Silvester - Martin Österdahl - E-Book

Silvester E-Book

Martin Österdahl

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Beschreibung

Drei Paare, eine Silvesterparty – tödliches neues Jahr! Ein packender klaustrophobischer Psychothriller aus Schweden!

Es sollte ein schöner Silvesterabend werden. Die frisch verliebten Teenager Ebba und Marlon wollen, dass sich ihre Eltern bei dem feierlichen Anlass endlich kennenlernen. Doch schnell wird klar, dass sich ihre Eltern längst kennen und sie etwas Furchtbares verbindet. Auch wenn sie versuchen, ihren Kindern zuliebe, das Beste aus der Situation zu machen, lange gelingt es ihnen nicht. Im Laufe des Abends steigert sich die angespannte Stimmung. Ein schrecklicher Verdacht erhärtet sich und schließlich wird ein Geheimnis gelüftet, das den Abend in einer Katastrophe enden lässt ...

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Buch

Es sollte ein schöner Silvesterabend werden. Die frisch verliebten Teenager Ebba und Marlon wollen, dass sich ihre Eltern bei dem feierlichen Anlass endlich kennenlernen. Doch schnell wird klar, dass sich ihre Eltern längst kennen und sie etwas Furchtbares verbindet. Auch wenn sie versuchen, ihren Kindern zuliebe, das Beste aus der Situation zu machen, lange gelingt es ihnen nicht. Im Laufe des Abends steigert sich die angespannte Stimmung. Ein schrecklicher Verdacht erhärtet sich, und schließlich wird ein Geheimnis gelüftet, das den Abend in einer Katastrophe enden lässt …

Autor

Martin Österdahl, aufgewachsen in Stockholm und London, hat BWL, Zentral- und Osteuropäische Geschichte sowie Russisch (Master of Science) studiert. Er arbeitete über zwanzig Jahre für TV-Produktionen und war gleichzeitig Programmdirektor eines schwedischen Fernsehsenders. Mit seiner deutschstämmigen Frau und den drei gemeinsamen Kindern lebt er in der Nähe von Stockholm.

MARTIN ÖSTERDAHL

SILVESTER

Psychothriller

Deutsch von Leena Flegler

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Parmiddagen« bei Bookmark Förlag, Stockholm.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright der Originalausgabe © Martin Österdahl 2022

Published by agreement with Salomonsson Agency

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Nike Müller

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: mseidelch / E+ / Getty Images

JaB · Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-30692-2V002

www.blanvalet.de

Prolog

Lillängen, Nacka,in der Silvesternacht

Die herrliche Aussicht auf den See ist im Augenblick ein blinder Fleck, verschluckt von der Dunkelheit, auf der falschen Seite des gleißenden Scheinwerferlichts. Spurentechniker in weißen Overalls und mit Plastiküberziehern an den Schuhen starren in der Hocke hinab ins Becken.

Ein Pool erstreckt sich vom Haus bis an die Grundstücksgrenze, hinter der ein steiler Hang zum Ufer des Järlasjön führt. Das Becken ist so ausgerichtet, dass der Pool optisch in den See überzugehen scheint, was eine Illusion endlosen fließenden Wassers erzeugt. Nur dass hier nichts fließt. Der Pool ist leer und über den Winter stillgelegt.

Die Leichen am Beckengrund sind nackt. Halb umschlungen wie ein schlafendes Liebespaar liegen sie auf dem harten Mosaik. Im starken Scheinwerferlicht glitzern Glasscherben in der rosa Pfütze, in der die beiden liegen. Ihre Haut ist schon blau, die Oberkörper von Verfärbungen gezeichnet. An Bauch und Brust sind Schnittwunden zu erkennen, und die reglosen Gliedmaßen sind in Richtungen verdreht, die jeglichen Regeln der Anatomie widersprechen.

Große Schneeflocken wirbeln vom schwarzen Nachthimmel wie Flitter, der am Ende der Vorstellung auf eine Bühne regnet. Die feuchte Kälte dringt einem durch Handschuhe, Daunenjacke und Uniform bis tief ins Mark.

Die beiden Streifenpolizisten, die als Erste vor Ort waren, wechseln einen flüchtigen Blick. So etwas haben sie noch nie gesehen.

Das Haus hinter ihnen hat um der Aussicht willen riesige Panoramafenster. Dach und Dachrinnen sind aus glänzendem Kupfer. Die mit unbehandeltem Zedernholz verkleidete Fassade sieht rau, fast schäbig aus, dabei ist klar, dass sie – wie alles hier – ein Vermögen gekostet hat.

Der Flur im Haus ist mit hübschem schwarz-weißem Keramikklinker gefliest. An einer Wand steht ein auffälliger grüner Metallspind. An den einzelnen Türen hängen handgeschriebene Schilder mit den Namen der Familienmitglieder.

Lisa, Mikael, Ebba.

Hinter der Tür mit der Aufschrift Ebba stehen flache weiße Segeltuchschuhe in Größe neununddreißig.

Das Haus ist verhältnismäßig neu, gleicht aber in der Raumaufteilung den Fünfzigerjahre-Bauten der Nachbarschaft. Küche, Wohn-Ess-Bereich und Schlafzimmer liegen im oberen Stockwerk. Sie beschließen, sich dort umzusehen. In die Deckenverkleidung sind dimmbare Spots eingelassen, die warmes Licht verströmen und für eine ruhige Atmosphäre sorgen. Allerdings ist es keine friedvolle Ruhe, ganz im Gegenteil. Im Bad gibt es eine Regendusche mit Glaswand, eine Whirlpoolbadewanne und ein Doppelwaschbecken aus weißem Marmor. Auf dem Ehebett im Elternschlafzimmer liegen ein Bettüberwurf und am Fußende eine zusammengelegte Wolldecke. Aus dem Zimmer führt eine Tür in einen angrenzenden kleineren Raum mit Dusche und Toilette. Im Toilettenschrank diverse Medikamente.

In Ebbas Zimmer ist eine Wand mit Fotos bedeckt: Ebba als kleines Mädchen. Ebba mit Freundinnen. Ebba im Pferdestall. Ebba mit einem attraktiven dunkelhaarigen Jungen mit Lippenpiercing und schwarzem Kajal um die Augen. An der gegenüberliegenden Wand hängen alte Film- und Bandplakate und darüber unter der Decke ein Banner mit der englischen Aufschrift Bride to be.

Auf dem Schreibtisch liegt ein Laptop. Die übrige Schreibtischplatte ist mit Papierkram und Plunder übersät.

Im Wohnzimmer ist eine elegante Sitzgruppe mitsamt Sesseln in hellem Leder um einen niedrigen Couchtisch arrangiert. Stufen führen hinauf zum Essbereich mit einem blitzblanken klavierlackschwarzen Esstisch. Weingläser, Sektflöten, Kognakschwenker und leere Flaschen. Die Stühle sind schräg vom Tisch weggerückt.

»Was zum Henker war hier los?«, fragt der Polizist, ein Mann Anfang, Mitte dreißig.

Seine Kollegin schüttelt den Kopf.

»Als wir gestern hier waren, war Lisa durch den Wind, eindeutig. Aber das hier …«

Sie sehen sich wortlos an. Sie waren am Vorabend schon einmal hier, um mit der Dame des Hauses zu sprechen. Inzwischen ist offensichtlich, dass sie länger bleiben und mit ihnen allen hätten reden sollen.

Sechs Personen haben hier am Silvesterabend zusammen gegessen. Es sieht aus, als hätten sie anschließend alles stehen und liegen lassen und angesichts einer herannahenden Katastrophe überstürzt die Flucht ergriffen.

Eine der Schiebetüren zur Terrasse steht einen Spalt offen und kalte Luft und Feuchtigkeit ziehen herein. Es hat die ganze Nacht geschneit und schneit immer weiter, als wollte eine höhere Macht die Ereignisse der vergangenen Stunden unter einer weißen Decke verschwinden lassen, auf dass sie vergeben und vergessen werden. Nicht mehr lange, und die Spuren auf der Terrasse sind vollends verdeckt. Mit jeder Sekunde, die verstreicht, wird ausradiert, was immer hier vorgefallen ist.

Die Spuren enden am Terrassengeländer. Noch sind die Abdrücke zweier Paar Füße, die nah beieinandergestanden haben, deutlich zu erkennen. Vielleicht haben sich die beiden an den Händen gehalten, als sie gesprungen sind.

Von oben ist der Anblick – sofern das überhaupt möglich ist – noch viel makabrer.

Die nackten Leichen, wie weggeworfene Schaufensterpuppen.

Zwei Leben, zu früh erloschen.

Einladung

1

Lillängen, Nacka,in der Nacht auf Silvester

Ebba und Marlon liegen eng umschlungen auf dem Sofa im Fernsehzimmer und sehen zu, wie der endlose Abspann von Stephen Kings Es über die riesige Mattscheibe rollt. Ebba hat den Kopf an Marlons Schulter gelegt, dem die langen, dunklen Haare über beide Schultern bis auf das schwarze T-Shirt fallen. Darunter hat sie die Hand geschoben und spielt mit seinen Brusthaaren.

Sie wüsste nicht, was ihr mehr Bauchkribbeln und Gänsehaut beschert hat – der Club der Verlierer oder die als Clown verkleidete Bestie, die immer wiederauftaucht und Kinder umbringt … oder schlicht und einfach Marlons Körper. Sie hat in seinen Armen gelegen und sich an ihn gedrückt. Als der Film vorbei war, hat sie ihn abermals geküsst.

Ein paar Stündchen zuvor kam er durch die Hintertür geschlichen. Als ihre Mutter sich endlich hingelegt hatte, hatte Ebba ihm eine Nachricht geschickt. Sie wusste, er würde so schnell wie möglich vorbeikommen.

Marlon schiebt seine Hand unter ihren Pullover und streichelt ihre Brust. Sie lässt es zu, obwohl sie Gefahr laufen, dass jemand unversehens die Treppe herunterkommen könnte. Wenn er sie berührt, fühlt sie sich, als wäre ihr von Kopf bis Fuß heiß und als wollte ihr das Herz zerspringen. Seine Hände sind weich und zärtlich. Als seine Lippen sich nähern, spürt sie seinen Atem auf Wangen und Kinn – wie eine Sommerbrise. Allein die Andeutung einer körperlichen Berührung versetzt sie in einen Zustand, den sie sich zutiefst herbeigesehnt hat. Sie war sich nur nie bewusst, wie lange schon.

Sie sind jetzt seit zwei Monaten zusammen, und sie fragt sich, ob es sich immer so anfühlen wird, ob es überhaupt möglich ist, noch mehr zu fühlen.

Sie kann es sich nicht vorstellen.

Als sie ihm erstmals gegenüberstand, war es, als hätten sie sich ihr Leben lang gekannt. Als hätte sie, ohne es zu ahnen, ihr Leben vor sich hingelebt und nur auf ihn gewartet. Marlon verstand das sofort – als wäre er ein Vampir, der ihre geheimsten Gedanken hören konnte. Es war fast schon peinlich.

Wenn ihre Eltern jetzt runter ins Fernsehzimmer kämen, wäre es nicht einmal mehr wahnsinnig schlimm. Sie hat nicht vor, ihn zu verheimlichen, und kein Problem damit, vor ihnen zu ihren Gefühlen zu stehen.

Marlon ist nicht nur Schlagzeuger. Er hat gute Noten und ist womöglich der bestaussehende Junge in ganz Stockholm. Ihre Mutter macht sich bestimmt Gedanken, weil er zu gut aussieht – weil er anders ist als andere und weil er Ebba das Herz brechen wird.

Dabei sieht sie gar nicht, wie toll er ist. Er würde Ebba niemals wehtun.

Sie behauptet, dass auf »Romanzen«, die im Internet beginnen, kein Verlass wäre. Als hätte sie eine Ahnung davon. Sie behauptet außerdem, dass man als junger Mensch seine Gefühle mitunter falsch deuten würde. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, wie alt man ist. Wenn man etwas weiß, dann weiß man es.

Morgen Abend, wenn Marlon und seine Eltern zu Besuch kommen, um mit ihnen Silvester zu feiern, und sie alle wie erwachsene Paare zusammensitzen, werden sie es begreifen. Sie werden ihre Beziehung akzeptieren, einfach weil sie müssen, sie haben gar keine Wahl, das hier wird nie zu Ende gehen.

Marlons Hand wandert nach unten, in Richtung des Gummizugs ihrer Jogginghose. Die Küsse werden intensiver und ihr Puls beschleunigt sich. Der Ring in seiner Unterlippe fühlt sich kühl an, kitzelt ihre Zunge, reizt sie umso mehr.

Sie beide gegen den Rest der Welt – und womöglich bräuchte sie sich gar keine Gedanken zu machen, was ihre Eltern von ihrer Beziehung halten. Es ist ja nicht so, als stammten sie aus italienischen Adelsfamilien, die miteinander verfehdet sind.

Als Julia aufwachte und sah, dass Romeo sich umgebracht hatte, nahm sie seinen Dolch und rammte ihn sich in die Brust. Aber genau so ist es doch: Echte Liebe kennt keine Grenzen.

Sie schließt die Augen. Marlons Atmung wird immer erregter. Und im selben Moment passiert es wieder: Die Angst ist zurück. Ebba ist von Kopf bis Fuß angespannt. Es ist, als würde sie zu Eis erstarren. Genau wie die vorigen Male. Behutsam windet sie sich aus seinen Armen und sieht ihn an.

»Denk daran, was wir ausgemacht haben.«

Er sieht ihr tief in die Augen. Lächelt sehnsüchtig.

In seinen grünbraunen Augen kann sie sich verlieren. Die Farbe verändert sich ständig, der Blick hat eine Tiefe, die sich unendlich anfühlt, und wird perfekt eingerahmt von seinen langen, dunklen Haaren, von seiner hellen, blassen Haut, dem markanten Kinn und den Kieferknochen. Wenn sie ihn länger ansieht, kann sie das Changieren in seinen Augen sehen, all die Gefühle, die in ihm sprudeln – die nur für sie allein sprudeln.

Sie gibt ihm noch einen Kuss. Auf dem Fernsehbildschirm erscheint das DVD-Menü. Es ist nach zwei Uhr nachts, und Marlon muss allmählich nach Hause.

Plötzlich ist von draußen ein dumpfer Knall zu hören und Ebba zuckt zusammen.

»Was war das?«

»Keine Ahnung«, sagt Marlon. »Vielleicht eine festgefrorene Autotür?«

Noch ein Knall, diesmal lauter, als wäre etwas kaputtgegangen.

Ebba springt vom Sofa auf und tritt ans Fenster.

»Marlon, beeil dich. Meine Eltern sind vielleicht wach geworden und kommen runter. Die dürfen dich hier nicht sehen, nicht jetzt – damit wäre morgen Abend gelaufen.«

»Okay, okay.«

Er steht auf, zieht sich den Gürtel und den Pullover zurecht.

Sie lacht, als sie seinen Gesichtsausdruck sieht.

Er greift nach seiner Lederjacke und den schwarzen Schuhen und zieht die Hintertür auf. Er lächelt schief – ihr Lieblingslächeln – , zwinkert und sagt: »Dann bis morgen!«

Von der Schwelle wirft er ihr noch ein Küsschen zu, bevor er sich wegdreht und geht.

Sie huscht zum Fenster neben der Hintertür. Als sie ihn dort draußen sieht, wie er auf einem Bein balanciert, um sich den zweiten Schuh anzuziehen, muss sie kichern. Sein T-Shirt ist verdreht, die Jacke hat er sich über die Schulter geworfen, und er hat Probleme, das Gleichgewicht zu halten. Es kommt ihr fast so vor, als würde er für sie ein Tänzchen aufführen, von dem er nicht ahnt, dass sie es sehen kann. Sie strahlt übers ganze Gesicht und ihr wird innerlich ganz warm.

Am liebsten würde sie vorspulen, bis zum Abend, wenn sie Silvester feiern. Bis wenige Minuten vor Mitternacht.

2

Storängen, Nacka,am Silvesternachmittag

Lisa Kjellvander steht im Garten des Maria-Regina-Heims auf der Leiter und versucht, das Ende einer Lichterkette in einem der obersten Äste des Apfelbaums zu befestigen. Der Ast hat eine dünne Eiskruste und mit ihren Fäustlingen kann sie nicht richtig zufassen. Es dauert schon jetzt länger als gedacht. Sie wirft einen Blick in Richtung Gewächshaus und hofft, rechtzeitig fertig zu werden, bevor der Mann dort wieder herauskommt.

Als die Schlinge endlich fest sitzt, lässt sie noch kurz den Blick über den Garten des Hospizes schweifen. Im Sommer ist es hier herrlich grün. Flieder und Rhododendren säumen die gepflasterten Wege – perfekte Verstecke, wenn Kinder und Enkel zu Besuch sind und draußen spielen wollen. Es ist wirklich ein schöner, heimeliger Ort, das findet Lisa nicht nur, weil sie schon seit fast zwanzig Jahren hier arbeitet, sondern weil es sie überdies an ihr Elternhaus in Lyckeby unten in Blekinge erinnert. Als Ebba noch klein war, hat sie es hier geliebt. Und Lisas Mutter Ann-Christin hätte es ebenfalls geliebt, weil sie hier einen Garten wie ihren eigenen gehabt hätte. Sie wäre bei Tagesanbruch aufgestanden, hätte sich den zerschlissenen alten Morgenmantel übergezogen und wäre nach draußen gegangen, hätte Flieder geschnitten und Fliedersaft daraus gekocht. Wenn sie nur ein bisschen länger leben und hier mit Ebba Zeit hätte verbringen dürfen. Es wäre wunderbar gewesen.

Nun ist der Sommer weit entfernt. Angesichts der dicken Wolkendecke am Himmel und des fahlen Dezemberlichts wirkt die Gegend, als wäre sie in einen Schlummer versunken. Irgendwo dort jenseits der Wolken muss die Sonne allmählich untergehen und bald wird es stockdunkel. Das Hospiz liegt zwischen den großen Gründerzeitvillen von Storängen und wirkt inmitten der großen Bürgerhäuser wie ein Palast, wie die Kirche in einem Dorf. An einem sonnigen Tag schimmern die Fassaden hier in klaren Farben: rot, gelb und grün. Jetzt, im grauen Dämmerlicht, sind die Farben wie ausradiert. Sie ist froh, dass sie hier wohnt, nur ein paar Kilometer vom belebten Södermalm und den Kopfsteinpflastergassen von Gamla stan entfernt, in einem Vorort, der ein so einheitlich wertiges Stadtbild hat wie Jerusalem höchstselbst.

Sie hat die Heilige Stadt nie besucht, aber Schilderungen der Hospizleiterin von einer Reise mit dem Vorstand und Vertretern der Schulschwestern Unserer Lieben Frau gehört, die das Maria Regina einst gegründet haben. Obwohl Lisa nicht denselben Glauben hat wie die Schulschwestern, sind das Hospiz und der Garten für sie zu heiligen Stätten geworden.

Wer ein Menschenleben rettet, ist ein Held.

Wer hundert Menschenleben rettet, ist eine Pflegekraft.

Sie weiß noch gut, was ihre Vorgesetzte damals bei ihrem ersten Gespräch nach der Krankschreibung zu ihr gesagt hat. Sie hat sie an die Werte erinnert, auf denen ihre Arbeit beruht: Familie, Pflichtgefühl, Gottesfurcht. Ihre Rückkehr ist jetzt vierzehn Jahre her. Sie hat eine zweite Chance bekommen. Eine Chance, für die sie unendlich dankbar war. Im Vorstand sind sie der Ansicht, dass Lisa die Leitung übernehmen soll, wenn die jetzige Chefin in ein paar Jahren in den Ruhestand geht. Sie selbst mag noch nicht recht daran glauben.

In der Umgebung ist derzeit nicht allzu viel los, aber die Ruhe täuscht. Bald kommen die Taxis aus der Stockholmer Innenstadt und aus den anderen Vororten. Der Himmel wird in grellen Farben explodieren und die Luft angefüllt sein mit guten Wünschen, Vorsätzen und Voraussagen. Dann geht die Zählung von vorn los, und vor ihnen allen liegen neuerliche zwölf Monate, in denen sie ihr Leben in den Griff bekommen können.

Eine Tür fällt ins Schloss. Tom Abrahamsson, Lisas engster Kollege und Arzt im Maria Regina, kommt aus dem Gewächshaus und sieht überrascht zu ihr hoch.

»Hast du da drüben Strom?«, ruft sie.

Er nickt und reckt den Daumen.

»Schalt mal an!«

Tom geht vor der Steckdose an der Außenwand in die Hocke.

Als die Lichterkette angeht, erwacht die dunkle Außenfläche zum Leben. Unter einem Sonnensegel haben sie einen Tisch und zwei lange Bänke mit Schaffellen aufgestellt. Am Tischende ist Platz für den Rollstuhl des Patienten. Eine einsame Schneeflocke segelt vom Himmel und schmilzt, als sie auf einem der Heizstrahler landet.

»Es fängt an zu schneien«, ruft sie. »Das wird perfekt!«

Tom kommt auf sie zugeschlendert. Er legt den Kopf in den Nacken und mustert die Wolken.

»Hoffentlich hält das Segel.«

Lisa klettert nach unten.

»Danke für deine Hilfe«, sagt Tom.

»Na ja, wir sind ja nicht gerade überbesetzt, da müssen wir doch zusammenhalten«, erwidert Lisa. »Außerdem war es schön, zur Abwechslung mal nach draußen zu kommen. So kriege ich den Kopf wieder halbwegs frei.«

»Machst du dir wegen irgendwas Sorgen?«

»Wir treffen heute Abend die Eltern ihres Freundes … Es fällt mir wahrscheinlich einfach nur schwer, zu akzeptieren, dass Ebba so langsam erwachsen wird.«

»Ihr feiert Silvester zusammen und plant nicht ihre Hochzeit! Ebba und ihr Freund sind doch gerade erst – was? Siebzehn? Knapp achtzehn?«

»Ja, ja, du hast bestimmt recht.«

Sie zuckt mit den Schultern.

»Was wisst ihr denn über seine Eltern?«

Was wissen wir über Marlon?, schießt es Lisa durch den Kopf. Nicht viel mehr, als dass er Musik macht, nur Schwarz trägt und immer einen Anflug von Trauer im Blick hat, selbst wenn er sich die Augen nicht mit Kajal umrandet hat. Auf jeden Fall hat er Mut zu einem eigenen Stil und geht seinen eigenen Weg, und das ist mehr, als man heutzutage von den meisten Teenagern behaupten könnte, die nur noch darum zu wetteifern scheinen, alle gleich auszusehen. Sie will auch nicht sagen, dass Marlon nicht gut aussähe, ganz im Gegenteil, und Ebba und er sind auf gewisse Weise wirklich ein hübsches Paar, auch wenn sie das Ebba nie gesagt hat.

»Eigentlich wissen wir gar nichts.«

»Und was meint Mikael dazu?«

Lisa schnaubt und zuckt die Achseln. Tom weiß genau, wie Mikael tickt.

»Er hofft nur, dass sie nicht bei den verdammten Grünen sind.«

Tom muss laut lachen.

»Was wäre denn daran so schlimm?«

»Sie würden nicht wie Mikael denken. Und wären Veganer. Und würden für Sveriges Radio arbeiten.«

»Und, sind sie Veganer? Was gibt’s denn zu essen?«

»Nein, sie sind keine Veganer, sie haben auch keine Unverträglichkeiten, aber das ist auch schon das Einzige, was ich aus Ebba herauskitzeln konnte.«

Sie versucht, Toms verblüfften Gesichtsausdruck zu deuten.

»Wir sind nicht ganz dicht, oder?«

»Fremde Gäste sind oft das Beste – gibt’s da nicht irgend so ein Sprichwort?«

Lächelnd zieht Tom die Augenbrauen hoch. Um die Mundwinkel und auf der Stirn bilden sich Fältchen. Abgesehen davon sieht er so aus wie sonst, wie er immer schon ausgesehen hat. Seine braunen Haare sind frisch geschnitten und akkurat frisiert, nicht das geringste Anzeichen für graue Haare oder eine beginnende Glatze. Er hat ein maskulines Kinn, und sein immer noch athletischer Körperbau zeugt von der Sportlerkarriere, die er zu früh beendet hat. Als sie sich erstmals begegnet sind, hat er sie an den jungen Arzt aus einer amerikanischen Fernsehserie erinnert, in den sie verschossen war. Dass er so amerikanisch wirkt, liegt daran, dass er in den USA studiert hat. Hin und wieder trägt er noch heute seinen geliebten lila Collegehoodie mit dem Uniwappen auf der Brust. Er hat sich auf Palliativmedizin spezialisiert. Unfassbar, dass er schon fünfzig ist.

»Ist das unser Gast aus der Fünf, der hier draußen zu Abend essen will?«, erkundigt sich Lisa.

»Ja, Albrektsson, der Ica-Mann. Großer Silvesterschmaus, wie früher bei den Wikingern. Er hat sogar seinen Porsche-Händler samt Familie eingeladen.«

Lisa muss lachen. Sie sieht das Bild regelrecht vor sich. Das Maria Regina wird seinem Ruf gerecht. Für die letzte Mahlzeit wird hier jeder Wunsch erfüllt. Das Lachen fühlt sich heilsam an. Der Stress, der ihr im Nacken gesessen hat, fällt ein wenig von ihr ab.

»Ich hoffe nur, du hast nicht auch noch irgendein Opfer für die alten Götter geplant?«

Tom grinst.

»Was hast du denn geplant?«

»Unsere üblichen Neujahrsgeschenke. Diesmal habe ich mich richtig ins Zeug gelegt. Hoffentlich kommen sie gut an!«

»Warum ist das so wichtig? Die Geschenke, meine ich. Ihr habt doch schon alles.«

Lisa ist angesichts der Frage leicht sprachlos und weiß nicht recht, was sie darauf erwidern soll.

»Ich will einfach nur, dass der Abend gut wird«, sagt sie schließlich. »Ich sollte allmählich heimgehen. Noch irgendwas, was ich wissen müsste?«

»In der Drei könnte es zu Ende gehen«, sagt Tom. »Starker Progress des Tumors im vierten Wirbel und Durchbruchschmerzen. So gut wie keine Nahrungsaufnahme mehr. Dauert wohl nicht mehr lange.«

»Die Abendschicht heute … Die sind alle noch ein bisschen grün hinter den Ohren, oder? Ich hätte mir die Urlaubsscheine der anderen genauer ansehen sollen.«

»Mach dir keine Sorgen. Ich gehe rüber und rede mit ihnen.«

Tom hat das Talent zuzuhören, Rückhalt zu geben und Zutrauen einzuflößen. Es gibt nicht allzu viele, die sich ihm, seinem Charme und der verbindlichen Art entziehen können.

»Und Analgetika? Haben wir genug, dass wir über den Feiertag kommen?«

»Es sind wohl noch Methadon und Oxycodon da – und sogar ein letzter Rest Instanyl«, sagt Tom.

Drei starke schmerzlindernde Arzneimittel, die unterschiedlich verabreicht werden.

»Aber das weißt du ja selbst«, fährt er fort. »Hast du nicht die Inventur gemacht?«

Es fühlt sich an wie ein Schlag in die Magengrube.

Verdammt!

Hektisch sieht sie auf die Uhr. Die Inventur hat sie völlig vergessen. Bevor Monat und Jahr zu Ende gehen, muss das System auf dem aktuellen Stand sein. Als Pflegeleitung ist das ihre Aufgabe.

Wie sieht es zu Hause aus? Haben Mikael und Ebba aufgeräumt und angefangen, den Abend vorzubereiten? Sie selbst hat noch nicht einmal darüber nachgedacht, was sie anziehen soll.

»Könntest du vielleicht die Inventur für mich übernehmen?«, fragt sie Tom. »Oder hast du es auch eilig?«

»Du weißt, dass ich Silvester nicht feiere. Ein Abend für schlichte Gemüter.«

Wieder muss sie lachen. Sie erinnert sich daran, dass er das schon einmal gesagt hat.

»Dann könntest du für mich einspringen?«

»Gar kein Problem«, antwortet er. »Und wenn du dir während eures Essens die Beine vertreten musst, bin ich daheim und sitze vor dem Fernseher.«

»Mann, wirst du langweilig!«

»Langweilig? Purple und ich haben große Pläne.«

Purple, Toms Bulldogge, liegt unter Garantie zu Hause, schont seine Kräfte und freut sich darauf, auf dem Schoß seines Herrchens zu liegen und vor dem Fernseher Käsepopcorn zu futtern.

Der Hund und das große Interesse an amerikanischen Sportarten sind ein Teil von Toms Persönlichkeit und Charme. Er scheint es völlig in Ordnung zu finden, älter zu werden, trotzdem hält er seine Jugend und die Dinge, die er früher mochte, in Ehren. Was gut ist. Gleichzeitig wohnt er in selbst gewählter Einsamkeit in einer Zweizimmerwohnung in dem großen Gerichtsgebäude, das zu einem Wohnkomplex umgebaut wurde, nur wenige Hundert Meter von seinem Arbeitsplatz und einen kurzen Spaziergang von Lisa entfernt, was sie nie richtig nachvollziehen konnte.

»Danke«, sagt sie, »du bist ein Schatz.«

»Wie du selbst gesagt hast: Wir müssen zusammenhalten. Fahr nach Hause, ich kümmere mich hier um alles.«

Kaum dass Tom im Gebäude verschwunden ist, sieht Lisa erneut auf die Uhr. Erst jetzt dämmert ihr, dass sie geistesabwesend ihren Ehering hin- und hergedreht hat, eine schlechte Angewohnheit, die sie einfach nicht loswird. Die Sekunden verstreichen unerbittlich. Die schwarzen Ziffern auf ihrer Digitaluhr schlagen in einem Affenzahn um.

Bis die Gäste kommen, sind es nur noch zwei Stunden und acht Minuten.

3

Lillängen, Nacka,am Silvesterabend

Ebba dreht das Wasser ab, klaubt ihr Handtuch vom Badezimmerboden auf und trocknet sich ab. Nackt beäugt sie sich im großen Spiegel. Sie hat sich mit Intimseife gewaschen und anschließend eingecremt, damit die roten Pünktchen sich beruhigen und verschwinden – ganz gemäß den Empfehlungen, die sie online gefunden hat. Sie fährt über die Stellen, wo sie sich rasiert hat, und malt sich aus, wie Marlon reagiert, wenn er sie sieht, wenn es seine Finger sind, die sich dort unten vortasten.

Was er wohl gerade macht? Er wird sich ebenfalls für den Abend fertig machen. Steht er bei sich zu Hause unter der Dusche und denkt an sie?

Am Waschbeckenrand liegt ihr Handy. Sie lässt das Handtuch zu Boden fallen, greift zu ihrem Handy und schießt ein Foto. Dann betrachtet sie das Bild, das verschwommene Schimmern der Deckenbeleuchtung auf dem beschlagenen Spiegel und die Wassertropfen auf ihrer nackten Haut, ihr langes, nasses Haar, das an Kopf und Hals aufliegt. Einen Arm hat sie nach unten ausgestreckt, um ihre Brüste zusammenzudrücken, die Hand schwebt strategisch günstig über dem Schritt. Sie hat die Lippen geschürzt, um ihrem Liebling einen Kuss zuzuwerfen.

Bald hat das Warten ein Ende.

Sie schickt das Bild ab.

Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten, und Ebba muss lachen, als sie es sieht: ein Foto von Marlon mit weit aufgerissenen Augen, der auf einer Bombe mit Zeitzünder sitzt, plus Text.

OMG!!!

Das Lachen tut gut. Bald sind sie vorbei, die Tage, die nie enden wollen, an denen sie bloß auf und ab tigert, wartet und sich verzehrt.

Auf Ebbas Vorschlag hin war ihre Mutter zunächst fast ausgerastet. Die Vorstellung, Marlons Eltern – Leute, die sie nicht kannte – ausgerechnet an Silvester zu sich nach Hause einzuladen, sagte ihr überhaupt nicht zu. Sie kenne doch selbst Marlon kaum. Dabei hatte sie ihn schon mindestens fünfmal getroffen.

Ausnahmsweise hatte ihr Vater für sie Partei ergriffen, ganz ohne anstrengende Fragen zu stellen. Womöglich war er gespannt, zu erfahren, ob Marlons Familie genügend Geld hatte oder so. Marlons Eltern hingegen nahmen die Einladung ohne Bedenken an, allerdings wirkten sie auch generell sehr viel entspannter.

Dass Ebba und Marlon um Mitternacht noch auf die Party in Storängen gehen wollen, haben sie niemandem erzählt. Das soll eine Überraschung werden. Dabei ist dies das Beste an ihrem Plan: dass die beiden Elternpaare zusammen sitzen bleiben, weiter Wein trinken, lustig und Freunde werden würden. Machen sie das nicht immer so bei Pärchenabenden?

Ebbas Mutter hatte sie gefragt, ob sie sich über das mit dem Sex unterhalten sollten; es war der peinlichste Moment ihres Lebens gewesen. Ebba hatte abgewinkt, doch Lisa bestand darauf und führte ins Feld, dass auch sie mit ihrer Mutter über Bienchen und Blümchen gesprochen hatte und dass alle Mütter und Töchter dieses Gespräch führen sollten. Dass seither hundert Jahre vergangen waren und es inzwischen ein Internet gab, schien daran nichts zu ändern. Ebba lenkte ein, hauptsächlich, um ihre Mutter erzählen zu lassen, was diese für ihre Schuldigkeit hielt – dass Sex auf Vertrauen und Einvernehmen beruhe. Das wiederholte sie wie ein Mantra – so oft, dass Ebba es niemals vergessen würde. Sex ist das Privateste, Exklusivste, Intimste. Etwas, was nur zwischen zwei Individuen zustande kommen kann, die die allerhöchste Achtung voreinander haben. Sonst kann er gefährlich sein und tiefe Wunden reißen. Der Vortrag hat sich auf ewig in ihr Gehirn eingebrannt.

Dass ihre Mutter selbst Schwierigkeiten damit hat, so viel ist klar, auch wenn ihre Eltern es nie ausgesprochen haben. Aber man muss kein Genie sein, um das mitzubekommen: Jedes Mal, wenn sie sich einen Film mit einer Sexszene ansehen, ist ihre Mutter von Kopf bis Fuß angespannt.

Die Vorstellung, Ebba könnte irgendein Sexproblem ihrer Mutter geerbt haben, macht sie ganz kirre. Kann man ein Trauma erben?

Sie hat es selbst an sich festgestellt, als sie gerade frisch mit Marlon zusammen war. Sie liebt ihn, da ist sie sich vollkommen sicher – warum also hat sie solche Angst? Warum ist sie so verspannt?

Sie hat Antworten im Netz gesucht, auf Aufklärungsseiten und in Liebeshoroskopen, die sie nächtelang durchforstet hat. Und sie weiß, aus welchem Grund es ihr schwerfällt, sich jemandem anzuvertrauen, sich einem anderen komplett auszuliefern, und dass da Dinge sind, die in ihrer Vergangenheit begründet liegen, tief in ihrem Unterbewusstsein. Es hat mit dem zu tun, was vor tausend Jahren passiert ist.

Heute Nacht darf es ihr nicht in die Quere kommen.

Das, was immer im Weg war, was alles überschattet hat.

Ihre Eltern haben es eine Million Mal zu ihr gesagt.

Dass es nicht Ebbas Schuld war.

Marlon ist perfekt, aber auch seine Geduld hat natürlich Grenzen. Jungs verlieren das Interesse, wenn es zu lange dauert.

Nächstes Jahr wird sie achtzehn. Und bis dahin sind es nur noch wenige Stunden. Heute Nacht, an Silvester, an einem besonderen Ort, weitab von Eltern, die ein wachsames Auge auf sie haben, unter freiem Himmel und im Licht der Sterne. Um kurz nach Mitternacht. In den ersten flirrenden Minuten des neuen Jahres.

Das hat sie ihm versprochen.

Da wird es passieren.

Sie hat nicht vor, am Neujahrsmorgen aufzuwachen und immer noch die einzige Jungfrau auf der ganzen Welt zu sein.

4

Ihr üblicher Heimweg von der Arbeit führt sie vorbei an der kleinen Wohnsiedlung Kranglan, die halb versteckt im Wald am Ufer des Järlasjön liegt. Dort sind bereits vier, fünf Zentimeter Schnee gefallen, und als Lisa hangabwärts läuft, muss sie mit ihren flachen Schuhen aufpassen, dass sie nicht ausrutscht. Sie überquert die Fußgängerbrücke, die die Wespentaille des Järlasjön überspannt, bleibt in der Mitte stehen, holt tief Luft, lässt den Blick über den See schweifen. Zur einen Seite erstreckt sich das Wasser in Richtung der belebten Hauptstadt mit dem hell erleuchteten Hammarbybacken und dahinter dem Globen, zur anderen Seite liegen der eingemottete Wasserskiverein und die Stelle, an der das Seewasser sich in einen Flusslauf ergießt und in Richtung Saltsjö-Duvnäs strömt, wo es zu guter Letzt unterirdisch zwischen Felsen und durch Lehm hindurchfiltert und am Ende Süßwasser zur Saltsjön und zur Einmündung nach Stockholm zufließen lässt.

Die Umgebung ist eine Naturoase und liegt direkt vor den Toren des Nacka-Reservats. Der Stadtverkehr und die großen Einkaufszentren der Vororte sind angenehm weit weg. Ein riesiger roter Ziegelbau aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert ragt inmitten des Schneetreibens über den Baumkronen auf.

Heute sind dort familienfreundliche Wohnungen, zu Anfang des vorigen Jahrhunderts waren noch Frauen dort untergebracht – unter elenden, harschen Bedingungen und zur Behandlung eines Krankheitsbilds, das die Ärzte damals Hysterie nannten.

Tom hatte schon recht damit, dass es schwer für Eltern ist, wenn die eigenen Kinder erwachsen werden. Aber er kennt Lisas und Ebbas spezielle Geschichte. Er weiß, dass es für Lisa schwerer ist als für andere Mütter.

Ebba kann sich nicht daran erinnern, wie es war, als Lisa krankgeschrieben war. Trotzdem quält das schlechte Gewissen Lisa bis heute, obwohl seither so viele Jahre vergangen sind.

Heute Abend will sie eine normale, fröhliche Mutter sein, die eine schöne Silvesterfeier ausrichtet und bei den Eltern des Freundes der Tochter einen guten Eindruck macht. Jeder weiß, dass sie ihre Tochter mehr liebt als alles andere. Jetzt gilt es, allen zu zeigen, dass sie Ebba auch beim Erwachsenwerden eine Stütze sein kann. Dass ihre Liebe stark genug ist. Dass sie sie in die große, weite Welt entlassen kann. Sie wird für sie da sein, wann immer Ebba fantastische Dinge erlebt, und ebenso in den Momenten, in denen ihr das Herz gebrochen wird.

Weil sie selbst weiß, wie es ist, wenn ein junges Herz bricht.

Machen sie einander deshalb Neujahrsgeschenke?

Tom hat nur eine dumme, unbedachte Frage gestellt.

Sie sieht erneut auf die Uhr. Keine zwei Stunden mehr, bis Marlons Familie kommt. Lisa stapft den Hang hinauf, der vom Spazierweg bis zu ihrem Haus führt. Dort, wo es steiler wird, nimmt sie leicht Anlauf und stemmt die Füße fest in den Boden, um das letzte Stück zu erklimmen. Ihre Sohlen finden im Neuschnee keinen Halt, und sie stürzt vornüber, kann sich gerade noch abstützen, doch im selben Moment schießen ihr Schmerzen ins Handgelenk. Sie starrt ihre Hand an, dreht sie vorsichtig in alle Richtungen. Die Schmerzen ziehen bis hoch in die Achsel. Sicher nicht gebrochen, aber eindeutig verstaucht.

Scheiße.

Wie soll sie jetzt die Gastgeberin spielen, wenn sie nur eine funktionierende Hand hat?

Als sie zu Hause ankommt, pulsiert das verletzte Handgelenk immer noch. Sie öffnet die Haustür und spürt ihr Handy in der Manteltasche vibrieren, als sie über die Schwelle tritt. Tom ruft an.

Sie zögert kurz. Ist der Patient aus der Drei gerade gestorben? Aber deshalb ruft Tom doch nicht an, für solche Fälle gibt es festgelegte Abläufe. Vielleicht hat er nur vergessen, wie das mit der Inventur geht?

Sie drückt auf das grüne Symbol auf dem Display und meldet sich.

»Lisa, wir haben ein Riesenproblem.«

Es ist Toms Stimme, allerdings in einer Tonlage, die sie von ihm nicht kennt.

»Was ist los?«, fragt sie.

»Hier ist eingebrochen worden.«

5

Die Medikamente werden streng nach Vorschrift in einem verschließbaren Schrank aufbewahrt. Sie versteht nicht, wie sich ein Dieb dort hat Zugang verschaffen können, ohne dass irgendwer vom Personal es bemerkt hat.

Tom wollte wie versprochen die Inventur machen. Als er den Medikamentenschrank öffnete, war auf einen Blick klar, dass darin etwas nicht stimmte. Das Fach mit den stärksten, als Betäubungsmittel eingestuften Präparaten war durchwühlt worden. Das Undenkbare war passiert: Jemand hatte die potentesten Medikamente aus dem Hospiz entwendet. Gemäß Sicherheitsprotokoll informierte er umgehend die Polizei, anschließend kontaktierte er Pflegeeinrichtungen in der näheren Umgebung und bat dort um Hilfe, damit sie die Nacht und den folgenden Feiertag überstehen würden.

Noch immer in ihrer Wintergarderobe steht sie im Flur. Und ihr ist schlecht. Was Tom erzählt hat, ist fürchterlich. Fentanyl ist unter Junkies immer beliebter geworden, doch weder die Junkies selbst noch die Dealer wissen, womit sie es zu tun haben. Das Fentanyl, das Lisa und ihre Kollegen einsetzen, ist fünfzigmal stärker als Heroin. Es muss von sachkundigem Personal genauestens dosiert und darf nur Patienten verabreicht werden, die kein anderes Analgetikum bekommen können.

Aber das ist ihnen anscheinend egal, den Dieben und Dealern.

Sie hat eine Doku im Fernsehen gesehen – darüber, wie der zunehmende Fentanyl-Konsum Städte in Russland und im Baltikum in Zombiezonen verwandelt, in denen junge Leute sich von einer Dosis zur nächsten hangeln, ohne zu wissen, ob sie noch einmal aufwachen. Ist das jetzt wirklich auch hier angekommen? In Schweden, in Nacka und Storängen?

Sie hofft inständig, dass sie nie auf einen von denen trifft, die ihr Geld mit dem Leid anderer verdienen. Sie wüsste nicht, wozu sie imstande wäre.

Ihr wird eiskalt. Sie versucht, sich einzureden, dass ihr Gefühl völlig irrational ist. Sie ist schließlich nicht schuld an dem, was passiert ist.

Trotzdem fühlt es sich an wie ein Übergriff.

So wie damals, als sie selbst das Opfer war, könnte sie momentan nicht sagen, ob sie jemals verstehen wird, wie und weshalb das passieren konnte. Sie weiß lediglich, wer die Opfer sind. Die sind nicht schwer zu benennen.

Das Maria Regina wurde gegründet, um den Kränksten in der Gesellschaft Pflege angedeihen zu lassen, jenen, die in den letzten Tagen auf Erden unbeschreibliche Qualen leiden. Doch jetzt sind die Sicherheit und die Geborgenheit in Gefahr – für Patienten, Kollegen und Angehörige. Wenn es Tom nicht gelingt, Ersatzmedikamente zu organisieren, gerät das Personal in Panik, und die Patienten müssen in ihrer letzten Silvesternacht unerträgliche Schmerzen erleiden.

Sie muss an den Ica-Mann denken, Albrektsson, der sich bald mit Familie und Freunden draußen im Garten niederlassen will. Hoffentlich hat Tom bis dahin zumindest ein bisschen Morphium besorgt, damit dem Mann das Schlimmste erspart bleibt.

Ist heutzutage denn gar nichts mehr heilig?

Bei dem Gedanken wird ihr schwarz vor Augen.

Tom hat so komisch geklungen, als er anrief; fast hätte sie ihn nicht wiedererkannt. Seine übliche Gelassenheit war wie weggefegt. Vielleicht war es der Schock, der diese Unruhe in ihm ausgelöst hat, die ihr an ihm so fremd war – oder vielleicht eine Art Selbstschutzmechanismus?

Dabei hat sie doch keinerlei Grund zu der Annahme, dass Tom etwas falsch gemacht haben könnte?

Er war ins Lager gegangen und hatte den Medikamentenschrank mittels Chipkarte und Zifferncode geöffnet. Allein, ohne Zeugen.

Hat er die Gelegenheit, die sie ihm unverhofft verschafft hatte, ausgenutzt? Seine Chance gewittert, ein bisschen zusätzliches schnelles Geld zu verdienen? Aber als Arzt verdient er doch gut, und er hat keine großen Ausgaben für Haus und Familie. Er trinkt nicht mal Alkohol.

Gott, dass sie überhaupt darüber nachdenkt! Sie kennt Tom seit zwanzig Jahren. Seit damals arbeiten sie eng zusammen, sind gute Freunde und mehr.

Aber wie kann niemand etwas bemerkt haben?

Sie hätte die Inventur selbst machen müssen. Vielleicht wundert sich Tom, warum sie sich nicht selbst darum gekümmert hat, obwohl das ihre Aufgabe ist und sie es bislang doch auch immer selbst gemacht hat. Klang er deshalb so komisch? Weil er sich nicht recht traute, sie direkt zu fragen?

Dann kommt ihr ein Gedanke, und alles in ihr zieht sich zusammen.

Die Chipkarte.

Die hat sie den ganzen Tag nicht gebraucht.

Schlagartig macht sich Angst in ihr breit. Ihr Hals fühlt sich starr an, als hätte sie jemand in den Würgegriff genommen. Plötzlich ist ihr viel zu warm in ihrem Mantel, es kribbelt überall, sie ahnt, dass das Blut nur so durch ihre Adern rauscht. Ihr Kopf fühlt sich schwerelos an und ihr wird leicht schwindlig.

Dieses Gefühl hatte sie lange nicht mehr – ein Gefühl, das sie über Jahre ans Bett gefesselt hat. Diese abgrundtiefe Verunsicherung, als könnte sie auf nichts und niemanden vertrauen. Als wäre kein Ort mehr sicher. Als würde der Boden unter ihr nachgeben.

Sie darf nicht zulassen, dass die Panik überhandnimmt, sie wieder dorthin mitnimmt, nicht noch einmal … Sie muss sich daran festklammern, dass auf sie selbst und auf ihre Kollegen Verlass ist. Sie muss sich an feste Routinen halten. Die Ungewissheit in kleine, hantierbare Häppchen zerlegen und dann eins nach dem anderen angehen. Sie weiß noch gut, was sie sich geschworen hat – was sie Ebba für den Abend versprochen hat. Wenn sie sich nicht schleunigst beruhigt, geht alles in die Binsen.

Sie schiebt ihr Handy in die Manteltasche und greift zu ihrer Handtasche. Mit den Fingern kramt sie zwischen Lippenstift, Monatskarte, Haargummis, Kaugummipäckchen und Kassenbons herum. Die Chipkarte findet sie nicht.

Sie holt tief Luft und sucht erneut, langsam und diesmal anfangs systematischer, doch dann kann sie sich nicht mehr beherrschen. Sie dreht die Handtasche um, schüttelt nach Kräften, bis alles, was die Tasche enthalten hat, auf dem Fußboden gelandet ist. Dann geht sie in die Hocke, durchwühlt alles, fährt mit den Händen alles ab.

Doch die Chipkarte bleibt verschwunden.

6

»In der Arbeit ist eingebrochen worden.«

Mikael steht an der Küchenspüle, nickt zum Takt der Musik aus dem Radio und bereitet in einer großen Karaffe den Aperitif für heute Abend vor. Als er Lisa sieht, dreht er die Lautstärke runter.

»Was hast du gesagt?«

»Es gab einen Einbruch. Ich muss also noch mal zurück und mit der Polizei reden.«

»Ist denn etwas geklaut worden?«

»Medikamente«, antwortet Lisa. »Starke, gefährliche Schmerzmittel.«

Er kommt auf sie zu und nimmt ihre Hände.

»Au! Ich bin unterwegs ausgerutscht«, erklärt sie ihm. »Ich muss mir das Handgelenk verbinden.«

»Ist es was Ernstes?«

»Nein, sicher nicht, bloß eine Stauchung – aber der Einbruch, der ist ernst.«

In ihrem Augenwinkel schimmert eine Träne.

»Hast du den Autoschlüssel?«, fragt sie dann.

»Nein«, antwortet Mikael knapp und verdreht die Augen, als hätte sie gerade die dümmste Frage überhaupt gestellt. »Guck im Schlüsselkasten nach.«

Er blickt ernst drein, womöglich wütend – oder zumindest irritiert.

»Die sollten wir in den Kühlschrank stellen«, sagt Lisa mit Blick auf die Vorspeise, die auf der Kücheninsel bereitsteht: sechs Krabbencocktails, schön dekoriert, in Orrefors-Kristallschälchen.

»Da hast du recht.«

»Das hast du echt schön gemacht – es ist nur, dass …«

»Tu, was du nicht lassen kannst, Lisa.«

Er dreht sich von ihr weg und geht wieder an der Küchenspüle zu Werke.

Er trägt eine enge Hose, die wie eine zweite Haut an seinen schlanken Beinen sitzt. Einen dünnen schwarzen Strickpulli, den Lisa für einen Siebenundvierzigjährigen insgeheim für zu kurz hält, weil sofort der Bauch hervorblitzt, wenn Mikael sich nach etwas ausstreckt. Er war nach Weihnachten beim Friseur, hat die gleiche Frisur wie seit einigen Jahren, seit er anfing, mit dem Rad statt mit dem Auto zu fahren. Die kurz geschnittenen Haare verleihen ihm eine gewisse Härte, aber das scheint er zu mögen. Sie rahmen seine schmale, spitze Nase und die Kinnpartie in einer Art höheren symmetrischen Ordnung ein – allerdings sieht er so auch leicht ausgezehrt aus.

»Tut mir leid«, sagt sie, »ich bin gerade nur ein bisschen durch den Wind.«

»Hoffentlich findest du wenigstens das gut, was ich mir als Aperitif ausgedacht habe«, sagt Mikael noch immer mit dem Rücken zu ihr. »Dein früherer Lieblingsdrink – Southern Comfort mit Bitter Lemon. Just like the good old days.«

The good old days.

Als sie noch jung und an der Uni waren.

Der Wink ist angekommen. Lassen wir an diesem Abend mal alles hinter uns und haben Spaß, so wie früher. Sei die Frau, die ich mal geheiratet habe. Genau das hat er sich dabei gedacht. Für sie fühlt es sich an wie die Besteigung des Mount Everest.

»Vielleicht muss ich auch gar nicht hinfahren«, sagt Lisa. »Aber ich hab meine Sporttasche im Auto vergessen, da muss meine Chipkarte drin liegen, die hab ich gestern dort verstaut, als ich im Friskis war.«

»Dann geh endlich nachsehen, verdammt.«

Sie kehrt in den Flur zurück, nimmt sich den Autoschlüssel und hastet nach draußen, joggt runter zum Carport. Wind und Schneefall haben zugenommen. Sie zieht ihren Mantel enger um den Leib. Da braut sich ein ordentlicher Schneesturm zusammen.

Noch auf dem Weg zum Carport bleibt sie abrupt stehen. Der Boden ist mit Glitter übersät – allerdings nicht mit Eiskristallen.

Eins der hinteren Autofenster ist eingeschlagen worden.

Vorsichtig geht sie auf den Wagen zu. Er ist der Witterung ausgesetzt und ausgekühlt. Sie starrt auf die Rückbank hinab, auf das dunkelgraue Sitzpolster, auf dem ihre Sporttasche gelegen hat. Nie hat das Auto so leer ausgesehen.

Schlagartig ist ihr speiübel. Doch es ist nicht ihre Panik – dieses altbekannte Gefühl, das sie seit damals verfolgt und jetzt wieder an die Oberfläche kommt. Das hier ist etwas Neues.

Ihre Tasche wurde gestohlen.

Ihr erster Impuls ist, Tom anzurufen, doch dann fällt ihr wieder ein, wie aufgewühlt er klang. Und was sollte sie ihm erzählen?

War es ihre Chipkarte, mit der sie sich Zugang zum Heim verschafft haben? Sie will gar nicht darüber nachdenken, welche Konsequenzen das haben könnte. Vielleicht wird sie sogar gefeuert. Würde die Polizei der Heimleitung mitteilen, dass es gar nicht erst zu dem Einbruch gekommen wäre, wenn sie nicht so nachlässig gewesen wäre? Oder würden sie sogar denken, dass sie … Nein, den Gedanken will sie gar nicht erst zu Ende denken.

7

Ebba zieht die Tür auf und späht den Flur hinunter. Was war das gerade? Ihr Vater ist laut geworden, und ihre Mutter ist durch die Haustür rein und wieder raus. Haben sie sich schon wieder gestritten?

Als Lisa die Treppe hochkommt, fragt Ebba: »Was ist denn los?«

Ihre Mutter atmet schwer und sieht aus, als würde sie verzweifelt versuchen, Ruhe zu bewahren.

»In der Arbeit ist etwas passiert.«

Sie geht an Ebba vorbei in die Küche. Ebba läuft ihr hinterher.

Mikael, der die Ärmel hochgeschoben hat und Zitronen schneidet, blickt auf.

»Hast du die Tasche?«, fragt er.

Lisa schüttelt bloß den Kopf. Sie sieht aus, als wäre sie draußen einem Gespenst begegnet.

»Ich weiß wirklich nicht, ob wir heute Abend noch Gäste haben können.«

»Wie bitte?«, kreischt Ebba. »Das ist nicht dein Ernst! Kapierst du überhaupt, wie peinlich das ist? Du verarschst mich ja wohl!«

»Okay, ihr zwei, jetzt mal in aller Ruhe«, fährt Mikael dazwischen.

»Mal wieder cool, dass dein Job am wichtigsten ist«, sagt Ebba. »Jedenfalls wichtiger als die Frage, wie es irgendwem in dieser Familie geht.«

»Ebba, hör auf«, sagt Mikael. »Jetzt bist du ungerecht.«

»Bei uns ist eingebrochen worden. Ich muss mit den Kollegen und eventuell auch mit der Polizei reden, weil Medikamente gestohlen wurden.«

»Warum ist das so wichtig? Warum müssen wir deshalb das Essen absagen?«

Mikael sieht Lisa unverwandt an. Sie schließt die Augen, beißt die Zähne zusammen. Ebba kann sehen, wie die kleinen Muskeln im Kiefer sich wie Beulen vorwölben. Wenn sie noch härter zubeißt, bersten ihr die Zähne.

»Mir ist klar, dass so ein Einbruch eine ernste Sache ist«, sagt Ebbas Vater. »Aber lass die Polizei doch erst mal ihre Arbeit machen. Du kannst da sowieso nichts ausrichten.«

»Zum einen müssen wir Ersatzmedikamente besorgen, zum anderen kann ich wie gesagt meine Karte nicht finden …«