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Bei seiner Jagd nach der Wahrheit werden auch Freunde zu Feinden – der hochexplosive und politisch brisante dritte Fall für Max Anger.
September 2001. Ein Mitarbeiter des schwedischen Außenministeriums stürzt aus dem neunten Stock eines Luxushotels in Jerusalem. Eine Woche später werden zwei Flugzeuge in das World Trade Center fliegen. Max Anger wird beauftragt, den Tod des Mannes zu untersuchen. Auf der Suche nach der Wahrheit kommt er einer geheimen schwedischen Bruderschaft mit engen Verbindungen in die USA in die Quere. Max scheint sich mächtige Feinde gemacht zu haben, denn plötzlich steht er unter Mordverdacht und wird vom Jäger zum Gejagten. Beim Versuch, seine Unschuld zu beweisen und sich selbst zu retten, tickt die Uhr unerbittlich. Denn der Tote in Jerusalem war nur der Startschuss für eine Katastrophe unermesslichen Ausmaßes …
Die »Max Anger«-Trilogie:
Band 1: Der Kormoran
Band 2: Der Adler
Band 3: Der Geier
Alle Bände sind eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Seitenzahl: 508
Veröffentlichungsjahr: 2021
Buch
September 2001. Ein Mitarbeiter des schwedischen Außenministeriums stürzt aus dem neunten Stock eines Luxushotels in Jerusalem. Eine Woche später werden zwei Flugzeuge in das World Trade Center fliegen. Max Anger wird beauftragt, den Tod des Mannes zu untersuchen. Auf der Suche nach der Wahrheit kommt er einer geheimen schwedischen Bruderschaft mit engen Verbindungen in die USA in die Quere. Max scheint sich mächtige Feinde gemacht zu haben, denn plötzlich steht er unter Mordverdacht und wird vom Jäger zum Gejagten. Beim Versuch, seine Unschuld zu beweisen und sich selbst zu retten, tickt die Uhr unerbittlich. Denn der Tote in Jerusalem war nur der Startschuss für eine Katastrophe unermesslichen Ausmaßes …
Autor
Martin Österdahl, aufgewachsen in Stockholm und London, hat BWL, Zentral- und Osteuropäische Geschichte und Russisch (Master of Science) studiert. Er arbeitete über zwanzig Jahre für TV-Produktionen und war gleichzeitig Programmdirektor eines schwedischen Fernsehsenders. Mit seiner deutschstämmigen Frau und den drei gemeinsamen Kindern lebt er in der Nähe von Stockholm.
Von Martin Österdahl bereits erschienen
Der Kormoran · Der Adler
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MARTINÖSTERDAHL
DERGEIER
Thriller
Deutsch von Leena Flegler
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Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Järnänglar« bei Bokförlaget Forum, Sweden.
Das Zitat stammt aus der Rede von US-Präsident John F. Kennedy vor der American Newspaper Publishers Association im Waldorf-Astoria Hotel, New York City, am 27. April 1961, übersetzt von Axel B. C. Krauss.
Copyright der Originalausgabe © 2019 by Martin Österdahl
Published by arrangement with Nordin Agency AB, Schweden
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Nike Müller
Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de
Umschlagmotiv: © plainpicture/Stephen Carroll
JaB · Herstellung: sam
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-21082-3V002
www.blanvalet.de
Für meine New Yorker Freunde»Allein das Wort ›Geheimhaltung‹ muss auf eine freie und offene Gesellschaft abstoßend wirken; und wir als Volk stehen von Natur aus sowie historisch Geheimgesellschaften ablehnend gegenüber, geheimen Eiden und geheimen Beratungen.«
John F. Kennedy
Prolog
Max Anger hatte keine Ahnung, wie lange er geschlafen hatte oder warum er aufgewacht war. Er setzte sich in seinem Bett auf und blickte hinaus auf die Kastanie auf dem Brända tomten. Die Sonne stand tief. Ihm tat alles weh. Die Kleider, in denen er ins Wasser gewatet war, klebten ihm brettsteif am Körper. Er konnte immer noch das Schießpulver riechen. Den Luftzug der Kugel spüren, die seine Wange nur knapp verfehlt hatte.
Er sah auf die Uhr auf dem Nachttisch. Kurz vor drei am Nachmittag. In seiner Hosentasche vibrierte das Handy. Sarah Hansen rief an, seine Chefin und beste Freundin.
»Max, schalt sofort den Fernseher ein. CNN.«
Eine Straße in New York war zu sehen. Ein Feuerwehrmann hatte die Hand an seinen Helm gelegt und sah nach oben. Die Kamera folgte seinem Blick, der wiederum einem Geräusch oder einer Bewegung nachzufolgen schien und dann an zwei himmelhohen Wolkenkratzern hängen blieb.
Der obere Teil des einen Turms war in eine graue Wolke gehüllt, und Flammen schlugen aus der Fassade.
Es fühlte sich an als hätte er in einen Spielfilm gezappt; der Himmel war klar und wolkenlos. Das Einzige, was die perfekte Szenerie störte, war der Rauch, der von einem der Türme aufstieg wie aus einem gigantischen Schornstein.
»Wie Sie sehen, sind die Livebilder sehr besorgniserregend«, sagte jemand auf Englisch. »Wir haben einen Augenzeugen hier – was können Sie uns erzählen?«
»Ich habe gesehen, wie ein Flugzeug ins World Trade Center gekracht ist. Ein Jet, zweimotorig – womöglich eine 737?«
»Sie sprechen von einem großen Passagierflugzeug?«
»Ja, die Maschine hat leicht geschwankt und dann direkt auf den Turm zugehalten. Sah aus, als wäre sie mit dem Turm verschmolzen. Ich hab sie auf der anderen Seite nicht wieder rauskommen sehen.«
Von überallher näherten sich Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr. Glasscherben und Metallteile fielen mit Getöse zu Boden. Auf dem Platz zwischen den beiden Hochhäusern befanden sich inzwischen Tausende Menschen – und die ganze Zeit über stieg Rauch auf und wurde immer schwärzer. Minuten verstrichen. Die Zeit stand still. Vom achtzigsten Stockwerk aufwärts stand das Gebäude in Flammen.
Dann glitt am rechten Rand ein weiteres Flugzeug ins Bild und in das Hochhaus hinein. Was folgte, war eine gigantische Explosion.
Max zitterte am ganzen Leib.
In New York war es jetzt 9.05 Uhr.
Er atmete schwer. Seine linke Hand zitterte. Für einen Augenblick musste er die Lider schließen, um von seinen Gefühlen nicht übermannt zu werden. Doch es passierte das Gegenteil.
Er war wieder mittendrin in den Ereignissen der vergangenen Nacht, als er sich gegen die verschlossene Tür geworfen hatte, um sie irgendwie aufzukriegen. Als sein Körper nach dem heftigen Stromschlag, den er abbekommen hatte, immer noch unkontrolliert zitterte. Als die Schritte sich entfernten. Die schleppende, selbstsichere Stimme ertönte.
»Wir sind die Welt, Max. Es gibt keine andere. Ich hätte Ihnen noch aus meinem Grab entgegengelacht.«
Er schlug die Augen wieder auf. Sah auf den Fernsehbildschirm.
CNNLIVE: BREAKINGNEWS.
Amerika angegriffen. Tausende Tote befürchtet.
Keine halbe Stunde später sackte der südliche Turm mitten in Manhattan in sich zusammen. Graue Asche schoss in alle Richtungen. Als hätte jemand einen Staubsaugerbeutel zum Platzen gebracht.
Menschen wurden zu Boden gerissen, rappelten sich wieder auf, rannten um ihr Leben, kletterten über Wagendächer, um sich in Sicherheit zu bringen. Sie alle waren staubgrau im Gesicht.
Ein neues Pearl Harbor.
Aus dem Fernseher war George W. Bush zu hören.
»Ich bete darum, dass sie Trost finden in einer Macht, die größer ist als wir alle, wie es von alters her zum Ausdruck kommt in Psalm 23: ›Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unheil; denn du bist bei mir.‹«
Dienstag, 4. September 2001
1
Gustav Barck schob die Tür hinter sich zu, ging langsam über den Perserteppich und setzte sich an den Schreibtisch in seiner Hotelsuite. Klappte den Bildschirm seines Laptops hoch. Überflog noch ein letztes Mal die E-Mail, die er in der vergangenen Nacht verfasst hatte. Stellte sich vor, wie überrascht die Frau wäre, die er als Empfängerin ausgewählt hatte.
Er schickte die E-Mail ab, dann schob er den Brief in einen Umschlag, der nach Stockholm geschickt werden sollte, klebte ihn zu und rief die Rezeption an. Keine zwei Minuten später klopfte es an der Tür. Er legte das Ohr ans Türblatt und lauschte. Das Herz hämmerte laut in seiner Brust. Er bekam kaum Luft.
Vorsichtig näherte er sich dem Türspion.
Draußen auf dem Flur stand ein Junge, wahrscheinlich gerade mal achtzehn und in die Concierge-Uniform des Waldorf Astoria Jerusalem gekleidet. Barck machte die Tür auf und überreichte ihm den Brief.
Die Schritte des Laufburschen verhallten im Flur, Gustav lockerte den Krawattenknoten, machte den obersten Hemdknopf auf und versuchte, wieder ruhiger zu atmen. In seinem Hotelzimmer war es stickig und warm. Die Klimaanlage hatte der unerbittlichen Hitze Jerusalems nichts entgegenzusetzen. Er zog die Balkontür auf, trat hinaus und warf einen Blick auf die Straße hinunter. Neun Stockwerke unter ihm fuhren wie immer Fahrräder, Mopeds, Autos und Transporter wild durcheinander. Sein Herz schlug so heftig, dass er den Verkehrslärm nicht einmal hörte.
Hinter der sandbraunen Hotelfassade lagen die zypressen- und olivengesäumten Gassen der Altstadt. Ein Stück weiter entfernt ruhte der Felsendom mit seinen blauen Keramikfliesen und der goldenen Kuppel auf seinem Hügel. Davor – inmitten des Parks, der sich bis zum Hotel erstreckte – wehte die US-amerikanische Flagge. Überall waren Passanten unterwegs, auf dem Weg irgendwohin, um ihren Verpflichtungen nachzukommen. Wie von einer höheren Macht gesteuert.
Der graue Asphalt unter ihm sah glutheiß aus. Erneut spülte die Paranoia über ihn hinweg. Schweiß rann ihm den Rücken hinunter. Seine Hände zitterten.
Alle sehen weg, um nur nichts mitzubekommen, jetzt, da es wirklich um etwas geht.
Er schob die Hände in die Taschen seiner Anzughose. Zog dann seine goldene Taschenuhr heraus.
Ich kann nicht länger wegsehen.
Dann kamen ihm die Tränen.
Er ließ den Uhrendeckel aufschnappen. In der Innenseite war das Foto eines kleinen Kindes befestigt.
Erinnere dich an mich, so wie ich früher gewesen bin.
Er kletterte auf das Balkongeländer und richtete sich auf. Spürte die Brise im Gesicht. Er schwankte leicht, schloss die Faust um die Uhr und presste sie sich an die Brust.
Weder Tod noch Leben, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes kann uns scheiden von der Liebe Gottes.
Mein Gehorsam gilt Dir bis zum Ende.
Er machte einen Schritt nach vorn, winkelte die Arme vom Körper ab und spürte, wie die warme Brise ihn umfing, als er fiel.
2
Max Anger stand ganz oben, dort wo kein Gras mehr den Fels bedeckte, und blickte auf Österhamn hinab. Am Fuß des Hangs lag die wettergeschützte Bucht – der letzte Halt, wenn man die Ostsee überqueren und Schweden hinter sich lassen wollte.
Ein paar Segelboote lagen landeinwärts an der Gästebrücke vertäut. Der Himmel war strahlend blau, wolkenlos und die Luft mit Sauerstoff gesättigt. Jenseits der Grundstücksgrenze verlief ein Schotterweg – die Schlagader, die die Gebäude mit den gemeinschaftlich genutzten Anlegestellen verband. Der Weg führte an den Weiden sowie den uralten, ergrauten Fischerhütten und Bootsschuppen vorbei, die aufgrund der isostatischen Bodenhebung inzwischen aussahen, als hätten sie sich einen halben Meter über dem Meeresspiegel auf kleinere Felsvorsprünge zurückgezogen. Dahinter lagen die alten Dampfer- und Marine-Anlegestellen. Der Weg schlängelte sich weiter über das Rückgrat der Insel in Richtung Kirche, Mühle und Leuchtturm und anschließend auf der nordwestlichen Seite weiter hinunter ans Wasser, wo der kleine Supermarkt und der Tanzboden lagen und wo die Fähren mit den Tagesgästen und Inselbewohnern anlegten.
Das letzte Mal war er vor fünf Jahren hier gewesen. Er und seine Freundin Paschie Kowalenko hatten mehrere Wochen auf der Insel verbracht und ihre geschundenen Leiber durch die Stille und die Luft heilen lassen. Die Entführung in Sankt Petersburg hatte bei Paschie Spuren hinterlassen, ihr Körper war von Kopf bis Fuß voller Entzündungen gewesen. Max hatte schon befürchtet, dass sie nie wieder die Alte werden würde.
Zunächst hatte sie tagelang auf der Küchenbank gelegen und geschlafen. Er hatte neben ihr gesessen, auf sie aufgepasst und sich in einem fort versichert, dass ihr Brustkorb sich im Takt der lautlosen Atmung immer noch hob und senkte.
Eines Nachts war er aufgeschreckt. Die Küchenbank war verwaist gewesen. Er hatte durchs Fenster zum Wasser hinuntergeblickt und Paschie entdeckt – sie saß unter dem sternklaren Himmel, blickte auf das Wasser auf dem Bootssteg und baumelte mit den Beinen. Max lief zu ihr, so schnell er konnte, und legte ihr den Arm um die Schultern. Sie zitterte am ganzen Leib, und er versprach ihr in jener Nacht, sie nie wieder loszulassen.
Später dann hatte er sie zurück in die Küche getragen. Er konnte sich noch genau daran erinnern, wie es sich angefühlt hatte, sie in seinen Armen zu halten. Wie federleicht sie gewesen war. Wie sie zugelassen hatte, dass er sie in seinen Armen hielt – trotz allem, was ihr die Männer angetan hatten.
Er drehte sich zu dem Haus um, in dem er aufgewachsen war. Der Mann, mit dem er zur Insel gefahren war, lief gerade daran entlang: Stefan Lindqvist, ein hiesiger Makler. In aufgekrempelten Jeans und Gummistiefeln stapfte Stefan durch das hohe Gras rund um das überwucherte Gebäude. Der Bootsschlüssel mit dem Korkschwimmer, den er um den Hals trug, tanzte mit jedem Schritt auf seiner Brust.
Als sie hier eingetroffen waren, hatte der Makler klare Worte gefunden: »Am besten wirft man da ein Streichholz rein und fängt noch mal ganz von vorne an.« Der Verfall, der mit dem Tod von Max’ Eltern eingesetzt hatte, war einfach zu weit fortgeschritten. Der Wacholder vor der Eingangstür war in alle Richtungen gewuchert, Gestrüpp bohrte sich durch eine Hausecke hindurch, und der Apfelbaum drillte sich mittlerweile sogar bis unter die Dachziegel. Wahrscheinlich wäre für denjenigen, der die nächsten Jahre mit Roden und Renovieren zubringen wollte, lediglich das Grundstück von Wert. Max konnte sich nicht erklären, wie es so weit hatte kommen können – und so schnell – und wie die Natur derartige Kräfte entwickeln konnte. Er hatte komplett aus den Augen verloren, dass es auf Inseln wie dieser die Aufgabe der Menschen war, die Natur dauerhaft in Schach zu halten. Er hatte das Handtuch geworfen, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden.
Der Makler hatte ja keine Ahnung, wie richtig er lag. Es wäre wirklich am besten, das Ganze einer anderen Familie zu übergeben, die hier auf der Insel noch mal komplett neu anfangen konnte.
Nachdem sie das Haus betreten hatten, stellte Stefan eine Thermoskanne mit Kaffee auf den Küchentisch und Max suchte zwei Becher heraus.
»Funktioniert der noch?«, fragte Stefan und nickte in Richtung des alten gusseisernen Herds und Ofens in der Mauernische.
»Als ich es zuletzt versucht habe, schon«, erwiderte Max. »Allerdings müsste wohl mal ein Schornsteinfeger kommen.«
Stefan zog die Augenbrauen in die Höhe, als wäre der Schornsteinfeger gerade ihr geringstes Problem. Als wäre ein Bulldozer wesentlich passender. Max wusste genau, was dem Makler vorschwebte: Eine wohlsituierte Familie aus der Stadt, die hier alles dem Erdboden gleichmachte, sich aus einer Broschüre ein Haus aussuchte und das dann mitten hinein ins Grundstück auf die Bergkuppe pfropfte, um den bestmöglichen Ausblick aufs Meer zu haben. Und um auf diese Weise ausgerechnet das zu zerstören, was allem hier das spezielle Schärenfeeling verlieh. Ob er das vertraglich verbieten könnte? Wenn man so etwas wollte, konnte man sich auch einfach in Sandhamn etwas suchen.
»Wie wollen wir es mit dem Inventar machen?«, fragte Stefan. »Hier steht ja eine Menge Plunder herum.«
»Das sehe ich noch mal alles durch«, erklärte Max.
»Okay. Ich muss in einer Stunde wieder auf dem Festland sein. Wir sollten in zwanzig Minuten ablegen.«
Max sah auf die Taucheruhr an seinem Handgelenk. Er war zum Mittagessen in der Stadt verabredet.
Er schulterte eine leere Stofftasche und ging mit dem Kaffeebecher in der Hand nach oben. Dort blieb er vor der geschlossenen Tür zum Schlafzimmer seiner Eltern stehen. Wie oft er hier nachts gestanden und auf die Klinke gestarrt hatte und dann wieder umgekehrt war. Er betrat sein altes Kinderzimmer. Links der weiße Schreibtisch, an dem er seine Hausaufgaben gemacht hatte. Darüber Bilder von Eishockey-Stars. Daneben das Bücherregal. Er nahm einen Schluck Kaffee. Vielleicht half der ja gegen den Anflug von Kopfschmerzen. Mit der freien Hand strich er über die Buchrücken und blieb bei Robert Louis Stevensons Abenteuer des David Balfour hängen – das erste Buch, das ihn je gefesselt und seine Fantasie so sehr beflügelt hatte, dass er von einem Leben und einer Welt geträumt hatte, die größer waren als diese Schäreninsel.
Vor dem Fenster ging das Grundstück nahtlos in ein Wäldchen über. Er legte die flache Hand an die Mauer neben dem Fenster, um die Feuchtigkeit und Kühle auf der Haut zu spüren. In den Wochen nach dem Unfalltod seines Vaters Jakob Anger hatte er ständig so dagestanden – mit der Hand an der Wand – und aus dem Fenster gestarrt. Josefin, seine Mutter, hatte immer wieder nach dem Rechten geschaut und ihn dort reglos stehen sehen. War er deshalb hier hochgekommen? Um sicherzugehen, dass er die klamme Kälte von draußen immer noch am ganzen Körper spüren konnte? Um ihre Stimme noch einmal zu hören. Um ein für alle Mal Abschied zu nehmen.
Nur, dass er weder etwas spürte noch hören konnte.
Er nahm die Hand von der Wand. Der schwarze Stoffbeutel lag leer zu seinen Füßen. Sah aus, als wäre die Luft aus ihm herausgelassen worden. Warum hatte er den überhaupt mitgenommen? Er wäre doch ohnehin zu klein für all das, was ihm dieser Ort bedeutete. Und viel zu groß für all das, was noch Bedeutung hatte und mitgenommen werden konnte.
Auf dem Weg nach unten hörte er Stefans Stimme.
»Da ist ja sogar ein Keller. Hier auf der Insel gibt’s das nicht oft, nehm ich an.«
In der Diele trafen sie wieder aufeinander. Stefan hatte Kaffee über sein Flanellhemd gekleckert. Er blickte auf den leeren Beutel in Max’ Hand.
»Gar nichts mitgenommen von oben?«
»Ich brauche mehr Zeit«, erwiderte Max.
Stefan warf einen Blick auf seine schwere, protzige Armbanduhr. Dann zuckte er mit den Schultern.
»Da unten ist eine Tür abgeschlossen. Genau wie das Wohnzimmer. Und die alte Anrichte. Habt ihr hier immer alles abgesperrt?«
Einmal war eingebrochen worden. Nachdem Max’ Vater Jakob gestorben war, während er selbst in Norrtälje studiert und Mutter Josefin allein hier gewohnt hatte. Zum Glück war sie gerade nicht zu Hause gewesen, als die Einbrecher gekommen waren. Trotzdem hatte es sie mächtig mitgenommen, und seither hatte sie immer penibel darauf geachtet, alles abzuschließen. Allerdings sah er keinen Grund, dem Makler all das zu erzählen.
»Wie gesagt, ich brauche noch ein bisschen mehr Zeit.«
Endlich fiel bei Stefan der Groschen.
»Okay, dann sehe ich mir so lange das Nebengebäude an.«
Sobald er allein war, betrat Max das Wohnzimmer. Hier war immer noch alles so, wie er es in Erinnerung gehabt hatte. Wie in einem Museum seiner Kindheit. Die alten, verschlissenen Möbel mit den hellbraunen Cordbezügen. Der rechteckige Glastisch mit Messingbeinen. Der alte Knüpfteppich, der einst das Kostbarste in diesem Haus und unendlich weich und kuschlig gewesen war. Er hatte mit Papa darauf gehockt, wann immer sie näher am Fernseher sitzen wollten. Inzwischen war er abgewetzt und verschlissen, die Sitzmöbel durchgesessen, die Polster zerknautscht, als hätte irgendeine unsichtbare Präsenz darauf gekauert.
Er angelte den Alustreifen mit den Benzodiazepinen aus der Tasche, drückte eine lila Tablette heraus und spülte sie mit dem Rest Kaffee hinunter.
Ich kann mich jetzt nicht darum kümmern.
Andere Dinge waren jetzt wichtiger. Von Paschie kaum eine Silbe, seit sie Stockholm verlassen hatte. Er wusste noch immer nicht, wie es ihr ergangen war. Allerdings wusste er, warum sie gegangen war. Er hatte sein Versprechen gebrochen und sie losgelassen. War zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen und hatte sich in etwas hineingestürzt, wovon er sich hätte fernhalten sollen, wie sie einander geschworen hatten.
Als sie zuletzt miteinander gesprochen hatten, hatte sie ihn aus einem Krankenhaus in Murmansk angerufen und ihm eröffnet, dass sie trotz aller Widrigkeiten tatsächlich schwanger geworden war. Doch was sie mit dem Embryo zu tun gedachte, hatte sie ihm nicht erzählt. Das war ihre Strafe für ihn gewesen – es nicht zu erfahren und stattdessen allein zurückzubleiben und für alle Zeiten darüber zu grübeln, was er ihr und dem Kind, das sie unterm Herzen trug, angetan hatte.
Trotzdem hatte er immer gehofft, dass er eines Tages noch eine zweite Chance bekäme. Deshalb hatte er auch seinen Freund Ilja in Moskau damit beauftragt, sie aufzuspüren.
Ein Jahr war seitdem vergangen.
Als Max sich zur Kellertreppe umwandte, breitete sich endlich die wärmende und zutiefst beruhigende Wirkung der Tablette aus. Er ging die Treppe hinunter und machte das Licht an. Die Luft in dem alten Waschkeller roch muffig. Max tastete hinter dem Wäscheschrank über die Wand, bis seine Fingerspitzen auf das kalte Metall eines Schlüsselbunds stießen.
Er schloss die Tür zu Papas Arbeitszimmer auf und trat ein. Es handelte sich um eine alte Werkstatt mitsamt Werkzeugarsenal und Werkbank, die Papa mit der Zeit in eine Art Büro umfunktioniert hatte. Auf einem Schreibtisch ruhte eine alte Schreibmaschine, vollkommen eingestaubt und mit Spinnweben überzogen. Unter der Schreibtischplatte stand ein kleiner Aktenschrank aus Metall.
Max setzte sich auf den Schreibtischstuhl und schloss mit dem kleinsten Schlüssel am Schlüsselbund die Schubladen des Schränkchens auf. Ganz oben lagerte Büromaterial – Bleistifte, Anspitzer, Radiergummi. In der nächsten ein Collegeblock.
Er nahm ihn zur Hand. Fotokopien von Zeitungsartikeln und Notizen. Die erste Kopie stammte von einer Seite mit Todesanzeigen. Er überflog die Namen der Toten, erkannte aber keinen wieder. Er blätterte um. Die nächste Kopie, die zwischen den Seiten steckte, handelte von einem Skandal, den man Ende der Siebziger aufgedeckt hatte: Da hatte Schweden den Fehler begangen, ein Flugleitsystem an die Sowjets zu verkaufen, das amerikanische Bauteile enthielt – was gemäß schwedisch-US-amerikanischen Handelsabkommen verboten war. Das Ganze wurde unter dem Namen Datasaab-Affäre bekannt und zog noch lange Konsequenzen nach sich.
Dass Jakob Anger ausgerechnet eine solche Meldung aufbewahrt hatte, war typisch, dachte Max. Sein Vater schien immer und überall eine Bedrohung vonseiten Russlands gesehen zu haben und hatte bereitwillig jeder Verschwörungstheorie beigepflichtet, derzufolge die Sozialdemokraten heimlich mit den Moskauer Bonzen kooperierten.
Nachdem er weitergeblättert hatte, fand Max überdies einen Artikel über einen Mann, dessen Name ihm seit Langem geläufig war: Jonas Albrektsson, der Kriegsmaterialinspektor gewesen war, ehe er auf den Gleisen des Stockholmer Hauptbahnhofs den Tod gefunden hatte. Um seinen Sturz vom Bahnsteig gab es bis heute Gerüchte, es kursierten widersprüchliche Informationen und Zeugenaussagen. Albrektssons Tod war nie vollständig aufgeklärt worden.
Der nächste Artikel handelte von einem Mann, den man im Hafen von Norrtälje tot aufgefunden hatte: Kenneth Bergström. Den Namen hatte Max noch nie gehört.
Unter dem Artikel war handschriftlich notiert worden:
Jakob Anger, 6. Juni 1982
Kenneth Bergström, 12. Juni 1982
Jonas Albrektsson, 8. September 1986
Am 6. Juni 1982 war Max’ Vater gestorben. Er hatte Max und Josefin vor dem Friseursalon im neu eröffneten Einkaufszentrum Elmsta abgesetzt, in dem die Mutter arbeitete, und war weiter zu einer Autowerkstatt in Norrtälje gefahren, um seinen weißen Volvo 140 zur Inspektion zu bringen. Anschließend hatte er in Stockholm etwas erledigen wollen. Was er in der Hauptstadt vorgehabt hatte, wusste kein Mensch; der Wagen war auf dem Rückweg von der Werkstatt in eine Felswand gekracht. Die Polizei war von einem Selbstmord ausgegangen. Daran hatte Max nie geglaubt.
Drei Männer, drei Todesdaten.
Warum?
Was hatten sie gemeinsam?
Irgendwas stimmte da nicht. Die Handschrift, das Karopapier …
Max schob den Stuhl zurück und stand auf.
Er hätte viel früher schalten müssen. Es gab bloß eine Person, die solches Karopapier verwendet hatte – und zwar für alles, egal ob es sich um den Punktestand bei einem Kartenspiel, um eine Einkaufsliste oder um Telefonnummern von Freunden handelte.
»Mama?«, flüsterte Max.
Er beugte sich über die Schreibtischplatte. Dem Artikel zufolge war Kenneth Bergström zum Zeitpunkt seines Todes fünfunddreißig Jahre alt gewesen, ledig, keine Kinder. Ein Arbeitskollege hatte ihn als vermisst gemeldet, ehe er aus dem Hafenbecken gefischt worden war.
Max blätterte zurück zur ersten Kopie. Überflog die Todesanzeigen. Da stand er. Kenneth Bergström. Die Trauerfeier hatte am 24. Juni 1982 in der Estunakirche in Norrtälje stattgefunden.
Warum hatte Mama sich über ihn informiert?
Und über Albrektsson?
Max blätterte wieder vor. Da, nur eine einzige Zeile.
»Alles weg.«
»Max, sind wir so weit?«, rief der Makler von draußen.
Max starrte auf den Collegeblock hinab. Hatte seine Mutter nach Erklärungen für den Tod ihres Mannes gesucht? Hatte sie trotz ihrer Ermahnungen an Max, er solle die Vergangenheit ruhen lassen, selbst herauszufinden versucht, was hinter Jakobs Tod steckte? Hatte sie allen Ernstes geglaubt, dass die Todesfälle Albrektsson und Bergström mit Papas Unfall zu tun hatten?
Und was hatte »alles weg« zu bedeuten?
Es gab noch eine dritte Schublade, die unterste, die er noch nicht aufgezogen hatte. Was erwartete ihn dort?
Nein, Schluss jetzt, dachte er. Einfach ein Streichholz hier reinwerfen und noch mal bei null anfangen. Es war an der Zeit, nach vorn zu blicken.
Er griff nach dem Stoffbeutel und legte den Collegeblock hinein. Bevor er ging, schloss er die Schubladen des Aktenschränkchens und die Tür zum Arbeitszimmer ab. Den Schlüsselbund steckte er in die Tasche. Er schloss die Faust darum und drückte fest zu.
3
Cornelius Strömberg hängte seinen Mantel in der Diele auf. Während seines Spaziergangs entlang des Norr Mälarstrand hatte er die ganze Zeit an Gustav Barck denken müssen, ihren Mann in Jerusalem. Welche Qualen Barck durchlitten haben musste. Für sein Land zu arbeiten konnte eine Last sein – wer, wenn nicht Strömberg wusste das nur zu gut.
Auch in seinem Leben hatte es Momente gegeben, in denen die Dunkelheit alles überschattet hatte. Doch da hatten ihm die engsten Freunde beiseitegestanden. Nicht nur seine eigenen, auch die der Nation.
Sie hatten stets die Leerstelle für ihn gefüllt.
Die Achtziger, als sie dem brüllenden Russischen Bären schreckstarr gegenübergestanden hatten, waren eine besonders kritische Zeit gewesen. Da hatte die Gefahr eines Krieges, der allen Kriegen ein Ende setzen würde, um die Ecke gelauert. Für den Fall, dass irgendwer den entscheidenden Knopf drückte, waren Schutzräume für die komplette Bevölkerung gebaut worden. Nur eine Handvoll der besten Männer war in die Geheimpläne eingeweiht worden, wäre geblieben und hätte an der Seite der Amerikaner im Fall der sowjetischen Invasion Widerstand geleistet. Strömberg war einer der Privilegierten gewesen.
Die Amerikaner hatten eine Art Club initiiert, der sich jeden Donnerstag in der Botschaft traf. Dazu luden die Mitglieder die besten Jazzmusiker der Stadt sowie eine handverlesene Elite ein. Und ausgerechnet einer dieser Leute hatte ihn angerufen und ihm von dem Todessturz in Jerusalem erzählt. Jemand, der wusste, wozu Barcks Selbstmord führen konnte, wenn sie jetzt nicht äußerst umsichtig vorgingen.
Viele hatten sich seither von jener Zeit und den Zusammenkünften in der US-Botschaft distanziert, unter anderem der Sozialdemokrat Ingvar Carlsson, der nach dem Mord an Olof Palme die Regierungsgeschäfte übernommen hatte und wohl glaubte, jene alten Freundschaftsbande seien allzu kompromittierend.
Doch Strömberg hatte immer noch Fotos. Von ihnen allen. Nur deshalb war es ihm auch gelungen, über all die Jahre seine Position zu halten: weil er immer auf der Hut gewesen war, um seiner selbst und um des Vaterlandes willen. Und genau deshalb war er in der Causa Barck auch angerufen worden.
Womöglich würde jetzt, da Barck aus freien Stücken sein Leben auf solch spektakuläre Weise beendet hatte, die Wahrheit über die Achtziger endlich ans Licht kommen? Oder würde die Welt wieder einmal bloß mit den Schultern zucken und weitermachen wie bisher?
Er war gebeten worden, einen Ermittler zu benennen, der die Umstände rund um den Todesfall in Jerusalem durchleuchten sollte. Als er an den Landungsbrücken am Rålambshovsparken vorbeispaziert war, war ihm auch ein potenzieller Kandidat eingefallen.
Max Anger.
Er war die gleichermaßen naheliegende wie riskante Wahl. Aber so war es oft in Situationen wie dieser, das hatte die Erfahrung Strömberg gelehrt. Max wäre wie Öl, das man in ein Feuer goss – aber sie brauchten jetzt nun mal jemanden mit der entsprechenden Power, wenn sie der Sache so schnell wie möglich auf den Grund gehen wollten.
Er durchquerte die Wohnung und setzte sich an seinen Schreibtisch. Der Pressemitteilung auf der Vektor-Webseite zufolge, hatte Max in letzter Zeit an einem Gutachten für das Außenministerium gearbeitet, an einer Art Kommentar zu einer Regierungserklärung zum schwedischen Waffenexportvolumen. Insofern wären Max’ Kenntnisse der Welt, in der Gustav Barck gearbeitet hatte, auf dem neuesten Stand.
Sie hatten sogar eine gemeinsame Historie, Max und er selbst. Ein durchaus belastbares Band der Loyalität. Darauf würde er sich jetzt berufen können. Dann wiederum war Historie das eine; das Hier und Jetzt war etwas ganz anderes.
Er angelte sein Handy heraus und rief eine Nummer auf.
»Magnus«, sagte er, »könntest du für mich bitte einen meiner ehemaligen Aspiranten von der Marineakademie ausfindig machen? Der Kontakt ist abgebrochen, und wir haben lange nichts mehr voneinander gehört. Ich bräuchte den kompletten Werdegang, seit er die Armee verlassen hat. Mail mir alles, was du finden kannst.«
Während er auf die E-Mail wartete, holte er sich ein Glas Wasser aus der Küche und ging ins Wohnzimmer. Er trank ein paar Schlucke, stellte das Glas ins Bücherregal und ließ den Blick über seine Fotos schweifen. Eins war beim Ball der Militärakademie Karlberg aufgenommen worden, bei einem der jährlichen Absolvententreffen Mitte der Achtziger, auch wenn es sich anfühlte, als wäre es erst gestern gewesen, obwohl sich Strömberg längst nicht mehr auf dem Zenit seiner Militärlaufbahn befand.
Das Bild hatte Magnus geschossen, der Athlet, damals der attraktivste Mann an der Akademie. Ein Auslandseinsatz hatte seinem Leben eine unerwartete Wendung gegeben. Das perfekte Gesicht war seither von Narben gezeichnet. Und die Zukunft des Mannes ein Trümmerhaufen.
Den Mittelpunkt des Fotos bildete natürlich die wunderhübsche Vanessa. Magnus hatte den Blick nicht von ihr abwenden können. Ihr Freund Jonas Albrektsson hatte damals nicht auf den Ball gehen wollen, sodass an jenem Abend Casten ihr Tischherr gewesen war. Casten war in ihrer Clique das akademische Hirn gewesen und hatte letztlich zur Überraschung aller Vanessa zur Frau genommen.
Auf Vanessas anderer Seite stand ihr damaliger amerikanischer Gast, mit einem breiten Grinsen im Gesicht, hoher Stirn, der Einzige in der Menge mit einer anderen Uniform. Er blickte schelmisch in die Kamera, als hätte er die Spannungen in der Gruppe gespürt und bereits vor sich gesehen, was passieren würde.
Strömberg wischte mit den Fingern den Staub vom Bild und betrachtete erneut sein eigenes Gesicht. Seine Frau Barbro an seiner Seite, im eng geschnittenen lila Abendkleid. Hochsteckfrisur vom Friseur. Sie hatte schier den ganzen Tag gebraucht, um sich zurechtzumachen. Ihr Lächeln hatte immer noch diese erstaunliche Kraft, die seine Brust wärmte. Eine Wärme, die gleichzeitig wohl- und wehtat. In ihrem Blick lag neugieriges Verlangen, als hätte sie durchschaut, welchen Bluff er auf der Hand hatte – sowohl auf dem Bild als auch später nach dem Ball im Hotelzimmer und bis heute an diesem Nachmittag.
Er strich auch über die anderen Fotografien – er selbst in Uniform zu seiner Zeit bei der MUST, dem Nachrichtendienst der Streitkräfte, als er gerade zum Oberst befördert und mit der geheimsten aller Abteilungen innerhalb des schwedischen Militärs betraut worden war. Auf einem anderen Bild leitete er als Direktor des Ausbildungszentrums der Küstenjäger in voller Kampfmontur ein Manöver in den Stockholmer Schären. Die Gesichter in Tarnbemalung … und er mit stolzgeschwellter Brust.
Strömbergs Jungs.
So hießen sie damals.
Dann das Foto, nach dem er gesucht hatte. Anfang der Neunziger, er selbst und Max, beide in Kampfmontur. Auf dem dunklen Übungsplatz vor ihrem Quartier, im Zwielicht der Scheinwerfer eines Einsatzfahrzeugs. Die Köpfe zusammengesteckt. Den Arm um die Schulter des jeweils anderen gelegt.
Wie Vater und Sohn.
Auf den Signalton seines E-Mail-Programms wandte er sich vom Bücherregal ab, setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und weckte den Bildschirm auf.
Magnus’ E-Mail war von einer anonymen Absenderadresse gekommen. Im Anhang befand sich eine Übersicht über Berufs- und Privatleben, die Strömberg sofort aufklickte. Die Übersicht enthielt sogar einen Auszug aus einer als geheim eingestuften Rikskrim-Ermittlung, in der Max’ Name aufgetaucht war. Dann der komplette Krankenbericht, aus dem hervorging, dass eine erblich bedingte genetische Abweichung vorlag, die eine neurodegenerative Krankheit begünstigte. Langjährige Einnahme von Benzodiazepinen, die ein enormes Abhängigkeitspotenzial hatten.
Ein versehrter Soldat, der nach dem Sinn und Zweck im Leben suchte? Ob er ihn wieder aufs rechte Gleis setzen konnte?
Strömberg rieb sich das stoppelige Kinn.
Manchmal ging das Leben seltsame Wege, dachte er. Und urplötzlich fiel alles an seinen Platz. Der Kreis war geschlossen.
Die E-Mail hatte alle notwendigen Infos enthalten, die er brauchte, um den Kontakt wieder aufzunehmen. Er klickte den Anhang zu und widmete sich der Mail selbst.
In die Betreffzeile hatte Magnus ein einziges Wort geschrieben. Ein Wort, das Strömbergs eigene Einschätzung untermauerte.
Perfekt.
4
Als Max Tom Sandbergs Sprechzimmer im Stockholmer Sophiahemmet betrat, leuchteten die Augen des Oberarzts auf, als wartete er sehnlichst auf Neuigkeiten. Sandberg war einer der führenden Spezialisten für neurologische Erkrankungen in ganz Europa und brennend an Max’ Fall interessiert.
Max’ Gendefekt war im Zusammenhang mit Untersuchungen diagnostiziert worden, denen er und Paschie sich im Jahr zuvor in der Kinderwunschstation unterzogen hatten. Der Arzt hatte versucht – leider vergebens – , Max zu beruhigen, indem er darauf hingewiesen hatte, dass einige der einflussreichsten Männer der Geschichte die gleiche Genmutation gehabt hatten: Roosevelt, Kekkonen, Stalin.
Die Demenzerkrankung hatte bei Stalin zu Paranoia und abnehmender Empathiefähigkeit geführt, während seine intellektuellen und kognitiven Fähigkeiten unverändert geblieben waren. Dass Max die gleiche Krankheit entwickeln sollte, kam einem Albtraum gleich.
Nachdem sie die Fertilitätstherapie abgeschlossen hatten, hatte Sandberg Max als Patienten übernommen; binnen eines Jahres hatten sämtliche Untersuchungen das Gleiche ergeben: Die genetische Anlage war Realität und somit eine tickende Zeitbombe, die jederzeit hochgehen und dafür sorgen konnte, dass seine Persönlichkeit sich veränderte.
Nachdem Sandberg routinemäßig Max’ Blutdruck kontrolliert hatte, stellte er ihm die gleichen Fragen wie immer.
»Der Blutdruck ist immer noch genauso hoch, spüren Sie das?«
»Nein.«
»Und wie sieht es mit dem Schwindel, den Kopfschmerzen und dem Tremor aus?«
»Unverändert«, antwortete Max.
»Immer noch dieselbe Hand, die zittert?«
»Ja, die linke.«
»Und sonst? Keine Verstimmungen? Keine depressiven Gedanken?«
»Ich bin das personifizierte Glück, Herr Doktor.«
Sandberg musste lachen.
»Nur weil Sie die Erbanlage tragen, heißt das noch lange nicht, dass die Demenz auch ausbricht. Aber wir sollten das im Blick behalten.«
»Ich braver Junge sitze einmal im Monat hier«, kommentierte Max.
»Und dieser Junge bettelt mich um mehr Benzodiazepine an.« Sandberg räusperte sich. »Auch wenn Sie die früher von einem Kollegen verschrieben bekommen haben, ist das nun wirklich nicht die richtige Therapie. Die Pillen tun Ihnen nicht gut.«
Aber sie freiwillig an den Nagel zu hängen, wäre der Bitte gleichgekommen, durch die Hölle gehen zu dürfen. Max hatte sie schon einmal abgesetzt, ein halbes Jahr lang. Doch da war Paschie noch da gewesen. Es waren andere Zeiten gewesen.
»Ich denke drüber nach«, sagte er.
»Halten Sie sich an die Dosierung?«
»Im Großen und Ganzen, ja.«
Sandberg schob sich die Brille den Nasenrücken hinauf. Nickte knapp. Sie wussten beide, was das bedeutete. Bedeuten konnte. Es gab gute Tage. Heute war kein guter Tag, und Max fragte sich, ob der Arzt es ihm ansehen konnte.
»Können wir noch mal die Liste durchgehen, die ich Ihnen gegeben habe?«, fragte Max.
Sandberg griff nach einem Aktendeckel. In dem schmalen Pappordner konnte Max auch die handgeschriebene Liste mit Fragen ausmachen, die er dem Arzt bei ihrem letzten Gespräch vor der Sommerpause dagelassen hatte. Max hatte die Fragen so lange zurückgehalten, bis er das Gefühl hatte, zu seinem Gegenüber vollstes Vertrauen zu haben.
»Was den Arzt aus Norrtälje betrifft, habe ich keine überzeugende Erklärung für Sie. Ich kann mir nicht erklären, warum er Ihnen das Alprazolam überhaupt verschrieben hat. In der Literatur zur frontotemporalen Demenz wird das Präparat jedenfalls nirgends erwähnt.«
»Haben Sie ihn erreicht?«
»Nein, und ich weiß ja, dass Sie es auch versucht haben, insofern habe ich keine allzu großen Hoffnungen. Anscheinend ist er im Ruhestand und nach Spanien gezogen.«
»Was ist mit dem Militär?«
»Diesbezüglich bin ich weitergekommen. In Ihrer Dienstzeit ist auf solche Krankheiten nicht getestet worden. An und für sich ist das nicht ungewöhnlich – Ihre Veranlagung ist einfach zu selten und schwierig zu diagnostizieren, wenn noch keine Symptome in Erscheinung getreten sind.«
»Das Zittern habe ich erst seit letztem Jahr«, warf Max ein. »Ist das nicht ein Anzeichen dafür, dass sich da etwas entwickelt?«
»Nicht notwendigerweise. Und ich kann auch keine anderen Symptome feststellen. Das Zittern kann genauso gut von Ihrer Selbstmedikation herrühren.«
Sandberg zupfte sich im Nacken an einer Haarsträhne. Er ließ wirklich keine Chance ungenutzt, um seine Einstellung zu den Benzodiazepinen zu unterstreichen.
»Und mein Vater hat die gleichen Präparate erhalten?«
»Sie beide hatten in Norrtälje denselben Arzt, insofern läge es nahe. Allerdings habe ich das nicht verifizieren können. Es ist durchaus schon vorgekommen, dass Patienten beschließen, sich das Leben zu nehmen, sobald eine neurologische Erkrankung sie zunehmend beeinträchtigt, keine Frage. Aber das empirisch zu erheben, ist schlichtweg unmöglich.«
»Verstehe. Tut mir leid, wenn ich Ihnen da Umstände gemacht habe«, sagte Max. »Die Frage ist bloß in einem Gespräch mit Ihrem Kollegen aus der Kinderwunschabteilung aufgekommen.«
»Und ich frage mich wirklich, warum. Ich habe Doktor Axelsson deswegen zur Rede gestellt. Ich finde nicht, dass die Frage angemessen war.«
»Wir haben damals versucht, ein Kind zu bekommen. Ich nehme an, er war der Ansicht, die Info wäre für meine Freundin wichtig gewesen.«
Sandberg nickte.
»Hat sie es erfahren?«, fragte er dann.
»Nein«, antwortete Max. »Das mit uns ist in die Brüche gegangen, bevor sich die Gelegenheit ergab.«
5
Als Max in den Vektor-Räumlichkeiten am Valhallavägen eintraf, saß seine Chefin Sarah Hansen über ihre Tastatur gebeugt am Schreibtisch. Zu beiden Seiten stapelte sich Papier. Selbst von der Tür aus konnte er erkennen, worum es sich dabei handelte. Sie markierte Rechnungen, die sie beglichen hatte, immer mit einem großen X und dem Datum darüber – doch diesmal hatte sie noch eine ganze Menge abzuarbeiten.
Sarah blickte zu ihm auf. Ihr blondiertes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und der dunkle Ansatz verriet ihre natürliche Haarfarbe. Ihre neue winzige Brille sah aus wie diese Dinger, die man im Solarium benutzte.
»Wie war’s auf Arholma?«
»Windig«, antwortete Max.
»Willst du wirklich verkaufen?«
»Ich kann mich jedenfalls nicht darum kümmern. Und es ist jetzt schon baufällig.«
Sarah kniff die Augen zusammen.
»Ich kann mir dich ohne deine Außenstelle gar nicht vorstellen.«
»Manchmal muss man eben den nächsten Schritt gehen.«
»Wir haben zurzeit nicht gerade viel auf der hohen Kante, wie du weißt«, sagte sie. »Aber vielleicht könnten Lisette und ich uns ein Wochenende freinehmen und dir dort draußen beim Aufräumen helfen?«
»Ich glaube, es wird allmählich Zeit, dass andere übernehmen.«
»Trotzdem hast du von dort etwas mitgebracht.«
Sarahs Blick haftete an dem Stoffbeutel in Max’ Hand. Ein Collegeblock mit neuen unbeantworteten Fragen. Max überlegte kurz, ob er ihr erzählen sollte, was er im Keller seines Elternhauses entdeckt hatte. Dann wiederum hatte er selbst keine Ahnung, was Mamas Artikel und Aufzeichnungen bedeuteten, insofern hätte es nicht allzu viel zu berichten gegeben.
»Nur ein, zwei persönliche Dinge«, gab er zurück. »Ich verkaufe das Haus mitsamt Inventar.«
»Schlaf noch mal darüber, bevor du den Vertrag unterschreibst, versprichst du mir das?«
Max zuckte mit den Schultern.
»Ist das Gutachten für das Außenministerium fertig?«, fragte sie dann.
»Hab ich letzte Woche eingeschickt und gestern Abend noch mal komplett durchgesehen. Bin für das Meeting morgen früh bestens gewappnet.«
Max’ Handy klingelte.
Die Nummer gehörte zu keinem seiner Kontakte, trotzdem kam sie ihm bekannt vor.
»Musst du da rangehen?«, wollte Sarah wissen.
»Nein, nicht wirklich.«
Er ließ den Anruf auf der Mailbox landen.
»Komm und setz dich für einen Moment.«
Max ließ sich auf den Besucherstuhl sinken. Erst als er ihr direkt gegenübersaß, dämmerte ihm, wie erschöpft sie aussah.
»Schlechten Tag gehabt?«, fragte er. »Ich beneide dich wirklich nicht.«
»Ach was … trotzdem wär es nicht schlecht, wenn du über die Firmenfinanzen Bescheid wüsstest, wenn du hier eines Tages alles übernimmst.«
Beide brachen in Gelächter aus. Niemand von ihnen glaubte ernsthaft, dass Vektor überleben könnte, wenn sich Sarah Hansen zurückzöge. Die Vorstellung, dass Max eines Tages Chef und damit für administrative und Personalfragen verantwortlich sein sollte, war schlichtweg verrückt. Büroarbeit funktionierte für ihn nur, solange er alleine oder an ihrer Seite vor sich hin werkelte und kommen und gehen durfte, wie es ihm passte.
»Ich habe sowohl mit dem Vorstand als auch mit der Bank gesprochen«, fuhr Sarah fort. »Und zu allem Überfluss hat sich heute auch noch unser Vermieter gemeldet. Wir sind mit der Miete im Rückstand.«
»Nach dem Meeting morgen können wir dem Ministerium eine Rechnung stellen«, erwiderte Max.
»Ja, aber die reicht nicht lange. Siehst du diesen Stapel hier?« Sie zeigte auf den Papierstoß. »Sofern wir keinen zusätzlichen Auftrag vom Außenministerium oder neue Jobs an Land ziehen, kann ich die nicht alle bezahlen.«
»Darüber sprechen wir jetzt doch schon seit einem Jahr, Sarah. Unser Fokus auf Russland und die Ostseeanrainer reicht einfach nicht, um die Firma am Laufen zu halten. Wir müssen uns breiter aufstellen und neue Kunden akquirieren.«
»Leichter gesagt als getan, ohne Charlie.«
Max musste schlucken. Ihr Vorstandsvorsitzender Charlie Knutsson war nicht nur mit beiden befreundet, sondern für Sarah auch eine Art Mentor gewesen. Er hatte zu sämtlichen Stockholmer Unternehmern und Geschäftsführern Kontakte gepflegt, war mit allen bekannt gewesen, die im Stadshuset ein und aus gingen, und hatte Minister zu Krebsfesten in sein altes Haus auf Värmdö am Strömma kanal eingeladen. Er war derjenige gewesen, der sämtliche Türen für Sarah aufgestoßen hatte – das lesbische Einwanderermädchen mit polnischen Wurzeln, das sich später freiwillig zum Wehrdienst gemeldet und zusammen mit Max Russisch gelernt hatte. Als sie später beschloss, mit Vektor den ersten unabhängigen Thinktank zu gründen und sich als Beraterin in allen Fragen der Demokratisierung und Sicherheit der Ostsee-Nachbarstaaten und Russlands selbstständig zu machen, überzeugte Charlie Investoren, Sponsoren und Kunden, dass sie ihren Einflussbereich gen Osten mit Expertenhilfe von Vektor erweitern konnten. Charlie hatte eine enorme Ausstrahlung und Tatendrang an den Tag gelegt, die ansteckend gewesen waren – und zwar nicht nur intern. Er hatte Sarah dabei unterstützt, organisatorische Strukturen zu entwickeln, und in vielfacher Hinsicht war sie ohne ihn komplett verloren.
Und Vektor war in die Knie gegangen.
Die Umstände seines Todes im vergangenen Jahr warfen immer noch lange Schatten. Es kursierten Gerüchte über Charlie; war er, der bis in die Fingerspitzen anglophil gewesen war und in Oxford studiert hatte, in Wahrheit informeller Mitarbeiter des britischen Geheimdienstes gewesen? Also ein Spion? Derlei Mutmaßungen waren Wasser auf die Mühlen all jener, in deren Kritik Vektor jahrelang gestanden hatte. Man munkelte sogar, dass sie inzwischen ins Visier der Säpo geraten waren. Kunden scheuten und Sponsoren zogen sich von ihnen zurück. Das gesamte vergangene Jahr hatten sie hauptsächlich der Polizei bei deren Ermittlungen geholfen. Nur wenige wussten, dass Vektor maßgeblich daran beteiligt gewesen war, im Kungsträdgården mitten in Stockholm eine Katastrophe abzuwenden. Doch denjenigen, die Bescheid wussten, waren durch Geheimhaltungsvereinbarungen die Hände gebunden, sodass sie der Firma nicht mal ein gutes Zeugnis ausstellen durften.
»Wir kommen auch ohne Charlie klar«, sagte Max. »Das hast du doch selbst gesagt.«
»Ach ja? Ich weiß nicht mal, wie ich mit diesen Rechnungen klarkommen soll, wenn ich gleichzeitig …«
»Gehälter zahlen muss? Behalte meins ein, bis es wieder besser läuft.«
»Ich hoffe, du willst dein Elternhaus nicht deshalb verkaufen.«
»Nein, wirklich nicht. Ich hab genug auf dem Konto.«
Sarah lächelte ihn an.
»Danke, Max. Ehrlich. Ist auch nur vorübergehend, hoffe ich.«
»Gibt’s sonst noch was?«
»Komm heute Abend zum Essen zu uns. Lisette kocht Mofongos. Und zwar die besten der Welt, ich schwöre es!«
Max war schon einmal in den Genuss des Gerichts aus Kochbananen, marinierten Zwiebeln, Knoblauch und Olivenöl gekommen. Es war zweifelsohne Weltklasse gewesen.
»Mit Garnelen oder Schweinefleisch?«
Sarah musste lachen.
»Die Zeiten sind schlecht, Max. Und es ist unter der Woche.«
»Dann also Schwein.«
»Die Kinder haben auch schon nach dir gefragt. Und nach Paschie.«
Max schüttelte den Kopf. Natürlich hatte Sarah nicht nur über sein Gehalt sprechen wollen.
»Ein andermal. Richte den Kids liebe Grüße aus.«
»Das sagst du jedes Mal! Du kannst doch nicht Abend für Abend alleine zu Hause sitzen.«
»Hast du eine Ahnung.«
Sarah lächelte ihn schief an.
»Seit Paschie weg ist, bist du kaum noch draußen gewesen. Hat sich Ilja gemeldet?«
»Ich wollte ihn heute Abend anrufen. Sofern ich nach Hause komme, bevor es in Moskau Mitternacht ist.«
Als Max schließlich wieder zu Hause war – in seiner Sechshundert-Quadratmeter-Wohnung an der Köpmangatan in Gamla stan – , ging er erst einmal die Post durch. Nichts aus Russland. Wie immer. Er ging in die Küche, griff sich die Whiskyflasche vom Kühlschrank und nahm sie die schmale Wendeltreppe mit hinauf, die in jenen Teil der Wohnung führte, den er tatsächlich bewohnte, jetzt seitdem er allein war.
Wie jeden Abend rief er sich ihr letztes Gespräch in Erinnerung und versuchte zu ergründen, was Paschie gemeint haben mochte. Früher hatten sie einander so gut verstanden, dass sie nicht einmal Worte gebraucht hatten – ein Blick, ein Lächeln hatte damals genügt. An jenem Tag aber, als sie sich aus Murmansk gemeldet hatte, hatten sie nicht mehr dieselbe Sprache gesprochen, zumindest kam es ihm so vor. Klar war lediglich, dass sie nicht mehr nach Stockholm zurückzukehren gedachte.
Wie alt wäre ihr Kind jetzt? Fünf Monate? Was konnte ein Kind in dem Alter – gerade sitzen? War es ein Junge oder ein Mädchen? Sah es eher Paschie ähnlich oder ihm? Oder ihnen beiden?
Oder hatte sie es wegmachen lassen?
Genau das hatte sie doch gewollt. Dass er grübelte.
Sich mit einer Russin einzulassen wollte wohlüberlegt sein.
Wenn es stimmte, was die Ärzte ihr mitgeteilt hatten, würde Paschie wohl kaum ein zweites Mal schwanger werden. Insofern konnte Max sich vorstellen, dass sie sich letztlich doch für das Kind entschieden hatte, ganz gleich wie wütend sie auf ihn gewesen war. Doch bei ihrem letzten Gespräch hatte sie auf diese Frage nicht klar geantwortet.
Nur das Sofa vor dem Fernseher und die Bilder darüber erinnerten noch an sie. Sie hatte die ganze Wohnung umgestalten wollen, hatte schon damit angefangen, die alten Möbel aus Max’ Junggesellenwohnung am Sveavägen auszusortieren. Die Antiquitäten, die Carl Borgenstierna gehört hatten – jenem Mann, der Wohnung und Vermögen in seinem Testament Max überlassen hatte – , hatten vorübergehend bleiben dürfen.
Als Max damals von einem Einsatz bei der Rikskrim nach Hause gekommen war, hatte sie jede einzelne Schublade im Schlafzimmer geleert. Alles von den Kleiderhaken abgenommen. Klinisch sauber und endgültig – kein Abschiedsbrief, so unendlich typisch für sie. Nur einen russischen Schal hatte sie liegen gelassen. Der war hinter das Sofa gerutscht. Inzwischen hing er einsam über der Stange in ihrem Teil des Kleiderschranks. Max hatte es nicht übers Herz gebracht, ihn zu entsorgen.
Er ging ins Bad und legte die Hände flach auf die Spiegeltür des Badezimmerschranks. Er hatte sich lange anhören müssen, dass er das Aussehen seiner Mutter und den Charakter seines Vaters geerbt hatte. Jetzt dachte er wieder an sie, wie sie in seiner Kindheit gewesen war, ehe die Krankheit sie so sehr verändert hatte. Sie war die Fürsorge, die Sicherheit in seinem Leben gewesen, sein Schutzengel.
Warum hatte sie die Namen und Todesdaten der drei Männer aufgeschrieben? Auf dem Karopapier ihres Collegeblocks? Was hatten Kenneth Bergström und Jonas Albrektsson mit Jakob Anger zu tun gehabt?
Vor allem Bergström war ihm ein Rätsel. Der Name sagte ihm nichts, während Albrektsson fast schon ein Promi gewesen war. Es wäre nicht allzu schwierig, über sein Leben und seinen Tod Informationen einzuholen.
Aber wo sollte er damit anfangen? Er konnte schließlich nicht Albrektssons Familie und Freunde anrufen – Personen, die er gar nicht kannte, und ihnen Fragen zu den unzusammenhängenden Notizen aus dem Block stellen. In etwa das hätte sein Vater getan. Nur dass es ihn nie weit gebracht hatte.
Die Einzige, die ihm einfiel und die möglicherweise wusste, womit sich seine Mutter beschäftigt hatte, war Ulla, ihre beste Freundin von der Insel. Ulla war gegen Ende ständig an Josefins Seite gewesen, hatte täglich nach ihr geschaut und ihr bei den praktischen Dingen geholfen. Vielleicht wusste sie ja irgendetwas über die Aufzeichnungen aus dem Keller? Allerdings hatte Max sich schon seit Jahren nicht mehr bei ihr gemeldet.
Und wäre es überhaupt klug, wieder an diesen alten Dingen zu rühren?
Wäre es nicht besser, all das auf sich beruhen zu lassen?
Wieder dachte er an seine Kindheit zurück, an die Tage und Nächte in ihrem Haus auf Arholma, an den Wald, in dem er die Wege entlanggerannt war, um mit Papa Schritt zu halten, an die äußeren Schären, wo sie gefischt und gejagt hatten, wo er den Geschichten und Räuberpistolen des Vaters und seiner Freunde gelauscht hatte. An die Stille, die sich an jenem Schicksalstag über das Haus gesenkt hatte, als Papa gestorben war.
Noch während er sein Spiegelbild anstarrte, kam ihm eine Idee, wie er trotz allem erfahren könnte, womit Mama beschäftigt gewesen war. Ein Datum aus ihren Aufzeichnungen reichte bis in die Gegenwart.
Der 8. September 1986.
In wenigen Tagen jährte sich Albrektssons Todestag zum fünfzehnten Mal.
Er zog die Schranktür auf. Nahm die Schachtel Alprazolam heraus und spülte mit einem ordentlichen Schluck Whisky eine Tablette hinunter. Dann griff er zum Handy, und erst jetzt fiel ihm der Anruf wieder ein, den er während der Unterhaltung mit Sarah verpasst hatte.
Außerdem fiel ihm wieder ein, wem die Nummer gehörte: Cornelius Strömberg, seinem einstigen Vorgesetzten, damals an der Akademie bei den Küstenjägern. Weshalb hatte der sich denn bitte gemeldet? Er beschloss, ihn fürs Erste warten zu lassen. Stattdessen rief er eine Moskauer Nummer auf.
»Ilja, mein Freund. Habe ich dich geweckt?«, fragte Max auf Russisch, sobald die Leitung stand.
»Ich bin in Moskau, nicht in Kamtschatka. So früh geht in Moskau niemand ins Bett.«
»Wie läuft’s mit der Arbeit?«
»Hochtourig. Das Business wächst und gedeiht, wo man hinsieht.«
Max musste lachen. Er sah Ilja regelrecht vor sich – den Oberkörper, den er in seiner Jugend mit Anabolika aufgepumpt hatte, um im Fitnessstudio mehr zu stemmen als alle anderen und um auf der Straße nicht unterzugehen. Die breite Narbe am Hals. In Moskaus feinen Anwaltskanzleien war er für die Klienten garantiert ein Hingucker. In Stockholm wäre er Verteidiger für sämtliche Bikergangs aus der Vorstadt.
»Wie läuft’s in unserer Sache?«, fragte Max.
»Paschie hab ich noch nicht gefunden. Wenn es das ist, was du wissen willst.«
Max nickte. Spürte, wie sein ganzer Körper schlagartig schwer wurde. Genau diesen Effekt hatte er sich gewünscht. Das Tempo aus den Gedanken zu nehmen. Seine Gefühle zu dimmen.
»Weißt du, ob sie in Moskau ist?«
Er hörte regelrecht, wie sich die Müdigkeit bis zu den Muskeln in seinem Kiefer und Mund ausbreitete. Er lallte regelrecht.
»Ich werde keinen Ton sagen, bis ich genau weiß, wo sie steckt. Ich will nicht, dass du dir zu große Hoffnungen machst.«
»Mach ich mir nicht, Ilja. Ich will’s doch nur wissen.«
»Wie geht es dir?«
»Das weißt du genau.«
»Wirfst du dir immer noch dieses Zeug ein?«
»Das sind meine Medikamente. Meine Medikamente gegen die …«
»Gegen dich selbst. Hör endlich auf damit. Hast du niemanden, mit dem du reden kannst?«
Er hatte Sarah. Aber Sarah war nicht Paschie. Darüber hinaus sah es mit alten Freunden dürftig aus, denen er sich hätte anvertrauen können. Als Cornelius Strömberg noch Teil seines Lebens war, war alles viel leichter gewesen.
»Mein alter Ausbilder hat sich bei mir gemeldet«, berichtete er. »Von dem habe ich dir mal erzählt. Keine Ahnung, was der von mir will.«
In einer jener langen Nächte, die sie in Sankt Petersburg gemeinsam verbracht hatten, hatte Max Ilja erzählt, wie sie während eines Manövers mit den Küstenjägern nachts im Zelt am Feuer gesessen und Wache geschoben hatten. Ein paar jüngere Offiziere hatten sie mitten in der Nacht mit einem simulierten Angriff überrascht. Max hatte den ersten, der ins Zelt eingedrungen war, sofort überwältigt, sich auf ihn draufgehockt und ihm das Messer so fest an den Hals gedrückt, dass Blut geflossen war. Daraufhin hatten die Offiziere darauf gedrängt, dass Max aus der Armee entlassen würde. Stattdessen hatte ihr Vorgesetzter, Cornelius Strömberg, ihn zum Befehlshaber der Kampftaucher befördert – zum Chef seiner eigenen Jungs. Von diesem Tag an hatte niemand mehr auch nur versucht, Max in einen Hinterhalt zu locken.
»Sei froh, wenn ein alter Freund wieder mit dir Kontakt aufnimmt. So was ist Gold wert. Klingt übrigens ganz so, als wär’s in Stockholm schon spät. Versuch, dich auszuruhen. Und verlass dich auf mich. Ich werde sie finden.«
Mittwoch, 5. September
6
Als Max vom Boxsack abließ, hämmerte sein Herz wie wild. Der metallische Geschmack im Mund nach der Tablette vom Vortag war ekelerregend. Wie besessen zu trainieren war das Einzige, was da half. Er blickte an seinem nackten Oberkörper hinab. Auf seiner Haut perlte der Schweiß; die Brust- und Bauchmuskeln waren definierter denn je. Vor ihm baumelte der Boxsack vor und zurück und schien regelrecht zu verschnaufen, war erleichtert darüber, dass dieser Verrückte endlich aufgehört hatte.
Er drehte sich zur Bank um und ließ sich darauf nieder. Gestattete sich einen kurzen Moment, um wieder Atem zu schöpfen. Als er sich gerade nach den Hanteln ausstreckte, fing sein Handy neben der Bank am Boden an zu vibrieren. Dieselbe Nummer wie gestern.
Cornelius Strömberg.
Er nahm das Telefon zur Hand.
Die Stimme am anderen Ende klang älter, trotzdem handelte es sich ohne jeden Zweifel um seinen einstigen Vorgesetzten.
»Oberst«, sagte Max. »Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht gehört.«
»Viel zu lange! Sind Sie gerade in Ihrer Wohnung im Sveavägen?«
Max war drei Jahre zuvor dort ausgezogen, aber das konnte der Oberst natürlich nicht wissen. Oder vielleicht wusste er es auch. Früher hatte er immer über alles Bescheid gewusst.
»Ich bin gerade auf dem Sprung zur Arbeit …«
»Dann haben Sie also zu tun, oder hätten Sie Zeit für einen alten Freund?«
»Für Sie habe ich immer Zeit, ich hab’s nur gerade ein bisschen eilig, weil ich zu einem Meeting in der Stadt muss. Um halb elf bin ich dort fertig.«
»Können wir uns anschließend vielleicht treffen?«
»Finden Sie zu uns ins Vektor-Büro?«
»Am Valhallavägen? Ich werde da sein.«
Kanzleirat Anton Niklasson aus dem Außenministerium hieß Max am Eingang willkommen und wies ihm den Weg zu einem Besprechungsraum ganz in der Nähe. Er war vielleicht fünfundzwanzig, dreißig Jahre alt, trug eine graue Anzughose und ein weiß gepunktetes, türkisfarbenes Baumwollhemd. Der oberste Knopf stand offen, keine Krawatte, kein Jackett.
»Ich war so frei«, sagte er und zeigte auf zwei Pappbecher mit Kaffee von einem der hippen Coffeeshops, die in der Stockholmer Innenstadt gerade wie die Pilze aus dem Boden schossen. »Man weiß ja nie, was für eine Brühe die Leute morgens sonst so trinken. Die Automaten hier kosten Sie jedenfalls mit jedem Becher zwei Minuten Ihrer Lebenszeit. Zucker?«
»Nein danke«, sagte Max und suchte sich einen Platz.
Gerade als Anton sich ebenfalls setzen wollte, klingelte sein Handy. Er bedachte es mit einem flüchtigen Blick.
»Entschuldigung, aber da muss ich rangehen.«
Dann ließ er sich schwer gegen die Rückenlehne fallen.
»Sterner!«, rief er ins Telefon. »Ja, richtig, im Tre Brunnar. Was, bist du verrückt – heute Abend? In ein paar Tagen! Klar, keine Panik. Du, hör mal, ich hab gerade zu tun. Ich ruf nachher noch mal an, okay?«
Dann drückte er das Gespräch weg und schüttelte leicht den Kopf. Strich sich mit der sonnenverbrannten Hand durchs blonde Haar.
Max hatte mit Anton bislang nur telefoniert, ansonsten hatte sich der Kontakt auf E-Mails beschränkt. Der Typ sah gut aus, eher wie ein Surfer oder Saisonarbeiter in den Alpen denn wie ein Kanzleirat im Außenministerium. Er passte so gar nicht ins Bild des typischen Ministerialbeamten, wobei Max durchaus klar war, dass er mit derlei vorgefertigten Meinungen über Menschen vorsichtig sein musste.
Anton legte das Handy weg. Er hatte die hohe Stirn gerunzelt und ein breites Grinsen im Gesicht.
»Das war Sterner aus dem Justizministerium«, erklärte er. »Ich organisiere gerade einen Stand-up-Abend im Tre Brunnar. Das wird unter Garantie mein Untergang. Wir sind eine Clique aus mehreren Ministerien und glauben allesamt, dass wir witzig sind. Was meinen Sie?«
»Klingt so, als sollte man es nicht verpassen.«
»Achtung, Lachkrampfgefahr. Übrigens – danke für das Gutachten. Ich dachte mir, wir könnten die Zusammenfassung noch mal gemeinsam durchgehen. Wollen Sie Ihren Kaffee gar nicht?«
Anton schob den Becher zu Max herüber, riss die Papiertüte auf, die danebengelegen hatte, und nahm Löffel und Zuckerbriefchen heraus. Dann wühlte er in seiner Tasche am Boden und warf das Gutachten auf den Tisch.
»Da müssen wir noch ein bisschen was drehen«, sagte er. »Das verstehen Sie sicher? An Ihrem Job an sich habe ich auch null Komma nichts auszusetzen. Das Ding ist gelinde gesagt umfassend. Das Problem ist einzig und allein die Prognose für die kommenden zehn, fünfzehn Jahre.«
Anton zog den Deckel von seinem Kaffeebecher, riss das Zuckerbriefchen auf und rührte um.
»Dann sehen wir es uns doch mal an«, sagte Max. »Die Prognose orientiert sich an dem, was wir in anderen Ländern beobachten können. Bofors ist an die US-amerikanische Allied Defense & Armor verkauft worden. Die neuen Eigner werden von großen Investmentgesellschaften gesteuert. Sie gehen hin und kaufen Firmen, bei denen sie Zuwachspotenziale sehen. Sobald die Übernahme perfekt ist, werden Taktung und Verkaufszahlen nach oben gejagt.«
Anton blätterte ein paar Seiten im Gutachten vor.
»Aber was ist mit dem Anteil, der in Entwicklungsländer geht? Von fünfzehn auf dreißig Prozent in zehn Jahren? Das wäre eine Verdoppelung. Außerdem sagen Sie, dass zehn Prozent in nicht-demokratische Staaten gehen.«
»Und das ist hoch problematisch.«
»Trotzdem müssen wir dieses Fazit der Zusammenfassung irgendwie leicht umschreiben.«
Anton tippte auf eine Zeile und las laut vor: »Der Anteil am schwedischen Waffenexport, der an Krieg führende Länder verkauft wird, wird von heute zwei Komma acht Prozent binnen der kommenden fünfzehn Jahre auf fünfzig Prozent anwachsen.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Fünfzig Prozent? Das ist doch nicht seriös, Max! Das verstehen Sie doch?«
»Entspricht aber dem Muster, das wir bei US-amerikanischen Neu-Eignern von Rüstungsunternehmen in anderen Ländern beobachtet haben.«
»Ach, da übertreiben Sie bestimmt. Wir müssen es zumindest anders formulieren. Ein bisschen aufhübschen.«
Max nahm einen ordentlichen Schluck aus seinem Becher. Der Kaffee war inzwischen kalt geworden.
»Sie wollen, dass ich das Ganze beschönige?«, hakte er nach. »Es irgendwo in einen Absatz reinschummle und runterspiele? Oder wollen Sie, dass ich gleich eine kleinere, unrealistische Zahl reinschreibe? Damit wir irgendwann auf Tippfehler plädieren können, wenn in fünfzehn Jahren jemand das Papier wieder rauszieht?«
Anton schüttelte den Kopf. Das charmante Lächeln war wie weggefegt.
»Okay, wenn Sie nicht so flexibel sind, muss ich das hier wohl mitnehmen und intern absprechen, wie wir weiter vorgehen.«
»Es geht hier um schwedische Unternehmen, die einige der weltweit effizientesten, gefragtesten Waffensysteme produzieren. Im Kaufvertrag stand das schwedische Gewissen wohl nicht zur Debatte.«
Erneut zog Anton die Augenbrauen hoch.
»Was war das gerade?«, fragte er beharrlich.
»Sie hätten uns vielleicht mit diesem Gutachten beauftragen sollen, bevor Bofors über den Ladentisch ging.«
Wieder klingelte Antons Handy. Er stand auf und klemmte sich die Unterlagen unter den Arm.
»Ich hoffe, der Kaffee schmeckt Ihnen. Dieses Meeting ist jedenfalls zu Ende.«
7
Im Büro pfefferte Max seine Tasche in die Ecke, warf die Post auf den Schreibtisch. Er hatte sich nicht einmal setzen können, ehe Sarah auch schon in der Tür erschien – mit einem dampfenden Becher Kaffee in der einen und Rechnungen in der anderen Hand.
Allem Anschein nach war sie gestern damit nicht mehr fertig geworden.
»Morgen«, sagte Max.
Sarah setzte sich auf den Besucherstuhl.
»Das war ja ein kurzes Meeting. Wie ist es gelaufen?«
»Ihm hat meine Zusammenfassung nicht gefallen.«
Sarah führte den Kaffeebecher zum Mund.
»Und was hast du ihm gesagt?«
»Dass das schwedische Gewissen beim Bofors-Verkauf anscheinend keine Rolle gespielt hat.«
Sarah zuckte zusammen und Kaffee schwappte auf ihre Bluse.
»Verdammt!«
Sie stellte den Becher ab und streckte sich nach dem kleinen Stapel Servietten, die Max aus der Valhallabäckerei von gegenüber mitgenommen hatte.
»Solche Gutachten sollten sie in Auftrag geben, bevor sie zulassen, dass amerikanische Venture-Kapitalisten schwedische Waffenproduzenten kaufen«, sagte er. »Dass sie jetzt noch unseren Segen wollen, nachdem das Geschäft abgeschlossen ist, ist doch ein Witz! Das weißt du genauso gut wie ich.«
»Und auch das hast du ihnen in dem Meeting gesagt, nehme ich an?«, hakte Sarah nach und legte die Serviette weg.
»Klar.«
»Und was haben sie geantwortet?«
»Das Meeting ist hiermit beendet.«
»Ach verdammt, Max! Dann nimm du jetzt die Rechnungen und sieh zu, wie du sie bezahlst. Bitte sehr.«
Sie ließ die Rechnungen auf Max’ Schreibtisch fallen.
»Ich musste doch sagen, was Sache ist, Sarah!«
»Und du musstest dich natürlich mit dem Kopf voran rauswerfen lassen.«
»Okay, vielleicht sind da die Pferde mit mir durchgegangen. Aber es ist doch so, dass dieser Typ, dieser Kanzleirat Anton Niklasson, genau weiß, dass ich recht habe. Nur will er nicht, dass wir das genauso klar und deutlich schreiben. Weil es nun mal nicht politisch erwünscht ist.«
»Hör jetzt endlich auf mit deiner Rechthaberei! Du willst doch bloß, dass alles wieder so läuft wie früher, aber die Zeiten ändern sich. Schweden ist ein Fliegenschiss auf der Weltkarte, eine unabhängige Verteidigung können wir uns nicht mehr leisten. Wir brauchen ausländisches Kapital und müssen dann versuchen, mit den Konsequenzen zu leben.«
»Und wenn wir schon mal dabei sind, sollten wir auch gleich der NATO beitreten. Im Augenblick haben sich auf der Welt doch ohnehin alle lieb, oder etwa nicht?«
»Wenn Menschen wie du das Sagen hätten, wäre Russland noch zehn Jahre früher als wir in der NATO! Du bist wirklich dermaßen rückschrittlich!«
Sie sahen einander reglos an, bis das Klingeln der Wechselsprechanlage die Stille unterbrach.
»Das ist für mich«, sagte Max. »Da muss ich mich jetzt kümmern.«
»Verdammt, du bist echt unglaublich …«
8
Cornelius Strömberg hatte dieselbe Altherren-Schirmmütze auf, die er immer schon getragen hatte. Als er seinen braunen Trenchcoat am Eingang aufhängte, fiel Max auf, dass der Rücken des Mannes immer noch genauso gerade und die Schultern immer noch genauso breit waren wie früher.
Er ließ sich auf der anderen Seite des Schreibtisches nieder. Das Gesicht war immer noch wie aus Granit gemeißelt, ebene Nase, markantes Kinn. Eisblaue Augen. Max wusste noch, dass er früher mit dem alten US-Filmstar Errol Flynn verglichen worden war.