Der Agent, der aus den Wolken fiel - John Gardner - E-Book

Der Agent, der aus den Wolken fiel E-Book

John Gardner

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Beschreibung

Agent Boysie hat zwar Erfolg, dennoch nehmen seine Gegner ihn nicht sonderlich ernst: Boysie ist alles andere als ein Held ... Als dann die Gegenseite einen Doppelgänger auf ihn ansetzt, inszeniert Boysie mit seinem Double jedoch ein Doppelspiel, daß die Fetzen fliegen ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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John Gardner

Der Agent, der aus den Wolken fiel

Aus dem Englischen von Willy Thaler

FISCHER Digital

Inhalt

Prolog; Moskau, Juni1234567Epilog; San Diego, Juli

Prolog; Moskau, Juni

Es war warm. Zu warm für Chawitschew, der nach zehn qualvollen Minuten in dem drückend heißen Raum eines der hohen Fenster mit den Samtvorhängen geöffnet hatte. Jetzt beugte er sich hinaus, wobei er die Hände aufs Fensterbrett stützte. Sein kurzgeschorenes Haar glänzte wie Kornstoppeln in der Sonne. Zu seiner Linken konnte Chawitschew die spiralenförmigen Kuppeln der St.-Basilius-Kathedrale sehen, ein leuchtendes Lebkuchengebäude für sich in der kopfsteingepflasterten Weite des Roten Platzes. Auf der anderen Seite der Straße bildete das Leninmuseum einen rostroten Hintergrund für die umherschweifenden Touristen, die zum Platz drängten, gafften oder schweigend in der langen Reihe standen, die bis zum Leninmausoleum reichte.

Unter den Fremden mit ihren teuren Filmkameras, den schwitzenden, konventionell gekleideten Stadtmenschen und den Leuten vom Land, die selbst in ihren geblümten Kleidern farblos wirkten, bemerkte er eine kleine Gruppe Teenager, mit übertriebenem Make-up und Kunstlederkleidung den Westen nachäffend – die Stiljagi, Moskaus Jet-set. Chawitschew erinnerte sich nicht ohne ein gewisses Unbehagen an den Artikel, den er im vorigen Jahr von der Informationszentrale bekommen hatte – einen Ausschnitt aus der Londoner Sunday Times. Darin stand, daß die russischen jungen Mädchen nach schwarzer Nylonunterwäsche verlangten. Gefährliche Dekadenz, dachte er, wandte sich um und sah wieder ins Zimmer.

Chawitschew war ein großer Mann, in jedem Sinn des Wortes. Ein Meter fünfundachtzig ohne Schuhe, mit Schultern wie die Rückenlehne eines gutgepolsterten Armstuhls. Sein Gesicht war hart – mit einer Haut wie alte Eichenrinde. Es verriet kaum jemals irgendeine Gefühlsregung. Das einzige, das die Gefährlichkeit dieses Mannes ahnen ließ, waren seine Augen. »Chawitschews Augen«, hatte einmal der Präsident des Obersten Sowjets bemerkt, »haben die Kraft einer sachkundig gehandhabten Peitsche. Sie sehen einen nie an. Sie geben entweder einen Klaps, peitschen oder liebkosen.«

In diesem Augenblick zwinkerten sie, wie immer, wenn etwas Großes bevorstand. Chawitschew, Direktor der sowjetischen Gegenspionage und Subversivtätigkeit, kannte seine Grenzen. Er war immer ein wenig wachsamer, wenn er einen Einsatz plante, der seine eigene Machtbefugnis eventuell überschreiten konnte.

Er warf einen Blick auf die Uhr. Drei Uhr zehn. Die Konferenz war wie immer für drei Uhr fünfzehn anberaumt. Er ging zu dem großen nierenförmigen Tisch. Sein leichtes Hinken – Folge eines Messerstiches in einem Gäßchen in Tanger – war kaum zu merken. Er setzte sich auf seinen gewohnten Platz in der Mitte und betrachtete die längliche Projektionswand gegenüber. Die Finger seiner linken Hand strichen langsam über die Reihe der farbigen Knöpfchen, die bequem neben dem ledernen Löschblock angeordnet waren. Er drückte auf den blauen Knopf und sprach in das Tischmikrophon, das ihn mit dem Projektionsraum verband.

»Ist alles bereit?«

»Alles bereit, Genosse General.« Die Antwort kam prompt aus dem Lautsprecher oberhalb der Kinowand.

»Zuerst sehen wir den Spezialfilm. Vor der Hauptsache. Die Mosaike von San Diego brauchen wir erst später.«

»In Ordnung, Genosse General.«

Chawitschew drückte auf den weißen Knopf. Als habe er einen Federmechanismus berührt, sprang die Tür rechts von der Leinwand auf. Ein junger Armeeleutnant erschien.

»Genosse General?«

»Es dauert nicht lange. Ist er gekommen?«

»Er ist jetzt da, Genosse General. Wollen Sie ihn sprechen?«

»Ist nicht nötig. Weiß er, was er zu tun hat?«

»Ganz genau.«

»Schön. Ich werde läuten, wenn wir ihn brauchen.«

»Jawohl, Genosse General.«

»Anschließend können Sie ihn direkt wieder in die Villa zurückfahren. Um vier, glaube ich, hat er bei Professor Engler Unterricht.«

Der Leutnant nickte. Chawitschew hob herrisch die Hand. Ein Zeichen der Entlassung. Der Leutnant stand sofort stramm, machte kehrt und schloß die Tür hinter sich. Fast im gleichen Augenblick wurden die großen Doppeltüren des Raumes von zwei uniformierten Wachen aufgestoßen. Sie hatten in diesem Teil des Gebäudes immer Dienstag nachmittags Dienst, wenn die wöchentliche Konferenz der Stabsleiter stattfand.

Chawitschew stand auf, und seine Lippen deuteten ein Lächeln an, als er seine Abteilungsleiter begrüßte: Artschejew vom Marine-Geheimdienst, jung, schlank, mit jenem gewissen femininen Anstrich, der oft Marineoffizieren eigen ist, die mit der See verheiratet scheinen; Porovsky, Leiter der Armee-Gegenspionage, untersetzt, mit der unverkennbaren Rücksichtslosigkeit des ehemaligen OGPU-Mannes; und Warlamow, Leiter der strategischen Luftspionage, mit einem aufgeblasenen, sarkastischen Gesicht und einem wachen Verstand, der – wie Chawitschew oft fürchtete – mehr Geheimnisse kannte als sonst jemand in Rußland.

Einer der Soldaten ging schnell zu den Fenstern und zog die Vorhänge vor. Die beiden großen Kronleuchter flammten auf.

Nach den üblichen Formalitäten wurden die Türen geschlossen, und die vier Männer nahmen ihre Plätze am Tisch ein. Chawitschew knöpfte seinen engen Rock oben auf, räusperte sich und begann zu sprechen: präzis, fast beiläufig. Mit einem Minimum an Worten gab er ein Maximum an Informationen.

»Bevor wir zur Hauptsache kommen, Genossen, habe ich eine Überraschung für Sie. Wir werden einen Film sehen. Über einen Mann. Sehen Sie sich ihn genau an. Für Sie, Genosse Warlamow, dürfte er besonders interessant sein.« Er warf einen raschen Blick auf den Mann von der Luftwaffe und drückte auf den blauen Knopf. Das Licht verlosch, und auf der Leinwand wurde es lebendig.

Der Film zeigte Londons Whitehall: Die Kamera blieb einen Augenblick auf das Zenotaph gerichtet, dann fuhr sie auf eine unscheinbare Tür zu. Die Tür öffnete sich. Ein Mann trat in den wäßrigen Sonnenschein, blieb am Rand des Gehsteigs stehen und hielt nach einem Taxi Ausschau. Die Kamera fuhr näher, und Chawitschew lächelte befriedigt, als er Warlamow kurz tief Atem holen hörte. Der Mann im Bild war groß, er hatte den wohlproportionierten Körper eines Sportlers. Nach westlichem Maßstab mußte man ihn zweifellos als gutaussehend bezeichnen: Die glatte sonnengebräunte Haut stand im Gegensatz zu den distinguiert wirkenden grauen Schläfen. Sein linker Mundwinkel war leicht hochgezogen. Ein Mund, dachte Chawitschew, der Frauen faszinieren mußte. Aber das Auffallendste an dem Mann – wie bei Chawitschew – waren seine Augen: klar und stahlblau lachten sie in die Kamera.

Fünf Minuten lang saßen sie schweigend da und beobachteten den Mann – wie er von der Westminster-Brücke auf den Fluß hinuntersah, im Hydepark spazierenging, vor dem Londoner Hilton Hotel lächelte und sich elegant gegen das Geländer vom Buckingham Palace lehnte. Schließlich eine Reihe von Nahaufnahmen – von vorne, linkes Profil, rechtes Profil. Die Leinwand wurde weiß und die Lichter flammten wieder auf. Einer der Soldaten zog die Vorhänge zurück. Eine geradezu unangenehme Spannung erfüllte den Raum. Endlich sprach Chawitschew.

»Der Mann in diesem Film ist für Frauen besonders empfänglich. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß die Agentin, die diese Aufnahmen gemacht hat, ihre Ehre aufs Spiel setzte – und ich darf hinzufügen, sie verlor. Im Dorcheser Hotel, glaube ich. Aus Sicherheitsgründen steht ihr Name jetzt auf der Liste der ausgezeichneten Künstler der Republik.«

Niemand rührte sich. Chawitschew fuhr fort: »Wir haben ein Mitglied der britischen Abwehr gesehen. Sein Name ist Brian Ian Oakes. Er ist etwa fünf- bis sechsundvierzig Jahre alt und hat bei seinen engen Freunden den besonders widerlichen Spitznamen ›Boysie‹. Sein Kodebuchstabe ist ›L‹, und er war geraume Zeit der erste Liquidieragent der Abteilung. Bis zum letzten Jahr gerechnet, hat er den Tod von mindestens fünfundzwanzig unserer Agenten auf dem Gewissen.«

Chawitschew machte eine Pause und sah nacheinander jeden einzelnen seiner Abteilungsleiter an. »Wir wurden jedoch informiert, daß der Mann nicht ganz so ist, wie er aussieht. Im Laufe des Frühlings und Frühsommers letzten Jahres wurden wir immer sicherer, daß der Mann in Wirklichkeit ein neurotischer Dummkopf ist. Es gab sogar Beweise dafür, daß er die Liquidierungen nicht selbst ausführte.«

Chawitschews Stimme wurde eisig und scharf. »Es stellte sich aber heraus, daß wir im Irrtum waren. Mr. Boysie Oakes erwies sich als höchst schmerzhafter Dorn in unserem Fleisch bei dem völlig mißlungenen, falsch angelegten und verfehlten ›Unternehmen Krönchen‹, das Genosse Warlamow geplant hat. Sie erinnern sich an Mr. Boysie Oakes, Genosse?«

In Warlamows Gesicht spiegelte sich unterdrückte Wut: »Ich erinnere mich an ihn, Genosse General«, sagte er ruhig, aber mit einem giftigen Unterton.

»Gut. Dann schauen Sie auf diese Tür.« Chawitschew wies auf die Tür rechts von der Leinwand. Seine linke Hand glitt zu dem weißen Knopf. Die Tür öffnete sich, und ein Mann trat langsam in den Raum zwischen Tisch und Leinwand.

Wenn der Neuankömmling ein nacktes Monstrum gewesen wäre, hätte die Wirkung seiner Erscheinung nicht größer sein können. Warlamow erhob sich halb, seine Lippen formten einen lautlosen Fluch. Die anderen erstarrten: Der Mann, der vor dem Oberkommando der russischen Spionage stand, glich in jeder Hinsicht Boysie Oakes, dem ehemaligen Beseitigungsspezialisten des britischen Geheimdienstes.

»Erstaunlich«, meinte der Direktor. »Mr. Boysie Oakes, wie er leibt und lebt.« Warlamow entfuhr ein lauter Fluch. Chawitschew lächelte weiter.

»Bitte gehen Sie noch einen Augenblick herum«, sagte er zu dem Mann, der zurücklächelte, dann entließ er ihn kurz und wandte sich wieder an seine Offizierskollegen.

»Nur zu Ihrer Information. Wir haben diesen Mann ganz durch Zufall entdeckt. Er war vor acht Monaten Angestellter in einer Traktorenfabrik. Zu unserem Glück ein intelligenter Angestellter. In wenigen Tagen wird er eine strenge Ausbildung beendet haben. Er geht, spricht, ißt und, ich fürchte, denkt wie Mr. Boysie Oakes. Unsere besten Spezialisten haben pausenlos an ihm gearbeitet. Er wurde nach den neuesten Methoden der Hypnose und Tiefschlafunterweisung behandelt. Sein wirklicher Name ist Wladimir Solew. Im Hinblick auf den Kodenamen unseres Freundes Oakes nenne ich ihn lieber ›Doppel-L‹.«

Noch nie hatten sie Chawitschew wirklich lachen gehört. Das Kichern schien tief in seinem Innern zu beginnen und ging in ein hexenartiges Keuchen über. Das Lachen Chawitschews hört sich nicht angenehm an, dachte Warlamow. Der Direktor zügelte seine Heiterkeit und sprach wieder.

»Ich habe mich noch nicht entschieden, wie oder wann wir Solew einsetzen werden. Oakes selbst wurde von seinen Liquidierungspflichten entbunden. Er scheint im Augenblick verhältnismäßig harmlose Kurierarbeit zu leisten. Aber ich bin sicher, meine Freunde, die Zeit wird kommen, da wir Mr. Oakes und den Genossen Solew vertauschen können, und es wird sehr zu unserem Vorteil sein.«

Er blickte beinahe gütig um sich. »Schön. Jetzt zur Arbeit. Die Planänderung ist definitiv. London und Washington scheinen einen ausgezeichneten Zeitpunkt für ihr Picknick gewählt zu haben. Also verwerfen wir unsere ursprüngliche Stufe drei und beschäftigen wir uns mit der neuen Lage. Ich hatte Verbindung mit U-Eins – Gorilka. Er sagt, die Dinge lassen sich arrangieren, ohne daß die ursprünglichen Anfangsstufen weitgehend abgeändert werden müssen. Bevor wir die Einzelheiten des unglückseligen Unfalls besprechen, möchte ich auf die politischen Folgen eingehen, die bei eventuellen militärischen Auswirkungen geplant sind …«

Die drei Stabschefs konzentrierten ihre Gedanken auf den wichtigsten Punkt des Tagesprogrammes – Stufe drei der komplizierten Operation, die vielleicht der lähmendste Schlag sein würde, den die westlichen Alliierten je bekommen hatten. Draußen in der Sonne fuhr Wladimir Solew in einer großen schwarzen Zis-Limousine – mit zugezogenen Vorhängen – zurück zu seiner Privatvilla auf den Leninhügeln bei der Universität.

1

Miss Priscilla Braddock-Fairchild zog ihr mitternachtsblaues Spitzenhöschen hoch. Auf dem Bettrand sitzend, begann sie dann ihre Strümpfe – Ballito Laceline – über die hübschen Waden und die wundervollen Schenkel gleiten zu lassen. Sie sah auf Boysie hinunter, der in tiefen Schlaf gesunken war. Die Kabinenwände erzitterten von dem ständigen Klopfen der großen Schiffsturbinen.

»Wach auf, Boysie«, flüsterte Miss Priscilla Braddock-Fairchild in sein Ohr. »Wach auf. Ich muß zurück in meine Kabine. Es ist sechs Uhr.« Boysie kuschelte sich tiefer ins Kissen und brummelte nur.

»Boysie, wach doch auf!«

Er öffnete ein Auge. Der Anblick von Miss Braddock-Fairchild veranlaßte ihn, auch das andere Augenlid aufzuklappen und sich ihr genießerisch zuzuwenden.

»Schau – schau!« girrte Boysie Oakes wollüstig. »Dreh dich doch um, meine süße Angeberin.«

»Nein, jetzt nicht, ich schleich mich zurück in meine Kabine, Liebling. Um drei legen wir an, und ich muß halbwegs wach aussehen, wenn Daddy mich abholt.« Sie wollte eben das goldene Abendkleid, das sie vor vier Stunden ausgezogen hatte, über den Urwald ihres tiefschwarzen Haares ziehen. Boysie seufzte, als schickte er sich drein.

»Also gut«, sagte er und griff wie beiläufig an eine Stelle gerade hinter ihrem rechten Knie.

Eine Stunde später kleidete sich Miss Braddock-Fairchild wieder an und verließ die Kabine. Boysie, nun hellwach, lag auf dem Rücken, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und schwelgte in Erinnerung an Priscilla. Sie hatten einander im Karibischen Saal am ersten Abend nach der Ausfahrt aus Southampton vor fünf Tagen kennengelernt. Sie war ein heißes Prachtgeschöpf, und Boysie hatte mit der traditionellen Selbstsicherheit des Briten auf See reagiert. Es hatte Martinis gegeben, Gin, und es war getanzt worden, Bingo, man knutschte sich auf dem Bootsdeck, trank weitere Martinis – zur Begleitung von Sam Hopkins und seinem Trio in der Sirenen-Bar – und noch mehr Gin und – wie könnte es anders sein –, von der zweiten Nacht an herrschte Sinnenrausch in Kabine B 236, auf Steuerbord.

Boysie war zufrieden. Seit er nach seinem letzten Urlaub erfahren hatte, daß der Geheimdienst seine Dienste als Liquidator nicht mehr brauchte, waren die gigantischen Neurosen, die so lange die Infrastruktur seiner Psyche gebildet hatten, plötzlich verschwunden. Mostyn, der Stellvertretende Leiter, deutete eventuelle dunkle Aufträge an; aber bis jetzt hatte man Boysie bloß ein paar einfache Kurieraufträge gegeben. Stimmt, sie waren nicht immer so glatt verlaufen, wie er es gern gesehen hätte. Da war die Geschichte mit der Raketentreibstofformel, die ihm entfallen war, was eine zusätzliche Hin- und Herreise nach Berlin nötig gemacht hatte; und die schreckliche Unannehmlichkeit mit den NATO-Karten, die er aus Versehen in der Toilette jenes kleinen Bistros gegenüber von der Gare du Nord gelassen hatte. Aber das gehört eben zum Beruf, dachte Boysie. Er war nicht der erste Agent, der einen Schnitzer begangen hatte, und um gerecht zu sein, der Chef wie auch Mostyn hatten dafür Verständnis gezeigt.

Jetzt würde er in New York eine Nacht verbringen, um die neuen Kodeänderungen zu übermitteln, die ihm in einer vierstündigen Sitzung von Mostyn eingetrichtert worden waren – dann ging es zurück an Bord der Elizabeth. Sicher würde es auf der Rückfahrt auch ein Gegenstück zu Miss Braddock-Fairchild geben. Das Leben war schön, die Elizabeth pflügte gleichmäßig auf die Hudsonmündung zu.

Aber gerade in diesem Augenblick, während Boysie über sein Glück nachdachte, empfing der Funkraum des Schiffes ein Telegramm. Es war an Mr. Brian Oakes gerichtet und war, gelinde gesagt, ein Vorbote des Chaos.

 

Das Telegramm stammte aus dem hohen, dunklen Gebäude gleich neben Whitehall, das dem Geheimdienst als Hauptquartier diente. Um drei Uhr dreißig am vergangenen Nachmittag, nach einem langen und etwas feuchtfröhlichen Mittagessen mit einem früheren Verteidigungsminister im Athenaeum, war der Chef im Zustand höchsten Ärgers in seinem Büro auf und ab marschiert. Auf und ab gehen war des Chefs beliebteste Methode, um Zorn abzureagieren, eine Gewohnheit aus früheren Zeiten, als er auf den Brücken einiger von Englands unbezwinglichen Kriegsschiffen gedient hatte.

Der Chef war etwa fünf Minuten lang auf und ab gegangen, wobei er in regelmäßigen Abständen auf den Klingelknopf der Direktverbindung zu Mostyns Büro gedrückt hatte, ehe sein Stellvertreter, klein und verbindlich wie ein erstklassiger Schwindler, eiligst durch die Tür gesegelt kam.

»Sie wollten mich sprechen, Sir?« In Mostyns Stimme schwang fast immer ein verbindlicher, beinahe verführerischer Ton freundlicher Drohung mit.

»Nein, Mostyn. Ich stärke bloß meine verdammten Fingermuskeln für den olympischen Wettbewerb im Flohhupfspiel.«

»Angeblich sehr gesunde Übung, Sir.« Mostyn wußte gewöhnlich, wie weit er bei dem Chef gehen konnte. Er erkannte rasch, daß der bärbeißige Alte heute nicht zum Spaßen aufgelegt war.

»Wo im Namen der großen Hure von Maida Vale waren Sie denn?« Der seltsame Fluch klang eisig, es fehlte ihm die Wärme richtigen Zornes.

Mostyn hatte bei einem exquisiten Mittagessen im Tiberio mit einem reizenden Mitglied der Königlichen Oper geschäkert. Gewöhnlich verstand er den Chef zu nehmen, wenn dieser schlechter Laune war. Aber er erkannte sofort, daß er diesmal nicht bloß schlechter Laune war.

»Ist etwas los, Sir?« Seine Stimme klang ruhig, aber er war trotzdem ein wenig besorgt. Der Chef unterbach seinen Marsch und wandte sich Mostyn zu.

»Etwas los?« Er wiederholte Mostyns Worte, als seien sie in einer toten Sprache gesprochen worden. Unglückseligerweise wählte seine Sekretärin diesen Augenblick, um an die Tür zu klopfen und den Nachmittagstee hereinzutragen.

»Ihr Tee, Sir.«

Die Antwort des Chefs war weniger obszön als völlig unwiedergebbar. In einer bewundernswerten Rede von etwa 40 Worten umriß er ein halbes Dutzend abwegiger Zerstreuungen, die seine Sekretärin mit Teetasse, Untertasse und drei verschiedenen Teesorten, einschließlich seiner eigenen Lieblingsmischung Assam Spezial, versuchen solle.

Die Sekretärin, eine blonde Sexbombe, die bereits vor geraumen Jahren explodiert war, hatte im Laufe ihrer Stellung bei den leitenden Herren der Abwehr schon viele so erniedrigende Momente erdulden müssen. Geduldig blieb sie mit dem Tablett stehen, bis der Chef fertig war.

»Hier oder in meinem Büro?« fragte sie, ohne zu lächeln.

»Scheren Sie sich fort!« sagte der Chef.

»Sehr wohl, Sir.«

Insgeheim nahm er sich vor, ihr morgen ein Dutzend Paar Nylonstrümpfe zu kaufen.

In dem nun folgenden Schweigen blickte Mostyn auf seine elegant beschuhten Füße nieder und entdeckte mitten auf der Büffellederkappe seines linken Schuhs eine Schramme. Der Chef trat ans Fenster und starrte in den stetig strömenden Juniregen.

»Was soll denn geschehen sein, Chef?«

Ohne sich umzudrehen, antwortete der Chef. »Dudley ist tot.«

Mostyn öffnete den Mund, konnte aber kein Wort hervorbringen. Die Nachricht kam zu unerwartet. Er hatte Dudley seit Jahren gekannt und geschätzt – er war ihr Sicherheitsfachmann im Außendienst beim US-Oberkommando in Washington. Früher einmal hatten sie miteinander gearbeitet.

»Verdammtes Pech.« Die Stimme des Chefs klang ungewöhnlich weich. Dudley war einer seiner besondern Lieblinge gewesen.

Mostyn holte tief Atem: »Unfall oder …?«

»Ach, Unfall.« Der Chef verdrängte jeden Gedanken an eine feindliche Aktion. »Autounfall – diese komischen Umstandskrämer sprachen von einem ›zertrümmerten Automobil‹! Gestern nacht auf der 66er. Er war auf dem Wege nach San Diego. Da liegt unser verdammtes Problem.«

»San Diego?«

»San Diego. Tor nach Mexiko. Heimathafen der pazifischen Flotte der Vereinigten Staaten.« Der Chef wandte sich um und lehnte seinen fetten Hintern gegen das Fensterbrett. »Und nächste Woche – in sieben Tagen – machen sie die Abschußversuche mit Playboy.«

»Oh!« Mostyn begann die Zusammenhänge zu begreifen.

»Ja. Verdammt! Funkelnagelneues U-Boot, Abschußbasis für … für …« – er machte eine Pause, während der sich seine Gedanken behutsam durch eine Lage Alkohol hindurchtasteten – »… den … wie heißt die verdammte Waffe?«

»Trepholit.«

»Den Trephol-sch …-it. Trottelhafter Deckname für ein Fernlenkgeschoß.«

»Der größte Allround-Knaller, der je da war«, stellte Mostyn sachlich fest.

»Das behaupten die verdammten Yanks. Das glaub ich erst, wenn ich’s sehe.« Der Chef hustete, sah auf und fügte hastig hinzu: »Nicht daß ich es sehen könnte. Kann unmöglich hier fort. Ist Ihnen klar, nicht?« In seiner Stimme schwang ein Ton mit, der Mostyns Bestätigung forderte. Er mochte die Vereinigten Staaten nicht, und jene Amerikaner, die zwangsläufig mit dem Chef zu tun hatten, kamen nicht gut mit ihm aus.

»Lieber Gott, nein, Sir. Sie können unmöglich fort«, beteuerte Mostyn gedehnt, mit samtweicher Stimme. Es folgten drei Taktteile Pause.

»Schluck Whisky?« sagte der Chef, und über sein Gesicht zog ein befriedigtes Schmunzeln.

»Im Augenblick nicht, Sir. Danke vielmals.« Mostyn hätte einen Liter Whisky vertragen können, aber wenn der Chef so heikler Stimmung war, schien es besser, einen klaren Kopf zu bewahren.

Der Chef hatte den Getränkeschrank halb geöffnet. Mostyn zögerte noch etwa fünf Sekunden, dann sagte er mit belegter Stimme: »Ich darf bemerken, Sir, daß auch ich nicht fort kann. Viel zuviel Wirbel in Europa.«

»Versteh ich, mein Lieber.« Der Chef änderte die Taktik. »Selbstverständlich. Würde nicht auf die Idee kommen, Sie um diese Jahreszeit aus London rauszujagen – außer wenn’s was ganz Wichtiges wäre. Sie wollen wirklich keinen zwitschern?« Er goß sich tüchtig ein.

»Bestimmt nicht.« Beim Wort »bestimmt« verzog sich Mostyns Mund zu einem verkniffenen Lächeln.

»Nur leider«, sagte der Chef, ließ sich in seinen Drehstuhl fallen und nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas, »leider, bei allen Heiligen, wer soll denn fahren?«

»Ja, wirklich, wer?« sagte Mostyn freundlich.

Der Chef seufzte. »Da liegt der Hase im Pfeffer, wie der Dichter sagt. Muß ein erfahrener Mann sein, FO5[1] – das ist unbedingt nötig –, Verhandlungsvorschriften und der ganze Schmus.« Wieder gab’s eine kurze Pause. Mostyn fühlte, wie sich zwischen ihnen eine gefährliche Spannung auflud. Der Chef blickte ihn unter seinen mächtigen Brauen an – einstmals die Geißel so mancher Kadettenmesse. »Hab mir die Freiheit genommen, Ihre Einsatzliste zu kontrollieren, mein Lieber. Bißchen dünn im Grunde, nicht wahr?«

»Ja schon, Sir, aber die neuerdings ständige Überwachung der Kabinettsminister – seit Unternehmen Keelroll – kostet mich viele meiner Jungs …«

»Das soll keine Kritik sein.« Der Chef hob salbungsvoll die Rechte, obwohl der scharfe Unterton in seiner Stimme unüberhörbar war. Sie sahen einander an. Die Atmosphäre roch nach Niederlage.

Mostyn war es schließlich, der das Blickduell verlor. Er heftete seine Augen wieder auf die Schramme in seinem Büffelleder. Eine Minute ging vorbei.

»Es gibt nur eine Möglichkeit«, begann er; dann schien er sich zu besinnen und fuhr entschieden fort: »Nein! Nein! Nein! Das ginge wirklich nicht!«

Er fing an, auf und ab zu gehen: eine schwache Nachahmung seines Vorgesetzten. Der Chef begann sich wieder zu ärgern: seine geballte Faust schlug langsam und regelmäßig auf die Tischplatte.

»Na also, Mostyn, was haben Sie auf dem Herzen? Wir stehen unter Druck, Freundchen, und die gewissen grauen Zellen funktionieren nicht, wie sie sollten.« Er schwemmte den Rest seines Whiskys in einem gewaltigen Zug hinunter und beugte sich über den Tisch. »Wenn wir für nächste Woche niemand auf der Liste der offiziellen Beobachter stehen haben, könnte das Ministerium Fragen über unsere Personalstärke stellen. Vielleicht würde sich auch das Schatzamt einmischen. Nicht auszudenken, wo das hinführen könnte.«

Mostyn überlegte rasch. Der Gedanke, das Schatzamt könnte seine zackigen Goldschnäbel in die Finanzangelegenheiten der Abteilung stecken, reichte aus, um sogar Mostyn auf den eigentlichen Kern der Sache zu bringen. Er holte tief Atem und begann, ein wenig großspurig loszulegen:

»Morgen trifft ›L‹ mit den Kodeänderungen für Juli in New York ein. Aber es ist lächerlich, er kann einen Kommandoturm nicht von einem Himmelsschlüssel unterscheiden …«

»Das heißt nicht mehr Kommandoturm. Nicht bei Atom-Unterseebooten«, sagte der Chef scharf. »Es heißt Aufbau. Jedenfalls glaub ich wirklich nicht, daß es etwas ausmacht, wenn er den Büstenhalter einer Stewardess nicht von einer Quarantäneflagge unterscheiden kann. Wichtig ist, daß er ein erfahrener Mann ist. Ich sehe nicht ein, warum wir ihn nicht entsprechend verwenden können.«

»Oh, Boysie ist in Ordnung«, sagte Mostyn unsicher. »Nur, na ja, Sie wissen, er neigt dazu, etwas … sorglos zu sein.«

»Bei den Hosenträgern vom großen Nelson, der Kerl braucht ja nur in einem verschissenen U-Boot zu sitzen und auf einen Radarschirm zu schauen.«

»Er wird einen Bericht schreiben müssen.«

»Dabei können Sie ihm doch helfen, oder? Verdammt, lassen Sie ihn rüberfliegen, sobald alles vorbei ist. Er erzählt Ihnen, was er gesehen hat, und Sie bringen es in die richtige Form. Herrgott, Mensch, den schickt der Himmel. Wahrscheinlich fühlt er sich bei den Yanks so wohl wie ein Schwein im Dreck. Verstehe gar nicht, warum Sie kein Vertrauen mehr zu dem Kerl haben. Hat uns bei der Coronet-Geschichte die Kastanien aus dem Feuer geholt.«

»Na ja …« Mostyns Phantasie malte sich Boysie fünf Faden tief in der Panzerhülle eines Atom-U-Bootes aus. Wenn man Boysie kannte, war man sich natürlich der tausend Dinge bewußt, die schiefgehen konnten.

Der Chef unterbrach seine bösen Ahnungen. »So kommen wir nicht weiter. Also werde ich Ihnen einen eindeutigen Befehl erteilen. ›L‹ ist dort drüben, ja? Wenn ›L‹ nicht als unser Beobachter nach San Diego geht, dann muß ich Sie schicken. Klar?«

Mostyn stöhnte innerlich. »Wie Sie wünschen, Sir. Klar.« Sein sechster Sinn sagte ihm, daß weder der heutige Tag, noch die folgenden besonders angenehm sein würden. »Ich werde mit New York zwecks Einsatzbesprechung Fühlung nehmen und an San Diego und Boysie telegrafieren«, sagte er verdrossen. »Ich nehme an, sie werden einen Kurier besorgen, der ihn hinbringt. Aber wenn er die Sache versaut, dann übernehme ich keine Verantwortung. Das geschieht auf Ihren direkten Auftrag, Sir.«

»Ah!« sagte der Chef. »Wo ist diese fettärschige Person mit dem Tee?«

Als Mostyn bei der Tür war, rief der Chef: »Tun Sie mir doch bitte einen Gefallen.« Mostyn wandte sich um. Plötzlich sah der Chef älter aus, und seine hellen kleinen Augen waren merkwürdig feucht. »Besorgen Sie einen Kranz für Dudley«, sagte er ruhig. Die beiden Männer blickten einander an. Mostyn nickte und ging hinaus.

In seinem Büro läutete Mostyn seiner Sekretärin, bestellte Tee und schickte sie hinunter, um die Fotokopien von Dudleys Instruktionen für die Abschußversuche von Playboy zu holen. Das Dokument bestand aus sechs großen Seiten, voll mit einem unverständlichen Techniker-Kauderwelsch, das dem stellvertretenden Leiter nichts Neues über Amerikas jüngste atomgetriebene Abschußrampe sagte. Gemäß den Statistiken nach Beendigung der Versuche war Playboy sehr schnell und, auf dem Papier, eine vortreffliche Rampe für den Trepholit – ein Fernlenkgeschoß, über das es keine Statistiken gab, nur Gerüchte, die von besorgt aussehenden Marineattachés hin und her getragen wurden. Und wenn man nur halbwegs diesen rotbackigen, schwer beanspruchten jungen Herren von der Admiralität folgte, war der Trepholit das überragende Abwehrmittel.

Die letzte Seite umriß die Pflichten des Beobachters der Abwehr, und damit wurde es interessant. Boysie würde einer von acht Sachverständigen – oder Schwachverständigen – sein, die nüchtern an Bord des Playboy zu sitzen hatten, während der Waffenoffizier das blaue Zündpapier (bildlich gesprochen) anzündete. Es war auch ermutigend zu erfahren, daß der Trepholit »kalt« abgefeuert würde – ohne seinen verderbenbringenden Sprengkopf. Vielleicht hatte der Chef recht. Dieser Auftrag unterschied sich zwar gewaltig von seinen üblichen Einsätzen, Boysie konnte aber doch eigentlich nicht in Schwierigkeiten kommen. Was den Bericht betraf, nun, die amerikanischen Freunde würden ihm ein paar Daten liefern, und schlimmstenfalls konnte sich die Abteilung mit ein wenig Geschick eine Kopie vom Bericht des Beobachters der Admiralität beschaffen, bevor Boysie seinen schrieb. Wichtig war nur, daß tatsächlich jemand von der Abteilung höchstpersönlich dort war.