Der Adler - Martin Österdahl - E-Book

Der Adler E-Book

Martin Österdahl

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Beschreibung

Zwei brutale Morde innerhalb von vierundzwanzig Stunden, zehn sollen es werden – Russlandexperte Max Anger ermittelt in seinem zweiten Fall.

Roslagen, Schweden: Bei einer Auktion wird ein Mann tot aufgefunden. Er wurde in zwei Hälften geteilt, und ihm wurden seltsame Symbole auf Stirn und Adamsapfel geritzt. Der Tote war der Chef der schwedischen Einwanderungsbehörde und nur das erste von hochrangigen Opfern des brutalen Mörders. Während nach dem Untergang des Atom-U-Boots Kursk alle Blicke auf Russland und dessen jungen Präsidenten Putin gerichtet sind, kommt Max Anger hinter die Identität des gefährlichen Serienkillers und deckt eines der dunkelsten Geheimnisse Schwedens auf, das in unmittelbarer Verbindung zu Russland steht …

Die »Max Anger«-Trilogie:

Band 1: Der Kormoran
Band 2: Der Adler
Band 3: Der Geier

Alle Bände sind eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 595

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Buch

Roslagen, Schweden: Bei einer Auktion wird ein Mann tot aufgefunden. Er wurde in zwei Hälften geteilt, und ihm wurden seltsame Symbole auf Stirn und Adamsapfel geritzt. Der Tote war der Chef der schwedischen Einwanderungsbehörde und nur das erste von hochrangigen Opfern des brutalen Mörders. Während nach dem Untergang des Atom-U-Boots Kursk alle Blicke auf Russland und dessen jungen Präsidenten Putin gerichtet sind, kommt Max Anger hinter die Identität des gefährlichen Serienkillers und deckt eines der dunkelsten Geheimnisse Schwedens auf, das in unmittelbarer Verbindung zu Russland steht …

Autor

Martin Österdahl, aufgewachsen in Stockholm und London, hat BWL, Zentral- und Osteuropäische Geschichte und Russisch (Master of Science) studiert. Er arbeitete über zwanzig Jahre für TV-Produktionen und war gleichzeitig Programmdirektor eines schwedischen Fernsehsenders. Mit seiner deutschstämmigen Frau und den drei gemeinsamen Kindern lebt er außerhalb Stockholms.

Von Martin Österdahl bereits erschienen

Der Kormoran · Der Adler

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MARTINÖSTERDAHL

DERADLER

Thriller

Deutsch von Leena Flegler

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Tio svenskar måste dö« bei Bokförlaget Forum, Stockholm.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Copyright der Originalausgabe © 2017 Martin ÖsterdahlFirst published by Bokförlaget Forum, SchwedenPublished by arrangement with Nordin Agency AB, SchwedenCopyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Nike MüllerUmschlaggestaltung: © www.buerosued.deUmschlagmotiv: © plainpicture/miguel sobreiraJaB · Herstellung: SaMSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN978-3-641-21081-6V001www.blanvalet.de

Für Margareta, meine Mutter

Der Raum der geliebten Mara

Ist voller kleiner Wellen

Wenn eine in Bewegung gerät

Wogen alle anderen mit

aus den Dainas, traditionelle lettische Volkslieder und Gedichte

Prolog

Kapitän Ljomkin ließ den Blick durch den Kontrollraum schweifen. Aus der hundertsieben Mann starken Besatzung hatten sich so viele um ihn geschart, wie Platz gefunden hatten; einige knieten am Boden, andere saßen auf Bänken, wieder andere standen.

»Sergei«, hob Ljomkin an. »Uns ist zu Ohren gekommen, dass du eines Tages Admiral der russischen Flotte werden willst. Stimmt das?«

»Ja, Kapitän«, antwortete Sergei, ohne mit der Wimper zu zucken.

Der Kamerad, der neben ihm stand, klopfte ihm auf die Schulter.

»Stimmt, deine Frau hat auch echt überzeugend geklungen, als ich sie im Dezember spätabends im Offiziersclub Widjajewo getroffen hab.«

Die Männer brachen in lautes Gelächter aus. Sergei schüttelte den Kopf und lächelte.

»Und deshalb, Admiral in spe, ist dieser Tag in deinem Leben auch so ein überaus wichtiger Schritt. Fangen wir an.«

Ljomkin drückte Sergei einen großen Blechbecher in die Hand und schubste dann einen rostigen Hammer an, der unter der Decke hin- und herpendelte.

»Bitte.«

Sergei hielt sich den Becher an die Lippen und ließ jetzt seinerseits, wie Ljomkin sehen konnte, den Blick über die Kameraden schweifen. Sie alle sahen ihn erwartungsvoll an: mit festem Blick aus klugen Augen und einem warmen Lächeln auf den Lippen. Auch Ljomkin hatte diesen Initiationsritus bei seiner ersten U-Boot-Fahrt über sich ergehen lassen.

Brüder. Freunde fürs Leben.

Heute wurde Sergei in die Nordflotte und deren unbesiegbare, unbezwingbare U-Boot-Besatzung aufgenommen. Die Männer, die um ihn herumstanden, waren nicht allein aufgrund ihrer Fähigkeiten ausgewählt worden; sie waren außerdem imstande, füreinander einzustehen und während langer Wochen auf engstem Raum tief unter der Wasseroberfläche Hand in Hand zusammenzuarbeiten.

»Heute werde ich Teil dieser U-Boot-Besatzung«, hob Sergei an. »Ich trinke Wasser aus der Barentssee aus achtzig Metern Tiefe – in einem Zug und ohne Atempause.«

Er sah zu seinem Kapitän.

Mit einem Nicken gab Ljomkin ihm zu verstehen, er möge fortfahren.

»Ich tue dies, auf dass alles gut gehe.«

Er schloss für einen Moment die Augen. Dann kippte er das eiskalte Wasser hinunter. Sobald der Becher geleert war, schlug er die Augen wieder auf und stellte ihn vor seinem Kapitän ab.

Er drehte sich zu dem hin- und herschwingenden Hammer um, ging leicht in die Knie und beugte sich nach vorne. Unter lautem Gejohle und Applaus der Kameraden prallte der Hammer gegen seine Lippen. Der Kuss des Hammers besiegelte Sergeis Beitritt zur legendenumwobensten, heldenhaftesten Gemeinschaft innerhalb des russischen Militärs.

Sowie der Initiationsritus beendet war, trat ein technischer Offizier auf Ljomkin zu.

»Kapitän, wir haben die Order erhalten aufzutauchen. Oben kommen via Hydrophon weitere Instruktionen.«

Was ist denn jetzt schon wieder?, dachte Ljomkin. Neue Instruktionen – unmittelbar vor dem Manöver? Er sah auf die Uhr. Die Initiation hatte ein paar Minuten länger gedauert als geplant, aber so etwas war wichtig für die Moral der Truppe. Doch jetzt war Eile geboten, ehe er seine Leute in den Torpedoraum schicken würde. Die Vorbereitungen, die vom Oberkommando der Flotte angeordnet worden waren, hatten sich als so dilettantisch erwiesen, dass Ljomkin sich nicht mal mehr wunderte. Trotzdem verspürte er die altbekannte Enttäuschung. Es waren einfach andere Zeiten angebrochen.

Er schluckte seinen Verdruss hinunter, wandte sich zu seinem Steuermann um und befahl, auf Periskoptiefe zu gehen. Dann rief er dem Offizier zu, er könne schon mal zum Funkraum vorgehen und die Masten ausfahren.

Unter zwanzig Metern Tiefe funktionierte die Kommunikation nur mittels Längstwellen und via ZEVS, der streng geheimen Fernmeldeanlage des russischen Militärs. ZEVS galt als stärkster Sender Europas und stand mitsamt dem Kraftwerk, das eigens hatte gebaut werden müssen, auf der Kolahalbinsel, die sie gerade verlassen hatten. Das System hatte allerdings zwei Haken: Zum einen konnte das U-Boot nicht auf Meldungen antworten, sondern nur Signale empfangen – und genau das dauerte zum anderen ewig, weil mit derart niedrigen Frequenzen die Datenübertragungsrate pro Minute äußerst gering war. Ljomkin kam nicht umhin, sich zu wundern, wann genau die eingehende Nachricht losgeschickt worden war. War der Absender sich überhaupt im Klaren darüber, in welcher heiklen Lage sich das U-Boot befand?

Sobald der Kollege ihm ein Zeichen gab, setzte er sich und nahm den Hörer des Unterwassertelefons ab.

»Iwan Ljomkin hier«, meldete er sich, »Kapitän ersten Ranges und Kommandant der K-141 Kursk.«

»Ljomkin, ich weiß, es ist gerade furchtbar schlecht«, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung.

Er hörte sich nicht an wie jemand aus der Admiralität der Nordflotte.

»Mit wem spreche ich? Und von wo rufen Sie an?«

»Aus der russischen Botschaft in Stockholm.«

Stockholm? Der Mann hatte weder seinen Namen genannt noch seinen Dienstgrad, was nur bedeuten konnte, dass er jenem Teil der russischen Streitkräfte angehörte, dem auch Ljomkin selbst früher angehört hatte und in dem niemand je seinen Standort oder seine Identität preisgab. Dass der Mann Zugang zu den U-Boot-Koordinaten und ZEVS hatte, bedeutete allerdings, dass er Befugnis von oberster Stelle hatte.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Ljomkin.

»Sie haben 1984 an einer geheimen U-Boot-Operation in der Ostsee teilgenommen. Landgang und Transport einer Waffe, die an einen geheimen Ort ausgebracht wurde … auf schwedischem Territorium.«

Unwillkürlich bekam Ljomkin eine Gänsehaut, als wäre er es gewesen und nicht der junge Sergei, der gerade einen Becher eiskalten Meerwassers in sich hineingekippt hatte. Ljomkin hatte sein Bestes gegeben, um die Operation, auf die der Mann anspielte, zu verdrängen – eine der dunkelsten Stunden in seinem Leben. Was sie damals getan hatten, war der reinen Verzweiflung geschuldet gewesen. Und hätte schreckliche Folgen nach sich ziehen können.

Er legte die Hand über die Sprechmuschel und bedeutete dem Funkoffizier mit einem Nicken, sich außer Hörweite zu begeben.

»Sprechen Sie weiter«, sagte er, als er allein war.

»Sie haben damals Order erhalten, einen Schlüssel bei sich zu führen.«

Ljomkins Hand wanderte zu seinem Kragen. Er tastete nach der silbernen Kette.

»Die Order lautete damals, den Schlüssel für fünf Jahre am Körper zu tragen und ihn mit meinem Leben zu verteidigen. Fünf Jahre! Seither sind noch mal elf vergangen!«

»Die Zeiten ändern sich«, erwiderte der Mann.

Ljomkin schloss für einen Moment die Augen und versuchte zu begreifen, worum es hier gerade ging. Dieser Mann aus Stockholm sprach ruhig und monoton, bar jeder Gefühlsregung. War das Teil ihrer Übung? Hatten sich die Sadistenhirne vom Nachrichtendienst eine Art Belastungstest für ihn ausgedacht? Oder war das der Ernstfall?

Die Glieder der Kette fühlten sich warm an. Ganz ruhig antwortete er: »Ich verteidige ihn immer noch mit meinem Leben.«

»Dann stimmt es also, was ich über Sie gehört habe«, sagte der Mann am anderen Ende. »Auf Sie kann Mütterchen Russland sich verlassen. Komme, was wolle.«

Ljomkin war nicht so dumm, sich von Schmeicheleien einwickeln zu lassen.

»Was ist passiert?«

»Das Objekt wurde bewegt.«

Ljomkin blieb die Luft weg.

Das ist unmöglich!

»Wie?« Mehr bekam er nicht heraus.

»Wir haben das Stress-Signal empfangen, das unser Objekt sendet, wenn es von seiner Energiequelle getrennt wird.«

Dieselbe Energiequelle, mit der er – Ljomkin – es verkabelt hatte. Irgendwo mitten in den schwedischen Wäldern. Das konnte doch nicht wahr sein.

Ljomkin hatte munkeln hören, dass die Streitmacht seines Landes die Kontrolle über den Großteil jener Waffen verloren hatte. Sie waren als derart gefährlich eingestuft worden – sowohl für die eigene Nation als auch für den Weltfrieden – , dass sich die Sowjetunion und die USA darauf geeinigt hatten, sie für alle Zeiten zu verbieten. Ein Pakt, den mindestens eine der beiden Parteien gebrochen hatte. Ljomkin persönlich hatte dabei seine Finger im Spiel gehabt.

Dass das Objekt jetzt von seiner Energiequelle getrennt worden war, hieß im Klartext, dass es auf eine Batterie zurückgriff – die mittlerweile Jahre auf dem Buckel hatte. Ljomkin hatte keine Ahnung, wie lange sie das Objekt versorgen würde. Wenn aber derjenige, der das Objekt bewegt hatte, in der Absicht handelte, es einzusetzen, dann stand ihnen ein Weltuntergangsszenario bevor. Ein Szenario, das schlimm genug wäre, um einen dritten Weltkrieg vom Zaun zu brechen.

Ich hab den Schlüssel, mit dem die Waffe entschärft werden kann. Aber ich war 1984 nicht der Einzige.

»Wir waren zu zweit«, sagte Ljomkin.

»Ja, ich weiß. Nach dem anderen, nach Ihrem Kollegen, suchen wir noch. Ich vermute mal, Sie wissen nicht, wo er sich zurzeit befindet? Oder was er in den letzten Jahren gemacht hat?«

In den letzten Jahren? Herr im Himmel, dachte Ljomkin, es stimmt also, was man hört – wir haben komplett die Kontrolle verloren.

Seine Gedanken wanderten zu jenem anderen, dem zweiten Agenten, der dort im Wald in Schweden mit dabei gewesen war. Der finstere Gesichtsausdruck … dieser kleine, kompakte, drahtige Körper. Wie er sich durch das dichte Gestrüpp bewegt hatte – wie eine Gazelle, trotz der schweren Last, die sie geschleppt hatten.

»Nachdem die Operation abgeschlossen war, hab ich von ihm nichts mehr gesehen oder gehört.«

»Verstehe. Dann war’s das fürs Erste. Wir hören voneinander, sobald Ihr Manöver beendet ist. Aber jetzt ist da ein U-Boot, das Sie befehligen müssen, Kapitän Ljomkin.«

Das Manöver soll drei Tage dauern. Bis dahin könnte es zu spät sein.

Aber er sagte nichts. Stattdessen legte er den Hörer vorsichtig zurück an seinen Platz auf dem Funktisch. Er starrte darauf hinab, meinte fast, den Abdruck seiner schweißfeuchten Hand auf dem schimmernd roten Plastik zu sehen. Dann schüttelte er den Kopf, als wollte er die jäh zum Leben erweckten Erinnerungen verjagen, stand auf und sah erneut auf die Armbanduhr. Höchste Zeit, das Gespräch mit diesem Gespenst zu vergessen und sich wieder mit der Realität zu beschäftigen. Er winkte den Funker zu sich.

»Das kann ich genauso gut von hier aus machen – schalten Sie mich auf sämtliche Abteilungen auf.«

Der Funker nickte und drückte Ljomkin ein Mikrofon in die Hand.

Über Lautsprecher war erst der Befehl »klar Schiff« zu vernehmen, dann sagte Ljomkin durchs Mikrofon: »Übungsalarm. Torpedoangriff.«

Zurück im Kontrollraum hörte er über die Lautsprecher, die auf die Zentralkonsole montiert waren, die Antwort aus dem Torpedoraum.

»Dobro.«

Gut. Grünes Licht für Übungstorpedo eins. Ziel: der zweihundertfünfzig Meter lange nukleargetriebene Raketenkreuzer Pjotr Weliki.

Im nächsten Moment erschütterte ein so heftiger Stoß das U-Boot, dass er backbords gegen die Instrumententafel geschleudert wurde. Hätte er nicht in letzter Sekunde den linken Arm hochgerissen, hätte er sich garantiert das Genick gebrochen.

Ein Augenblick verstrich, bis er wieder zu Atem kam. Was war da passiert?

Im orangefarbenen Schein der Notbeleuchtung sah er ein paar Männer reglos am Boden des Kontrollraumes liegen. Bewusstlos. Oder schlimmer. Was immer nicht an der Wand oder Decke festmontiert gewesen war, war quer durch den Raum geschossen. Um ihn herum herrschte Totenstille.

Er kroch zur Mitte des Raumes. Er hatte sich den linken Arm gebrochen, und sein Schädel dröhnte.

Sind wir von einem scharfen Torpedo getroffen worden? Oder gab es eine Kollision? Aber womit?

Vor ihm am Boden lag der junge Sergei.

Ich tue dies, auf dass alles gut gehe …

Ein Stress-Signal aus dem schwedischen Wald …

»Admiral in spe?«, rief Ljomkin.

Er kroch auf Sergei zu und versuchte, ihn mit ein paar Knuffen mit dem unverletzten Arm wieder zurückzuholen. Der junge Mann stöhnte.

»Sergei!«

Er hatte die Augen aufgeschlagen. Ljomkin konnte sehen, wie sich der Brustkorb hob und senkte. Er lebte, stand aber unter Schock. Ljomkin packte ihn am Kragen und schüttelte ihn.

»Sind Sie unverletzt, Unteroffizier?«

Sergei nickte.

»Gut. Kommen Sie mit.«

Gemeinsam krochen sie los. Das Atmen fiel ihnen schwer; Ljomkin mutmaßte, dass sich an Bord Kohlenmonoxid ausbreitete. Wenn sie das Gas nicht sofort abstellten, wären sie im Handumdrehen tot. Endlich hatten sie den Durchlass im Boden erreicht, durch den sie über eine Leiter ein Deck tiefer in Richtung Torpedoraum gelangten.

»Seien Sie vorsichtig, wenn Sie runtersteigen, und rufen Sie mir zu, was Sie sehen. Ich muss achtern zu den Reaktoren und in den Maschinenraum.«

»Ja, Kapitän.«

Geduckt lief Ljomkin weiter auf das runde Schott zu, das zu den hinteren Abteilungen führte. Kurz bevor er hindurchschlüpfte, drehte er sich noch einmal um.

Der Unteroffizier griff nach dem Handlauf, und Ljomkin sah gerade noch, wie dessen Hände auf dem Metall förmlich schmolzen. Keine Sekunde später platzten Ljomkins Trommelfelle aufgrund einer Detonation. Er wurde von gleißend weißem Licht geblendet, und dann wurde er von derselben Druckwelle nach hinten geschleudert, die auch Sergei durch die Luft wirbelte.

In Abteilung neun saß Ljomkin gemeinsam mit den zweiundzwanzig Besatzungsmitgliedern, die noch am Leben waren, mit dem Rücken zur Wand im Maschinenraum. In den Sekunden, die auf die Explosion gefolgt waren, war das U-Boot wie ein Stein gesunken und auf dem Meeresboden aufgeschlagen. Weil die Schleusen hinter den Schrauben das Wasser nicht länger abhalten konnten, jetzt da das Fahrzeug sich nicht mehr vorwärtsbewegte, stieg der Wasserspiegel in der Abteilung unaufhaltsam an. Die Männer zitterten vor Kälte. Der Druck stieg kontinuierlich. Allmählich ging der Sauerstoff zur Neige, die ersten Symptome einer Kohlenmonoxidvergiftung waren schon spürbar.

Sie hatten überlegt, welche Alternativen sie hatten. Achtern gab es ein Ausstiegsluk, und theoretisch konnten sie zur Wasseroberfläche auftauchen, aber die Wahrscheinlichkeit, auf diesem Weg zu überleben, war gleich null. Entweder starb man an der Taucherkrankheit, oder aber man erfror im eiskalten Wasser, wenn man nicht sofort herausgefischt wurde, und ohne Notbojen würde es an ein Wunder grenzen, wenn Rettungskräfte bei ihrem Auftauchen vor Ort wären.

Am Ende beschloss Ljomkin, im U-Boot zu bleiben. Immerhin waren sie Teil eines umfangreichen Manövers, die ganze Nordflotte war draußen unterwegs, inklusive Rettungsfahrzeugen und Tiefseetauchern. Die Chance zu überleben, wenn eins der Rettungs-U-Boote an ihr Wrack andockte, war zwar nicht übermäßig groß, aber immer noch größer, als wenn sie an die Oberfläche tauchten. Ihnen blieb also nichts weiter übrig als herumzusitzen und zu warten.

Ljomkin hielt den alten, rostigen Hammer in der Hand, den Sergei geküsst hatte. In regelmäßigen Abständen schlug er damit gegen die Außenwand, um die anderen Fahrzeuge auf sie aufmerksam zu machen. Schall breitete sich unter Wasser hervorragend aus, und die russische Marine verfügte über die weltbeste Sonarausrüstung.

Trotzdem ging es ihm aufgrund der dünnen Luft zusehends schlecht. Er schloss die Augen. In seiner Erinnerung sah er Sergeis junge Ehefrau am Kai in Widjajewo vor sich. Die vier Monate alte Tochter in Sergeis Arm, der er einen Kuss auf die Stirn gedrückt hatte. Er hatte regelrecht den Duft des Babyhaars in der Nase.

Er schob die Hand in sein nasses Uniformhemd. Ballte die Faust um den Schlüssel, der um seinen Hals baumelte. Hörte erneut die monotone Stimme des Gespensts.

Wir hören voneinander, sobald Ihr Manöver beendet ist.

Samstag, 12. August 2000

1

Er stürzte auf die Wand zu, an der sie angekettet war. Es war so kalt. Sie war so kalt. Sie war tot, da war er sich ganz sicher. Er war zu spät gekommen, konnte Paschie nicht mehr retten.

Sowie Max Anger die Augen aufschlug, war er hellwach. Sein Puls raste, als wäre er jenseits der feindlichen Linie ausgesetzt worden.

Erst im nächsten Augenblick spürte er die Wärme des Körpers, der neben ihm lag. Er war lediglich im Traum zu spät gekommen. Paschie lag neben ihm, die rot-weiß gestreifte Decke bald anderthalbmal um den Leib gewickelt. Nur die nackten Waden und ein Teil des Rückens waren zu sehen.

Er strich über ihr Bein. Ihre Haut fühlte sich warm an. Sie atmete mühsam, als wäre die warme, stickige Sommerluft zu schwer für sie.

Er musste an den Kampf denken, den sie im vergangenen Jahr ausgefochten hatten. Den Kampf ums Weiterleben. Um eine eigene Familie. Einen Kampf, den sie gerade zu verlieren drohten.

Es war einige Zeit ins Land gegangen, bis Paschie den Schamanen aufgesucht hatte. Am Vorabend hatte sie ihn endlich getroffen, und sie hatte bis ins Mark erschüttert ausgesehen, als sie nach Hause gekommen war. Als Max sie gefragt hatte, was passiert war, hatte sie bloß den Kopf geschüttelt.

Manchmal verstand er sie ganz einfach nicht.

Sie hatte ihm erklärt, dass ein Schamane sich weder der Wissenschaft noch irgendwelchen politischen Strömungen verpflichtet fühlte. Die alte russische Tradition war gar nicht allzu weit entfernt von derjenigen, die er als Kind auf Arholma kennengelernt hatte. Arholma, das Inselchen weit draußen in den Stockholmer Schären, wo das Leben vom Wechselspiel der Natur gekennzeichnet war. Max war sich nicht sicher, ob er derselben Ansicht war wie sie, aber im Grunde spielte das auch keine Rolle.

Er warf einen Blick auf das schwarze Zifferblatt seiner Armbanduhr, einer Sonderanfertigung von UTS aus München. Damit konnte er theoretisch bis auf viertausend Meter Tiefe die exakte Zeit ablesen, auch wenn er sie bislang nie tiefer als im Eriksdalsbadet getestet hatte. Er drückte auf einen der Knöpfe, und die hell türkisfarbenen Ziffern bedeuteten ihm, dass es an der Zeit war aufzustehen. Von der Sparringsrunde im Boxclub Narva am vergangenen Nachmittag tat ihm alles weh, aber das war es nicht, was ihn aus dem Bett trieb.

Jetzt regte sich auch Paschie. Sie streckte sich nach ihrer Nachttischlampe, rollte herum und drehte ihm das Gesicht zu. Irgendwie hatte sie es geschafft, die Decke noch ein weiteres Mal um ihren Körper zu wickeln.

»Du siehst aus wie ein Schuljunge am letzten Tag der Sommerferien.« Sie lächelte ihn an.

Max lächelte zurück.

»Hau schon ab, bevor Sarah unten auf der Straße anfängt zu hupen. Ich bin morgen früh auch noch hier, versprochen.«

Immer war etwas, schoss es Max durch den Kopf. Nur sonntagmorgens waren sie nie in Eile – weder in Sachen Job noch wegen irgendetwas anderem.

»Da denk ich dran, wenn ich jetzt duschen geh und dann raus in den Asphaltdschungel«, sagte er und stemmte sich von der Bettkante.

Sie musterte ihn, wie er in seiner weißen Boxershorts vor ihr stand, maß ihn von Kopf bis Fuß mit Blicken.

»Lass mir ein bisschen kaltes Wasser übrig.«

Max nickte ihr zu. Schon klar, Mädchen.

»Und nicht vergessen: Wir sind heute Abend bei den Marklunds eingeladen.«

»Wie könnte ich das vergessen?«

Paschie schüttelte den Kopf und drehte sich wieder um. Als Max das Schlafzimmer verließ, hörte er, wie sie die Lampe wieder ausknipste. Dann sagte sie: »Versuch zumindest, nett zu sein.«

Mit einem Mal fühlte sich der bevorstehende Sonntagmorgen ungewisser an denn je.

Geheimnisse sind das eine, dachte er. Ein spezielles Versprechen ist was ganz anderes – etwas viel Bedeutsameres.

2

Als Max auf die Köpmangatan hinaustrat, hörte er aus Richtung Skeppsbron das Hupen eines Wagens. Ein BMW.

Etwa auf Höhe des Birka-Cruises-Terminals fuhr draußen auf dem Wasser ein gigantisches Schiff herein. Im Vergleich zur Seas of the World sahen die Finnlandfähren aus wie Freizeitboote. Oberhalb der orangefarbenen Rettungsboote entlang der Reling konnte er die Balkone der Kabinen erkennen – fast schon Wohnungen für wohlhabende Weltenbürger, die allmorgendlich mit Meerblick und dem Status steuerbefreiter Seeleute wach wurden.

Vielleicht sollten wir das auch so machen, Paschie, dachte Max. Wir könnten jeder in einer eigenen Wanne sitzen, mit dem Blick zum Horizont, und die Ungerechtigkeiten dieser Welt an uns vorüberziehen lassen.

Er überquerte die breite Straße, auf der sonst niemand unterwegs war, und zog die Beifahrertür auf.

»Morgen«, sagte er. »Du siehst echt unverschämt wach aus, Chefin.«

»Ja, nicht wahr?«, erwiderte Sarah. »Spring rein und schnall dich an.«

Sarah Hansen war Geschäftsführerin von Vektor, dem Stockholmer Thinktank, der sich mit Demokratisierungs- und Sicherheitsfragen im Ostseeraum beschäftigte. Die beiden arbeiteten mittlerweile seit fast sechs Jahren zusammen – seit er seinen Dienst beim Militär quittiert hatte. Kennengelernt hatten sie sich bei einem Russischkurs der Armee. Sarah hatte von dort einen lukrativen Umweg über den Finanzsektor eingeschlagen und ein Vermögen verdient, während er beim Militär geblieben war und mit angesehen hatte, wie die schwedischen Streitkräfte zusehends abgebaut worden waren und die Kollegen das Verteidigungsbudget quasi mit heimgenommen hatten.

Sarah hatte sich mal wieder die Haare färben lassen: platinblond, wie es viele Osteuropäerinnen schick fanden. Ihre eigentliche Haarfarbe bezeichnete sie gern als straßenköterblond. Der Kontrast zu ihren dunkelbraunen Augen und den schwarzen Augenbrauen verlieh ihr eine gewisse Härte, als hätte ein Industriedesigner ihren Look entworfen. Das grazile schwarze Brillengestell tat sein Übriges.

Ohne sich auch nur einen Deut um die durchgezogene Linie zu scheren, wendete sie und fuhr in Richtung Strömbron und dann weiter nach Östermalm auf den Valhallavägen. Um sie herum waren das Einzige, was sich an diesem frühen Samstagmorgen regte, die Sturmmöwen über dem Saltsjön und ein paar leere McDonald’s-Pommesschachteln, die der Wind von der Slussen vor sich hertrieb. Im Kungsträdgården war ein Turm mit einer Uhr aufgestellt worden, die bis zur Mir2000-Eröffnung herunterzählte: ein Projekt, bei dem Paschie im Auftrag von Vektor mitarbeitete. Die digitalen Ziffern blinkten auf und verharrten kurz in ihrem Countdown: noch acht Tage, drei Stunden und fünf Minuten.

Heute würde die russische Marine in der Barentssee ihre umfangreichste Militärübung seit zehn Jahren starten. Seit dem Zerfall der Sowjetunion hatte es kein so großes Manöver gegeben. Jelzins demokratischer Kreuzzug war für die russischen Streitkräfte eine Katastrophe gewesen, doch jetzt wollte der neue, junge Präsident Wladimir Putin die Ehre der Nation wiedererrichten und die Armee wieder zum Stolz des Volkes machen. Für Sarah und Max stellte das Manöver eine willkommene Abwechslung dar, nachdem diesen Sommer im Büro bislang Flaute geherrscht hatte. Das Einzige, worüber sie sich während der Ferien ausgetauscht hatten, war in der vorigen Woche ein Sprengstoffattentat in der Rigaer Shoppingmall Centrs gewesen, und das spannendste Telefonat hatte von den Planungen einer Überraschungsparty für den Vektor-Vorstandsvorsitzenden Charlie Knutsson gehandelt, dessen siebzigster Geburtstag bevorstand.

Die Uhr am Armaturenbrett des BMW zeigte zehn nach acht.

Sarah ging vor einer roten Ampel vom Gas und massierte sich die Schläfen.

»War’s anstrengend gestern?«, fragte Max.

»Kann man wohl sagen. Lisette hat angerufen.«

Max zog die Augenbrauen hoch.

Sarah hatte nicht mehr mit ihrer Exfrau gesprochen, seit sie über ein Foto von ihr mit einem unbekannten Mann gestolpert war. Nach einer heftigen Auseinandersetzung war Lisette nach Namibia abgehauen, und zwar mitsamt dem Typen, der offenbar auf harte Frauen und reiche Chinesen mit einem Faible für die Großwildjagd stand. Das war inzwischen gut sechs Jahre her.

»Was wollte sie denn?«, fragte Max.

»Die Kinder treffen. Kannst du dir das vorstellen? Verdammte Schlampe.«

»Na ja, es sind immerhin auch ihre Kinder.«

Sarah schluckte trocken.

»Können wir darüber ein andermal reden? In einem anderen Leben?«

»Okay …«

Sarah sah ihn müde an.

»Hör auf damit, bitte.«

»Was sagst du immer zu mir? Man muss demjenigen verzeihen, der einem was angetan hat, um selbst weitermachen zu können?«

Er lächelte sie an, doch Sarah schüttelte bloß den Kopf. Dann verebbte sein Lächeln, als er an den vergangenen Abend dachte. Er wusste nur zu gut, dass man mit einem anderen Menschen zusammenleben und trotzdem mit einem Mal das Gefühl haben konnte, wie vor verschlossenen Türen zu stehen, als wäre der Partner ein Fremder. Manchmal war es da wohl am besten, gewisse Dinge einfach bleiben zu lassen.

Als sie im Büro angekommen waren, stellte Sarah die Alarmanlage ab. Irgendwie fühlte sich ihr Arbeitsplatz an einem Samstag merkwürdig an, wie ein komplett fremder Ort und nicht so, als hätten sie am Vortag noch hier gesessen und vor sich hin gearbeitet. Die Luft schien stillzustehen.

Im Besprechungsraum steuerte Max die Wand mit den Fernsehern an. Er schaltete CNN, BBC World und Channel One Russia ein. Die englischsprachigen Sender berichteten bereits vom Nordpolarmeer, brachten allerdings noch keine Bilder vom bevorstehenden Manöver. Der BBC-Reporter stand auf irgendeinem graubraunen Betonkai im Wind. Es hätte ebenso gut Portsmouth wie Murmansk sein können. Auf CNN lief das »Breaking News«-Textband, während eine Expertenrunde in Atlanta über die Stärke der russischen Flotte debattierte. Im russischen Sender war eine attraktive junge Frau in schwarzen Tights und blauem Bikinioberteil zu sehen, die sich einen sogenannten Abflex auf den Bauch presste, mit dessen Hilfe sie sich ein schickes Sixpack antrainiert hatte. Den Abflex konnte man per Nachnahme telefonisch bestellen.

»Dein Telefon klingelt«, rief Sarah aus dem Flur.

Max kehrte den Fernsehern den Rücken, lief in sein Arbeitszimmer und nahm den Hörer ab.

»Max?«, sagte eine Stimme, die er nur zu gut kannte. »Habt ihr in Stockholm auch davon gehört?«

Hein Espen Hovland war am Apparat. Vor Jahren war er während einer Tauchübung in Lebensgefahr geraten, und Max hatte ihn gerettet.

Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Dass Hein Espen anrief, konnte nur bedeuten, dass er nach seiner langen Krankschreibung endlich zurück war.

»Was hätten wir denn hören sollen?«

»Vardø hat sich gemeldet. Nicht nur dort – bis rüber nach Alaska haben sie seismische Schockwellen registriert.«

»Ein Beben?«

»Nein, kein Beben. Wir glauben, es kam aus der Barentssee.«

3

Paschie lief durch den offenen Bereich zwischen Küche und Wohnzimmer auf die Badezimmertür zu. Sarah hatte sie nicht zu dem Meeting dazu gebeten. Nach allem, was ihrem Vater widerfahren war und was sie selbst erlebt hatte, hasste Paschie Militärs und Polizisten aus tiefster Seele. Vor allem, wenn sie aus ihrer Heimat stammten – Russland. Ein besseres Leben für die Menschen dort würde man einzig und allein erreichen können, indem man sowohl der Armee als auch der Polizei weniger Aufmerksamkeit schenkte und Budgets und Machtbereiche eindampfte. Und indem man all dies an Frauen umverteilte. Diese Hälfte der Menschheit, die dazu auserkoren war, neues Leben in die Welt zu setzen, verfügte schlicht und ergreifend über ein anderes Verständnis für Lebensnotwendigkeiten als diejenigen, die einfach nur untätig zusahen, sobald sich ein solches Wunder vollzog. Frauen konnten auch nicht töten wie Männer, und das war nur einer von zahlreichen Gründen, warum sie an den Hebeln der Macht sitzen sollten.

Bei Vektor hatte sie sich im vergangenen Jahr hauptsächlich um das Mir2000-Projekt gekümmert. Mit der Großveranstaltung sollten dem schwedisch-russischen Verhältnis im neuen Jahrtausend neue Impulse gegeben werden, vor allem in Sachen Bildung, Umwelt und Kultur. Paschie war für den Kontakt zur russischen Botschaft und zum Außenministerium verantwortlich. Sie hatte sogar einen kleinen Vortrag vor Schülern der Russischen Schule gehalten, die dann zur Ausstellung in der Stockholmer Touristinformation beigetragen hatten, die am Vorabend des Kick-offs im Kungsträdgården eröffnet werden würde. Noch eine Woche bis dahin. Selbst ihr Outfit hatte sie sich schon zurechtgelegt. Alle nannten das Projekt ihr Baby.

Eine unglückliche Formulierung.

Sie schob die Badezimmertür auf und ließ den schwarz-roten Morgenmantel auf den Boden fallen. Nur mit ihrem Slip bekleidet, musterte sie sich hüftaufwärts im Spiegel. Sie war der Empfehlung der Ärzte nachgekommen und nicht mehr ganz so spindeldürr. Tatsächlich gefielen ihr die kleinen Pölsterchen, sie unterstrichen ihre Weiblichkeit, und sie wusste, dass Max sie ebenfalls mochte.

Unwillkürlich musste sie daran denken, was der Schamane gesagt hatte.

»Verurteile ihn nicht. Der Wille der Seele ist nicht leicht zu deuten.«

Sie zog den Medizinschrank auf und warf einen Blick auf das Arsenal aus Pappkisten mit Tablettenschachteln und Plastikdöschen.

In Schweden musste alles wissenschaftlich sein. Das war der größte Unterschied zwischen dem Leben hier in Stockholm und ihrer Kindheit in einer armen Dorfgemeinschaft am Schwarzen Meer. Stockholm war eine pulsierende Hauptstadtmetropole, die von Jahr zu Jahr größer wurde, die von Hightech, Wundern der Ingenieurskunst und einer übertriebenen Gläubigkeit an das System und an Zahlen und Fakten angetrieben wurde.

Seit sie und Max beschlossen hatten, sich Hilfe zu suchen, um das Kind zu bekommen, nach dem Paschie sich so sehr sehnte, war sie auf eine Nummer reduziert worden, auf einen Code in einer Patientendatenbank, und jeder Schritt in ihrer Behandlung wurde von Statistiken bestimmt. Niemand hatte je von ihr wissen wollen, wie es ihr dabei eigentlich ging. Weder Erfahrungen noch Empfindungen – nichts hatte Einfluss auf die Entscheidungen der Ärzte. Sie hatte sich die Diagnose angehört und eingeprägt, wie sie es mit allem anderen tat. Doch auf eine Art Versuchsobjekt reduziert zu werden war nichts für sie. Es wäre für keine Frau etwas gewesen.

Sorgfältig wusch sie sich die Hände mit heißem Wasser und Seife. Dann kramte sie alles hervor, was sie brauchte, und setzte sich auf die Klobrille. Eine winzige abrupte Bewegung, und die altbekannten bohrenden Bauchschmerzen waren wieder da. Sie streckte den Rücken durch und atmete ein paarmal tief ein, damit die Schmerzen abklangen. Sie fühlte sich bleischwer. Angeblich hatte das mit ihrem Flüssigkeitshaushalt zu tun.

Immerhin hatten die Ärzte eine HIV-Infektion ausschließen können. Allerdings war der Hepatitis-B-Test noch nicht aus dem Labor zurück.

Sie wickelte das Tuch auf ihrem Schoß auseinander, brach die Ampulle auf und zog den Inhalt auf eine Spritze. Dann gab sie ein Pulver auf einen Löffel, leerte die Spritze hinein, damit sich das Pulver auflöste, und zog die Mischung wieder auf, ersetzte die Nadel durch eine dünnere, drückte die Luftbläschen raus, kniff sich in die Haut unter dem Nabel und drückte die Nadel senkrecht hinein.

So sah ihr Leben mittlerweile aus. Jeden Tag Spritzen. Als wäre sie drogenabhängig.

Sie schloss die Augen und lehnte sich zurück. Spürte die schmerzhaft kalte Toilettenkeramik auf der Haut. Von unten hörte sie ein leises Geräusch, schlug die Augen auf und sah auf ihren Morgenmantel hinab. Eine Tasche blinkte. Das Handy. Weg waren Stille und Müdigkeit, was ihre Enttäuschung nur mehr verstärkte.

Zum Trost rief sie sich in Erinnerung, worin die Ärzte und der Schamane sich einig gewesen waren.

»Niemand ist perfekt.«

4

Sofia Karlsson fuhr über den gewundenen Simpnäsvägen auf Skeppsmyra auf die Insel Björkö zu. Kein einziges Mal war die Rede davon gewesen, dass jemand sie begleiten sollte. Es hatte sich nicht einmal jemand die Mühe gemacht, mit ihr darüber zu sprechen. Womöglich weil alle gewusst hatten, dass es ohnehin nicht zur Diskussion stand.

Seit sie von der Polizei Norrmalm zur Rikskrim gewechselt war, hatte sie mit dem Mythos gelebt: dass sie eine Art einsamer Wolf war. Allerdings tat sie auch nichts, um die anderen vom Gegenteil zu überzeugen.

Die Region Roslagen war für sie ein weißer Fleck auf der Landkarte. Ein einziges Mal war sie hier gewesen, mit einem Freund, der ein romantisches Wochenende in Grisslehamn vorgeschlagen hatte. Es war das erste und letzte Mal gewesen. Exakt fünfundvierzig Minuten lang war sie in dem Hotel geblieben, hatte den Typen dann im Spa-Bereich ohne ein Wort des Abschieds stehen gelassen und war in den Bus zurück nach Stockholm gestiegen.

Erst jetzt, allein hinterm Steuer und mit Oscar Petersons Musik im Ohr, glaubte sie die Faszination zu verstehen. Roslagen war schon in Ordnung – solange man es bloß durchs Autofenster sah. Sie fuhr an Pferdekoppeln und Buchten vorbei, an einem Bullerbü nach dem anderen: rote Holzhäuser mit weißen Giebeln und grünen oder braunen Türen. Ihr Vater hatte ihr mal erklärt, dass dieses spezielle Grün Jägergrün heiße und das hellere Braun, in dem die meisten Stalltore gestrichen waren, Roslagenmahagoni – eine Mischung aus Teer, gekochtem Leinöl und Terpentin.

Stellenweise war der Simpnäsvägen so schmal, dass ihr Wagen kaum Platz auf der Spur hatte. Was, wenn jetzt Gegenverkehr käme? Oder wenn ein gewisser Straftäter auf dieser Strecke mit Vollgas das Weite suchte, ohne sie kommen zu sehen? Wie konnte man nur so weit draußen wohnen?

Der Einsatz war in aller Frühe auf ihrem Tisch gelandet. Ihr Vorgesetzter, Per Carpelan, hatte sie angerufen und ihr eine kurze Zusammenfassung gegeben. Ein brutaler Mord. Er war vom Staatssekretär im Justizministerium, Tomas Schiller, persönlich informiert worden, und Schiller war derart nachdrücklich gewesen, dass Per Carpelan glatt wie von einem neuen Interimschef gesprochen hatte.

Dass Schiller und damit die Regierung involviert waren, bedeutete, dass die Sache oberste Priorität hatte und sie den Fall würde aufklären müssen, ehe sich die Pressegeier darauf stürzten. Die Leiche weise Markierungen auf – genau so hatte sich Per Carpelan ausgedrückt – , die »verdammt besorgniserregend« seien, trotzdem aber nachrangig behandelt werden sollten, weil sie ansonsten »eine Menge verdammter Spekulationen« nach sich ziehen könnten. Mordfälle würden mittels konkreter Beweise gelöst, und die finde man, indem man den Tatort genau in Augenschein nehme.

»Gründliche, solide Ermittlungsarbeit, das können Sie doch. Von Spekulationen will ich nichts hören.«

Die Polizei Norrtälje hatte sie um Verstärkung gebeten. Irgendeine Leuchte dort hatte zu allem Überfluss auch bei der Säpo angerufen, weil das Opfer in der Vergangenheit mal Personenschutz gehabt hatte, und in dieses Durcheinander mussten die Chefs jetzt erst wieder mühsam Ruhe hineinbringen. Carpelan zufolge waren auch genau deshalb das Justizministerium und Schiller involviert – wäre das nicht der Fall, hätten sie sich den Fall wahrscheinlich ohne unnötige Einmischung vornehmen können.

Die klassische Kausalkette bis hin zur Ratte auf dem Seil. Nur dass sie die Ratte in der Kanalisation war. Aber das kannte sie schon, und sie beschwerte sich nicht. Dort unten konnte sie immerhin etwas ausrichten. Trotzdem fragte sie sich, wer das Seil am anderen Ende wohl hochhielt. Doch auf die Leute, die auf den Stockholmer Fluren der Macht hin- und herhuschten, war sie nicht im Geringsten neidisch. Da war selbst Roslagen im Regen besser.

Dennoch war es ungewöhnlich, dass die hiesigen Behörden so schnell um Hilfe angesucht hatten. Allerdings glaubte Sofia den Grund zu kennen. Das Risiko, dass die Medien hier einfielen, war einfach zu groß. Keine Stunde nachdem Carpelan sich bei ihr gemeldet hatte, war sie auch schon gewarnt worden, dass der erste Nachrichtensender auf dem Weg sei.

Das Opfer war aber auch kein Niemand. Während seiner Dienstzeit hatte er aus den unterschiedlichsten Richtungen Drohungen erhalten. Nach Einschätzung der Sicherheitsbehörden war die Bedrohungslage irgendwann nicht mehr akut gewesen. Bestimmt hatten diese Markierungen an der Leiche die Nachrichtenleute aufhorchen lassen. Sofia hatte das Gefühl, dass ihr Chef mehr wusste, als er erzählt hatte. Aber auch daran war sie gewöhnt. Sie hatte kurzerhand für sich beschlossen, dass er als guter Vorgesetzter wollte, dass sie sich ein eigenes Bild machte.

Am alten Skeppsmyra-Gehöft, einem großen schwedenroten Gebäudekomplex, das aussah wie Hunderte andere, an denen sie vorbeigekommen war, bog sie ab und parkte den Wagen. In der Nähe hing ein handgeschriebenes Schild am Zaun: Roslagsauktion: Freitag, 11. August, 17 – 20 Uhr.

Dicke graue Wolken schoben sich über den Himmel. Sie sahen schwer aus; unter Garantie würde es noch mehr Regen geben. Die Kollegen aus Norrtälje hatten den Hof bereits mit blau-weißem Absperrband gesichert. Zwei Kriminaltechniker nahmen auf dem lehmigen, zerfurchten Fußweg zum Haupteingang Fußabdrücke. Hier musste es wirklich aus Kübeln gegossen haben. Sofia war wie immer in ihre weißen Adidas Stan Smith geschlüpft – definitiv die falschen Schuhe für diesen Einsatz.

Filip Eriksson, der verantwortliche Beamte aus Norrtälje, kam ihr entgegen und berichtete, was sie bislang in Erfahrung gebracht hatten. Eine halbe Stunde nach Beginn der Veranstaltung sei Objekt 14 aus dem Auktionskatalog dran gewesen, eine alte schwedische Brauttruhe. Der Auktionator habe die Truhe geöffnet, und die Besucher seien wie vom Donner gerührt gewesen. Dann sei Panik ausgebrochen.

Die Truhe war leicht geneigt aufgebockt worden, damit die Besucher hineinsehen konnten. Direkt daneben stand das Pult des Auktionators, dahinter lagerten auf Tischen weitere größere und kleinere Objekte, die nicht unter den Hammer gekommen waren. Sowohl diese anderen Gegenstände als auch die Truhe standen genau im Licht, das von draußen durch die großen Sprossenfenster hereinfiel. Staub tanzte schwerelos unter der hohen Decke. Sofia fragte sich, ob das Gebäude ursprünglich als Freikirche oder Versammlungsort der hiesigen Guttempler vorgesehen gewesen war.

Aus einiger Entfernung sah sie sich das Ganze an, und je länger sie hinsah, umso mehr beschlich sie der Eindruck von Religiosität oder vielmehr Ritualität. Ob das bestialische Arrangement in der Truhe daran schuld war oder ob es einfach aus diesen kahlen Bretterwänden sickerte, hätte sie nicht sagen können, aber das Ganze fühlte sich an wie eine Begräbnis-, wenn nicht sogar Opferszene. In der Truhe lag ein toter Mann. Was ihr als Erstes durch den Kopf schoss: Für einen erwachsenen Mann war das Möbelstück doch gar nicht groß genug.

Irgendjemand hatte das hier präzise arrangiert, so viel stand fest. Sie hatten es nicht mit einem Mörder zu tun, der seine Tat vertuschen wollte, im Gegenteil, er wollte ihnen etwas damit sagen. Die Frage war nur, was.

»Was wissen wir über das Opfer?«, fragte Sofia.

»Claes Callmér, geboren 1942. Wurde also achtundfünfzig Jahre alt. Chef der Einwanderungsbehörde.«

Sofia nickte. Filip hatte die Sache im Griff und kam direkt zur Sache. Chef der Einwanderungsbehörde. Kein Wunder, dass die Medien sofort hellhörig geworden waren.

»Und die Truhe?«, wollte sie wissen.

»Stammt von einem älteren Herrn hier aus der Gegend. Er hat sie vor elf Jahren ebenfalls bei einer Auktion erstanden, damals in der Gemeinde Östhammar. Wir haben ihn befragt, aber soweit ich es sehe, gibt es zwischen den beiden keine Verbindung. Die Truhe hat er vor zwei Wochen hier abgeliefert.«

»Wer hat die Medien informiert?«

»Ein Junge hat ein Video gemacht und es einer Reporterin geschickt. Er ist gerade mal siebzehn. Inzwischen ziemlich zerknirscht.«

Filip zuckte mit den Schultern. Viel mehr hatten sie in der Sache nicht tun können. Sofia war klar, dass ihre Vorgesetzten versuchen würden, auf den Sender einzuwirken und die Berichterstattung noch einen Tag hinauszuzögern, aber sobald sie erführen, dass noch andere von dem Mord Wind bekommen hatten, würden sie den Clip des Jungen ausstrahlen.

Sie sah zurück zu der Truhe.

»Haben Sie ihn schon untersucht?«

»Nein, wir haben weder ihn noch die Truhe bewegt, die Techniker meinten, ein Rechtsmediziner …«

»Kommen Sie. Wir gehen ein Stück näher heran.«

Filip zog ein Taschentuch heraus und hielt es sich vors Gesicht. Der Mann musste unmittelbar vor der Auktion umgebracht worden sein, sonst hätte sich der Verwesungsgestank ausgebreitet. Die Besucher hatten immerhin eine halbe Stunde hier gesessen, bevor die Truhe nach vorn gebracht worden war.

Als sie direkt vor der Leiche standen, sah Sofia sich erst einmal nur die Truhe an. Sie sah alt aus, aber nun war Sofia keine Antiquitätenexpertin. Die Innenseiten waren mit einem handgemalten Blumenmuster und stilisierten Booten, Sonnen und anderen Symbolen in Hellblau, Lila und Rosa verziert. Das Holz hatte gelitten. Der Deckel war gut zwei Zentimeter hoch. Alles in allem war die Truhe sicher nicht breiter als einen Meter dreißig.

Zu guter Letzt sah sie sich die Leiche an, oder genauer: den Oberkörper. Auf Höhe von Claes Callmérs Hüftknochen verlief ein brachial ausgeführter Schnitt. Sofia nahm an, der Unterleib war nirgends aufgefunden worden und sollte wohl auch nicht gefunden werden. Sie sah sich den Schnitt genauer an. Wenn das irgendeine Klinge gewesen war, dann musste sie stumpf gewesen sein. Es sah fast aus, als wäre der Mann entzweigerissen worden. Erst jetzt, da sie direkt davorstand, nahm sie den beißenden Verwesungsgeruch wahr. Die Arme waren unter den Oberkörper gequetscht worden, damit der Rumpf in der Truhe Platz hatte. Wenn er ohnehin schon zerstückelt worden war – warum nicht auch gleich die Arme abhacken? Sie musste sich zusammenreißen, um sich nicht nach der Leiche auszustrecken und sie herumzuwuchten, damit sie die Hände in Augenschein nehmen konnte. Die Techniker hätten sich beschwert, sie würde ihnen die Arbeit erschweren.

Ihr Blick wanderte weiter zum Kopf des Toten, wurde regelrecht angezogen von jenem Detail, das ihr Chef mit ernster Stimme erwähnt hatte. Derlei Markierungen wollte man an einem Mordopfer nur ungern sehen.

Mit einer vergleichbaren Inszenierung war sie noch nie konfrontiert worden. Ihr wollte einfach nicht aus dem Kopf, dass es sich hierbei um eine Art Ritual handeln musste. Die Verstümmelung – das sollte irgendetwas aussagen. Nur was? Und an wen war die Aussage gerichtet?

In Claes Callmérs Hals direkt unter den Adamsapfel hatte der Mörder vermutlich mit einem Messer ein Zeichen eingeritzt, das aussah wie ein spiegelverkehrtes C.

In die Stirn war eine Ziffer geschnitten worden.

Eine Neun.

5

Charlie setzte sich an seinen angestammten Platz am Ende des langen Besprechungstischs. Er hatte immer noch seinen braunen Regenmantel an. Paschie nahm neben Sarah Platz und warf Max einen Blick zu. Seit sie von ihrem Termin bei dem Schamanen zurückgekommen war, hatte er das Gefühl, als würde sie ihn irgendwie anders ansehen.

Sarah bedeutete Max mit einem Nicken loszulegen.

»Also, wir haben euch direkt nach Hein Espens Anruf reingerufen«, hob Max an. »Aber vielleicht erst kurz zum Hintergrund dieses Manövers in der Barentssee.«

Er räusperte sich.

»In den Neunzigern haben wir erlebt, wie die weltgrößte Seemacht verrostet und in den Hafenbecken von Murmansk und Seweromorsk auf Grund gesunken ist. Auf ihrem Zenit hat die Sowjetflotte über mindestens dreihundert U-Boote verfügt. Heute sind davon vielleicht gerade vierzig noch voll funktionstüchtig. Trotzdem will Russland beweisen, dass mit ihnen zu rechnen ist.«

»Und internationale Medien stehen daneben, als wäre das eine Art Unterhaltungsshow?«, warf Paschie ein.

Max nickte.

»Es gab im Vorfeld schon Spekulationen: Würden die Russen mit scharfen Waffen üben? Haben die U-Boote Kernwaffen an Bord?«

»Was könnte da also passiert sein?«, mischte sich Charlie ein.

»Im Augenblick wissen wir gar nichts. Angeblich ist die Nordflotte mit sämtlichen großen Fahrzeugen ausgelaufen – mit der Pjotr Weliki beispielsweise, einem Kreuzer der Kirow-Klasse, aber auch mit diversen U-Booten der OSCAR-II-Klasse, unter anderem der Kursk. Womöglich wollten sie ein bisschen Katz und Maus spielen.«

»Was heißt OSCARII?«, fragte Sarah.

»Das ist ein U-Boot von fünfzehntausend Tonnen Verdrängung. So hoch wie ein fünfstöckiges Wohnhaus und über hundertfünfzig Meter lang.«

»Hundertfünfzig?«, ging Charlie dazwischen. »Das ist doppelt so lang wie eine Boeing 747!«

Max nickte.

»Die U-Boote sind nukleargetrieben und mit Marschflugkörpern ausgestattet, die Flugzeugträger versenken können.«

»Aber kann eine Explosion wirklich so heftige seismische Wellen erzeugen?«, hakte Charlie erneut nach. »Oder könnte es sich nicht doch um ein Beben handeln?«

»Wenn wir unseren norwegischen Freunden Glauben schenken, dann hatte der Ausschlag keine natürliche Ursache«, erklärte Max. »Es handelt sich darüber hinaus genau genommen um zwei isolierte Ereignisse. Keins davon war stark genug, als dass es ein Erdbeben hätte sein können; auf jeden Fall nicht das erste. Das zweite war schätzungsweise fünfzigmal stärker. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass es sich um zwei Explosionen gehandelt hat.«

»Atomwaffen?«, fragte Charlie.

»Womöglich.«

Charlie lehnte sich vor.

»Ihr wisst, was General Lebed vor ein paar Jahren im US-Fernsehen gesagt hat? Kompaktbomben könnten quasi überallhin mitgeführt werden.«

»Ja, daran erinnern wir uns noch«, erwiderte Max.

Lebed hatte sich in Russland mit schmissigen Zitaten einen Namen gemacht. Ich bin nicht liberal, ich bin General war nur eines davon. Letztlich hatte seine Wahlempfehlung 1996 die Präsidentschaftswahl entschieden, und er war zum Sekretär des Sicherheitsrats der Russischen Föderation ernannt worden. In einem überraschend offenherzigen Interview für CBS 60 Minutes hatte er später erklärt, das russische Militär habe seine gefährlichsten Waffen nicht mehr unter Kontrolle. Dabei hatte er auf Kernwaffen angespielt, die in herkömmlichen Aktenkoffern verwahrt wurden und über eine Sprengkraft verfügten, die die komplette Londoner Innenstadt dem Erdboden gleichmachen und bis zur Ringautobahn M25, die rund um die gigantische Hauptstadt führte, eine Evakuierung erzwingen würde.

»Ich hab durchaus auch schon munkeln hören, dass diese Aktentaschen in russischen U-Booten stehen sollen«, sagte Charlie.

»Von wem hörst du denn so was?«, fragte Max. »Viel wahrscheinlicher ist doch, dass mit den Torpedos irgendwas schiefgegangen ist.«

Sarah räusperte sich.

»Aber feuert man die während eines Übungsmanövers ab?«

»Nicht die mit Gefechtsköpfen«, antwortete Max. »Und genau das gibt mir zu denken. Insofern klingt es für mich fast nach Beschuss.«

»Vonseiten ihrer eigenen Leute?«, hakte Charlie nach.

Keiner sagte etwas.

»Du willst doch verdammt noch mal nicht andeuten, dass jemand anderes involviert sein könnte?«

»Wir wissen momentan gar nichts«, sagte Max. »Es könnte sich genauso gut um eine Havarie handeln. Ein explodierter Torpedo an Bord eines U-Boots …«

»Also die Kursk?«, fragte Paschie, und Max nickte.

»Ja, die Kursk. Möglicherweise.«

»Der Stolz der russischen Flotte?«, warf Sarah ein. »Wenn man den Russen glauben will, ist sie unsinkbar.«

»Scheiße«, murmelte Charlie. »Wenn es wirklich die Kursk ist, sind das verdammt schlechte Nachrichten.«

Paschie nahm eine aufrechtere Sitzhaltung ein.

»Die Nordflotte hat sich ein geschlagenes Jahr lang auf diese Übung vorbereitet«, sagte sie. »Wir haben einen Brief von beunruhigten Angehörigen bekommen. Der Zustand der Fahrzeuge und die Ausbildung der Besatzung sind eine Katastrophe. Es gibt Berichte, dass die Kräne, die ausgerechnet die Torpedos auf die U-Boote verladen oder runternehmen, nicht mehr funktionstüchtig sind. Folglich können sie die Torpedos auch nicht mehr hinreichend warten. Sofern sie mit Atomsprengköpfen üben, könnten die natürlich ebenso defekt sein. Der neue Präsident hat alles darangesetzt, das Manöver voranzutreiben. Und mal abgesehen von den Torpedos, die Max erwähnt hat, gibt es da noch einen neuen, den Schkwal, der …«

Ein Blick auf Paschie, und Max war in Gedanken woanders. Ihre Augen loderten. Es waren ihre Landsleute, die es getroffen hatte. Was immer dort oben in der Barentssee passiert war, hatte für sie mehr Gewicht als für die anderen.

Paschie stand dem russischen Regime alles andere als unkritisch gegenüber, vor allem wenn es um den Umgang mit Minderheiten ging. Und jetzt saß sie hier und sprach mit einem Nachdruck, den er seit jenen schrecklichen Ereignissen vor vier Jahren nicht mehr bei ihr erlebt hatte. Nicht seit er sie beinahe verloren hatte.

Sie war ein Kraftpaket aus Klugheit, Fleisch und Blut, mit großen Sympathien für die Abgehängten in ihrem Heimatland und einer unschätzbaren Sensibilität für die Gefahren, die jenen Menschen jetzt drohten.

»… und diese jungen Matrosen setzt der russische Staat unmenschlichen Belastungen aus.«

Als sie fertig war, fing sie Max’ Blick auf.

»Trotzdem immer noch kein Mucks vom schwedischen Militär?«, hakte Charlie nach. »Oder vonseiten der NATO?«

»Nichts, nein«, antwortete Sarah.

»Wir können nur beten, dass es ein Unfall war«, murmelte er.

»Wir sollen beten, dass es einen Unfall gegeben hat?«, kam es von Paschie.

»Nein, natürlich nicht – aber verdammt noch mal, es darf einfach kein NATO-Torpedo sein. So war das gemeint.«

»Aber die NATO ist vor Ort?«, hakte Sarah nach.

Niemand antwortete.

»Warum sollte sie vor Ort sein?«, fragte Paschie.

Charlie seufzte.

»Keine Ahnung. Keine verdammte Ahnung. Aber das hier fühlt sich nicht gut an.«

»Also doch ein Unfall«, sagte Max und sah Paschie an.

Er wusste, dass sie gerade das Gleiche dachten. Und er ließ ihr den Vortritt.

»Es ist August.«

»Was soll das heißen?«, fragte Charlie.

»Unglücke passieren in Russland gehäuft im August«, erklärte sie. »Es gibt Leute, die behaupten, das hätte mit der Planetenkonstellation zu tun. Andere geben der Wärme die Schuld oder der Regierung, die im Urlaub ist und die Zügel aus der Hand gegeben hat …«

»Was denn für Unglücke?«, wollte Charlie wissen.

»In der jüngeren Vergangenheit der Putschversuch von 1991«, antwortete Max. »Der Ausbruch des zweiten Tschetschenienkrieges im vergangenen Jahr. Die Bombenanschläge auf Wohnhäuser in Moskau.«

»In Russland nennen wir das den August-Fluch.«

»Wo hält sich Putin zurzeit auf?«, fragte Sarah.

»Der ist im Urlaub«, antwortete Paschie. »Liegt am Schwarzen Meer in der Sonne. Was nur zeigt, wie sehr er sich dafür interessiert, was in der Barentssee passiert.«

6

Max schob die schwere Tür zu ihrer Wohnung in Gamla stan auf. Paschie hatte noch ins Fitnessstudio gehen wollen, und Max war heimgefahren, um sich für das Abendessen auf Östermalm umzuziehen. Hätte er die Wahl gehabt und zu Hause bleiben können, hätte er es getan. Aber mit Paschie hatte er keine Wahl. Und er wusste, dass sie sich von den Marklunds Unterstützung erhoffte.

Versuch einfach, nett zu sein.

Er warf seine Schultertasche auf den Esstisch. Mit einem Mal war ihm schwindlig, und er blieb abrupt stehen. Derlei Schwindelanfälle hatten ihn im vergangenen Jahr immer häufiger heimgesucht, und oft waren Kopfschmerzen damit einhergegangen. Es hatte angefangen, als er die Benzodiazepine abgesetzt hatte. Anfangs hatte in schöner Regelmäßigkeit die linke Hand gezittert, als wäre er irgendwie hyperaktiv. Paschie hatte es natürlich mitbekommen, und Feliz aus dem Boxclub hatte seine Witze darüber gerissen und ihn nachgeäfft. Nach einem Becher starkem Kaffee oder einer anständigen Sparringsrunde war es meistens wieder gut gewesen.

Er angelte die Tageszeitungen aus der Tasche, die er aus dem Büro mitgenommen hatte, und legte sich auf das Svenskt-Tenn-Sofa, ihre bislang größte gemeinsame Anschaffung. Josef Franks Blumenmuster sah wirklich hübsch einladend aus, aber im Vergleich zu dem Vorgängersofa aus seiner Junggesellenbude war dieses im Rücken verdammt hart. Obwohl inzwischen volle zwei Jahre vergangen waren, fühlte er sich hier immer noch nicht annähernd so zu Hause wie im Sveavägen – zumindest nicht, wenn Paschie weg war. Sie hatte ein paar von Carl Borgenstiernas verschlissensten Möbelstücken ausgemustert und sie durch helle Ikea-Sessel ersetzt, die zusammen mit dem neuen Sofa um den Fernseher im Wohnzimmer herumgruppiert waren. Auf dem Couchtisch stand eine Orrefors-Vase, die Paschie von Sarah geschenkt bekommen hatte. Darin war ein Strauß hochwertiger und täuschend echter Plastikblumen arrangiert – Paschies geheime Leidenschaft. Die Landkarte der Sowjetunion, die in seiner alten Wohnung über dem Sofa gehangen hatte, war in Stücke gerissen im Abfall gelandet. Stattdessen hingen jetzt zwei Aquarelle mit Schärenmotiven an der Wand.

Er hätte nicht recht sagen können, woher dieses mulmige Gefühl kam, das sich in ihm festgesetzt hatte. War es ihre Unterhaltung am Vorabend gewesen? Oder waren es die Nachrichten vom russischen Manöver, die sich irgendwie schicksalhaft anfühlten, jetzt da er wusste, dass dort oben im Eismeer etwas Ernstes passiert war?

Er überflog die Infos über die Flottenübung, die er schon kannte, und suchte nach neueren Nachrichten. Las einen halben Artikel über die Regierungsempfehlung, eine Schwedin zur UN-Flüchtlingskommissarin zu ernennen, und blieb schließlich an einer Dagens-Nyheter-Meldung über ein mysteriöses Signal hängen, das einem Informanten zufolge in der russischen Botschaft in Stockholm registriert worden war. Ein FRA-Sprecher habe dies nicht kommentieren wollen, aber so wie der Journalist es formulierte, war klar, dass die Abhörspezialisten des schwedischen Geheimdiensts die Entwicklung hochalarmiert verfolgten.

Max legte die Zeitungen beiseite und sah auf die Uhr. Wann waren sie gleich wieder verabredet? Er streckte sich nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein.

In den Nachrichten hatte man versucht, Stellungnahmen vonseiten der russischen Marine und der Botschaft in Stockholm einzuholen, was selbstverständlich zwecklos gewesen war. Kein Offizieller würde derzeit etwas dazu sagen. Doch unbestätigten Angaben zufolge befanden sich tatsächlich auch westalliierte Kräfte in der Gegend.

Dann waren sie also vor Ort. Was interessierte sie eine russische Übung?

Max drückte den Rücken durch, als im Fernsehen die USSMemphis und die USSToledo eingeblendet wurden. Die beiden riesigen, reaktorgetriebenen U-Boote bildeten das Rückgrat des US-Jagd-U-Boot-Programms. Eine britische Quelle, die anonym bleiben wollte, gab an, die Amis seien vor Ort, um die Übung und überdies einen potenziellen Waffentest zu beobachten, den die Russen mit ihrem Superkavitationstorpedo Schkwal geplant hätten.

Der Hochgeschwindigkeitstorpedo, den Paschie erwähnt hatte. Für den die Besatzung nicht hinreichend ausgebildet war. Vor dem sie regelrecht Angst hatten. Klar, dass da die USA vor Ort waren: um die Waffe zu studieren, die schneller durchs Wasser schoss als alles andere.

Der Sender hatte auch versucht, eine Stellungnahme von amerikanischer Seite einzuholen, doch von offizieller Stelle war lediglich verlautbart worden, die USA suche den Kontakt mit einem Vertreter der russischen Flotte.

In seiner Tasche vibrierte das Handy. Max ging ran, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden.

»Wo bleibst du denn?«, fragte Paschie. »Wir warten schon auf dich.«

»Irgendjemand Lust auf Nachtisch?«, fragte Malin Marklund und stand auf, um das Geschirr abzuräumen.

»Komm, ich helf dir«, sagte Paschie und lief mit den restlichen Tellern hinter ihr her in die Küche.

Die Wohnung lag in der Torstenssonsgatan auf Östermalm nur ein paar Häuser vom Strandvägen entfernt – die teuerste Wohngegend Stockholms. Nachdem Paschie aus Sankt Petersburg zurückgekehrt war und sich nur mühsam von den dortigen Ereignissen erholt hatte, die jetzt vier Jahre zurücklagen, hatte sie sich anfangs eher zurückgezogen. Was sie damals hatte erleiden müssen und die Angst, erneut entführt zu werden, hatten ihr lange im Nacken gesessen. Sie hatte niemandem über den Weg getraut und abends kaum je die Wohnung verlassen wollen. Als Max jetzt sah, wie sie sich in diesem wohlsituierten schwedischen Haushalt um das Geschirr kümmerte, wurde ihm warm ums Herz. Sie war wieder in der Normalität angekommen. War wieder da. So richtig.

Paschie hatte Malin vor knapp anderthalb Jahren nach dem Fitnesstraining in der Umkleide kennengelernt. Malin hatte telefoniert und, als sie auflegte, Paschies neugierigen Blick aufgefangen. Dann hatte sie kurz gezögert, mit sich gehadert und schließlich erzählt, dass sie und ihr Mann gerade alles unternähmen, um ein Kind zu zeugen. Paschie hatte Malin zu verstehen gegeben, dass sie und Max das Gleiche durchmachten, und Malin hatte sofort einige gute Ratschläge zur Hand gehabt. Hatte ihr Trainings- und Ernährungstipps und ein paar Hinweise zum Menstruationszyklus gegeben. Wie bei einem Job-Briefing hatte Paschie zugehört und sich im Geiste Notizen gemacht.

In der kurzen Zeit, die sie jetzt miteinander befreundet waren, hatte Paschie immer wieder zwischen Hoffnung und Verzweiflung geschwankt, war um Malins Unterstützung froh, über manche Aussage aber auch erschrocken gewesen.

»Ich bin ein Mensch, keine Maschine, die man auf einen bestimmten Termin programmieren kann.«

Und dann hatte sie Paschie regelrecht zum Arzt geschleift. Paschie hatte in der Sankt Petersburger Klinik eine »Weißkittelphobie« entwickelt, wie sie selbst sagte. Ihre Organe arbeiteten einfach schlechter, sobald sie einen Fuß in ein Krankenhaus setzte oder jemanden in Weiß vor sich sah. Max wusste, dass das keine Einbildung war.

»Noch Wein?« Ola Marklund saß ihm am Tisch gegenüber. »Soll ich noch eine Flasche aufmachen?«

Sie hatten bereits drei geleert. Trotzdem nickte Max.

»Gerne.«

Ola verschwand in der Küche, wo Paschie und Malin sich leise unterhielten. Unter Garantie redeten sie über Paschies Treffen mit dem Schamanen. Er wusste, dass sie Malin von dem bevorstehenden Termin erzählt hatte.

Max schlenderte in den Flur und zog sein Handy aus der Jackentasche. Keine neuen Nachrichten. Weder von Sarah noch von Charlie. Am liebsten hätte er von Hein Espen gehört. Er fragte sich, ob die Norweger wohl inzwischen mehr darüber wussten, was während des Manövers der Nordflotte passiert war. Kurz dachte er darüber nach, ihn anzurufen.

Dann fiel sein Blick auf sein Gesicht im Garderobenspiegel. Seine Augen waren bereits blutunterlaufen. Er hatte viel zu viel Rotwein getrunken.

Ola durchforstete immer noch seinen Weinschrank, während Paschie und Malin sich in das kleine Zimmer zurückzogen, das sie sechs Jahre zuvor eingerichtet hatten. Vor dem ersten von insgesamt fünf Schicksalsschlägen. Max wusste genau, was er hören würde, wenn er sich ihnen jetzt anschlösse, und wappnete sich innerlich. Der Abend ist ohnehin bald zu Ende, dachte er. Nur noch ein paar Stündchen. Noch ein paar Fläschchen. Dann nehmen wir uns ein Taxi.

»Max?«, rief Paschie. »Komm, das musst du dir ansehen.«

Er trat an die offene Zimmertür. Auf dem Boden im Kinderzimmer saß Paschie auf dem apricotfarbenen Teppichboden neben einem weiß gestrichenen Gitterbett. Sie winkte ihn zu sich. Mit der anderen Hand hatte sie nach etwas gegriffen, was auf dem leeren Bett gelegen hatte.

»Wenn man hier draufdrückt, spielt das Schlaflieder aus der ganzen Welt.«

Max beugte sich nach unten und strich ihr über die Wange. Ihre Haut war wärmer als sonst, vom Wein, der Unterhaltung und ihren Emotionen befeuert. Zum ersten Mal, seit er verspätet zu ihrer Verabredung dazugestoßen war, lächelte sie ihn an, ein schiefes Lächeln, in dem sich widerstreitende Gefühle spiegelten.

»Wie schaffen die beiden das?«, wisperte sie.

Max schüttelte stumm den Kopf.

»Und dann dieses bescheuerte Teil hier. Ausgerechnet das geht mir total nah.« Paschie wischte sich über die Schläfe. »Hast du das hier schon mal gehört? Stammt aus dem Baltikum, glaub ich, aber ich kenne das noch aus meiner Kindheit in Russland. Eins der schönsten Lieder der Welt.«

Aus der kleinen Spieldose kam die Melodie von Aija zuzu.

Max nahm ihre Hand.

»Das kenne ich auch«, sagte er. »Maj-Lis, meine Lehrerin auf Arholma, war Bootsflüchtling aus Estland. Das Lied hat sie manchmal gesungen.«

7

Sofia Karlsson lehnte an ihrem Wagen. Die Fahrertür stand offen. Sie wartete auf den Kriminaltechniker Benjamin Thornéus, der immer noch drinnen mit dem Rechtsmediziner und Claes Callmér beschäftigt war. Es war nicht ungewöhnlich, dass der Rechtsmediziner sich die Mühe machte, die Leiche noch am Fundort gründlich zu untersuchen und nicht bloß die ärztliche Leichenschau im Sektionssaal vorzunehmen. Dies hier war zudem kein normaler Fall, wie ihr Chef Per Carpelan schon gesagt hatte, und der Mediziner wollte sicherstellen, dass er sämtliche Spuren vom Fundort in sein Urteil mit einbezog. Bei diesem Opfer sowie dem Tathergang war klar, dass auf höchster Ebene ermittelt würde – und die Sache würde Orkanstärke annehmen.

Im Auto lief die CD, die ihr Vater ihr im vorigen Jahr zum Dreiunddreißigsten geschenkt hatte: der Soundtrack eines Films mit Fred Astaire und Bing Crosby in den Hauptrollen. Bings volle Bassstimme entführte sie aus diesem Drecksloch in eine Welt, in ein Leben, das anders war als das reale. Ursprünglich war es ihre Mutter gewesen, die sich für diese alte amerikanische Musik interessiert hatte. Seit sie gestorben war, fühlten Sofia und ihr Vater sich der Mutter durch die Musik verbunden. Die Illusion eines Lebens, das besser war als der Alltag – genau das vermittelten Musikfilme, und genau darin liege deren Stärke, hatte ihre Mutter immer gesagt. Und darum ging es doch.

Blue skies smiling at me, nothing but blue skies do I see.

Es war für sie alle ein langer Tag gewesen. Sie hatte früher selbst Forensikkurse belegt und sich die Grundlagen erarbeitet, irgendwann aber eingesehen, dass es einer besonderen Langmut bedurfte, um sich tagelang mit dem Sichern von Fuß- und Fingerabdrücken zu beschäftigen und nach Spuren irgendwelcher Körperflüssigkeiten oder Textilfasern zu suchen. Und eine solche Langmut besaß sie nicht.

Mit Thornéus hatte Sofia schon häufiger zusammengearbeitet. Er hielt sich aus dem Hahnenkampf heraus, in den andere Forensikexperten zogen, die auf den Frühstücksfernsehsofas um die besten Plätze rangelten. Thornéus’ einziges Interesse bestand darin, die Geschichte hinter jedem einzelnen Fall offenzulegen. Deshalb war er auch so verlässlich, fand sie, einer der Besten, und er war es wert, dass sie auf ihn wartete, auch wenn es bereits nach Mitternacht war. Nachdem dies in mehrfacher Hinsicht ein besonderer Fall war, hatte Sofia ihn gebeten, alles andere links liegen zu lassen. Er würde von nun an nur noch mit den Kollegen aus dem Labor zusammenarbeiten und wäre ihr Ansprechpartner in sämtlichen Forensikfragen.

Benjamin Thornéus zog die Eingangstür zum Auktionssaal hinter sich zu. Wie üblich trug er eine braune Fjällräven-Hose und rote Hosenträger über einem Jeanshemd. Mit diesem Geschmack wäre jeder Mann einfach nur schlecht gekleidet gewesen.

»High Society?«, fragte er und zeigte auf ihr Auto.

»Fast. Blue Skies«, erwiderte sie. »Und, was sagt der Mediziner? Du weißt, dass ich nicht warten kann, bis er ihn auf dem Tisch gehabt hat.«

»Nein, schon klar. Ich hab vorhin die erste Reporterin gesehen – das ging ja schnell. Du ahnst sicher schon, dass wir noch nicht mal sagen können, wann genau er gestorben ist.«

»Aber vielleicht könnt ihr ja grob schätzen? Ist er anschließend verstümmelt worden?«

Benjamin schüttelte den Kopf.

»Warte auf den Bericht. Allerdings bin ich mir ziemlich sicher, dass er noch gelebt hat, als er in zwei Teile geschnitten wurde.«

Sofia musste schlucken. Was sollte das alles, verdammt?

»Und diese eingeritzte Markierung auf der Stirn und unter dem Adamsapfel?«

»Ich nehm an, dass auch das Zeichen auf der Stirn vor Eintritt des Todes eingeritzt wurde.«

»Wie kommst du darauf?«

»Dem Mediziner zufolge gibt es extreme Stresssymptome an der Leiche, und die wären nicht so deutlich erkennbar, wenn er schon tot gewesen wäre.«

»Was denn für Symptome?«

»Zum Beispiel hat er sich einen Backenzahn ausgebissen.«

Sofia runzelte die Stirn. Sich einzunässen war das eine. Das war normal. Aber sich einen Zahn auszubeißen? Was musste passieren, dass man sich einen Zahn ausbiss?