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Eine abgelegene Villa. Ein Wiedersehen von alten Freunden. Und ein ungebetener Gast, der nur eines will: Rache!
Eine traditionelle Flusskrebs-Party in einer Luxusvilla in den Stockholmer Schären wird für eine Gruppe von Freunden zum Albtraum. Vor Jahren trennte sie ein tragisches Ereignis, das ganz Schweden erschütterte. Es soll ein fröhliches Wiedersehen werden, doch schnell wird klar, dass die Wunden der Vergangenheit noch lange nicht geheilt sind. Als ein heftiges Unwetter aufzieht, sind sie von der Außenwelt abgeschnitten. Und sie sind nicht allein auf der Insel. Ohne die Möglichkeit zu fliehen, sind sie gefangen mit einem rachsüchtigen Mörder, der die Jagd auf sie eröffnet hat ...
Sie lieben abgründige klaustrophobische Spannung aus Schweden? Dann lesen Sie auch »Silvester« von Martin Österdahl.
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Seitenzahl: 324
Veröffentlichungsjahr: 2025
Eine traditionelle Flusskrebs-Party in einer Luxusvilla in den Stockholmer Schären wird für eine Gruppe von Freunden zum Albtraum. Vor Jahren trennte sie ein tragisches Ereignis, das ganz Schweden erschütterte. Es sollte ein fröhliches Wiedersehen werden, doch schnell wird klar, dass die Wunden der Vergangenheit noch lange nicht geheilt sind. Als ein heftiges Unwetter aufzieht, sind sie von der Außenwelt abgeschnitten. Und sie sind nicht allein auf der Insel. Ohne die Möglichkeit zu fliehen, sind sie gefangen mit einem rachsüchtigen Mörder, der die Jagd auf sie eröffnet hat …
Martin Österdahl, aufgewachsen in Stockholm und London, hat BWL, Zentral- und Osteuropäische Geschichte sowie Russisch (Master of Science) studiert. Er arbeitete über zwanzig Jahre für TV-Produktionen und war gleichzeitig Programmdirektor eines schwedischen Fernsehsenders. Mit seiner deutschstämmigen Frau und den drei gemeinsamen Kindern lebt er in der Nähe von Stockholm.
Silvester
MARTIN ÖSTERDAHL
Gefangen mit einem Mörder …
Psychothriller
Deutsch von Leena Flegler
Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »Kräftskivan« bei Bookmark Förlag, Stockholm.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Copyright der Originalausgabe © 2024 by Martin Österdahl
Kärlek bakom galler (Liebe hinter Gittern) – ein TV-Format der Martin Österdahl AB
Prison Date – ein TV-Format der Martin Österdahl AB
Published by agreement with Salomonsson Agency
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformation nach GPSR)
Redaktion: Nike Müller
Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de
JaB · Herstellung: DiMo
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-30305-1V001
www.blanvalet.de
Die Morgensonne taucht die Umgebung in schwach schimmerndes Licht, und die umliegenden Inselchen spiegeln sich im Wasser. Schleierwolken strecken sich wie Fetzen aus Zuckerwatte und lösen sich nach und nach im rosa Himmel auf.
Das rhythmische Rattern von Rotorblättern zerschneidet die Stille. Wie ein Lenkflugkörper schießt der Hubschrauber auf die Schäreninsel zu, die im Grunde kaum mehr als ein Felsbuckel ist, den das Inlandeis, die postglaziale Landhebung und das raue Küstenklima über Jahrtausende hinweg rundgeschliffen haben.
Am nördlichen Inselstrand, vor dem sich bis zum Horizont die Ostsee erstreckt und an dem sich in der vergangenen Nacht hohe Wellen gebrochen haben, liegen Trümmer eines Gebäudes, das bis auf die Grundmauern niedergebrannt ist. Nur ein schwarzes Metallrohr ragt aus den verkohlten Überresten hervor.
Auf der Südseite der Insel, ein Stück zurückversetzt in den abgeschliffenen Granit eingepasst, steht eine Architektenvilla aus Stein und Beton mit atemberaubender Sicht.
Direkt am Ufer befindet sich ein Anleger, an dem ein Alu-Schnellboot sturmsicher vertäut wurde. Ein Stück weiter ist ein gelbes Kajak auf den Fels gezogen worden.
Doch auf dem Anleger selbst ist auch noch etwas anderes zu erahnen.
Dort liegt jemand mit ausgestreckten Armen und Beinen. Aufgespießt wie ein Vampir.
Wiederum ein Stück entfernt liegt ein weiterer, gekrümmter Körper.
Auf der Rückseite des Hauses treffen die ersten Sonnenstrahlen auf blitzende Splitter im Gras. Die bodentiefen Panoramafenster sind komplett zerschellt, sodass die Zimmer der Witterung ausgesetzt sind.
Der Hubschrauber geht langsam auf dem einzigen möglichen Landeplatz runter, auf einem kleinen Stück Rasen neben dem Pool. Als die Rotorblätter endlich stehen bleiben, kehrt wieder Stille ein.
Hinter den getönten Glasschiebetüren zum Poolhaus hängen bunte Lampions von der Decke. Die typischen Partyhütchen, die man zum traditionellen Krebsessen trägt, liegen kreuz und quer auf benutztem Geschirr, dazwischen feine Orrefors-Kristallgläser, einige davon leer, andere halb voll mit Rotwein und Schnaps. Dill, Västerbotten-Käse, Schalen mit Krebskrusten.
Irgendwas hängt in dem geschlossenen Raum immer noch in der Luft.
Das Echo von angestimmten Liedern und Gelächter.
Nur dass sämtliche Stimmen verstummt sind.
Benjamine kreuzt die Arme vor der Brust und schließt die Augen. Greift sich dann an die Ohrläppchen und presst sie zusammen, vier tiefe Kniebeugen lang, bis die Energien wieder fließen.
Anschließend macht sie das Fenster auf. Der Geruch der Großstadt, der sonnenwarmen Gehwege und der Abfallcontainer der Imbisse vermischt sich mit der feuchten Brise, die von der Saltsjö hereinweht.
Noch ist es still in Gamla stan, mal abgesehen vom Schrei einer viel zu wachen Möwe auf einem Poller unten an der Skeppsbron. Die Möwe vor den alten Zollhäusern im Hintergrund sieht aus wie das perfekte Postkartenmotiv – Stockholm am Morgen. Nicht mal die ehrgeizigsten Jogger und Morgenmenschen sind um diese Zeit unterwegs. Die Straßen sind immer noch menschenleer, und am Kai entlang – vom Schloss bis runter zu der Stelle, wo sich der Blick auf die Bucht öffnet und eine in China gefertigte goldene Brücke die Altstadtinsel Stadsholmen mit dem Stadtteil Södermalm verbindet – ist nirgends Licht in den Fenstern zu sehen. Nur in einem.
Im blutorangefarbenen Licht, das auf die alten Häuserfassaden fällt, wirkt Stockholm wie ein Puppenhaus. Wie das Puppenhaus aus ihrer Kindheit. Obwohl es ihr nie gehört hat, sah sie es sich manchmal an und stellte Sachen um. Wenn es gerade niemand mitbekam, konnte sie mit den Püppchen in den Betten anstellen, was immer sie wollte: sie wecken, sie schütteln, sie auffordern: »Los, hopp, hüpf!«
So unterschiedlich sind wir überhaupt nicht, wir Menschen, denkt sie. Wir sehen es der goldenen Brücke nach, dass sie gar nicht aus Gold ist, sondern nur golden glänzt. Wir hoffen, dass es unseren Lieben gut geht. Dass wir von Schmerzen und Trauer verschont bleiben. Und dass wir, sofern wir für Schmerzen oder Trauer verantwortlich sind, die Chance bekommen, es wiedergutzumachen. Ist doch eigentlich gar nicht so viel verlangt.
Und doch so viel, dass selbst die Sturmmöwe lacht.
Benjamine verlässt ihr Yogazimmer und geht den Flur ihrer Maisonettewohnung entlang. Der Teppichboden fühlt sich weich und warm unter ihren Füßen an. Sie wirft einen flüchtigen Blick in den Ankleidespiegel und beäugt sich. Die nudefarbenen Tights, die über ihrem Hintern spannen. Den hautengen Sport-BH. Die schulterlangen aschblonden Haare. Sie tritt näher, beugt sich vor, zupft sich etwas aus den Wimpern. Dann schürzt sie die Lippen, wie sie es immer bei den Photoshoots gemacht hat, sieht, wie ihre Wangen die perfekte Kontur annehmen und die Wangenknochen oval vortreten – ihr Markenzeichen. Nordische Schönheit mit russischem Einschlag, so stand es in den Modelkarteien. Russland war bloß erfunden, aber es klang nun mal spannender und exotischer als ihre Heimat Belgien. In der Branche hat es ohnehin nie jemanden gekümmert, ob eine Geschichte der Wahrheit entsprach oder nicht – Hauptsache, sie war gut.
In der Küche blickt sie auf die dunklen, zappelnden Tierchen hinab, die in den beiden Spülbecken im kalten Wasser liegen. Eins der größeren versucht verzweifelt, die glatte Edelstahlfläche emporzuklettern. Groß wie ein Hummer, schwarz wie ein Skorpion.
Irgendwo hat sie mal gelesen, dass Flusskrebse Schmerzen empfinden und leiden, wenn sie gekocht werden. Die Tierschutzgesetze irgendeines Landes verbieten, sie lebend – und ohne vorherige Betäubung – ins kochende Wasser zu werfen. Oder hat sie das falsch abgespeichert? Man kann Krebse doch wohl nicht betäuben?
Sie hat angeboten, die Krebse mitzubringen, Morgan würde sich um alles andere kümmern: um den Wein, die Västerbotten-Quiches und den Salat. Er hat auf spezielle Krebse aus einer Anlage in Sörmland bestanden, nur sei die Logistik für ihn schwer zu stemmen. Was mal wieder typisch für ihn war: Er hat immer schon nur das Beste gewollt, koste es, was es wolle.
Seit zehn Minuten, in denen sie ihrer Morgenroutine nachgegangen ist, köchelt der Sud vor sich hin. Zehn Liter Wasser, eine Flasche Schwarzbier. Salz, Zucker, Dillblüte. Fenchelsamen und Kümmel. Sie nimmt den Topf vom Herd und lässt ihn am Fenster abkühlen. Dann nimmt sie den Deckel hoch und atmet tief ein. Der süßliche Duft des dunklen Bieres und die Schärfe des Dills steigen ihr zu Kopf.
Sie befüllt ihre zwei größten Töpfe mit Wasser und stellt die Kochplatten an. Es muss richtig blubbern, richtiggehend Wellen schlagen. Dann schiebt sie die Hand zwischen die zappelnden Tiere. Packt sich das große, das versucht hat zu fliehen. Vom Kopf bis zum Ende des Krustentierschwanzes gut zwanzig Zentimeter. Der kommt zuerst ins Wasser – denn in der Zwischenzeit hat sie beschlossen, dass es ein Er sein muss. Und er wird länger brauchen als die anderen.
Sie weiß nicht genau, wie lange es dauert, bis sie sterben. Deshalb kocht man sie auch der Reihe nach und nicht alle auf einmal – um ihnen unnötiges Leid zu ersparen. Das Wasser muss die ganze Zeit über sprudeln. Als sie ihn loslässt, platscht er in den Topf. Schon nach einer Sekunde ist der Kampf vorbei.
Ein paar Minuten, mehr ist nicht nötig, um so ein siffiges, dunkles Krustentier in eine farbstarke exotische Leckerei zu verwandeln.
Wenn es nur mit jedem Er so einfach wäre.
Ein roter Tropfen fällt ins Wasser und zieht Schlieren im kochenden Wasser. Erst jetzt sieht sie, dass sie an der Fingerkuppe blutet. Sie reißt ein Stück Küchenpapier von der Rolle und wickelt es sich um den Finger. Sie muss sich am scharfkantigen Panzer der Krebse den Finger geschnitten haben. Vielleicht hat das Monster sie auch gekniffen, kurz bevor sie es losgelassen hat, aus reinstem Überlebensinstinkt. Und jetzt kommt er, der stechende Schmerz, der bis ins Mark zu spüren ist.
Ihr Herzschlag beschleunigt sich. Sie atmet ein paarmal tief durch und versucht, ihr inneres Gleichgewicht wiederzuerlangen.
Ein Tropfen Blut in kochendem Wasser. Nichts, was irgendwer bemerken würde.
Sie spürt am ganzen Leib, wie sie in Stress gerät, und versteht gar nicht, warum. Sie, die so viel gereist ist, die schon alles Mögliche mitgemacht hat. Sie hat sich noch nie so gründlich auf einen Wochenendtrip vorbereitet, sich gewappnet, sich ein ums andere Mal ermahnt, nicht ihr Herz auf der Zunge und ihre Gefühle offen zur Schau zu tragen.
Ob es tatsächlich stimmt, dass eine Scheidung auch etwas Gutes haben kann, wie sie es beide behauptet haben? Etwas, worauf ein Mann und eine Frau sich einvernehmlich einigen können? Wie hat es Morgans PR-Frau gleich wieder genannt – eine zivilisierte Trennung?
Erneut holt sie tief Luft, hält sich die Hände vors Gesicht und bewegt sie langsam in Richtung Bauch. Während sie langsam ausatmet, dreht sie die Handflächen nach außen und schiebt alle Negativität von sich weg, zum Fenster hinaus, raus über die Stockholmer Bucht.
In den vergangenen zehn Jahren hat sie ihn nur ein halbes Dutzend Mal getroffen.
Wie wird es sich diesmal anfühlen? Morgan ist und bleibt nun mal Morgan. Aber wie sehr hat sie selbst sich verändert?
Das Küchenpapier an ihrem Finger ist dunkelrot verfärbt. Sie wirft es weg, spült sich das Blut vom Finger und klebt ein Pflaster darauf, bevor sie auch die restlichen Krebse ins Wasser wirft. Dann greift sie zu der Flasche mit dem fertig angemischten Diätdrink, schenkt sich ein Glas ein und kippt die Brühe in sich hinein. Vielleicht trägt sie tags darauf ja Bikini.
Ihr Handy piept. In ihrer WhatsApp-Gruppe mit Namen Krebsfest entdeckt sie gleich mehrere neue Nachrichten. Morgan hat die Gruppe eingerichtet. Sie überfliegt die Namen der anderen – lauter Bekannte, die sie lange nicht mehr gesehen hat. Wird spannend, sie alle wiederzusehen. Die Nachrichten selbst enthalten Anweisungen für die Feier: Jeder muss ein Lied vorbereiten. Macht euch gefasst auf Spiele.
Dass er inzwischen weiter draußen wohnt, auf einer eigenen Insel, ist wirklich schwer vorstellbar. Seine einstige Rastlosigkeit scheint von den starken Böen dort draußen auf See davongefegt worden zu sein. All die hohen, entgrenzten Ziele, die er erreicht hat – auch wenn es bisweilen lange gedauert hat. Der Perfektionist ist zum Einsiedler geworden.
Aber wem versucht er eigentlich, etwas weiszumachen?
Auf Morgans Aufforderungen hin sind lauter fröhliche Antworten im Gruppenchat eingetrudelt. Die Begeisterung ist geradezu überschwänglich. Ludwig, Morgans bester Freund und Geschäftspartner aus Produktionsfirmenzeiten – die perfekte Kombi, dank altem Geld und Kreativität – schreibt schließlich, worauf sie nur gewartet hat.
Benjamine??? Ist das zu fassen! Verdammt cool! Dann kommt ja die komplette alte Gang!
Sie fragt sich erneut, ob ihre Zusage richtig war. Vielleicht glauben die anderen ja, dass ihre Teilnahme an Morgans Krebsfest ihre Methode ist, die Krise zu bewältigen; dass ihre Freundschaft und all das, was sie über Jahre gemein hatten, stärker ist als der ganze Mist, der dann passiert ist.
Ich und Plus 1 kommen Samstagfrüh von Furusund rübergesegelt, schreibt sie in die Gruppe. Könnt ihr seine Nummer bitte auch in den Chat aufnehmen? Bin gespannt darauf, euch alle wiederzusehen!
Nachdem sie die Telefonnummer durchgegeben hat, muss sie schmunzeln bei der Vorstellung, wie jetzt die Spekulationen losgehen.
Roger sieht seinem Chef quer durch die Redaktion hinterher. Der Mann ist neu, stammt ursprünglich aus dem Wirtschaftsressort und hat nicht viel übrig für Boulevardtypen vergangener Zeiten, die sich ja doch bloß in der Stadt herumtrieben, sich nicht an Deadlines hielten und sich stattdessen in der Gewissheit suhlten, dass Zeitungen überhaupt nur noch ihretwegen und wegen des Sportteils gekauft wurden.
Roger hat mit dem Auftrag, den der Chef ihm zu Beginn der Woche erteilt hat, nicht mal angefangen. Kurzrezensionen der bestverkauften Kochbücher von Promiköchen nebst Bestsellerliste. Die Anzeigenabteilung hat ein paar vielversprechende Sondierungsgespräche mit den großen Buchverlagen geführt. Jetzt muss Roger nur noch die Texte liefern. Er hasst es, wenn die Anzeigenabteilung mit redaktionellen Vorschlägen kommt, und hat seine Vorbehalte auch nicht für sich behalten können.
Schlagartig macht sich der Kater wieder bemerkbar, den er bislang mühsam unter Verschluss gehalten hat, während er gleichzeitig versuchte, sich wegzuducken. Sein Gaumen fühlt sich verschwitzt an – auch wenn Roger weiß, dass das physiologisch nicht geht. Aber was der Chef ihm gerade mit auf den Weg gegeben hat, kann er so bald nicht wieder vergessen.
Du wirst hier am besten bezahlt. Promiköche, bis nächste Woche. Das ist deine letzte Chance.
Mitte der 2000er-Jahre hatte er einen Lauf und nutzte die Abwerbeversuche der Konkurrenz gnadenlos aus, um sein Gehalt so hoch zu verhandeln, wie er nur konnte. Damals schossen neue Zeitungen, Fernseh- und Radiosender wie Pilze aus dem Boden, und Talente, die den richtigen Content lieferten, wurden noch richtig gut bezahlt. Inzwischen machen immer mehr Zeitungen Pleite, und Content wird von Amateuren erstellt – auf Plattformen, die sie mitunter sogar selbst steuern. Die schwedische Medienlandschaft ist zu einem apokalyptischen Multiplayer-Albtraum geworden.
Du hattest den Zugang, die Connections, die besten Möglichkeiten. Und vor allem konntest du schreiben. Was ist da nur passiert?
Die ganze Branche ist den Bach runtergegangen, würde Roger gern sagen. Allerdings weiß er selbst, dass das kein Argument ist. Er ist lange genug Boulevardjournalist, um gesehen zu haben, wie eine Branche nach der anderen den Bach runterging – und dann wiederbelebt wurde: die Musik, das Fernsehen, die Literatur. Er ist selbst über den Dinosaurierfriedhof gestreift, hat Knochen aufgelesen, den Totentanz getanzt. Er hat unzählige Sterne vom Himmel fallen sehen. Er ist erst vierundvierzig, und das ist doch kein Alter? Eine neue Medienlandschaft ist entstanden, und Roger Marnell hat es nie geschafft, sich einen Platz darin zu ergattern, so sieht die Wahrheit aus.
Allmählich dämmert ihm der Ernst der Lage. Eine Woche, dann die Kündigung. Die Schulden, die er angehäuft hat, die Miete … und nicht existente Ersparnisse.
Er greift zu seinem Handy und scrollt durch verschiedene Nachrichten-Apps. Vielleicht findet sich dort ja etwas, was ihn aufheitern kann. Doch es ist Sommer und Saure-Gurken-Zeit.
Als ein Anruf eingeht, zuckt er zusammen. Benjamine Stark. Als er den Namen auf dem Display liest, wallen unterschiedlichste Gefühle in ihm auf.
»Benjamine«, sagt er, kaum dass er rangeht, »lange ist’s her!«
»Stimmt, wirklich«, erwidert Benjamine. »Du gehst aber schnell ans Telefon. Hattest du das Handy schon in der Hand?«
»Ich sitze am Schreibtisch. Dieselbe Zeitung wie früher«, antwortet Roger. »Und wie heutzutage üblich ständig mit dem Gefühl im Nacken, dass irgendwer mich loswerden will. Ich soll einen Scheißartikel über Promiköche schreiben. Nicht gerade der nächste Scoop, der dann weltweit Furore macht … Aber so ist das wohl neuerdings. Wie läuft’s bei dir?«
»Was Jobs angeht, die sich verändern, bin ich ganz deiner Meinung. Aber danke, sonst alles bestens. Erzähl, was machst du gerade?«
»Hänge irgendwelchen Tagträumen nach …«
»Auf Tinder?«, hakt sie sofort nach.
»Nein. Ich ziehe immer noch lieber persönlich durch die Kneipen.«
»Da kann ich dir zwar keine Hoffnungen machen, aber ich dachte mir, ich könnte dich vielleicht zu einer Krebsparty in den Schären mitnehmen. Mit Morgan, Ludde und Katta, Theo und Sara. Plus wir zwei.«
Die Namen fühlen sich wie Ohrfeigen an. Seit jeher eine ungerade Zahl und er selbst das fünfte Rad am Wagen.
Er starrt in Richtung der äußeren Ränder des Universums, das sich in seinem Fall nicht weiter als bis zu seinem Spiegelbild im Stand-by-Monitor erstreckt.
»Die Kratzbürsten«, murmelt er – ihr alter Cliquenspitzname, den sich einer von ihnen an einem x-beliebigen Abend vor vielen Jahren ausgedacht hat.
»Genau«, sagt Benjamine, »wie in guten alten Zeiten.«
Roger muss sich zusammenreißen, um nicht abermals in Tagträumereien zu verfallen. Denn genau so kommt es ihm vor – so lange her, dass es ebenso gut ein Traum sein könnte.
»Und wann?«, fragt er.
»Morgen. Wir segeln. Von Furusund aus, mit meinem Boot.«
»Und wo genau findet die Party statt?«
»Auf Himmelskär, Morgans Insel.«
Benjamine denkt bestimmt, dass ihm ein bisschen Abstand von der Redaktion und vom Stockholmer Asphaltdschungel guttäte. Allein der Versuch abzulehnen wäre zwecklos. Sie würde ihm ja doch nicht glauben, dass er fürs Wochenende andere Pläne hätte.
Trotzdem macht sich in ihm der immer gleiche instinktive Widerstand bemerkbar, wie jedes Mal, wenn er auch nur im Entferntesten in Erwägung zieht, aufs Wasser zu gehen. Aber es ist nicht nur das.
Benjamine wartet geduldig, während er versucht, seine Vorbehalte gegen das offene Meer und die alten Freunde so zu formulieren, dass sie weder spießig noch negativ klingen.
»Das Meer schleudert uns hin und her und auf und ab«, setzt er an. »Was die Spannung zwischen dem, was wir uns erwarten, und dem, was dann tatsächlich passiert, ja wohl nur erhöht. Und es heißt übrigens ›Achterbahn‹, nicht ›Segeltörn der Gefühle‹.«
Benjamine muss lachen, genau wie sie immer gelacht hat. Irgendwie fühlt es sich dadurch leichter an.
»Das war meisterhaft, Roger. Das mit dem Job, das wird wieder, du wirst schon sehen. Du brauchst bloß einen neuen, brandheißen Ansatz. Und wie heißt es so schön? Fang dort an zu graben, wo du gerade stehst.«
»Gar nicht so blöd«, erwidert Roger. »Ich hab eine Zweizimmerwohnung in Vasastan. An sich bloß gemietet, aber mit ein bisschen Glück könnte ich den Vertrag in ein Dauerwohnrecht umwandeln. Wenn du genug Kohle hättest – sollen wir da nicht zuschlagen?«
»Ich sagte doch: Ich will dir keine Hoffnungen machen.«
»Das klingt jetzt aber, als wären wir schon verheiratet.«
»Du findest allein nach Furusund, oder? Dann sehen wir uns dort. Morgen früh um halb neun.«
»Einverstanden«, sagt Roger. »Danke, Benjamine. Und bis morgen.«
Roger legt auf, ruft Facebook auf und entdeckt einen neuen Eintrag auf Benjamines Profil. Auf dem Foto hält sie sich an einem Mast fest, hat ein Bein angewinkelt und trägt ein Matrosenkostüm, das von Jean Paul Gaultier stammen könnte. Sie sieht aus, als wäre sie keinen Tag älter geworden. In der Bildunterschrift schreibt sie, wie sehr sie sich auf das Krebsessen am Wochenende auf Morgans Insel freut.
Er wischt über das Display, um die ganzen Likes und Kommentare nicht sehen zu müssen. Untypisch für sie, dass sie so offen in die Welt ausposaunt, was sie vorhat, aber immerhin hat sie nicht dazugeschrieben, dass er als ihr Begleiter mitkommt.
Er ist der Einzige, der für Benjamine da war, als ihre Welt zusammenbrach. Dass sie ihn fragt, ob er sie ausgerechnet auf diesen Ausflug begleiten will, ist insofern nicht nur naheliegend, sondern auch eine Art Bestätigung – eine warme, wenn auch bittersüße Vorahnung. Und natürlich kommt er mit.
Nur dass das Einzige, was es dort draußen in Himmelskär gibt, Wasser ist. Offenes Meer, das verschluckt und wieder ausspuckt. Der Horizont ist nur noch eine ferne gerade Linie.
Ist Morgan glücklich dort draußen? Oder ist das sein Versteck?
Unwillkürlich muss er an La Linea denken, an die Trickfilme, die er als Kind so sehr geliebt hat. Wenn jemand ständig nur auf einem schmalen Grat unterwegs war, dann ja wohl Morgan Stark. Bei ihm verschwamm die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Als er gut zehn Jahre zuvor den Zenit seiner TV-Karriere erreicht hatte, bezeichnete er sich selbst als den Landesmeister der Illusion von Gemeinschaft. Er brachte die Menschen vor den Fernsehern zusammen, bescherte ihnen ein gemeinsames Erlebnis und sorgte dafür, dass sie ihre Gefühle sowohl im Internet als auch tags darauf in der Kaffeeküche bei der Arbeit breittraten.
Morgan hatte seine Finger in allem drin, was in der Fernsehwelt groß wurde – über sämtliche Genregrenzen hinweg, auf jedem Sendeplatz. An das Nobelpreisbankett kann Roger sich noch gut erinnern: Im Spiegelsaal fuhren unauffällige ferngesteuerte Schienenkameras über den Boden, und unter dem Tisch rückte ein Professor der Chemie »versehentlich« der Frau des Regierungspräsidenten auf die Pelle. Der Annäherungsversuch wurde per Vollbild im Fernsehen gezeigt. Es folgten Anschuldigungen – dem Professor sei mutwillig eine Falle gestellt worden – und eine ausgewachsene diplomatische Krise. Und das war nur einer von vielen Skandalen, die Morgan inszeniert und über die Roger als Journalist berichtet hatte.
Nichts, was Morgan je tut, geschieht zufällig. Er hält immer die Strippen in der Hand. Ist besessen von jedem Detail. Da ist dieses Krebsessen doch garantiert keine Ausnahme.
Trotzdem hat Morgans letzte Inszenierung alles in den Schatten gestellt.
Roger schiebt sich ein Snus-Beutelchen unter die Lippe und greift zu seinem Kaffeebecher, doch der Kaffee ist längst kalt geworden. Er reibt sich die Augen. Das Koffein scheint mitsamt der Wärme verflogen zu sein. Dann fischt er seinen Entwurf zu den Promiköchen aus dem Papierkorb.
Nur mit einem Scoop ist man in dieser Branche ganz vorn mit dabei. Mit etwas richtig Großem, was man an Medienunternehmen auf der ganzen Welt verkaufen könnte.
Fang dort an zu graben, wo du gerade stehst. Genau wie Benjamine gesagt hat.
Er weckt seinen Monitor aus dem Stand-by-Schlaf, ruft ein neues Dokument auf und schreibt: Morgan Stark und Schwedens größter TV-Export aller Zeiten. Von Roger Marnell.
Der Artikel, von dem er nie geglaubt hätte, dass er ihn je schreiben würde, und den auch nie jemand haben wollte. Trotzdem hat Roger so eine Ahnung. Das hier hat Potenzial, etwas Großes zu werden.
Morgans letztes Projekt war eine Realityshow mit weit höherem Einsatz als alles, was er zuvor je angefasst hatte – und sie machte ihn zu einem reichen Mann. Die TV-Sensation bestand in einer Art sozialem Experiment, das alles auf links drehte und Menschen in Gefahr brachte.
Vor einer gefühlten Ewigkeit bei einer der Pressekonferenzen in den Räumlichkeiten der Produktionsfirma am Stockholmer Frihamnen hatte Morgan ihn beiseitegenommen. Sie beide, so Morgan, seien die gelebte Symbiose. Sie seien auf das Geschäft des jeweils anderen angewiesen. Und schlechte Publicity gebe es nicht. Darüber waren sie sich immer schon stillschweigend einig.
Erst als Roger das Gefühl hat, die Story hinsichtlich Aufbau und Umfang hinreichend umrissen zu haben, blickt er wieder auf. Verblüfft stellt er fest, dass er der Letzte in der Reaktion ist. Nicht mal mehr im Büro des Chefs brennt noch Licht. Es ist Freitagnachmittag – und so ganz anders als früher, als in der Redaktion noch rund um die Uhr gearbeitet wurde. Es ist so still, dass er das Summen der Lüftung hört.
Weil das Projekt derart Wellen schlug, erinnert sich bis heute jeder daran, wie die Realityshow damals beworben wurde: mit Emelie und Bill, jenem Liebespaar, auf das auch das komplette Marketing zugeschnitten worden war. Nachdem die zwei sich zunächst lediglich Briefe geschrieben und kurze, überwachte Gespräche geführt hatten, sollten sie sich erstmals vor laufenden Kameras im echten Leben gegenüberstehen.
Roger steht auf, knipst seine Schreibtischlampe aus und sagt in die Stille des Büros hinein: »Wir haben alle mitbekommen, wie es angefangen hat. Aber das Ende durften wir nicht sehen.«
Katarina Kagg sitzt an ihrem Schreibtisch im Justizministerium in Stockholm. Die erste Arbeitswoche nach dem Sommerurlaub neigt sich dem Ende entgegen, und sie zerfließt regelrecht in der Hitze. Warum müssen sie ausgerechnet, wenn es in Schweden am heißesten ist, aus der Sommerpause zurück sein?
Der Tag hat ausschließlich aus Sitzungen bestanden. In ihrer Inbox türmen sich unbeantwortete Anfragen. Ihr Handy hat nonstop geklingelt.
Doch eine SMS im Speziellen beschert ihr ein Prickeln am ganzen Leib. Sie hat den Kontakt unter einem falschen Namen gespeichert, nur für den Fall, dass sie ihr Handy zu Hause vergessen sollte und Ludwig, ihr Ehemann, eine zufällig eintrudelnde Nachricht entdeckt.
Sie hat keine Ahnung, ob Ludwig misstrauisch ist oder ob es ihm überhaupt wichtig wäre. Nach jahrelangen ehelichen Auseinandersetzungen haben sie sich unausgesprochen darauf geeinigt, dass sie gewisse Freiheiten haben. Weiß der Himmel, was er aus seinen Freiheiten macht. Sie klickt die SMS nicht mal an, damit die Spannung steigt, bis sie sich endlich wiedersehen.
Für einen Drink würde sie jetzt glatt jemanden umbringen … oder warum eigentlich nicht für eine Zigarette?
Sie angelt ihre Marlboros aus der Handtasche. Dann drückt sie ihre Bürotür ins Schloss, setzt sich aufs Fensterbrett und schiebt das Fenster sperrangelweit auf. Nach den ersten paar tiefen Zügen beruhigt sich ihr Puls wieder. Ihr Kopf klart auf, der ganze Mist löst sich in Wohlgefallen auf und weht sozusagen mit den hellgrauen Rauchwölkchen, die ihr aus den Nasenlöchern steigen, auf und davon.
Eine Woche geschafft. Noch siebenundvierzig bis zum nächsten Sommerurlaub.
Das Bürotelefon klingelt. Eigentlich sollte ihr Vorzimmer am Freitagnachmittag um diese Uhrzeit niemanden mehr durchstellen. Außerdem wollte sie nicht gestört werden. Sie streckt die Hand aus, während sie mit der anderen die Zigarette aus dem Fenster hält, und drückt die Bitte-nicht-stören-Taste.
Ein weiterer Zug, und ihr Handy klingelt. Ihr Ehemann, der irgendwas will.
»Hej, Ludde«, sagt sie.
»Hast du es schon gehört?«
»Ich hab den ganzen Tag in Meetings gesessen und hatte kaum Zeit, aufs Klo zu gehen. Was soll ich denn bitte gehört haben?«
»Aber hast du den Chat schon gesehen?«
Sie seufzt, nimmt das Handy vom Ohr und macht WhatsApp auf. »Kannst du nicht einfach sagen, worum es geht?«
»Benjamine kommt auch«, sagt Ludwig.
»Benjamine Stark?«
Als würde sie andere Frauen namens Benjamine kennen. Sie hört selbst, wie dumm ihre Nachfrage klingt. Denn es gibt nur die eine. Morgans Ex, Schwedens bekanntestes Model. Benjamine Stark.
Katarina zieht ein letztes Mal an ihrer Zigarette und drückt sie auf dem Fensterbrett aus.
»Wird bestimmt nett, sie wiederzusehen.«
»Sie schreibt, dass sie zur Insel segeln will«, führt Ludwig aus. »In Begleitung. Hat sie einen Neuen?«
»Keine Ahnung. Morgan und Benjamine sind ja nun wirklich lange genug geschieden. Das Leben geht weiter.«
Sie setzt sich zurück an den Schreibtisch, und ihr schießt durch den Kopf, dass sie sich gerade verplappert hat. Ein ureigener, geheimer Gedanke hinsichtlich der Beziehung, die sie zu ihrem Mann und dem anderen hat, der ihr zuvor eine Nachricht geschickt hat. Sie ist zu alt für derlei Spielchen, die werden keinem von ihnen gerecht. Und auch ihr Leben muss allmählich weitergehen.
»Können wir später weitersprechen?«
»Dann sind wir alle irgendwie wieder … Freunde oder was?«, hakt Ludwig nach.
»Möglich«, sagt sie. Und zumindest kriegst du etwas fürs Auge, fügt sie in Gedanken hinzu. »Ich bin hier fast fertig. Könntest du noch was zu essen besorgen?«
»Ich bestelle Pizza«, sagt Ludwig. »Dann bis später!«
Als Katarina aufgelegt hat, nimmt sie die Kippe vom Fensterbrett und stopft sie in die Zigarettenschachtel. In ihrer Schreibtischschublade kramt sie nach dem SB12-Döschen. Drei Tabletten, und ihr Atem riecht nur noch nach Minze. Dann schwenkt sie ein paarmal ihren leichten Sommermantel durch die Luft, damit man den Rauch im Büro nicht mehr riecht.
Damals, als sie sich noch regelmäßig trafen, hat sie Morgans Partys immer genossen, weil dort das wahre Ich ihres Mannes zum Vorschein kam. Denn teils ausgerechnet in Luddes Exzessivität hatte sie sich einst verliebt. Von der sprühenden Kreativität des special one, wie er als junger Mann gern mal genannt wurde, ist heute nicht mehr allzu viel übrig. Aber immerhin sind ihm das Wappen im Riddarhuset und das Geld auf dem Konto geblieben.
Damals hatte sie Ludwig gebraucht. Inzwischen ist das anders.
Aus heiterem Himmel fällt ihr der Anruf auf ihrer Büroleitung wieder ein, den sie zuvor weggedrückt hat. Als sie hinaus auf den Flur späht, ist der Schreibtisch ihrer Sekretärin verwaist. Allerdings steht dort ein Mann in einem nichtssagenden blauen Anzug mit weißem Hemd. Keine Krawatte. An seinem athletischen Körper sitzt die Kleidung wie angegossen. Er hat kurze blonde Haare und ist glatt rasiert, sodass man die Narben seiner Pubertätsakne sehen kann. Nicht gerade fotogen, aber an seiner Figur ist nichts auszusetzen.
»Anscheinend musste sie ihr Kind abholen«, sagt er mit tiefer Bassstimme. »Sie meinte, ich könnte hier warten.«
Sein Auftreten ist vertrauenserweckend, wiegt einen in Sicherheit – und zwar streng nach Protokoll, wie sie vermutet.
»Mein Abteilungsleiter hat ein paarmal versucht, Sie zu erreichen«, fährt er fort. »Es geht um Ihren Wochenendausflug in die Schären.«
Der Mann muss den Leiter der Säpo-Abteilung für Personenschutz meinen. Was auch erklären würde, warum er hier allein warten durfte.
»Was soll mit dem Wochenendausflug sein? Ich habe frei. Und ich treffe mich mit meinen ältesten Freunden.«
Der Mann zuckt mit den Schultern und blickt eisern drein.
»Ist das Ihr Ernst?«, faucht Katarina ihn an.
»Sie kennen die Auflagen.«
»Das ist doch Verschwendung öffentlicher Ressourcen!«
»Den Auflagen zufolge müssten zwei Personenschützer mit, aber für so einen Ausflug können wir einen davon streichen.«
Zu allem Überfluss lächelt er sie auch noch an.
»Ich bin einer der Erfahrensten in der Abteilung Personenschutz«, fährt er ungerührt fort. »Und Sie scheinen ja so wenig Aufhebens wie nur möglich machen zu wollen.«
Katarina schiebt ihren Ärger beiseite – dorthin, wo auch der andere Mist landet, den sie in dieser Woche und in ihrem kompletten ersten Jahr als Ministerin nicht hat ändern können.
»Meinetwegen«, sagt sie. »Und haben Sie auch einen Namen?«
»Samuel«, antwortet er. »Ich bin nur wegen eines kurzen Briefings hier.«
»Bitte«, sagt sie, »kommen Sie rein.«
Samuel sieht sich in ihrem Büro um und setzt sich auf einen Besucherstuhl.
»Wir bleiben über Nacht und sind am Sonntagabend wieder zurück in der Stadt«, erklärt Katarina. »Ich habe Sie nicht angekündigt, deshalb weiß ich jetzt auch nicht, ob noch ein Bett frei ist. Auch wenn Platz genug wäre.«
»Gar kein Problem«, sagt Samuel. »Wann sollen Sie dort sein?«
»Irgendwann nach Mittag«, sagt sie. »Brauchen Sie die genaue Uhrzeit? Ich kann kurz die WhatsApp-Gruppe fragen … Morgan Stark, der die Feier organisiert, hat die Gruppe eingerichtet.«
Samuel zückt sein Handy. Einen Augenblick später geht eine SMS bei Katarina ein.
»Das ist meine Handynummer«, sagt er. »Könnten Sie ihn bitten, mich in die Gruppe aufzunehmen?«
»Natürlich …« Sie schickt den Kontakt an Morgan.
»Beschreiben Sie mir die Location.«
Er schlägt einen Befehlston an. Als hätten sie die Rollen getauscht, als wäre er jetzt der Chef. Erneut ärgert sie sich, redet sich dann aber ein, dass er ja bloß seinen Job macht.
»Die Insel heißt Himmelskär und war früher wohl mal eine Militärbasis, draußen Richtung Söderarm. Mittlerweile ist die Insel in Privatbesitz und verfügt über den von Stockholm am weitesten entfernten Anleger in den Schären. Was gibt es sonst noch zu sagen? Wohnhaus, die typischen Klippen, ein kleines Stück Rasen, Anleger … Pool, Badezuber, Sauna … Ich lege auch eine Schwimmweste an, Ehrenwort.«
Fast schon nervös gluckst Samuel in sich hinein. Von diesem großen, breit gebauten Mann, der ansonsten so ernst wirkt, klingt das Geräusch eher merkwürdig. Aber zumindest scheint er den Witz als solchen erkannt zu haben. Sie fragt sich, wie er wohl reagiert, wenn Ludde und Morgan erst loslegen und feiern – und wenn sie nackt baden gehen. Und Benjamine fucking Stark irgend so einen String-Bikini von Prada zur Schau trägt.
»Morgan hat uns schon ein Taxiboot bestellt«, fährt sie fort. »Es fahren noch zwei weitere Freunde mit, Theo und Sara.«
Samuel tippt auf sein iPad ein.
»Dann hole ich Sie am besten um elf Uhr ab. Ich hab uns eine Stunde mit dem Auto von Stockholm entfernt ein Boot organisiert. Wir nehmen lieber unsere eigenen Transportmittel. Ihre Freunde dürfen gern mitfahren. Wir geben den Anleger morgen früh durch und stornieren das Taxiboot. Gibt es noch weitere Gebäude auf dieser Insel?«
»Nein, ich glaube nicht. Es wohnt ja auch nur Morgan dort.«
»Allein?«
»Ja.«
»Dann hätte ich gern die Namen sämtlicher Gäste.«
»Klar«, murmelt Katarina. »Morgan Stark, seine Ex-Frau Benjamine plus Begleitung. Ich, mein Mann Ludwig, dann Theo – also, Theodor Ahlin – und seine Frau Sara.«
Sie will einfach nur weg, endlich ans Wasser, sich die Klamotten vom Leib reißen, die auf der Haut kleben, und ins kühle Meer eintauchen. Sie wünschte sich, sie könnte schon heute Abend rausfahren, und zwar allein.
»Benjamines Begleitung kennen Sie also nicht?«, hakt Samuel nach.
Katarina fällt das Telefonat mit Ludde ein. Wie aufgeregt er geklungen hat, weil Benjamine auch kommen und anscheinend einen neuen Mann mitbringen würde. Irgendwas stört Katarina daran, auch wenn sie nicht genau sagen könnte, woran es liegt. Vielleicht ist sie bloß eifersüchtig, das war sie bei Benjamine irgendwie immer.
»Nein, leider nicht. Keine Ahnung, wer das sein soll«, sagt sie. »Wären wir dann fertig?«
»Gleich«, antwortet Samuel. »Wir haben uns über potenzielle Drohungen schlaugemacht – sowohl gegen Sie und das Amt als auch gegen Ihre Freunde.«
»Sie haben meine Freunde durchleuchtet?«, fragt Katarina.
»Es gehört nun mal zu meinen Aufgaben, darüber Bescheid zu wissen, in welchen Kreisen Sie sich auch privat bewegen«, erklärt Samuel. »Außerdem ist es in Ihrem Freundeskreis früher schon mal zu Anfeindungen gekommen.«
Die Anfeindungen, von denen er spricht, stammten von vereinzelten erbärmlichen Existenzen, die sich im Internet und auf Social-Media-Plattformen hinter Fake-Namen verbarrikadiert hatten. Allerdings sind die zunehmenden Aggressionen gegen Amtsträgerinnen und Amtsträger durchaus real und müssen leider auch ernst genommen werden.
»Wenn Sie die Anfeindungen gegen Morgan meinen – die sind zehn Jahre her.«
»Sie tragen trotzdem zum Gesamtbild bei. Uns liegen Informationen vor, dass im Zusammenhang mit dem Verkauf seiner Firma an einen französischen Medienkonzern – der im Übrigen Verbindungen zur Marseiller Unterwelt haben soll – Drohungen gegen ihn ausgesprochen wurden.«
Es schmerzt wie ein Messer im Bauch, wann immer es zur Sprache kommt. Sie ist mit den Begleitumständen des Verkaufs von Morgans und Ludwigs Firma und auch mit der Kritik, die damals laut wurde, nur allzu gut vertraut.
»Der französische Käufer ist de facto an der Euronext-Börse notiert«, brummt Katarina.
Samuel sieht sie verblüfft an.
»Und wissen Sie, ob Morgan oder sonst jemand aus Ihrem Freundeskreis in jüngerer Zeit bedroht wurde?«
Warum gibt er denn keine Ruhe? Über die Jahre gingen dermaßen viele Drohungen ein – einer der Gründe, warum Morgan raus nach Himmelskär zog. Und sie wird nie vergessen, was auch Ludwig im Zusammenhang mit dieser Realityshow durchmachen musste. Was die Hater auf Flashback ihm vorwarfen.
»Nein, nicht dass ich wüsste«, antwortet sie. »Morgan lebt ja sehr zurückgezogen, aber klar, er ist reich, da bestehen wohl immer gewisse Risiken.«
»Sonst fällt Ihnen nichts weiter ein?«
»Nein.« Sie fragt sich, worauf er hinauswill. Denn es ist nur zu klar, dass er etwas im Sinn hat. Irgendwas Spezielles.
»Okay«, sagt er nur, »dann sehen wir uns morgen.«
Sie sieht ihm hinterher, als er geht. Ihn mit auf Morgans Insel zu nehmen, war so nicht geplant. Sie war eigentlich der Ansicht, dass sie als Ministerin dem Justizwesen vorsäße und es unter Kontrolle hätte – und plötzlich ist es genau andersherum.
Ständig hängt alles am seidenen Faden. Die Festung, die sie um sich herum errichtet hat, ist letztlich kaum mehr als eine Sandburg.
Sie lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück, schließt die Augen und spürt, wie ihr der Sand über die Hände und zwischen den Fingern hindurchrieselt.
Sie mag ins Hintertreffen geraten sein, aber sie ist nicht dumm. Und sie schließt schnell wieder auf.
Irgendwas muss vorgefallen sein, dass jetzt von einer erhöhten Bedrohungslage ausgegangen wird.
Irgendwas, was ihr die Säpo nicht erzählen will.
Eine leere Bierflasche kullert über den abschüssigen Boden immer schneller auf die Wand in dem alten Gebäude zu. Benjamine hat zu den letzten paar Songs allein getanzt, mit erhobenen Armen, und dabei die Zeit und ihre Freunde vollkommen aus den Augen verloren. Dann verstummt die Musik, und sie weiß nicht genau, ob jetzt Schluss ist oder nur Pause. Theo, den sie gleich in der ersten Semesterwoche auf dem Flur ihres Wohnheims kennengelernt hat, will an der Bar eine letzte Bestellung aufgeben. Sie dreht sich in Richtung der breiten, geschwungenen Treppe, die ins nächste Stockwerk ihres Verbandssitzes führt. Roger, der aus Stockholm zu Besuch gekommen ist, lehnt sich schwer gegen den Handlauf und sieht sie mit einem Bier in der Hand unverwandt an. Sie winkt ihm zu, aber er schüttelt lediglich müde und betrunken den Kopf.
Ein paar Leute kommen in ihre Richtung, und die paar wenigen, die noch auf der Tanzfläche stehen, weichen wie auf Kommando an den Rand aus. Theo ist zurück – mit neuen Bekanntschaften im Schlepptau, mit zwei Typen und einer Frau. Die Frau hat jedem der Typen einen Arm über die Schulter gelegt. Ihr lila Kleid ist am Ausschnitt verrutscht und lässt tiefer blicken, als es womöglich sollte, auch wenn es sie nicht weiter zu stören scheint. In jeder Hand hält sie ein Sektglas.
»Diese zwei hier und dein Kumpel Theo haben eingewilligt, einen Pakt mit mir einzugehen«, lallt sie. »Zusammen übernehmen wir die Weltherrschaft. Bedingungslose Loyalität, keine Geheimnisse. Ein Platz wäre noch frei. Willst du mitmachen?«
Der schmalere Typ links sieht aus, als müsste er sich immer noch ausweisen, wenn er Alkohol kaufen will. Kurze, akkurat gescheitelte Haare umrahmen ein Babyface.
»Besser, die Saite reißen zu hören …«, sagt er.
»… als nie den Bogen zu spannen«, bringt Benjamine das berühmte Verner-von-Heidenstam-Zitat zu Ende. »Klar, ich bin dabei.«
Der Typ rechts, der bisher gar nichts gesagt und sie nur angestarrt hat, zieht die Augenbrauen hoch. Er ist das Gegenstück zu seinem Kumpel: breit gebaut, lange schwarze Haare, die ihm bis über die Schultern fallen, selbstsicherer Blick.
Der DJ sagt den letzten Song des Abends an.
»Das sind Katta und Ludde«, sagt er, »und ich heiße Morgan. Dürfte ich um den letzten Tanz bitten?«
Ohne auf ihre Antwort zu warten, streift er sich Kattas Arm von der Schulter, die ihrerseits die Gelegenheit ergreift und das Glas Sekt in sich hineinkippt. Ludde legt ihr den Arm um die Taille und zieht sie an sich.
Benjamine wirft noch einen Blick zurück zur Treppe. Roger ist ein paar Stufen heruntergekommen, als wäre er auf dem Weg zur Tanzfläche gewesen, hätte es sich dann aber anders überlegt.
Der Song beginnt, allerdings ist er anders als die vorigen Popsongs. Plötzlich heben Bass, Schlagzeug und Saxofon zu einem pulsierenden, altmodischen Swing an, bei dem Benjamine an ihre Eltern denken muss.