spähte hinunter. Am Ende eines Reisfelds lag ein brennendes Hubschrauberwrack, daneben erkannte sie mehrere reglose Körper. Der Mann, der auf dem Damm stand und verzweifelt winkte, trug eine amerikanische Uniform.
Der Rettungshubschrauber ging tiefer, der Geleithelikopter kreiste über ihnen, und Anne-Marie steckte ein Objektiv auf eine Nikon, lehnte sich an die Schulter des Zugführers, um nicht hinauszufallen, und fing an zu knipsen.
Er wandte den Kopf und lächelte ihr zu, und als sie dann nur noch 30 Meter hoch waren, wurde sie sich, seltsam gelassen, bewußt, daß das Gesicht, das sie im Sucher hatte, vietnamesisch war – nicht amerikanisch. Ein paar schwere Maschinengewehre eröffneten aus dem etwa 50 Meter entfernten Dschungel das Feuer, und aus dieser Entfernung konnten sie das Ziel nicht verfehlen.
Der Zugführer, der in der offenen Tür stand, hatte keine Chance. Kugeln schlugen in ihn hinein und warfen ihn nach hinten, gegen Anne-Marie, die auf die Lazarettkisten gedrückt wurde. Sie schob den Toten zur Seite und ging auf ein Knie. Der junge Sani kauerte in der anderen Ecke, hielt einen blutigen Arm, und als eine neue MG-Garbe das Cockpit durchsiebte, hörte sie den Piloten aufschreien.
Sie taumelte nach vorn, hielt sich an einer Verstrebung fest; im selben Augenblick ruckte der Helikopter heftig hoch, und sie stürzte durch die offene Tür in das schlammige, überschwemmte Reisfeld. Der Hubschrauber hüpfte zehn oder zwölf Meter hoch, kippte scharf links ab und explodierte in einem großen Feuerball. Ein paar Sekunden regnete es schrapnellgleich brennenden Treibstoff und glühendheiße Metallsplitter.
Anne-Marie rappelte sich auf und stand schmutzbedeckt auf dem schmalen Deich, vor dem Mann in amerikanischer Uniform, der ein Vietnamese war. Das Gewehr, das er auf sie gerichtet hielt, war ein sowjetisches AK 47. Sechs oder sieben Vietnamesen mit Strohhüten und weiten schwarzen Hosen krochen weiter hinten aus dem Graben und kamen den Damm entlang auf sie zu.
Der Huey Cobra näherte sich endlich, und seine schweren MGs spritzten längs dem Damm Schlamm auf und trieben die Vietkong zurück in den Graben. Als Anne-Marie hochblickte, schwebte der schwere Helikopter genau über ihr; dann kamen 40 oder 50 reguläre nordvietnamesische Soldaten in Khakiuniform auf der anderen Seite des Reisfelds aus dem Dschungel und beschossen den Huey mit allem, was sie hatten. Der Kampfhubschrauber flog auf sie zu, feuerte seine Raketen ab, und die Vietnamesen zogen sich hastig in den Dschungel zurück. Der Hubschrauber wendete und flog einen knappen Kilometer weit fort, nach Süden, um dann das gesamte Gebiet langsam zu umkreisen.
Anne-Marie kauerte am Damm und versuchte, Atem zu schöpfen. Dann stand sie benommen auf. Es war sehr still, und sie blickte sich um, betrachtete den Schauplatz des Gemetzels, die teilweise von Schlamm und Wasser bedeckten Leichen, den ausgebrannten Hubschrauber. Ein Bild der Verwüstung, und 30 oder 40 Meter weiter ein dichter Streifen Schilf. Sie war wohl noch nie so sehr in Gefahr gewesen, und sie war völlig allein, angewiesen auf die Verstärkung, die der Huey Cobra sicher schon per Funk angefordert hatte. Bis dahin konnte sie wirklich nur eines tun.
Die Nikons an ihrem Hals waren schlammbespritzt. Sie holte ein Objektiv aus einer Jackentasche und legte einen neuen Film ein. Sie watete durch knietiefes Wasser und fotografierte, stieß Körper fort, die sich kalt anfühlten, wie Gegenstände. Und dann drehte sie sich um und sah drei Vietkongs, die 15 oder 20 Meter vor ihr standen.
Stille. Die ernsten orientalischen Gesichter zeigten keinerlei Ausdruck. Der Vietnamese in der Mitte, ein Junge von 15 oder 16 Jahren, hob sein AK 47 und richtete es auf Anne-Marie, und sie richtete ihre Nikon auf ihn. Tod, dachte sie. Das letzte Bild von allen. Ein schöner Junge in Schwarz. Über ihren Köpfen grollte Donner, die ersten schweren Tropfen fielen vom Himmel, und dann ertönte durch den Regen ein hoher, sonderbarer Schrei.
Der Vietkong drehte sich langsam um. Hinter ihnen tauchte ein Mann aus dem hohen Schilf auf und bewegte sich mit langen, gelassenen Sprüngen, wie in Zeitlupe, auf sie zu. Er hatte ein Stirnband aus Khaki um den Kopf, an seiner Tarnjacke hingen Handgranaten, das M 16 in seinen Händen feuerte bereits, der Mund war zu jenem wilden Schrei geöffnet.
Reflexartig richtete sie die Kamera auf die Szene und knipste weiter, als er einen, dann den anderen Vietnamesen aus der Hüfte feuernd erledigte, das M 16 leerte und den Jungen erreichte, der hartnäckig weiterschoß, in einem Winkel, in dem er nichts treffen konnte. Der Kolben des M 16 fuhr hinunter, zerschmetterte Knochen, der Junge ging zu Boden. Ihr Retter machte sich nicht mal die Mühe, neu zu laden, nahm einfach ihre Hand, drehte sich um und bahnte sich durch das gurgelnde Wasser einen Weg zurück ins Schilf.
Nun waren hinter ihnen auf dem Damm Stimmen, und es wurde wieder geschossen. Es war, als träte sie jemand ans linke Bein, mehr nicht, und sie fiel abermals hin. Er sauste herum, rammte ein Magazin in das M 16, nahm den Damm unter Feuer, und dabei lachte er, das war das Schreckliche, das ihr auffiel, während sie zu ihm hochsah und aufzustehen versuchte. Als er nach unten langte und ihr aufhalf, war sie sich einer Energie bewußt, einer elementaren Kraft, die ihr Begriffsvermögen zu sprengen drohte. Dann stand sie wieder auf den Füßen, und sie erreichten das sichere Schilf.
Sie saß auf einer kleinen Sandbank im Wasser, als er ihre Khakihose mit einem Messer aufschlitzte und die Wunde untersuchte.
«Sie haben noch Glück gehabt», sagte er. «Glatter Durchschuß. Sicher ein M 1. Ein AK hätte den Knochen zersplittert.»
Geschickt legte er einen Notverband an, brach eine Morphiumspritze auf und verpaßte ihr die Injektion. «Sie werden es brauchen. Eine Schußwunde tut zuerst nie weh. Der Schock ist zu groß. Die Schmerzen kommen später.»
«Wissen Sie das aus eigener Erfahrung?»
Er lächelte kurz. «Kann man sagen. Ich würde Ihnen gern eine Zigarette geben, aber ich hab mein Feuerzeug verloren.»
«Ich habe eins.»
Er öffnete eine Blechschachtel mit Zigaretten, steckte sich zwei in den Mund und machte die Schachtel sorgfältig wieder zu. Sie gab ihm das Messingfeuerzeug. Er zündete die Zigaretten an, schob ihr eine zwischen die Lippen und musterte das Feuerzeug genauer.
«Siebenkommasechszwei Millimeter, russisch. Das ist interessant.»
«Von meinem Vater. Er rettete im August 1944 einen deutschen Fallschirmspringer, einen Oberst, der von Partisanen erschossen werden sollte. Der Oberst schenkte ihm das Feuerzeug zur Erinnerung. Er fiel dann in Algier», sagte sie. «Ich meine, mein Vater. Nachdem er das hier überlebt hatte.»
«Sie haben Grund zur Ironie.» Er reichte ihr das Feuerzeug zurück. Sie schüttelte den Kopf und sagte, ohne selbst zu wissen warum: «Nein, behalten Sie es.»
«Zur Erinnerung an Sie?»
«Nein, an die Toten», sagte sie. «Wir werden diesen Platz beide nicht lebend verlassen.»
«Oh, ich weiß nicht. Der Cobra ist noch da. Ich würde sagen, die ‹Kavallerie› müßte in den nächsten zwanzig Minuten eintreffen, genau wie im MGM-Western. Gerade noch rechtzeitig. Ich sage ihnen besser Bescheid, daß wir hier warten.»
Er zog eine Signalpistole aus einer Seitentasche und feuerte eine rote Leuchtrakete in den Himmel.
«Könnte das nicht der Vietkong sein, der sie wieder irreführen will?»
«Wohl kaum.» Er feuerte noch eine rote Rakete ab, dann eine grüne. «Das sind die Farben von heute.»
Ihr Bein fing an wehzutun. «Aber jetzt wissen sie, wo wir sind. Ich meine, der Vietkong.»
«Sie haben es schon vorher gewußt.»
«Und werden sie kommen?»
«Ich glaube, ja.»
Er wischte das M 16 mit einem Lappen ab, und sie hob die Nikon und stellte sie ein. Wie sie später erfuhr, war er 23 und genau 1,80 Meter groß. Breite Schultern, dunkle Haare, die von dem Stirnband gebändigt wurden und ihm das Aussehen eines Straßenräubers verliehen. Die Haut wurde von hohen Wangenknochen ein wenig gespannt, Bartstoppel bedeckten die hohlen Wangen und das spitz zulaufende Kinn. Das Markanteste an seinem Gesicht waren jedoch die Augen, grau, wie Wasser über einem Stein, ruhig, ausdruckslos, Geheimnisse bergend.
«Wer sind Sie?» sagte sie.
«Sergeant Martin Brosnan. Airborne Rangers.»
«Was ist hier passiert?»
«Ein gemeiner Hinterhalt. Diese schlauen kleinen Bauern, die halb so groß sind wie wir und eigentlich vor uns davonlaufen sollten, haben uns genauso reingelegt wie euch. Wir hatten eine Routinepatrouille gemacht und waren abgeholt worden. Wollten nach Din To. Wir waren vierzehn, plus Besatzung. Soweit ich sehe, habe ich allein überlebt. Aber vielleicht sitzen hier irgendwo noch ein paar andere.»
Sie machte weitere Aufnahmen, und er runzelte die Stirn. «Sie können einfach nicht aufhören, stimmt’s? Genau wie der Bursche letztes Jahr in Life über Sie geschrieben hat. Sie sind besessen. Jesus, Sie wollten tatsächlich den Jungen knipsen, während er auf Sie schoß!»
Sie ließ die Nikon sinken. «Sie wissen, wer ich bin?»
Er lächelte. «Wie viele Fotografinnen haben es auf die Umschlagseite von Time geschafft?»
Er zündete eine neue Zigarette an und gab sie ihr. Etwas an seiner Stimme verwirrte sie.
«Brosnan», sagte sie. «Der Name sagt mir nichts.»
«Irisch», sagte er. «County Kerry, um genau zu sein. Anderswo in Irland wird man ihn kaum finden.»
«Ich dachte, Sie seien Engländer.»
Er sah sie mit gespieltem Entsetzen an. «Mein Vater würde sich im Grab umdrehen, und meine Mutter, Gott hab sie selig, würde vergessen, daß sie eine Dame ist, und Ihnen ins Gesicht spucken. Gute irische Amerikaner, Marke Boston. Die Brosnans kamen bei der Hungersnot im letzten Jahrhundert rüber, lauter Protestanten, können Sie sich das vorstellen? Meine Mutter ist aber in Dublin geboren. Eine gute Katholikin, und sie hat es meinem Vater nie verziehen, daß er mich nicht in den Schoß der Una Sancta ließ.»
Er redete, um sie von ihrer Lage abzulenken, sie wußte es und mochte ihn deshalb. «Und der Akzent?» sagte sie.
«Oh, den kriegt man, wenn man auf dem richtigen Internat ist. In meinem Fall Andover. Und dann natürlich auf der richtigen Universität.»
«Lassen Sie mich raten. Yale?»
«Meine Familie ist immer dorthin gegangen, aber ich beschloß, Princeton eine Chance zu geben. Es war gut genug für Scott Fitzgerald, und ich hatte den Spleen, auch Schriftsteller zu werden. Hab letztes Jahr den Magister in englischer Literatur gemacht.»
«Aha», sagte sie. «Und was tut ein verwöhnter Jüngling von der Ostküste in Vietnam, und dann noch bei der härtesten Einheit der Army?»
«Das frage ich mich oft selbst», sagte Brosnan. «Eigentlich wollte ich weitermachen und promovieren, und dann ging ich eines Tages in unser Gewächshaus, und da saß Harry, unser Gärtner, und weinte. Als ich ihn fragte, was denn los sei, entschuldigte er sich und sagte, er habe eben gehört, daß sein Sohn Joe in Vietnam gefallen sei.» Brosnan lächelte jetzt. «Aber das wirklich Schlimme war, daß er noch einen Sohn gehabt hatte, Elie, und der war ein Jahr vorher im Delta gefallen.»
Lastendes Schweigen, in dem nur der prasselnde Regen zu hören war.
«Und dann?»
«Meine Mutter ließ ihn ins Haus kommen und gab ihm tausend Dollar. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, weil der Kaschmirpullover und das seidene Sakko, die ich gerade trug, ein Jahr vorher in der Savile Row achthundert gekostet hatten. Und er war so verdammt dankbar.»
Er schüttelte den Kopf, und Anne-Marie sagte leise: «Also machten Sie die große Geste?»
«Ich fühlte seinetwegen Scham, und wenn ich fühle, handle ich. Ich bin ein sehr gefühlsbetonter Mensch.»
Er lächelte wieder, und sie sagte: «Und wie finden Sie es?»
«Vietnam?» Er zuckte mit den Schultern. «Es ist die Hölle.»
«Aber es hat Ihnen Spaß gemacht? Ich glaube, Sie haben eine Begabung fürs Töten.» Er hatte aufgehört zu lächeln, die grauen Augen blickten wachsam. Sie bohrte weiter: «Sie müssen entschuldigen, mein Freund, aber Gesichter sind mein Beruf, verstehen Sie?»
«Ich bin nicht sicher, ob es mir gefällt», sagte er. «Ich bin verdammt gut darin, das weiß ich. Hier draußen muß man gut darin sein, wenn der Kerl, der auf einen zukommt, ein Schießeisen in der Hand hat und man Weihnachten nach Haus fahren möchte.»
Er schwieg eine lange Weile und fügte hinzu: «Aber eines weiß ich. Mir reicht’s jetzt. Meine Zeit ist im Januar um, ich kann es kaum erwarten. Erinnern Sie sich, was T.S. Eliot über die Schritte gesagt hat, die wir nie zu der Tür machen, die wir nie zum Rosengarten öffnen? Nun, von jetzt an werde ich jede Tür öffnen, die ich sehe.»
Das Morphium wirkte nun richtig. Die Schmerzen waren fort, aber ihre Sinne arbeiteten nicht mehr so präzise wie sonst. «Und dann?» fragte sie. «Wieder nach Princeton und promovieren?»
«Nein», sagte er. «Ich habe lange darüber nachgedacht. Ich habe mich zu sehr geändert, um weiterzumachen. Ich werde nach Dublin gehen, ans Trinity College. Ruhe und Frieden. Meine Wurzeln suchen. Ich spreche ganz gut Gälisch, weil meine Mutter es mir als Kind eingepaukt hat.»
«Und vorher?» sagte sie. «Kein Mädchen, das daheim wartet?»
«Höchstens ein Dutzend, aber ich würde mich lieber in ein Straßencafé an den Champs-Elysées setzen und einen Pernod trinken, und dann kommen Sie in einem von diesen Pariser Hemdblusenkleidern.»
«Vergessen Sie nicht den Regen, mein Freund.» Anne-Marie schloß müde die Augen. «Ohne ihn geht es nicht. Damit wir die feuchten Kastanienbäume riechen können», erklärte sie. «Das gehört zu einem Pariser Erlebnis.»
«Wenn Sie meinen», sagte er, und seine Hände legten sich fester um das M 16, als sich ganz in der Nähe etwas im Schilf rührte.
«Ja, Martin Brosnan.» Ihre Stimme war nun sehr schläfrig. «Ich würde es Ihnen gern zeigen.»
«Das ist eine Verabredung», sagte er, ging auf ein Knie und feuerte ins Schilf.
Ein Schmerzensschrei, dann eine lange Antwortsalve, und etwas fuhr Brosnan so heftig in die linke Brust, daß er quer über das Mädchen nach hinten fiel.
Sie bewegte sich schwach, und er richtete sich auf und feuerte mit einer Hand auf den Mann, der aus dem Schilf angriff, und als das Magazin leer war, warf er das Gewehr dem Gegner ins Gesicht, zog sein Kampfmesser und stach, während sie beide zu Boden gingen, unter den Rippen nach dem Herzen.
Er lag eine ganze Weile im Schlamm, ohne den Vietkong loszulassen, wartete, daß er starb, und da knatterten plötzlich zwei Skyraider über sie hinweg, und ein halbes Dutzend hintereinander fliegender Kampfhubschrauber löste sich aus der Regenwolke.
Brosnan stand unbeholfen auf und nahm Anne-Marie, das Gesicht vor Schmerz verzerrt, auf die Arme. Er watete mit ihr durch das Schilf zu dem freien Reisfeld.
«Ich hab Ihnen ja gesagt, daß die Kavallerie kommen wird.»
Sie schlug die Augen auf. «Gerade noch rechtzeitig? Und nun?»
Er grinste. «Eins steht fest. Nach dem hier kann es nur besser werden.»
Ein kalter Wind pfiff über die Seine und peitschte Regentropfen gegen die Fenster des Nachtcafés an der Brücke. Es war ein kleines, trostloses Lokal, sechs oder sieben Tische samt Stühlen, das gewöhnlich von Prostituierten besucht wurde. Aber nicht in einer Nacht wie heute.
Der Kellner hatte die Ellbogen auf die zinkbeschlagene Theke gestützt und las Zeitung. Jack Corder, der einzige Gast, ein großgewachsener, dunkelhaariger Mann Anfang dreißig, saß an einem Tisch am Fenster. Mit seinen Jeans, der abgewetzten Lederjacke und der Schirmmütze glich er fast einem Packer vom Fischmarkt am Ende der Straße, was er entschieden nicht war.
Barry hatte halb zwölf gesagt. Also war Corder, um sicherzugehen, schon um elf gekommen. Jetzt war es halb eins. Nicht daß er sich Sorgen machte. Bei Frank Barry wußte man nie, woran man war, aber das gehörte zur Methode.
Corder zündete sich eine Zigarette an und rief: «Bitte einen café noir und noch einen Cognac.»
Der Kellner nickte, schob die Zeitung zur Seite. In diesem Augenblick läutete das Telefon hinter der Theke. Er nahm sofort ab, drehte sich dann fragend um.
«Heißen Sie Corder?»
«Genau.»
«Anscheinend wartet draußen an der Ecke ein Taxi für Sie.» Er legte auf. «Möchten Sie den Kaffee und den Cognac noch haben, Monsieur?»
«Ich denke, ich nehme nur den Cognac.»
Corder erschauerte aus keinem erkennbaren Grund und leerte den Schwenker mit einem schnellen Zug. «Selbst für November ist es kalt.»
Der Kellner zuckte mit den Schultern. «In so einer Nacht bleiben sogar die Nutten zu Haus.»
«Sehr vernünftig.»
Corder legte einen Schein auf den Tisch und ging hinaus. Der Wind trieb ihm den Regen ins Gesicht, und er schlug den Kragen seiner Jacke hoch, lief zu dem Taxi an der Ecke, einem uralten Renault, riß die hintere Tür auf und stieg ein. Es fuhr sofort an, und er ließ sich in den Sitz sinken. Sie rollten über die Brücke, und die Straßenlaternen, dicke Glasballons, erinnerten ihn unwillkürlich an Oxford, so daß er das sonderbare Gefühl hatte, all das schon mal erlebt zu haben.
Zwölf Jahre meines Lebens, dachte er. Was hätte ich jetzt sein können? Dozent am Balliol-College in Oxford? Möglicherweise Professor an einer weniger interessanten Universität? Statt dessen … Aber sowas zu denken, war sinnlos, völlig sinnlos.
Der Fahrer war ein alter Mann, der dringend eine Rasur brauchte, und Corder war sich der Augen bewußt, die ihn im Rückspiegel beobachteten. Kein Wort fiel, während sie durch Dunkelheit und Regen fuhren, ein Labyrinth von Nebenstraßen passierten, zuletzt auf einen Kai im Hafengebiet abbogen und vor einem Lagerhaus hielten. Eine kleine Lampe beleuchtete das Schild Renoir & Fils – Imports. Der Taxifahrer saß wortlos da. Corder stieg aus, machte die Tür hinter sich zu, und der Renault fuhr fort.
Es war sehr still, nur das Plätschern des Wassers im Hafenbecken, in dem Dutzende von Kähnen vertäut waren. Regen prasselte nieder und verwandelte sich im Lichtkegel der Lampe über dem Schild in Silber. In das Haupttor war eine kleine Tür eingelassen. Als Corder die Klinke drückte, ging sie sofort auf, und er trat ein.
Der Speicher war vollgepackt mit allen möglichen Ballen und Kisten. Es war dunkel, aber am anderen Ende brannte Licht, und er ging darauf zu. Ein Mann saß an einem Tisch, der von einer nackten Glühbirne beleuchtet wurde. Er hatte eine Karte vor sich ausgebreitet; daneben stand eine Aktentasche. Er notierte gerade etwas in ein kleines, ledergebundenes Terminbuch.
«Hallo, Frank», sagte Corder.
Frank Barry blickte auf. «Ah, da sind Sie ja, Jack. Tut mir leid, daß ich Sie durch halb Paris geschleift habe.»
Der Akzent war gutes Internatsenglisch mit einem winzigen Beiklang von Ulster. Barry lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Seine blonden Locken ließen ihn erheblich jünger wirken als 48, und der schwarze Burberry verlieh ihm ein merkwürdig elegantes Aussehen. Ein attraktiver Mann mit einem schmalen Gesicht, der die eine Hälfte seines Mundes ständig zu einem leichten Lächeln verzogen hatte, als amüsiere er sich ununterbrochen über die Welt und ihre Bewohner.
«Etwas Größeres?» fragte Corder.
«Kann man sagen. Haben Sie gewußt, daß der britische Außenminister gerade einen Besuch beim Präsidenten macht?»
«Lord Carrington?» Corder runzelte die Stirn. «Nein, ich hatte keine Ahnung.»
«Es ist auch geheim. Absolute Diskretion. Die neue konservative Regierung möchte die Entente cordiale zementieren, die in den letzten Jahren ziemlich brüchig geworden ist. Wird nicht viel bringen. Für Giscard d’Estaing wird Frankreich immer an erster Stelle stehen, was auch geschieht. Die Abschlußbesprechung ist morgen früh in einer Villa in Rigny.» Er tippte mit einem Finger auf die Karte. «Hier, gut sechzig Kilometer von Paris.»
«Und?» sagte Corder.
«Er fährt gegen Mittag mit dem Auto ab, nach Vézelay. Da ist ein Behelfsflugplatz, wo die RAF den Außenminister erwartet. Es soll so aussehen, als hätte er England nie verlassen.»
«Was soll das alles?»
«Hier.» Barry tippte auf die Karte. «St. Etienne, fünfundzwanzig Kilometer von Rigny, es besteht aus einer Tankstelle mit Werkstatt und einem Straßencafé, das im Augenblick dicht hat. Ein idealer Platz.»
«Wofür?»
«Um den Kerl zu erledigen, wenn er durchfährt. Ein Pkw, vier CRS-Agenten mit Motorrädern. Soweit ich sehe, kein Problem.»
Corder war sich der Kälte bewußt, die ihm bis ins Mark drang. «Das muß ein Witz sein. Wir würden es nicht schaffen. Ich meine, sowas muß doch genauestens geplant und getimed werden.»
«Alles schon gemacht», sagte Barry fröhlich. «Sie sollten mich inzwischen kennen, Jack. Ich schwöre nun mal auf Leute, die für Geld arbeiten. Fanatiker wie Sie – überzeugte Marxisten, die an die Sache glauben – nehmen alles viel zu ernst und können deshalb nicht mehr klar denken. Gegen echte Profis kommen Sie nicht an.»
Der Ulster-Akzent war nun ausgeprägter. Das gehörte dazu, um Charme zu entfalten.
«Wen haben Sie denn genommen?» fragte Corder.
«Drei Killer aus Marseille, die von der Union Corse davonlaufen, weil sie die falschen Dunkelmänner umgebracht haben. Einer von ihnen hat seine Freundin dabei. Sie tun alles, wenn der Preis stimmt: vier falsche Pässe und Flugtickets nach Argentinien.»
Corder starrte auf die Karte. «Und wie soll es gehen?»
«Ganz einfach. Wie ich schon sagte, ist das Café geschlossen. Bleiben also der Besitzer der Werkstatt und seine Frau. Meine Männer kümmern sich um sie, verkleiden sich als Mechaniker und arbeiten ab Viertel nach zwölf an einem Wagen auf dem Vorplatz.»
Corder schüttelte den Kopf. «Wie ich es sehe, wird der Konvoi dort ziemlich schnell durchfahren. Erinnern Sie sich nicht, was in Petit-Clamart passierte, als Bastien und seine Jungs versuchten, General de Gaulle aus dem Hinterhalt zu erledigen? Selbst auf Kernschußweite schafften sie es mit ihren Maschinengewehren nicht, weil das Auto mit dem alten Mann stur weiterfuhr. Sie werden höchstens eine Sekunde haben, dann ist es vorbei.»
«Deshalb müssen wir den Wagen anhalten», sagte Barry.
«Unmöglich. Heutzutage sind die VIP-Fahrer auf eben diese Situation trainiert. Der Karte zufolge läuft die Straße schnurgerade, und die Sicht ist ausgezeichnet. Wenn die Fahrbahn mit einem Auto oder etwas anderem blockiert ist, werden sie einfach wenden und machen, daß sie wegkommen.» Er schüttelte wieder den Kopf. «Nein, Frank, dieser Fahrer wird nicht halten, und es gibt keine Möglichkeit, ihn dazu zu bringen.»
«Oh doch, es gibt eine», sagte Barry. «Hier kommt nämlich das Mädchen ins Spiel, das ich eben erwähnt habe. Im richtigen Augenblick überquert sie die Straße von der Tankstelle aus mit einem Kinderwagen. Sie stolpert und läßt den Kinderwagen los, der dann langsam über die Straße rollt.»
«Sie sind verrückt», sagte Corder.
«Wirklich? Ich habe vor ein paar Jahren für die Rote Armee Fraktion gearbeitet, als sie Schleyer entführten, Sie wissen schon, den Vorsitzenden des westdeutschen Arbeitgeberverbands.» Barry lächelte. «Sehen Sie, Jack, ich kenne die menschliche Natur und bin überzeugt, daß ein Fahrer bremst und anhält, wenn er plötzlich einen Kinderwagen vor sich hat.»
Das stimmte. Es mußte stimmen. Corder nickte. «So gesehen, haben Sie vielleicht recht.»
«Verlassen Sie sich darauf, mein Sohn.» Barry öffnete die Aktentasche und nahm ein Sprechfunkgerät heraus. «Das ist für Sie. Bei Rigny führt ein Feldweg auf einen Hügel mit Apfelbäumen, von dem aus man das Landhaus gut beobachten kann. Ich möchte, daß Sie ab elf Uhr dort sind. Draußen auf dem Hof finden Sie einen Peugeot-Kombi. Der Zündschlüssel steckt. Nehmen Sie ihn.»
«Und dann?»
«Sobald Sie sehen, daß Carrington im Begriff ist abzufahren, rufen Sie mich auf Kanal zweiundvierzig. Sie sagen einfach: ‹Hier Red. Das Paket wird gleich abgeliefert.› Ich sage dann: ‹Hier Grün. Wir nehmen das Paket in Empfang.› Dann machen Sie, daß Sie wegkommen. Ich möchte, daß Sie vor Carrington in St. Etienne sind.»
«Werden Sie auch da sein?»
Barry sah ihn überrascht an. «Wo sollte ich denn sonst sein?» Er lächelte. «Ich war 1959 als Leutnant der Ulster Rifles in Korea, Jack. Das haben Sie nicht gewußt, oder? Ich sage Ihnen noch was. Wenn meine Jungs einen Graben stürmten, war ich immer vorneweg.»
«Mit dem Offiziersstock in der Hand?»
«Jetzt denken Sie wohl an den Ersten Weltkrieg», lachte Barry leise. «Ich hab da unten eine ganze Menge Maoisten getötet, was in Anbetracht meiner jetzigen Situation nicht ohne eine gewisse Ironie ist.» Er klopfte ihm auf die Schulter. «Aber wie dem auch sei, Sie gehen jetzt besser. Ausschlafen und kein Schnaps mehr. Sie brauchen einen klaren Kopf für morgen.»
Corder wog das Sprechfunkgerät in der Hand, steckte es dann in die Tasche. «Dann gute Nacht.»
Seine Schritte hallten in dem hohen Lagerhaus wider, als er zum Tor ging, die eingelassene Tür öffnete und ins Freie trat. Es regnete immer noch. Er ging über den Hof zur Seite des Gebäudes. Der Peugeot stand beim Einfahrtstor, und der Schlüssel steckte, wie Barry gesagt hatte. Corder fuhr los. Seine Hände schwitzten so stark, daß sie am Steuer abrutschten, und er hatte das Gefühl, sein Magen drehe sich um.
Carrington töten – einen der anständigsten und humansten Politiker. Mein Gott, was wird der Bastard sich als nächstes ausdenken? Aber nein, diese Frage brauchte nicht mehr beantwortet zu werden, denn jetzt war Barry endgültig erledigt. Das war das, worauf Corder über ein Jahr gewartet hatte.
Wenig später fand er das Café, das er gesucht hatte, ein kleines Lokal an einer Ecke der Grands Boulevards, das fast rund um die Uhr geöffnet hatte. Drinnen war ein öffentlicher Fernsprecher in einer gläsernen Zelle. Er bestellte einen Kaffee, kaufte bei dem Kellner die nötigen Telefonmünzen, ging in die Zelle und machte die Tür hinter sich zu. Seine Finger zitterten, als er sorgfältig die Londoner Vorwahl und dann die eigentliche Nummer drehte.
Der britische Security Service, genauer das Generaldirektorium des Security Service, DI5, existiert offiziell gar nicht, obgleich es ein großes, rotweißes Backsteingebäude in der Nähe des Hilton einnimmt. Dort rief Corder jetzt an, das heißt, er wählte den Anschluß einer Dienststelle, die Group Four hieß und Tag und Nacht besetzt war.
Der Hörer wurde abgenommen, und eine gleichgültige Stimme sagte: «Sagen Sie, wer Sie sind.»
«Lysander. Ich muß sofort mit Brigadier Ferguson sprechen. Höchste Priorität. Ablehnen unmöglich.»
«Unter welcher Nummer sind Sie zu erreichen?» Er diktierte sie langsam. Die Stimme sagte: «Sie werden nach Sicherheitscheck zurückgerufen.»
Die Leitung war tot. Corder stieß die Tür auf und ging zur Theke. Ein Mann in einem blauen Anzug saß auf einem Stuhl in der Ecke und schlief mit weit geöffnetem Mund. Sonst war niemand da.
Der Kellner schob ihm den Kaffee hin. «Möchten Sie was essen? Vielleicht einen Sandwich mit Schinken?»
«Warum nicht?» sagte Corder. «Ich warte auf einen Anruf.»
Der Kellner drehte sich zum Mikroherd, und Corder tat Zucker in seinen Kaffee. Alle Anrufe für DI5 wurden automatisch mitgeschnitten. In diesem Augenblick würde der Computer sein gespeichertes Stimmprofil mit der Tonbandaufnahme von seinem Anruf vergleichen. Ferguson würde wahrscheinlich zu Haus im Bett sein. Sie würden ihn anrufen und ihm die Nummer geben. Alles in allem zehn Minuten.
Er irrte sich jedoch, denn es dauerte nur fünf Minuten, und als er zum erstenmal vom Sandwich abbiß, läutete das Telefon. Er zwängte sich in die Zelle, schloß die Tür und nahm ab.
«Hier Lysander.»
«Ferguson.» Die Stimme war gespreizt, übertrieben akzentuiert, wie die eines alternden Mimen bei einem zweitklassigen Tourneetheater, der sichergehen will, daß er auch in der letzten Reihe zu hören ist. «Es ist lange her, Jack. Höchste Priorität, wie ich höre.»
«Frank Barry verläßt endlich seine Deckung, Sir.»
Fergusons Stimme wurde schärfer. «Das ist wirklich interessant.»
«Lord Carrington, Sir. Er ist im Augenblick bei Präsident Giscard d’Estaing?»
Eine kurze Pause. Dann sagte Ferguson: «Das darf offiziell niemand wissen.»
«Frank Barry weiß es aber.»
«Das ist schlecht, Jack, sehr schlecht. Ich denke, Sie erzählen besser von Anfang an.»
Corder tat es mit leiser und eindringlicher Stimme. Fünf Minuten später verließ er die Zelle und kehrte zur Theke zurück.
«Ihr Sandwich ist kalt geworden, Monsieur. Möchten Sie ein neues?»
«Ausgezeichnete Idee», sagte Corder. «Und geben Sie mir derweil noch einen Cognac.»
Er steckte eine Zigarette an, lehnte sich auf dem Barhocker zurück und lächelte das erstemal in jener Nacht.
Brigadier Charles Ferguson stand in seiner Wohnung am Cavendish Square neben dem Bett und schlüpfte in seinen Morgenmantel, während er sich die Tonbandaufzeichnung anhörte, die er eben von dem Gespräch mit Corder gemacht hatte. Er war ein großer, leutselig wirkender, entschieden übergewichtiger Mann mit krausen grauen Haaren und Doppelkinn. Er hatte nichts Militärisches an sich, und die Halbmondbrille, die er aufsetzte, ehe er einen kleinen Notizkalender konsultierte, verlieh ihm das Aussehen eines unbedeutenden Professors. In Wahrheit war er aber skrupellos wie Cesare Borgia und ging für sein Land über Leichen.
Es klopfte, und sein Diener, ein ehemaliger Gurkha, der noch damit beschäftigt war, den Gürtel seines Morgenmantels zuzubinden, steckte den Kopf ins Zimmer.
«Tut mir leid, Kim, aber es gibt Arbeit», sagte Ferguson. «Viel Tee und dann Eier mit Speck. Ich werde nicht wieder ins Bett gehen.»
Der kleine Gurkha zog sich zurück, und Ferguson ging ins Wohnzimmer, schürte das Feuer in dem Marmorkamin, schenkte einen doppelten Brandy ein, setzte sich ans Telefon und wählte eine Pariser Nummer.
Der französische Sicherheitsdienst Service de Documentation Extérieur et de Contre-Espionnage – SDECE – hat fünf Sektionen und viele Unterabteilungen. Am interessantesten ist sicher Sektion Fünf, gemeinhin als Aktionsdienst bekannt, die mehr als jeder andere Arm des SDECE für die Zerschlagung der OAS verantwortlich war. Diese Abteilung rief Ferguson an.
Er sagte: «Hier Ferguson von DI5. Colonel Guyon bitte.» Er runzelte ungeduldig die Stirn. «Natürlich ist er zu Haus im Bett. Genau wie ich, jedenfalls bis eben. Sagen Sie ihm, er möchte mich bitte sofort unter dieser Nummer zurückrufen.» Er diktierte sie schnell. «Sehr dringend. Höchste Priorität.»
Er legte auf, und Kim trat, mit Spiegeleiern und Speck, Brot, Butter und Marmelade auf einem silbernen Tablett, ins Zimmer. «Köstlich», sagte Ferguson, als der Gurkha einen kleinen Tisch vor ihm deckte. «Frühstück um halb drei Uhr morgens. Eine fabelhafte Idee. Das sollten wir öfter machen.»
Während er sich eine Serviette um den Hals schlang, klingelte das Telefon. Er nahm sofort ab. «Ah, Pierre», sagte er in schnellem und einwandfreiem Französisch. «Ich hab da was für Sie. Etwas sehr Unangenehmes. Ich glaube nicht, daß Sie sich freuen werden, hören Sie also genau zu.»
In dem Lagerhaus war alles still, nachdem Jack Corder gegangen war. Barry ging zum Tor und verriegelte die eingelassene Tür. Er blieb einen Moment stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden, und als er sich umdrehte, trat ein Mann aus dem Schatten und setzte sich auf den Tischrand.
Nikolaj Romanoff war 50 und arbeitete seit zehn Jahren offiziell als Kulturattaché an der sowjetischen Botschaft in Paris. Sein dunkler Anzug stammte aus der Savile Row, genau wie der blaue Mantel. Er sah recht gut aus, nur ein wenig dekadent, mit einem Gesicht, das an Oscar Wilde erinnerte, und einer silbernen Haarmähne, die besser zu einem Schauspieler gepaßt hätte als zu ihm, einem Oberst des KGB.
«Ich bin mir bei diesem Herrn nicht allzu sicher, Frank», sagte er in perfektem Englisch.
«Ich bin mir bei niemandem allzu sicher», antwortete Barry. «Nicht mal bei Ihnen, alter Junge. Auf jeden Fall ist Jack Corder ein hundertprozentiger Marxist – wenn uns das weiterhilft.»
«Du meine Güte», sagte Romanoff. «Das habe ich befürchtet.»
«Corder hat vor Jahren versucht, der Britischen KP beizutreten, als er in Oxford studierte. Man war der Meinung, jemand wie er könne mehr ausrichten, wenn er den Mund halte und zur Labour Party gehe, was er dann auch tat. Arbeitete sechs Jahre als Organisator bei der Gewerkschaft, machte dann den Fehler, einem Bullen bei einem Bergarbeiterstreik eins mit dem Griff seiner Breithacke über den Schädel zu geben. Der Bulle hatte versucht, Streikbrecher einzuschleusen. Das war vor drei oder vier Jahren. Er mußte sechs Wochen ins Krankenhaus.»
«Und Corder?»
«Zwei Jahre Knast. Die Gewerkschaft wollte ihn danach nicht mal mehr mit der Feuerzange anfassen. Tief in ihrem Innern, wenn es um das Britische geht, sind die Kerle genauso konservativ wie Margaret Thatcher. Als Jack Corder rauskam, ging er nach Frankreich und schloß sich einer anarchistischen Gruppe links von der französischen KP an. Ich nahm ihn damals unter meine Fittiche. Auf jeden Fall brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, oder hat die Desinformationsabteilung des KGB etwa ihre Ziele geändert?»
«Nein», sagte Romanoff. «Wir arbeiten immer noch für das Chaos, und wir sollten möglichst viel Unruhe in der westlichen Welt schaffen. Chaos, Unordnung, Furcht und Ungewißheit, deshalb bezahlen wir Leute wie Sie.»
«Sie haben nicht viel ausgelassen, nicht wahr?» sagte Barry ironisch.
Romanoff sah auf die Karte hinunter. «Wird es auch klappen?»
«Hören Sie, Nikolaj», sagte Barry. «Sie wollen doch nicht wirklich, daß Carrington auf einer französischen Landstraße erschossen wird, oder? Das bewirkt doch nur das Gegenteil, ungefähr so, als erschösse die IRA die Königin. Zuviel zu verlieren, also ist es den Einsatz nicht wert.»
Romanoff sah ihn fragend an. «Welches Spiel ist nun an der Reihe?»
«Sie kennen mich doch», sagte Barry. «Immer das alte Spiel.» Er hielt inne, um dann hinzuzufügen: «Das Geld nehme ich übrigens weiterhin. Chaos, Unordnung, Furcht und Ungewißheit. Ich werde mein Bestes tun, damit Sie mich nicht umsonst bezahlen.»
Romanoff zögerte, zog dann einen großen braunen Umschlag aus der Tasche und schob ihn über den Tisch. Barry ließ ihn zusammen mit der Karte in die Aktenmappe fallen.
«Gehen wir?»
Er schritt als erster zum Tor und öffnete die kleine Tür. Eine Bö trieb ihnen Regen ins Gesicht. Romanoff fröstelte und schlug seinen Kragen hoch.
«1943, als ich vierzehn war, bin ich zu einer Partisanengruppe in der Ukraine gegangen. Ich war zwei Jahre bei ihnen. Damals war es einfacher. Wir kämpften gegen die Nazis. Wir wußten, wo wir standen. Aber jetzt?»
«Eine andere Welt», sagte Barry.
«Eine Welt, in der Sie, mein Freund, nicht mal an Ihr eigenes Land glauben.»
«Ulster?» Barry lachte rauh. «Das Schlamassel habe ich schon vor langer Zeit vergessen. Irgend jemand hat mal gesagt, es gebe nichts Schlimmeres als einen Haufen von unwissenden Leuten, die Grund zur Klage haben. Doch jetzt machen wir besser, daß wir hier wegkommen.»
Die Apfelbäume auf dem Hügel oberhalb von Rigny hätten schon vor Wochen abgeerntet werden müssen. Die Früchte waren überreif, und ihr Geruch durchdrang die überraschend warme Mittagsluft.
Jack Corder lag mit seinem Zeiss-Fernglas im hohen Gras und beobachtete die Villa unten. Es war ein schönes Haus, offenbar aus dem 18. Jahrhundert, mit einer Freitreppe zum Portikus vor dem Haupteingang.
Im Hof standen vier Wagen, wenigstens ein Dutzend CRS-Beamte warteten neben ihren Motorrädern, und am Tor hielten uniformierte Gendarmen Wache. Nicht zu auffällig. Der Präsident hielt es in dieser Hinsicht bekanntlich wie General de Gaulle, weil er unnötiges Aufsehen haßte.
Eine Weile war Corder wieder der Junge aus Yorkshire, der am Fluß Wharfe neben der Brücke im Gras lag. Auf der Wiese an der anderen Seite weideten Schafe. Er war 16, und neben ihm lag ein Mädchen, an dessen Namen er sich nicht mehr erinnerte, und das Leben schien unbegrenzte Möglichkeiten zu bieten. Er fühlte ein schmerzhaftes Verlangen, die Zeit zurückzudrehen und alles, was dazwischen lag, in einen Traum zu verwandeln. Da trat plötzlich der französische Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing aus dem Haus unten am Hügel. Der britische Außenminister folgte ihm.
Die beiden Herren standen, flankiert von ihren Referenten, im Portikus, während Corder das Fernglas neu justierte.
«Jesus», flüsterte er. «Ein Mann mit einem guten Gewehr … mehr ist nicht nötig, um sie beide auszuschalten.»
Der Präsident drückte dem Außenminister die Hand. Keine Umarmung, das war nicht sein Stil. Lord Carrington ging die Stufen hinunter und wurde zu einem schwarzen Citroën geleitet.
Corders Kehle war ausgedörrt. Er nahm das Sprechfunkgerät aus der Tasche, drückte den Knopf und sagte drängend: «Hier Red. Hier Red. Das Paket wird gleich abgeliefert.»
Eine Sekunde später hörte er Barrys kühle, gleichmütige Stimme: «Hier Grün. Wir nehmen das Paket in Empfang.»
Carringtons Wagen rollte, gefolgt von vier CRS-Motorrädern, zum Tor, genau wie Barry vorausgesagt hatte, und Corder sprang auf, drehte sich um und lief über die Wiese zu der Stelle, wo er den Peugeot geparkt hatte.
Er hatte mehr als genug Zeit, um die Hauptstraße vor dem Konvoi zu erreichen, und als er auf sie eingebogen war, trat er aufs Gaspedal und ging auf 120 Stundenkilometer.
Seine Hände schwitzten wieder, seine Kehle war immer noch ausgedörrt, und er zündete sich mit einer Hand eine Zigarette an. Er wußte nicht, was in St. Etienne passieren würde, das war das Dumme. Wahrscheinlich Sonderkommandos vom CRS, Dutzende von Männern, die auf alles schossen, was sich rührte, vielleicht auch auf ihn. Aber er mußte sich dort blicken lassen, er hatte keine andere Wahl, denn sonst würde Barry sofort riechen, daß etwas faul war, und die Sache abblasen und im Nichts verschwinden, wie schon so oft.
Er war nahe bei St. Etienne, als es geschah. Hinter der Einmündung einer Nebenstraße tauchte plötzlich ein CRS-Motorradfahrer auf und kam hinter ihm her, eine unheimliche Gestalt mit Sturzhelm und Schutzbrille und dunkler Montur. Er überholte ihn und winkte ihm zu stoppen, und Corder bremste. Wollte Ferguson ihn etwa auf diese Art raushalten?
Der CRS-Mann hielt vor ihm, stieg von seiner schweren BMW und kippte die Maschine auf den Ständer. Mit dem Finger am Abzug des automatischen Karabiners MAT 49, der an seiner Schulter hing, ging er auf den Peugeot zu und baute sich vor Corder auf, ein anonymes Gesicht hinter einer unförmigen Schutzbrille. Dann schob er die Brille hoch.
«Eine kleine Änderung des Plans», grinste Frank Barry. «Ich fahre vor, Sie folgen mir.»
«Haben Sie es abgeblasen?» fragte Corder erstaunt.
Barry sah ihn überrascht an. «Nein, warum sollte ich?»
Er stieg wieder auf die BMW und fuhr los. Corder folgte ihm einigermaßen ratlos, hatte keine Ahnung, was er jetzt machen sollte. Er tastete nach dem Kolben der Walther-PPK