James Bond 26: Nur der Tod währt ewig - John Gardner - E-Book

James Bond 26: Nur der Tod währt ewig E-Book

John Gardner

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Beschreibung

James Bond, Ian Flemings unverwüstlicher Held, taucht ein in die gefährliche Schattenwelt des Europas nach dem Kalten Krieg. Vor dem Fall der Berliner Mauer war Cabal das umfangreichste und erfolgreichste westliche Geheimdienstnetz im Ostblock. Doch dann trat der unerwartete Frieden in Europa ein. Man rechnete man damit, dass die Agenten untertauchen würden – allerdings lauert zum Entsetzen ihrer MI6- und CIA-Kontrolleure der Tod ihnen immer noch auf. Als die Ermittler, die die überlebenden Cabal-Agenten aufspüren sollten, unter mysteriösen Umständen ums Leben kommen, wird James Bond zusammen mit Elizabeth Zara von der CIA losgeschickt, um die Ermittlungen fortzusetzen. Schon bald sind sie einem fanatischen kommunistischen Spionagemeister und einer erschreckenden Verschwörung auf der Spur, die die europäische Demokratie stürzen soll.

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INHALT

1.Die Tode von Vanjy und Eagle

2.Der Tod von Cabal

3.Ein Tod auf dem Gewissen

4.Ein Tod, der durch den Magen geht

5.Tod einer Königin

6.Tod und ein Paar Asse

7.Todesdrohung

8.Tod in der Nähe

9.Tod auf Rädern

10.Termin mit dem Tod

11.Der Tod ist teuer

12.Der Tod hält Hof

13.Wenn man von Tod und Teufel spricht

14.Todesurteil

15.Tod auf dem Canal Grande

16.Der Tod in Venedig

17.Todesschwadron

18.Eine Sache von Leben und Tod

19.Tod auf der Straße

20.Todesfluch

21.Tod unter Wasser

22.Ruhe in Frieden

Für John und Pam,die die Freude und das Leben lieben.In Erinnerung an »Lucky«

Und die Augen des Manns … sprachen zu ihm. »Mister, nichts ist für immer. Nur der Tod ist dauerhaft. Nichts ist für immer, abgesehen von dem, was Sie mir angetan haben.«

Ian Fleming, Diamantenfieber

Man kann nicht ausschließen … dass gewisse Glücksritter versuchen könnten, von ihrem Wissen zu profitieren.

Markus »Mischa« Wolf, über drei Jahrzehnte Leiter des DDR-Auslandsnachrichtendiensts, im November 1991 als Antwort auf die Frage, welche Gefahren von noch nicht aufgedeckten ostdeutschen Agenten ausgehen könnten

Die Tode von Vanya und Eagle

Um genau 16:12 Uhr an einem kühlen Donnerstag im Oktober begegnete Ford Puxley vor dem Hotel Frankfurter Hof dem Tod. In der letzten Millisekunde seines Lebens wusste Puxley, es war seine eigene Schuld, dass der Tod ihn ereilt hatte.

Während des eisigen Höhepunkts des Kalten Krieges hatte Puxley viele neue Spione eingewiesen und seine Parole war gewesen: »Euer Spionagehandwerk sollte wie ein maßgeschneiderter Anzug oder eine American-Express-Karte sein. Verlasst niemals das Haus ohne. Setzt es ein, als sei es für euch das Normalste der Welt. Wenn euer Handwerk hervorsticht wie ein Elefant im Tutu, seid ihr schon so gut wie tot.«

Letzten Endes war es also Puxleys mangelhaftes Spionagehandwerk, das seinen Tod herbeigeführt hatte.

In dieser Woche hatte eine Messe begonnen. Messen und Fachausstellungen waren Teil des täglichen Lebens in Frankfurt und den Ortsansässigen war es gleich, ob es dabei um Bücher, Büromaschinen oder Autos ging. Messen und ihr ganzes Drumherum förderten das Geschäft und brachten die Kassen zum Klingeln.

Die Lounges und Lobbys waren voll. Freunde, die sich nur einmal im Jahr sahen, lagen sich in den Armen, lässige Geschäftsmänner kamen selbstgefällig mit ihren Frauen oder Geliebten vom Flughafen an, eine füllige, aggressive Frau versuchte, sich über ihr Zimmer zu beschweren – in scheußlichem Deutsch bei einem jungen Mann, der viel besser Englisch sprach –, während Messebesucher gelangweilt in der Schlange standen.

Ford Puxley bemerkte sie kaum, denn er war in Eile. Der Anruf, den er gerade in seinem Zimmer im dritten Stock entgegengenommen hatte, war ein Durchbruch gewesen. Er hielt nur lange genug inne, um einen schnellen Rückruf zu tätigen. Je schneller er sich jetzt auf den Weg machte, um seinen Informanten zu treffen, desto eher würde er wieder in seinem hübschen kleinen Haus in Greenwich mit dem gepflegten Garten bei seiner jungen Frau sein. Er hatte spät geheiratet und das erwies sich als Segen. Er mochte es dieser Tage nicht mehr, fern von England zu sein.

Er bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge in der großen Hotellobby und hinaus auf die Straße. Nach dem gescheiterten Putsch in Moskau im August 1991, dem Zusammenbruch des ehemaligen »Reich des Bösen« und dem Verbot der Kommunistischen Partei in der ehemaligen Sowjetunion hatte sein Unterbewusstsein all seine lebenslangen Sicherheitsgewohnheiten in den Winterschlaf geschickt.

In der Dämmerung stürmte er hinaus auf den Bürgersteig, ignorierte den Portier und winkte dem Trio von Taxis zu, das auf Fahrgäste wartete. Der erste Fahrer in der Reihe startete seinen Motor, aber der Opel war schneller. Der graue, schlammbespritzte Wagen schoss aus seinem Versteck am Ende der Reihe von Fahrzeugen hervor, beschleunigte und raste vor das Taxi, das sich erst jetzt langsam in Bewegung setzte.

Die ganze Sache war sehr schön ausgeführt. Die Stoßstange des Opels traf Puxleys Hüfte und schleuderte ihn herum. Dann kam das Heck des Fahrzeugs herum, sodass der ins Taumeln geratene Mann vom gesamten Gewicht des Wagens getroffen und in die Luft geschleudert wurde. Noch bevor er auf dem Bürgersteig aufschlug und die verblüfften und verängstigten Passanten die Flucht ergriffen, war er tot.

Im Moment vor seinem Tod registrierte Puxleys Verstand mehrere Dinge. Er erkannte, dass der Mann in der Nähe der Reihe von Taxis die Hand gehoben hatte, und zwar nicht, um ein Taxi oder einen Bus zu rufen. Ein Klassiker. Ein Signal für den Opel. Er bemerkte auch, dass das Kennzeichen des Opels vom Schlamm verborgen war. Als das Auto ihn rammte, realisierte Puxley, dass er Opfer einer Fliegenklatsche geworden war. So nannte man das früher in Berlin, während des frostigen Höhepunkts des Kalten Krieges. Sein allerletzter Gedanke war, wie gut die Aktion ausgeführt war. Es waren sicherlich Experten am Werk gewesen, und während er ins Nichts abdriftete, verfluchte er sich selbst, weil er genau wusste, warum ihm das passiert war.

Sie brachten Puxley nach England und beerdigten ihn. M, der persönlich bei der Beerdigung zugegen war, sagte später, dass es eine sehr langweilige, kleine Beerdigung gewesen sei. »Die Witwe wirkte nicht gerade vor Trauer erschüttert«, erzählte er seinem Stabschef Bill Tanner. »Der Sherry war ungenießbar. Außerdem mochte ich den Priester nicht besonders. Er hatte eine Erkältung und war offensichtlich in Eile.« Aber M war natürlich eher an Marinebegräbnisse gewöhnt, bei denen die Royal Marines Band einen fröhlichen Marsch spielte, während die Trauernden den Friedhof verließen und der Kaplan den Verstorbenen wie einen der Seinen behandelte. Der Geistliche, sagte er zu Tanner, hätte auch einen Baum pflanzen können. »Das ist nicht richtig, Bill«, murmelte er. »Der Tod ist der letzte Feind und so weiter. Man bekommt keine weitere Chance.«

Puxleys Deckname war Vanya gewesen.

Genau eine Woche nach Puxleys trister Trauerfeier kam Libby Macintosh in einem angenehmen, unprätentiösen Hotel in einer der vielen Nebenstraßen des Berliner Kurfürstendamms an.

Miss Macintosh, eine Dame Ende vierzig, hatte noch nie in diesem Hotel übernachtet, obwohl sie die Stadt wie ihre Westentasche kannte. Hätten sich die Behörden die Mühe gemacht, sie zu überprüfen, hätten sie herausgefunden, dass sie im Laufe der Jahre viele Male in Berlin gewesen war und dieses Mal bereits fast einen Monat in der Stadt verbracht hatte, obwohl es ihnen schwergefallen wäre, die verschiedenen Adressen zu finden, die sie benutzt hatte, geschweige denn die fünf verschiedenen falschen Namen.

Libby Macintosh war eine amerikanische Geschäftsfrau und das sah man ihr auch an – angefangen bei ihrem strengen marineblauen Hosenanzug mit weißen Nadelstreifen bis hin zu dem Aktenkoffer, den sie mit ihrem Leben zu hüten schien. Zumindest wurde später erzählt, dass sie den Pagen nicht erlaubt hatte, ihn zusammen mit den beiden Louis-Vuitton-Koffern auf ihr Zimmer zu bringen.

Sie sagte dem Concierge mit gesenkter Stimme, dass sie einen Herrn Maaster erwarte. Einen Herrn Helmut Maaster. Er sollte angekündigt und hochgeschickt werden, sobald er eintraf.

Sie gab dem Pagen ein Trinkgeld und rief den Zimmerservice an, um Kaffee und Kuchen zu bestellen, die ihr auch gebracht wurden.

Herr Maaster tauchte nicht auf und das Nächste, was man von Miss Libby Macintosh hörte, war, dass das Zimmermädchen aufgeregt nach der Hausdame rief, die wiederum nach dem Empfangschef schickte.

Insgesamt hatte sich Miss Macintosh etwa zwei Stunden im Hotel aufgehalten. Als das Zimmermädchen das Zimmer für die Nacht herrichten wollte, fand sie Miss Macintosh ausgestreckt auf dem Bett vor, bekleidet nur mit schwarzer Seidenunterwäsche von Victoria’s Secret, die in allen Filialen der Kette in den Vereinigten Staaten und Europa erhältlich war. Der durchaus ansehnliche Anblick – denn Miss Macintosh hatte immer noch eine ausgezeichnete Figur – wurde durch die Tatsache getrübt, dass sie tot war.

Die Hotelleitung war nicht gerade erfreut. Kein Hotel freute sich über eine Tote im Gebäude und die Leitung empfand es zu Recht als Affront. Doch die Sache wurde schnell unter den Teppich gekehrt und niemand sprach von einem Verbrechen.

Tatsächlich gab die Polizei die Leiche von Miss Macintosh nach nur zwei Tagen frei und sie wurde in die Vereinigten Staaten überführt, wo sie auf einem kleinen Friedhof in Virginia bei einem episkopalen Gottesdienst unter ihrem echten Namen, Elizabeth Cearns, beigesetzt wurde. Neben den trauernden Familienangehörigen waren auch zwei hochrangige Offiziere aus Langley, genauer gesagt von der Central Intelligence Agency, anwesend.

Niemand konnte beweisen, wie Miss Macintosh/Cearns zu Tode gekommen war, aber in Langley gab es Leute in der Forensik, die ein Gespür für solche Dinge hatten. Sie vermuteten eine alte, längst überholte Methode, die ihres Wissens zuletzt in den späten 1950er-Jahren eingesetzt worden war – die Zyanidpistole.

Der Tod durch Einatmen von Zyanid sollte keine Spuren hinterlassen, aber die Leute in Langley hatten eine Autopsie des Gehirns des Opfers durchgeführt, bei der sie winzige Spuren fanden – genug, um die Todesursache zu bestätigen.

Elizabeth Cearns’ Deckname war Eagle gewesen.

Drei Tage nach der Beerdigung von Elizabeth Cearns wurde die Nachricht von den beiden Todesfällen Royal Navy Captain James Bond zugetragen, kurz bevor er zu seinem Chef gerufen wurde – zu M, wie er von denen genannt wurde, die durch die geheimnisvollen Hallen des britischen Secret Intelligence Service wandelten und dort ihr Dasein fristeten.

Der Tod von Cabal

»Cabal ist irgendwann zwischen dem 30. September und dem 6. Oktober 1990 gestorben.« M saß in seinem ultramodernen Sessel in seinem Büro aus Chrom und Glas im fünften Stock des anonymen Gebäudes mit Aussicht auf den Regent’s Park.

»Die Woche der deutschen Wiedervereinigung«, merkte Bill Tanner leise an.

»Mausetot«, fuhr M fort. »Cabal hat sich einfach selbst stillgelegt. Zerschlagen, wenn man so will. Weder auf Befehl von uns noch von unseren Freunden in Langley, wie Miss St. John bereits weiß.«

Miss St. John nickte von ihrem Platz zur Linken von M. James Bond saß auf seiner rechten Seite und Bill Tanner lungerte in der Nähe des Fensters herum.

»Und das ist für uns jetzt ein Problem.« Bond zog die Augenbrauen hoch.

Ms Augen wanderten in einem Anflug von Irritation zu seinem Agenten. »Das sollte auf der Hand liegen, Captain Bond.« Auch im scharfen Ton seiner Stimme spiegelte sich seine Verärgerung wider. »Sie haben die Akte heute Morgen gelesen und Miss St. John wurde aus ihrer Heimat über den Atlantik herbeordert. Man sollte meinen, selbst ein Schwachkopf würde zu dem Schluss kommen, dass die Sache mit Cabal eine beunruhigende Angelegenheit ist.«

»Das war eine Feststellung, keine Frage, Sir. Haben wir die Dinge nicht ziemlich lange einfach auf sich beruhen lassen? Ich meine, der Oktober 1990 ist zwei Jahre her.«

»Viele Dinge hat man zu lange auf sich beruhen lassen, 007. Ich weiß das und Sie wissen es auch. Seit 1990 ist Europa nicht mehr der einfachste Kontinent für Operationen.« Der alte Mann war verunsichert, dachte Bond, und wenn M beunruhigt war, war es Zeit, sich für einen Sturm zu wappnen. M war zu erfahren, um sich leicht aus der Fassung bringen zu lassen.

M grummelte und Miss St. John lachte ein kleines, arrogantes Lachen.

James Bond wurde mit Miss St. John nicht warm. Sie war die Art von amerikanischer Frau, auf die der alte, chauvinistische Kern seines Wesens immer noch allergisch reagierte. Sie war klein und vorlaut und trug Kleidung, in der sie fast zu verschwinden schien: einen Anzug mit einer weiten Hose und einer karierten Weste über einer weißen Bluse, darüber einen weiten Mantel, der für ihre kleine Statur zu groß wirkte. Ein Paul Stuart aus New York, dachte Bond. Er hatte das Ensemble gestern beim Zahnarzt in irgendeiner Frauenzeitschrift gesehen. Er entschied, dass sie eher für eine Moorhuhnjagd gekleidet war als für die Aufgabe, die ihnen bevorstand. Er bemerkte auch einen Anflug von Herablassung im Auftreten der Frau.

Als Bill Tanner sie vor weniger als dreißig Minuten in seinem Büro vorgestellt hatte, hatte sie ihn mit einem knappen »Hallo« und einem dazu passenden Händedruck abgespeist, während ihre perlgrauen Augen ihn abschätzig gemustert hatten, als wollten sie ihm zu verstehen geben, dass alle Männer minderwertig seien, nur manche eben minderwertiger als andere. Bond hatte den Eindruck, dass er in den Augen von Miss St. John eindeutig zur letzteren Kategorie gehörte.

M fuhr fort: »Wenn Sie alles gelesen haben, werden Sie wissen, dass Cabal vor der Wende zweifellos unser erfolgreichstes Netzwerk in der alten DDR war.«

Bond nickte. Zu seinem Höhepunkt hatten zu Cabal über dreißig aktive Agenten gehört, darunter zwei Maulwürfe in der alten KGB-Zentrale in Karlshorst. Cabal hatte sondiert und zugehört, Fehlinformationen verbreitet und mindestens drei ranghohe Überläufer aus den Reihen des KGB, der inzwischen aufgelösten Stasi und der HVA – der Hauptverwaltung Aufklärung, dem ehemaligen Auslandsnachrichtendienst der DDR – herausgeschleust.

Cabal hatte jede Art von Operation durchgeführt, die es gab, Bestechungen, Falschmeldungen, Täuschungen und sogar die eine oder andere Honigfalle. Die Geschichte von Cabal war die Geschichte des Kalten Krieges und ihre Waffen waren typisch für diese Zeit – der Stoff, aus dem alle berühmten Spionageromane gemacht waren. Wenn es nach dem Willen der CIA und des britischen SIS gegangen wäre, wäre jedes Mitglied von Cabal mit Medaillen überhäuft worden. Aber jetzt war keiner von ihnen mehr auffindbar. Nicht ein einziger Agent, der sich die Medal of Honor oder den CBE an die Brust hätte heften können.

»Sie haben sich in Luft aufgelöst«, fuhr M fort, »und als die ursprünglichen Einsatzleiter sie aufspüren wollten, waren beide tot. Einer vor einem Hotel in Frankfurt, die andere in einem Hotel in Berlin. Sie haben die Details gelesen.«

»Und beide wurden mit veralteten Methoden beseitigt, Sir.« Bond blickte an die Decke, als würde er mit sich selbst sprechen.

»Alles ist inzwischen veraltet.« M klang müde, als hätte das Ende des Kalten Krieges neue Schrecken für sein Hoheitsgebiet gebracht. »Alles, auch ein ganzes Netzwerk, das am helllichten Tag verschwindet.«

»Könnte jemand versuchen, uns eine Botschaft zu schicken?«

»Die da wäre?« M blieb mit gesenktem Kopf sitzen. Es war, als würde er meditieren und die Argumente der anderen aufnehmen und sie durch seinen Geist kreisen lassen, um mithilfe einer Magie, die nur er besaß, Antworten zu finden.

»Die alten Methoden. Antiquierte Methoden für das, was die Russen früher ›nasse Sachen‹ genannt haben. Die Verwendung alter Waffen der kalten Krieger. Die Fliegenklatsche und die Zyanidpistole. Die Fliegenklatsche benutzt längst niemand mehr, weil sie zu teuer ist, und was die Zyanidpistole angeht, nun, wir alle wissen, dass sie nach einem Einsatz weggeschmissen wird.«

»Ja. Es könnte eine Botschaft sein.« M nickte wie ein Buddha mit dem Kopf. »Wir, die Alten, weilen immer noch unter euch, so etwas in der Art, nicht wahr? Aber was ist das Motiv?«

»Rache, Sir?«, schlug Bond vor, als wolle er seinen alten Chef damit aus der Reserve locken.

M zuckte traurig mit den Schultern und bemerkte, dass es davon heutzutage in Osteuropa sicherlich eine Menge gäbe. »Einer der Gründe, warum wir aktiv bleiben müssen. Das Joint Intelligence Committee besteht darauf, dass unser Dienst in Europa noch mindestens zehn Jahre voll einsatzfähig bleiben muss. Unter anderem deshalb war Cabal so wichtig. Gemeinsam mit unseren amerikanischen Verbündeten hatten wir neue Ziele für sie aufgelistet: politische, wirtschaftliche, paramilitärische, terroristische.«

In gewisser Weise, so dachte Bond, musste es wohl so sein wie direkt nach dem Zweiten Weltkrieg, als die verschiedenen Geheimdienste alle Hände voll damit zu tun gehabt hatten, Nazis zu jagen, die sich im Heuhaufen der freien Welt versteckten. Jetzt suchten sie nach eingefleischten Kommunisten: nach Leuten, die es darauf abgesehen hatten, dem diskreditierten Regime seine verlorene Glaubwürdigkeit wiederzugeben. Männer und Frauen, die ihr Leben der marxistisch-leninistischen Sache gewidmet hatten, Personen, die nun ohne Rang, Autorität oder politisches Gewicht waren und sich nach einer Rückkehr zu der Norm sehnten, an die sie all die Jahre geglaubt hatten. Es gab eine Menge Gerüchte über marxistische Terrorgruppen im Untergrund und über die Reorganisation von geheimen Kadern, die bereit waren, junge Demokratien zu infiltrieren.

»Sie beide müssen da raus und in die Fußstapfen der bedauernswerten Puxley und Macintosh treten …«

»Cearns, Sir.« Miss St. John schien aus einem Tagtraum zu erwachen. Vielleicht war es der Jetlag. »Liz Cearns. Sie war eine alte Kollegin und Freundin.«

»Ja, Cearns.« M sah die junge Frau mit düsterem Blick an. »Genauso wie Ford Puxley ein alter Freund und Kollege von uns war, Miss St. John. Ihr Geheimdienst hat kein Monopol auf Trauer.«

»Dann sollte uns das alle nur umso entschlossener machen, Sir.« Sie brachte die Worte nur abgehackt hervor, als würde sie einen Wutausbruch zurückhalten.

»Oh, ich denke, wir sind schon entschlossen genug. Ich hoffe, Sie sind nicht zu emotional, Miss St. John. Es ist nicht gut, sich von Wut und Emotionen leiten zu lassen. Wenn wir dieses Labyrinth durchdringen und herausfinden wollen, was von Cabal noch übrig ist, brauchen wir einen sachlichen, leidenschaftslosen Verstand.«

Miss St. John öffnete den Mund, schien es sich dann aber anders zu überlegen. M schenkte ihr ein freundliches, onkelhaftes Lächeln, warm wie ein Frühlingsmorgen. »Kommen Sie«, sagte er, seine Stimme genauso warm wie sein Lächeln. »Lassen Sie uns an die Arbeit gehen. Spielen Sie eine Weile Sherlock Holmes. Lassen Sie uns die Informationen durchgehen, die wir haben, und dann ableiten, was bei Ford Puxley und Elizabeth Cearns schiefgelaufen ist. Vanya und Eagle. Wenn wir so vorgehen, ist das sicherer für Sie.«

Er stand auf und zog untypischerweise seinen dunkelblauen Blazer mit den Ankerknöpfen aus und krempelte die Hemdsärmel hoch, wie ein Mann, der sich zu einer Pokerrunde mit hohen Einsätzen bereit machte. »Dann wollen wir mal die Ärmel hochkrempeln, was? Kommen wir zur Sache.« Er wandte sich an Tanner und bat ihn, Kaffee und Sandwiches zu organisieren. »Es wird eine lange Nacht, fürchte ich. Da können wir es uns auch etwas bequem machen. Ziehen Sie den Mantel aus, Miss … Ich weigere mich, Sie weiterhin Miss St. John zu nennen. Wie nennt man Sie denn? Elizabeth?«

Miss St. John taute zwar nicht wirklich auf, aber sie entspannte sich sichtlich und schlüpfte aus dem voluminösen Mantel, um zu zeigen, dass sie selbst in dem Hosenanzug aus Tweed einen Körper mit ordentlich weiblichen Proportionen besaß. »Meine Freunde«, sagte sie und lächelte zum ersten Mal, »nennen mich Easy.«

M erwiderte das Lächeln nicht einmal, Bond spürte aber, wie sich seine Augen amüsiert verengten.

»Meine Initialen«, nickte sie. »Elizabeth Zara, EZ. Ausgesprochen wie ›easy‹. Als ich vierzehn war, konnte mich niemand in meiner Schule im Armdrücken besiegen. Sie wissen ja, wie Kinder sind …«

»In der Tat, ja.« Bond nahm sich ein Beispiel an M, unterdrückte sein Lachen und zog seinen Stuhl näher an Ms Schreibtisch heran.

Als Bill Tanner mit den Sandwiches und dem Kaffee zurückkam, sah das Trio wie drei über den Schreibtisch gebeugte Verschwörer aus. Ihre Gesichter lagen im Schatten außerhalb des Lichtkegels der Schreibtischlampe, die die einzige Beleuchtung im Raum darstellte. M hatte die Deckenbeleuchtung ausgeschaltet, damit sie sich besser auf die Papiere konzentrieren konnten, die er vor ihnen ausgebreitet hatte.

Über sechs Stunden lang setzten sie sorgfältig das Puzzle der letzten Tage von Vanya und Eagle zusammen.

Von der letzten Septemberwoche bis zu ihrem Tod im Abstand von einer Woche hatten die beiden Einsatzleiter ständig Kontakt gehalten, sowohl miteinander als auch mit ihrer Heimatbasis, einer gemeinsamen Einrichtung auf dem Land in Oxfordshire, die sich zwar getrennt von einer kleinen Kommunikationsbasis der Royal Air Force in der Nähe des Dorfes Bloxham befand, aber unter ihrer Schirmherrschaft stand.

Mithilfe elektronischer Zauberei in Form von Kurzwellensendern, die kaum größer waren als Kreditkarten, aber dafür mit Mikrochips vollgestopft, die auf einer festen Frequenz arbeiteten, wurde jeder Telefonanruf und jeder Bericht von Moonshine – so hieß die Heimatbasis – überwacht. Die Abschriften füllten jetzt eine Akte mit losen Blättern, das fast acht Zentimeter dick war.

Es war, als würde man ein geheimes Tagebuch oder die achtsame Korrespondenz eines heimlichen Liebespaars lesen. Vanya und Eagle kannten die Handschrift des jeweils anderen in- und auswendig. Einzelne Worte, die über unsichere Telefone gesprochen wurden, konnten als klare Anweisungen oder Nachrichten transkribiert werden, während Sätze mit einem Dutzend Wörtern eine Fülle von Informationen enthielten. Sie hatten ihre eigene Kurzschrift und ihr Wissen darüber, wie Cabal operierte – ihr Wissen über sichere Verstecke, stumme Briefkästen und persönlichen Signale –, war allumfassend.

Die beiden Einsatzleiter hatten alle Gebiete abgegrast, in denen sie in der Vergangenheit mit Cabal gearbeitet hatten. Sie hatten gemeinsam ihre bekannten Einsatzorte in Hamburg, Stuttgart, Frankfurt, München und Berlin abgesucht.

Bei zwei Gelegenheiten hatten sie sich unabhängig voneinander in die Schweiz eingeschlichen und sich in einem alten Unterschlupf in Zürich getroffen, wo sie die winzigen Sender auf Sendung gelassen hatten, während sie sich unterhielten.

Bond kannte die Stadt gut, und als er die Abschrift des Gesprächs las, konnte er vor seinem inneren Auge die Aussicht über den Sechseläutenplatz auf den See sehen, wo die wie Spielzeug aussehenden Dampfer hin- und herfuhren. Er erinnerte sich daran, wie er Jahre zuvor mit einem Agenten in einem kleinen, warmen Café am See zu Abend gegessen und wie er später in ebendiesem Unterschlupf eine Lagebesprechung mit dem Mann gehabt hatte, der vom Überfluss in der Schweiz direkt in seinen Tod hinter dem Eisernen Vorhang gegangen war. Die falschen Informationen, die Bond ihm gegeben hatte, hatten seinen Tod besiegelt und 007s Gewissen wurde von dieser Erinnerung geplagt.

Während sie nun lasen und diskutierten, kamen weitere Details ans Licht. Von den ursprünglich dreißig Mitgliedern von Cabal waren nur noch zehn am Leben. Sechs waren eines natürlichen Todes gestorben, sechs waren verschollen und galten als tot, und acht – hatten Vanya und Eagle herausgefunden – waren bei Unfällen ums Leben gekommen, die nicht zufällig passiert sein konnten.

Die zehn in Europa verbliebenen Cabal-Agenten hatten einige Spuren hinterlassen, und Vanya und Eagle waren zusammen den Spuren gefolgt, die abwechselnd heiß und kalt wurden. Bei Telefonaten und ihren beiden Treffen in der Schweiz sprachen sie von den Agenten nur mit ihren exotischen Decknamen: Crystal, Ariel, Caliban, Cobweb, Orphan, Tester, Sulphur, Puck, Mab und Dodger. Diese Namen, die in die Gespräche eingewebt wurden, mussten mit Ms Unterlagen abgeglichen werden, um die wahren Identitäten der Agenten herauszufinden, und als wäre das nicht schon schwierig genug gewesen, gab es auch noch eine Reihe von Straßennamen, die in einigen der transkribierten Telefongespräche verwendet wurden.

An einem Punkt war der hartnäckige Puxley Caliban sehr nah gekommen, während Elizabeth Cearns berichtete, dass sie Sulphur gesehen und dann wieder aus den Augen verloren hatte.

Aber der große Wendepunkt ereignete sich, kurz bevor die beiden Einsatzleiter ihren Tod fanden. Nur wenige Minuten bevor Puxley vor dem Frankfurter Hof von dem Opel überfahren wurde, nahm er in seinem Hotelzimmer einen Anruf entgegen.

»Spricht da Dan?«, fragte der Anrufer. Die Stimme war männlich und hatte einen starken Akzent, so der Vermerk in der Abschrift.

»Nach welchem Dan suchen Sie?« Die plötzliche Aufregung und der Adrenalinschub waren fast greifbar in den Worten, die kalt auf dem Papier standen.

»Dan Broome. Mr Dan Broome von Magic Mountain Software.«

»Am Apparat.«

»Hier ist Ulricht, Ulricht Voss.«

In dem abgedunkelten Büro verglich M das Geschriebene mit dem, was sie bereits wussten: Der Anrufer benutzte den Identifikationscode von Oscar Vomberg, oder im Cabal-Jargon: Mab. Die Sequenz – »Dan … Dan Broome … von Magic Mountain Software« – war unverwechselbar. »Nur Vomberg hätte diese Sequenz verwendet«, sagte M leise. »Das bedeutet, wenn das nicht Vomberg ist – und unsere Leute von der Stimmenerkennung schwören, dass er es ist –, dann ist es jemand, der eine Sequenz von Oscar benutzt hat, der ein ziemlich gewiefter alter Wissenschaftler ist. Er hat mit den Ostdeutschen an Drogen gearbeitet – für Gedankenkontrolle und solche Dinge.«

Weiter unten auf der Seite bat Ulricht Voss, der in Wirklichkeit Oscar Vomberg war – beziehungsweise Mab für alle Mitglieder von Cabal –, um ein dringendes Treffen mit Dan Broome. Er nannte den Namen und die Adresse eines berüchtigten Animierlokals und Bordells namens Der Mönch. »Um Sulphur zu sehen«, fügte er dann hinzu.

Dann zeigte die Abschrift Puxleys schnellen Anruf bei Moonshine. »Um sicherzugehen«, sagte M. »So pingelig war Ford Puxley. Für den Fall, dass sein kleines elektronisches Funkgerät den eingehenden Anruf nicht verarbeitet hatte, wollte er, dass seine Heimatbasis wusste, was los war. ›Kontakt mit Mab‹, hat er gesagt, schnell die Zeit und den Ort genannt und dann ›Treffen mit Sulphur im Mönch‹.«

Mit diesem letzten Bericht war Ford Puxley alias Vanya aus seinem Zimmer gestürmt, hatte seine Ausbildung in den Wind geschossen und sich im dämmernden Frankfurt in den Tod durch den Opel gestürzt.

Die Abschriften zeigen eine ähnliche Abfolge von Ereignissen, die zum Tod von Elizabeth Cearns alias Libby Macintosh alias Eagle geführt hatten.

Nach dem zweiten Treffen mit Vanya in der Schweiz war beschlossen worden, dass sie zurück nach Berlin gehen sollte, wo sie ihrer Behauptung nach Sulphur bereits gesehen hatte. »Nun, Sulphur ist, wie Sie den Akten entnehmen können«, erklärte M, »in Wirklichkeit eine Bulgarin. Sie trat Cabal 1979 bei, als sie erst achtzehn Jahre alt war. Der KGB hatte sie aus dem bulgarischen Dienst rekrutiert – dem alten und skrupellosen DS, dem Darschawna Sigurnost. Sie hat in Karlshorst als Verbindungsoffizier zwischen KGB und DS gearbeitet. Wir haben sie gekauft und bezahlt.« Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen. »Ich sollte sagen, der amerikanische Dienst hat sie gekauft und bezahlt, 1982. Sie war fabelhaft. Sie hat die Russen gehasst und ihre eigenen Leute verabscheut – oder zumindest die damals herrschende Fraktion ihrer Leute. Sie hat uns mehr gegeben als irgendjemand sonst. Sehr intelligent und mit einer schnellen Auffassungsgabe. Die Amerikaner haben sie sogar für einen zweiwöchigen Crashkurs rausgeholt. Ich glaube, Ihre Leute, Easy, haben den Ausdruck ›eine Klasse für sich‹ verwendet. Ich nehme an, das ist ein großes Lob.«

»Das höchste.«

»Mh-hm. Wenn Sie diese Passage lesen, werden Sie sehen, dass Ihre Miss Cearns der Meinung war, falls Sulphur auftauchen würde, dann nur an den luxuriösesten Orten. Puxley und Cearns haben entsprechend beschlossen, dass Cearns sich im Kempi zeigen sollte.«

Das Kempi war das sagenumwobene Bristol Hotel Kempinski in Berlin. Es hieß, dass das Schicksal und die Zukunft Deutschlands immer im Kempinski entschieden würde.

»Und Sulphurs richtiger Name?« Bond verengte die Augen, als er sich über den Schreibtisch lehnte, um einen Blick auf die geheimen Listen der Cabal-Agenten zu werfen.

»Praxi«, sagte M leise, »Praxi Simeon.«

»Ein hübscher Name, Praxi«, murmelte Bond.

»Finden Sie?«, fragte Easy und rümpfte die Nase, als fände sie den Namen geschmacklos.

»Und da steht es.« M blätterte mehrere Seiten der Abschriften durch und tippte dann mit seinem Zeigefinger auf eine Seite. »Die eingehenden Anrufe bei Eagle im Bristol Kempinski.«

Die ersten waren direkte Kommunikationen mit Moonshine, darunter ein ernüchterndes Gespräch, in dem der Kontaktmann bei Moonshine die Nachricht von Vanjas Tod überbrachte. Es gab mehrere weitere Gespräche in klarer Sprache zwischen Moonshine und Eagle, auch zwischen Eagle und Duster, der, wie M erklärte, Liz Cearns’ direkter Kontaktmann in Langley gewesen war.

»Martin de Rosso«, sagte Easy. »Er ist auch mein Kontaktmann, was diese Operation angeht. Was passierte als Nächstes, Sir?«

»Der Tag vor Eagles Tod.« M blätterte um. Um 15:26 Uhr ging ein Anruf ein. Liz Cearns nahm ihn entgegen.

»Hallo?«

»Kann ich mit Gilda sprechen?« Eine weibliche Person, hieß es in der Notiz, die Deutsch mit leichtem Akzent sprach.

»Sie wollen Gilda sprechen?«

»Gilda von Glocke.«

»Ja, und wer ist da?«

»Use. Use Schwer.«

»Verzeihung, vertreten Sie eine Firma?«

»Ja. Wir sind uns bereits begegnet, Frau von Glocke. Ich arbeite für Herrn Maaster. Maaster Designs. Sie erinnern sich?«

»Ja, ich erinnere mich vage an Sie. Tut mir leid. Aber ja, ich würde sehr gern mit Herrn Maaster sprechen.«

»Und er möchte Sie gern sehen, aber er hat einen vollen Terminkalender. Er möchte nicht zum Kempi kommen. Sie wissen, wie er ist, Frau von Glocke …«

»Ja. Wo möchte er sich denn treffen?«

»Er sagt, morgen Nachmittag gegen drei Uhr im Hotel Braun.« Sie nannte die Adresse.

»Ich werde da sein. Sagen Sie ihm, er soll an der Rezeption nach mir fragen.«

»Schön, wieder mit Ihnen zu sprechen, Frau von Glocke.«

»Und die Abfolge ist richtig?«, fragte Bond.

»Alles ist richtig. Die Stimmenanalysten sagen, dass es sich definitiv um Sulphur, also Praxi Simeon, handelt. Das Geschäft ›Maaster Designs‹ war der Identifikator. Die gesamte Abfolge ist korrekt.«

»Und Herr Maaster war …?«

»Es gibt keinen Herrn Maaster. Für ein Treffen in Person würde Sulphur einen Ort wählen. Das wurde immer ihr überlassen. Sie hat einen guten Riecher für den sichersten Ort. Das Hotel Braun ist unscheinbar. Eagle hat es angerufen und Moonshine informiert, sobald sie umgezogen war.«

»Und ihr Sender?«, fragte Bond. »Er war nicht eingeschaltet, als …«

»Zwei Anrufe. Beide in die Vereinigten Staaten«, zeigte M auf das Logbuch. »Dann war es so, als hätte sie ihn einfach ausgeschaltet. Etwas, was sie unter normalen Umständen nicht tun würde.«

»Ein Liebhaber?«

»Das haben wir alle gedacht, aber es gibt keine Beweise dafür.«

»Ihr Freund lebt in Washington D.C.«, ergänzte Easy. Sie war in den letzten Minuten sehr schweigsam gewesen. »Es sei denn, sie hatte jemanden kennengelernt … Nein, das passt nicht zu ihrem Charakter. Liz war absolut treu.«

»Und doch hat sie jemand mit einer Zyanidpistole erwischt und sie trug nur ihre Unterwäsche.« Bond biss sich auf die Unterlippe. »Keine Anzeichen eines Kampfes. Nichts Merkwürdiges.«

M schüttelte den Kopf. »Das bereitet einem Kopfzerbrechen, nicht wahr? Nun, Sie werden beide da rausgehen müssen, um herauszufinden, was genau passiert ist.« Er schob seinen Stuhl zurück. »Bevor die Nacht zu Ende geht, möchte ich, dass Sie sich alles einprägen. Die Decknamen der Agenten, die Straßennamen, alle Abfolgen, die Wortcodes, die Körpersprache, die sicheren Unterschlüpfe, tote Briefkästen, Straßentreffpunkte. Alles.«

»Das ist eine ganze Menge …«, setzte Easy an.

»Ich weiß«, sagte M kalt. »Ich weiß, dass es sehr viel verlangt ist, Easy, aber so ist das Leben in unserem Geschäft. Soweit wir wissen, laufen da draußen zehn ehemalige Cabal-Agenten herum und zwei von ihnen – Oscar Vomberg alias Mab und Praxi Simeon alias Sulphur – könnten kompromittiert sein. Wir haben das Nötige getan. Wir haben Anzeigen in den Lokalzeitungen geschaltet, zur richtigen Zeit auf den richtigen Frequenzen gesendet und in einige Magazine Annoncen gesetzt, die Cabal früher zur Kontaktaufnahme benutzt hat. Sie, James, sind der neue Vanya, während Sie, Easy, die Rolle von Eagle übernehmen müssen. Wir bleiben alle heute Nacht hier und arbeiten mit Ihnen, aber ich möchte, dass Sie beide spätestens morgen Abend nach Berlin fliegen.«

»Was ist mit Verstärkung, Sir?«, fragte Bond. Er spürte bereits diese seltsame Mischung aus Aufregung und Angst, die in seinem Bauch flatterte und brannte.

»Ich möchte, dass Sie beide nachforschen und dann denken, schlussfolgern und versuchen, die Antwort auf das Rätsel um den Tod Ihrer Vorgänger zu finden. Sind Sie dazu in der Lage?«

Bond nickte grimmig, während Easy schluckte, bevor sie Ja sagte, obwohl ihr das Wort eine Sekunde lang im Hals stecken blieb.

Ein Tod auf dem Gewissen

Von dem Moment, in dem er die Pass- und Zollkontrolle am Flughafen Berlin Tegel passierte, wusste James Bond, dass ihm jemand folgte. Er hatte den Flug am späten Nachmittag von Heathrow genommen – Easy St. John würde mit dem Abendflug kommen. Auf den ersten Blick hatte sich in Berlin seit seinem letzten Besuch nicht viel verändert durch die unglaublichen Ereignisse, die nicht nur die politische Landschaft, sondern auch die Lebensrealität eines wiedervereinten Volkes auf den Kopf gestellt hatten. Tegel, mit seiner ruhigen Atmosphäre von teutonischer Ordnung, schien sich nicht verändert zu haben.

Was Berlin selbst anging, war die Mauer gefallen, die Stadt war wieder vereint. Man konnte die zurückgewonnene Freiheit förmlich in der Luft riechen, aber erst als das Taxi auf den Ku’damm einbog, sah er, dass die Straßen sich subtil verändert hatten und die glitzernden Fensterfronten der Läden ein wenig anders waren.

In den alten, wilden Tagen waren die Bürgersteige des Ku’damms von einer Mischung wohlhabender Berliner, Militärs und bummelnder Touristen erfüllt gewesen. Jetzt schienen die Menschenmengen größer zu sein. Die Berliner Matronen trugen immer noch ihre kleinen Hütchen mit angesteckten Federn und generell sah man viel Pelz und Leder. Aber wenn man genauer hinschaute, fanden sich neben dem gewohnten Anblick andere Passanten, die weniger gut gekleidet, wenn nicht verlotterter wirkten und in deren Gesichter der Neid geschrieben stand. Es war ein flüchtiger Eindruck und Bond hielt sich nicht lange damit auf, denn er machte sich mehr Gedanken um die Leute, die ihm vom Flughafen gefolgt waren.

In Tegel war er besonders vorsichtig gewesen. Zum einen hatte er in den letzten vierundzwanzig Stunden nur drei Stunden schlafen können. In Bonds Gewerbe schärfte körperliche Erschöpfung die Sinne. Es war fast so, als würde die Furcht davor, durch die Erschöpfung einen fatalen Fehler zu begehen, dafür sorgen, dass die Intuition besonders gut funktionierte. Augen und Ohren konzentrieren sich auf alles Ungewöhnliche, als wäre die Wahrnehmung intensiviert, während der Tast- und Geruchssinn fast schmerzhaft wurde.

Bond erspähte ein paar mögliche Bedrohungen, als er die Haupthalle des Terminals erreichte. Ein Mann und eine Frau redeten neben dem sechseckigen Informationsstand. Der mausgesichtige, pockennarbige Mann war klein und fett und hatte ruhelose Augen, die Bond mit einem schnellen Blick musterten, wodurch er sich seltsam nackt fühlte. Die Frau wirkte wachsam und nervös.

Einer Sache war Bond sich sicher, nämlich, dass sie nicht zusammengehörten. Das Paar hatte eine Ausstrahlung, die darauf schließen ließ, dass sie sich erst seit kurzer Zeit kannten und sich erst noch aneinander gewöhnen mussten. Seine Intuition sagte ihm jedoch, dass sie Teil eines größeren Teams waren. Es hätte sich um gewöhnliche Kriminelle handeln können – Taschendiebe etwa –, aber das glaubte er nicht. Die Art, wie sie dastanden, redeten und sich bewegten, deutete darauf hin, dass sie eine andere Straftat im Sinn hatten: etwas in der Art der alten Zersetzung.

Als er nach draußen zur Taxireihe ging, entdeckte Bond einen großen Mann in einem Ledermantel, der auf und ab ging, als würde er auf einen ankommenden Passagier warten. Er hielt eine zusammengerollte Zeitung in der Hand, mit der er rhythmisch gegen seinen Oberschenkel trommelte, als wäre er verärgert über eine Verspätung.

Bond ging der Bericht über Ford Puxleys Tod durch den Kopf. Wie jemand die Hand gehoben hatte, um dem bereitstehenden Opel das Signal zu geben, hervorzuschießen – wie eine Kugel auf vier Rädern, tödlich wie eine Rakete –, und er erwartete fast, dass der Mann im Ledermantel genau das tun würde.

Er erinnerte sich an eine Passage in einem Roman, in der ein Opfer von einem Auto überfahren wurde. Das Opfer hatte eine Zeitung in der Hand gehalten, und als es von dem Auto getroffen worden war, war die Zeitung in der Hand aufgegangen wie der Trick-Blumenstrauß eines Bühnenmagiers.

Als er sich in die ordentliche Schlange der Neuankömmlinge stellte, sah Bond, wie sich der Mann im Ledermantel wegdrehte und zurück ins Terminal ging. Einen Augenblick später kam die Frau vom Informationsstand allein heraus und stellte sich in die Taxischlange. Vielleicht, dachte er, war das schon Paranoia – aber warum auch nicht? Wieder im Einsatz zu sein bedeutete, alles aufzunehmen und hinter allem eine mögliche Gefahr zu wittern: einen Geist in jedem Schatten, eine Bedrohung durch jeden unschuldigen Passanten, böse Absichten in jedem flüchtigen Blick. Es war dieser sechste Sinn, der unbescholtene Männer und Frauen zu Attentätern oder Informanten werden ließ: die Essenz seiner aussterbenden Zunft, die Werkzeuge eines Handwerks, das so alt war wie die Menschheit selbst, die unsichtbare Kartei, die ein Spion sein Leben lang bei sich trug.

Dann, als er in sein Taxi gestiegen war und dem Fahrer gesagt hatte, er solle ihn zum Kempi bringen, hatte er die Bewegung aus dem Augenwinkel gesehen. Kein Mann im Ledermantel, sondern die junge Frau, die zwei Personen hinter ihm in der Schlange gestanden hatte. Eine auffällige Geste: Sie hatte ihre rechte Hand gehoben, in der sie eine billige Lederhandtasche hielt, um ihr Gesicht für eine Sekunde zu verbergen und sie sich mit dem Handrücken über die Stirn zu wischen. Das war die Art von Körpersprache, die Späher gern einsetzten.

Während das Taxi ihn zum Bristol Kempinski fuhr, versuchte Bond, Ausschau nach hinten zu halten, ohne seine Verfolger dadurch zu alarmieren, dass er auf der Sitzbank herumrutschte. Er lehnte sich vor und reckte den Hals, um Blicke auf die Außenspiegel erhaschen zu können, und nach anderthalb Kilometern meinte er, das Fahrzeug der Verfolger ausgemacht zu haben: einen braunen VW Golf mit einem Fahrer und einem Beifahrer. Das Auto schlängelte sich wild durch den Verkehr hinter ihm, mal ließ es sich zurückfallen, dann holte es wieder auf. Kein ausgebildeter Profi, vermutete Bond, aber eindeutig jemand, der wissen wollte, wo er hinfuhr.

Als sie bei dem Hotel ankamen, war der VW nicht zu sehen, aber wer auch immer Interesse an ihm hatte, wusste inzwischen mit Sicherheit, wo er hinwollte. Normalweise hätte Bond den Taxifahrer angewiesen, ihn zum Gehrhus oder sogar zum InterContinental zu fahren, damit er die Verfolger abwimmeln und ein anderes Taxi zum Kempi neben konnte. Aber M hatte gesagt, dass sie in aller Öffentlichkeit operieren sollten. »Puxley und Cearns haben beide alle Tricks angewandt«, hatte der alte Mann ihnen gesagt. »Aber sie wurden trotzdem erwischt und beseitigt, sauber wie Schmetterlinge in einem Fangglas. Also sorgen Sie dafür, dass Sie von ihnen gesehen werden. Wer auch immer die sein mögen.«

»Werden Sie uns Rückendeckung geben?«, fragte Bond.

»Wenn wir das tun, werden Sie sie nicht sehen«, hatte der Chef gesagt und damit gemeint, dass jede Kavallerie, die zur Rettung käme, bereits wüsste, wo sie ihr Hauptquartier aufschlagen würden.

M hatte erklärt, dass vor Ort jeder den alten Mitgliedern von Cabal bekannte Alarm ausgelöst worden war. »Jedes Mitglied des Netzwerks, das noch Kontakt aufnehmen will, wird wissen, nach wem es Ausschau halten muss.« Er hatte das Gesicht ein wenig verzogen, als wollte er damit zu verstehen geben, dass diese Warnungen – die Anzeigen in den Zeitungen und Zeitschriften sowie die ganze Bandbreite der Kreidemarkierungen und anderer physischer Kennzeichen – auch denjenigen bekannt sein könnten, die anscheinend auf die vollkommene Vernichtung von Cabal aus waren. Wer auch immer sie sein mochten.

Sowohl Easy St. John als auch Bond grübelten darüber, wer sie – der Feind – sein könnten, und gingen alle Optionen durch, die auf der Hand lagen. Hatte jemand Cabal verraten, bevor die Mauer gefallen und die neue Weltordnung eingetreten war? War irgendeine Cabal-Operation schiefgelaufen, sodass unzufriedene Agenten auf Rache aus waren? Wer war der natürliche Feind von Cabal?

Auf die letzte Frage hatte M ihnen die offensichtliche Antwort gegeben: Markus Wolf – Mischa, wie ihn seine Kollegen nannten – war der Spionagechef der HVA, des Auslandsnachrichtendiensts der ehemaligen DDR, gewesen. Aber Wolf hatte reinen Tisch gemacht und sich selbst ausgeliefert, in der Hoffnung, genügend Wohltäter vor Gericht zu haben, um sich im hohen Alter keine Sorgen um Racheakte machen zu müssen.

Dann hatte M einen kleinen Rhythmus auf der Armlehne seines Sessels getrommelt. »Aber natürlich ist da immer noch Mischa Wolfs Stellvertreter.« Er blickte hoch zur Decke, wodurch sein Gesicht in der Dunkelheit abseits des hellen Lichtkegels seiner Schreibtischlampe verborgen war. »Über ihn schreibt niemand. Die Geier von den Zeitungen scheinen vergessen zu haben, dass er existiert, aber sie sind auch recht wählerisch, was Nachrichten über das alte Regime angeht.«

Er trommelte erneut seinen kleinen Zapfenstreich. »Nein, ich habe Weisens Namen weder in der Londoner Times noch in der New York Times gelesen, geschweige denn in der Washington Post oder den Nachrichtenmagazinen. Er ist verschwunden, so wie die anderen verschollenen Jungs des alten Regimes. Vielleicht … Aber wer weiß das schon?« Sein Gesicht tauchte wieder im Schein der Lampe auf und seine Lippen umspielte jetzt ein finsteres Lächeln.

Wolfgang Weisen, dachte Bond, mein Gott, das wäre mal ein Gegenspieler. Manche behaupteten, Markus Wolf sei nur ein Strohmann für den fanatischeren Weisen gewesen. Weisen war in Berlin geboren – als Kind einer russischen Mutter und eines deutschen Vaters – und als Kind nach Russland gezogen, um nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in sein Heimatland zu kommen.

Genauso wie es nie ein gutes Foto von Mischa Wolf gegeben hatte, hatte es nie auch nur eine gute Beschreibung von Weisen gegeben, nur Gerüchte und widersprüchliche Berichte.

Weisen, der Giftzwerg der ostdeutschen Geheimdienste. Ein Mann, der sein Handwerk von der Pike auf gelernt hatte von einigen der rachsüchtigsten Personen der Spionagewelt. Ein von Moskau ausgebildeter, ehrgeiziger, ruchloser, unnachgiebiger Kommunist, dessen Netzwerk bis zu Stalin persönlich zurückreichte. Weisen, der kommunistische Eiferer mit der vollen, fast jesuitischen Ausbildung durch das wahre Böse, das einst die Ideologie von Marx und Lenin übernommen hatte.

Bond hatte seine Akte studiert, in der behauptet wurde, dass der kleine Wolfgang als Junge viel, sehr viel Zeit in der seltsamen Villa des alternden Stalin in Kunzewo verbracht hatte, in dem Haus, das ständig größer geworden, aber dessen Erdgeschoss aus identisch möblierten Zimmern bestanden hatte – alle eine Art Wohnschlafzimmer –, wo der alte Josef Stalin seine Tage damit verbracht hatte, durch Blicke oder auch nur den Gedanken, dass ihn jemand verraten hatte, den Tod von Leuten zu befehlen. Josef Stalin, Lenins Nachfolger, der das System zu einem neuen Dogma des Terrors verzerrt hatte.

Wenn Bond sich richtig erinnerte, stand in der Akte, wie der kleine Wolfgang bei Stalin gesessen und immer und immer wieder die Lieblings-Tarzan-Filme des grimmigen alten Diktators gesehen hatte, während der furchtbare alte Mann seinen eigenen Kommentar über die Banalitäten abgeben hatte. Es hieß ebenfalls, dass Stalin dem Kind Privatunterricht gegeben hätte, wie man die Macht an sich riss. Zu der Zeit hatten manche diesen kleinen, unterentwickelten Jungen als den Kronprinzen des makabren Despoten gesehen.

Außerdem fanden sich in der Akte einige Notizen, die auf gesicherten Informationen beruhten, dass dieses Kind, Wolfgang Weisen, auch ein Günstling des unfassbar verkommenen, absolut unbarmherzigen Beria, des Leiters des Vorläufers des KGB, gewesen war. Der Mann, der seine Henker auf die Straßen ausschickte, um irgendein Schulmädchen einzusammeln, mit denen der Degenerierte Lawrenti Beria unvorstellbare Sexualakte durchführte, Beria, die Bestie vom Dzierżyński-Platz, Stalins oberster Terrorminister.

Es gab auch unbestätigte Fußnoten, nach denen Weisen viele von Berias Eigenheiten und perversen Gelüsten geerbt hatte, zusammen mit Stalins verblendeter Intuition. Was, wenn Wolfgang der Schreckliche, wie ihn manche der erfahrenen Analysten getauft hatten, nun nichts mehr zu verlieren und Cabal ins Visier genommen hatte?

Dieser Gedanke ging Bond erneut durch den Kopf, als er den angenehmen Luxus des Kempi betrat, mit seinen erholsamen tropischen Aquarien und seiner gelassenen Ordnung. »Guten Tag, Herr Boldman! Es ist schön, Sie wieder begrüßen zu dürfen, Herr Boldman. Suite 207, Herr Boldman, wenn Sie etwas brauchen …«, und der ganze Rest der üblichen lächelnden Herzlichkeit und Gastfreundlichkeit.

Bond packte aus und duschte – erst brühwarm, dann kalt –, wobei er die Badezimmertür offen ließ, sodass sein Blick auf die Tür der Suite durch die Spiegelwand ungehindert war. Dann trocknete er sich gründlich mit dem Handtuch ab und streckte sich, gehüllt in einen Kempi-Bademantel, auf dem Bett aus. Easy St. John sollte einen Telefoncode durchgeben, sobald sie eintraf. Für den Moment hatte er nichts anderes zu tun, als nachzudenken.

Die 9-mm-ASP-Automatik, die in seiner speziell ausgefütterten Aktentasche mitgereist war, lag unter seinem Kopfkissen, und obwohl er fast alles dafür gegeben hätte, sich vom Schlaf übermannen lassen zu können, zwang Bond seinen Geist zur Alarmbereitschaft. Dann ging er zum hundertsten Mal in den letzten vierundzwanzig Stunden die Fakten durch und versuchte, sich einen logischen Reim auf die ganze Angelegenheit zu machen.

Zuerst dachte er über Easy St. John nach. Obwohl sie eine intensive Zeit miteinander verbracht hatten – meist in Begleitung von M und in Akten vertieft –, war Bond der Meinung, dass er noch einige Zeit länger brauchen würde, um sich an sie zu gewöhnen. Easy verströmte die paradoxen Eigenschaften einer Karrierefrau – ein schroffes, besserwisserisches Äußeres, das sich in Sekundenschnelle in Charme und Verständnis auflösen konnte. Es schien, als hätte sie ihre relativ hohe Position im amerikanischen Geheimdienst dank ihrer eigenen Talente erreicht und würde nun einen gewissen Respekt einfordern. Bond wusste, wohin diese Denkweise führen konnte – zu einer isolierten Machtbasis, die niemandem nützte.

Es würde kein Leichtes werden, sie zu der Einsicht zu bringen, dass das Leben als Außenagentin mehr als nur Talent und eine gute Ausbildung erforderte. Er befürchtete, dass sie in einer Fantasiewelt lebte, in der es schon zum Überleben reichte, sich an die Regeln zu halten, die sie offensichtlich auswendig kannte. Es hatte vor allem einen Vorfall im Zusammenhang mit dem Tod von Eagle – Liz Cearns – gegeben, der ihn doppelt an ihr zweifeln ließ.

Vor seiner Abreise aus London hatte er sich damit sogar M anvertraut, der eine gewisse Irritation gezeigt hatte. »Sie ist alles, was wir vom amerikanischen Geheimdienst bekommen haben«, sagte er gereizt. »Wenn nötig, müssen Sie sie eben vor Ort ausbilden, 007.«

»Sie ist eigentlich ein Schreibtischhengst, der einfach die richtigen Kurse besucht hat, nicht wahr, Sir?«

»Möglich. In Langley wird umstrukturiert, das wissen Sie. Sie versuchen, mehr Leuten echte Außendiensterfahrung zu geben.«

»Sir, bei allem Respekt, man setzt auch keinen Piloten, der nur Simulatoren geflogen ist, direkt in einem Düsenjäger ein.«

»Offenbar tun das die Amerikaner sehr wohl, 007. Sie werden das Beste daraus machen müssen.«

Ms ganze Haltung verriet Bond, dass sein Chef Easy St. John genauso misstrauisch gegenüberstand wie er selbst. Er hatte das alles schon einmal erlebt. Ms einzige Sorge waren die britischen Interessen in dieser Sache, was bedeutete, dass er Bond den Löwenanteil der Arbeit anvertraute.

Jetzt, als er auf seinem Bett im Kempi lag, fragte er sich, wie viel zusätzlichen Stress es bedeuten würde, die etwas egozentrische Easy aus Schwierigkeiten herauszuhalten. Schließlich beschloss er, sich erst dann darüber Sorgen zu machen, wenn es so weit kam, und die Dinge Tag für Tag, Stunde für Stunde, ja sogar – dachte er grimmig – Minute für Minute anzugehen. Er verdrängte das Easy-Problem für den Moment aus seinen Gedanken und ging noch einmal die Fakten um Puxleys und Cearns’ Tod durch.

Die ursprünglichen Einsatzleiter von Cabal waren beide ums Leben gekommen, nachdem sie mit vermeintlich loyalen Mitgliedern des Netzwerks gesprochen hatten. Der Anruf des Wissenschaftlers Oscar Vomberg – Mab – hatte Puxley – Vanya – in dessen Tod durch den Opel vor seinem Hotel eilen lassen. Der einfache Akt dieses Telefonats hatte unzweifelhaft zum Tod des Agenten durch eine veraltete KGB-Methode geführt.

In Vombergs Fall hatten sie die Sprachmuster untersucht und alle analytischen Beweise geprüft. Die Diagramme zeigten, dass es sich bei dem Anrufer eindeutig um Vomberg gehandelt hatte. Die einzig mögliche Schlussfolgerung war also, dass er, wissentlich oder unwissentlich, als Auslöser für die Geschehnisse vor dem Hotel Frankfurter Hof benutzt worden war. Eine andere Theorie kam nicht infrage.

Das Gleiche galt für den Tod von Liz Cearns. Genauso wie Vomberg bei Ford Puxley angerufen hatte, schien Praxi Simeon, Sulphur, den Kontakt mit ihrer alten Vorgesetzten, Eagle, hergestellt zu haben. Die Sprachanalysten hatten einmal mehr eindeutig bestätigt, dass es Praxis Stimme war, die am Telefon gesprochen hatte. Praxis Anruf hatte Cearns also dazu veranlasst, das Hotel zu wechseln und sich so einer scheinbar altmodischen und verzwickten Todesart ausgeliefert. Eine Todesart, die so gewagt war, dass selbst der KGB mit seiner schwarzen Seele sie zuletzt 1958/9 gegen zwei Ziele im früheren Westdeutschland eingesetzt hatte.

Damals war der Attentäter ein junger Mann gewesen, der vom KGB für diese speziellen Attentate ausgebildet worden war. Sein Name war Bogdan Staschinski und das Attentat war mit einer klobig aussehenden Pistole verrichtet worden, nicht mehr als ein Rohr mit einem Abzugsmechanismus an einem Ende. Das Rohr war achtzehn Zentimeter lang und bestand aus drei Teilen. Der Abzug und der Schlagbolzen in der ersten Röhre zündeten eine Pulverladung im mittleren Teil, der wiederum eine Glasampulle im dritten Teil zerdrückte. Die Ampulle enthielt fünf Milliliter Blausäure.

Wenn es nur wenige Zentimeter vom Gesicht des Opfers entfernt abgefeuert wurde, tötete das Zyanid auf der Stelle und hinterließ dabei angeblich keine Spuren. Der Mörder war jedoch auch mit einer Pille bewaffnet, die vor dem Mord eingenommen werden musste, sowie mit einem Gegengift in einer Glaskapsel. Der Mörder musste die Kapsel zwischen den Zähnen zerdrücken und das Gegengift in dem Moment einatmen, in dem er das Zyanid abfeuerte.

Die Methode war zweimal gegen in Deutschland lebende antisowjetische ukrainische Nationalisten eingesetzt worden. Der erste Mord war unentdeckt geblieben. Das Opfer war Lev Rebet gewesen, der Herausgeber der ukrainischen Exilzeitung Ukrainski Samostinik. Am 10. Oktober 1958 hatte Staschinski Rebet ermordet, als dieser auf dem Weg in sein Büro war. Im Autopsiebericht stand, dass das Opfer an einem Koronararterienverschluss gestorben sei. Niemand hatte Gewalt vermutet.

Im folgenden Jahr hatte Staschinski die gleiche Methode bei dem ukrainischen Exilführer Stepan Bandera angewandt. Doch dieses Mal hatte die Autopsie Spuren von Gift im Gehirn ergeben. Schließlich hatte sich Staschinski – ein Attentäter wider Willen – dem amerikanischen Geheimdienst gestellt. Er hatte im Mittelpunkt eines Schauprozesses gestanden, war zu acht Jahren Haft verurteilt worden, und wenn sie nicht gestorben waren, lebte er heute glücklich mit seiner Frau und seiner Familie irgendwo in Deutschland.

Danach schien es keine weiteren Morde mit der Zyanidpistole mehr gegeben zu haben, bis Liz Cearns in ihrem Zimmer im Hotel Braun am Ku’damm eine Ladung des Gifts ins Gesicht bekommen hatte, und das beunruhigte Bond, der die Beweise und Fotos sorgfältig studiert hatte.

Natürlich schien Praxi Eagle an den Ort ihres Todes gelockt zu haben, aber die gerichtsmedizinischen Berichte zeigten keine weiteren Spuren an der Leiche. Sie war ausgestreckt auf dem Hotelbett gestorben, nur mit aufreizender Unterwäsche bekleidet. Auf den Fotos sah sie aus wie eine Frau, die sich auf ein intensives sexuelles Abenteuer eingestellt hatte, und es gab keinen Grund zu der Annahme, dass sie nach dem Tod in diese Position gebracht worden war.

Es sah alles so aus, als hätte sie ein Stück sehr reichhaltigen Kuchen gegessen, zwei Tassen Kaffee getrunken, jemanden ins Zimmer gelassen, sich darauf vorbereitet, mit ihm oder ihr zu schlafen, und war dann überrascht gewesen, als ihr Ende plötzlich in Form einer kleinen Dampfwolke herangeschwebt war.

Sowohl M als auch Bond hatten Easy St. John eine Zeit lang ausgefragt, denn sie schien eine besondere Beziehung zu der verstorbenen Einsatzleiterin gehabt zu haben.

»Sie sagten, sie hatte einen Freund in D.C.?«

»Ja. Liz und ich waren … Nun ja, wir haben uns gegenseitig unsere kleinen Geheimnisse anvertraut …«

»Das war alles, nur Gespräche unter Frauen? Sie haben keine vertraulichen Informationen weitergegeben?«

»Nur Gespräche unter Frauen.« Easy legte die Stirn in Falten und rümpfte die Nase in einer vertrauten Geste, die sie immer dann einsetzte, wenn sie der Meinung war, jemand behandele sie unfair. »Liz war eine erstklassige Offizierin und ich bin stolz darauf, dass ich ihr nie eine Frage gestellt habe, die sie in Bedrängnis hätte bringen können. Ich hätte sie nie nach geheimen Informationen gefragt, die ich nicht kennen musste.« Letzteres sagte sie mit einem unterschwelligen Selbstbewusstsein, als wollte sie sagen: Wie können Sie es wagen, mir zu unterstellen, ich hätte über geheime Angelegenheiten gesprochen?

»Erzählen Sie uns von dem Freund«, drängte M.

»Er ist Anwalt. Die Agency heuert ihn gelegentlich an. Er ist sauber. Es war ein großer Schock für ihn. Ich würde sogar sagen, er war von Kummer überwältigt …«

»Sein Name?«, fragte Bond.

Easy zögerte kurz. Dann antwortete sie: »Richards. Simon Richards. Robertson, Richards und Burns. Eine sehr alte Anwaltskanzlei in Washington D.C. Wie schon gesagt, sie arbeitet mit der Agency.«

»Und Sie sagen, sie war treu?«

»Durch und durch.«

»Sind Sie sicher?«

Wieder entstand eine Pause. »Ja. Ich erinnere mich nur …«

»An was?«

»An eine kleine Indiskretion. Das muss vor zwei Jahren gewesen sein. Sie hat mir beim Mittagessen davon erzählt, das muss … oh, das muss 89 gewesen sein. Ich weiß, dass wir im Maison Blanche zu Mittag gegessen haben. Das weiß ich ganz sicher. Genauso wie ich weiß, dass sie sich wirklich schlecht gefühlt hat. Wegen des kleinen Seitensprungs, meine ich. Sie müssen wissen, Liz war ein Mädchen, das sich nach der Ehe gesehnt hat. Sie wollten heiraten, Liz und Simon. Daran gab es keine Zweifel. Sie hat mir gesagt … Ich meine, die Worte, die sie benutzt hat …«

»Was hat sie Ihnen gesagt?«

»Ihre Worte waren: ›Mein Gewissen ist unrein. Ich fühle mich schmutzig.‹«

»Sie hat sich schmutzig gefühlt wegen eines Fehltritts?«

Easy nickte. »Sie wollte es sogar Simon erzählen. Ich habe ihr geraten, es für sich zu behalten.«

M nickte und in der darauffolgenden Stille fragte Bond, ob der Vorfall in Washington D.C. stattgefunden habe.

»Sie war gerade aus Europa zurückgekommen. Ich nehme an, von ihrer Arbeit mit Cabal.«

Bond und M tauschten einen Blick aus, der Bände von Zweifeln kommunizierte.

»Diese Indiskretion hat also in Europa stattgefunden.«

»Oh ja.«

Bond seufzte. »Easy, warum haben Sie uns das nicht gleich gesagt?«

»Weil es ein einziges Mal war. Eine einmalige Sache. Es ist einmal passiert und es hat sie schwer belastet.«

»Es war also nicht eine dieser Indiskretionen, von denen manche Frauen behaupten, es sei nur ein einziges Mal gewesen, und dann stellt sich heraus, dass es mit der gesamten Band der Royal Marines passiert ist?«

»Das ist beleidigend, Captain Bond. Ich finde das höchst beleidigend.«

»Okay, Easy, tut mir leid, aber wir müssen wissen …«

»Sie hat gesagt, es würde nie wieder passieren.«

»Und Sie haben ihr geglaubt?«

»Natürlich!« Das Wort kam sehr aufgebracht und defensiv über ihre Lippen.

»Easy«, sagte Bond leise. »Das wissen Sie nicht mit Sicherheit. Das können Sie nicht mit Sicherheit wissen.«

»Liz war eine ehrenhafte …«

»Ehre hat nichts mit Verlangen zu tun, Easy. Waren Sie noch nie mit einer Situation wie dieser konfrontiert? Ich meine nicht Sex – irgendeine vergleichbare Situation?«

»Nein. Wenn ich sage, dass ich etwas nicht mehr tun werde, dann tue ich es auch nicht. Liz war genauso.«

»Hat sie den Namen dieses Liebhabers erwähnt?«

»Nicht wirklich. Hans oder Franz oder so was in der Art. Kein Familienname. Er war Deutscher.«

»Oh mein Gott!« Bond seufzte. Das war ein weiterer Beweis für Easys potenziell todbringende Unerfahrenheit und es machte ihn noch unglücklicher, mit ihr in einer sehr gefährlichen Gegend arbeiten zu müssen.

Doch Liz Cearns war sehr erfahren gewesen. Wäre sie auf einen der ältesten Tricks in ihrer Branche hereingefallen? Die umgekehrte Honigfalle? Hatte sie das, was in der Branche als das Freudenjungen-Syndrom bekannt war? Bond wusste es einfach nicht, aber die ganze Sache ließ ihn an Miss Easy St. John und ihrem Begriff von Ehre zweifeln, ganz zu schweigen von ihrem blinden Glauben an Leute, die sie mochte.

Er erhob sich vom Bett, ging zum Spiegel und betrachtete sein Spiegelbild. Für einen Moment fragte er sich, ob ihn sein Tod auf unerwartete und absurde Weise ereilen würde. Denn was könnte schlimmer sein, als in dem Moment zu sterben, in dem man einen geliebten Menschen in die Arme schließen wollte?

Er zog sich an. Eine rasiermesserscharf gebügelte Hose, ein Hemd von Turnbull & Asser mit einer Krawatte der Royal Navy und einen maßgeschneiderten Blazer, der nicht einmal an der Stelle ausbeulte, an der er die ASP trug, die hinten an der rechten Hüfte in seinem Hosenbund steckte.

Easy sollte inzwischen angekommen sein. Sobald sie sich bei ihm gemeldet hatte, würde er hinuntergehen und zu Abend essen. Im Kempi gab es wunderbaren Räucherlachs, erinnerte er sich. Auch das Beef Wellington war himmlisch.

Er stand gerade wieder vor dem Spiegel und rückte seine Krawatte zurecht, als das Telefon klingelte.

»Hallo?« Er erwartete, dass es Easy war, also war er bereit für ihre Codeabfolge.

»James?«

»Ja?« Er war seltsam beunruhigt, weil sie eigentlich nach Jim Goldfarb fragen sollte.

»Ich bin in 202. Ich denke, Sie sollten schnell herkommen.«

»Was ist los?«

Sie sollte wenigstens das Wort ›ungewöhnlich‹ sagen, wenn etwas nicht stimmte. Stattdessen kam nur: »Kommen Sie einfach sofort. Es ist dringend.«

Ihre Stimme klang ruhig und er konnte keine Angst erkennen. Er berührte die ASP wie einen Talisman, verließ die Suite und ging den Korridor hinunter zu Zimmer 202, wo er an die Tür klopfte.

»Es ist offen«, rief sie und er stieß die Tür vorsichtig auf.

»Dauert nur einen Moment, James.« Ihre Stimme klang leise hinter der halb geöffneten Badezimmertür.

Dann, als er die Tür mit dem Fuß hinter sich zuschlug, erschien sie in der Tür, ihr Gesicht grau vor Angst. Ein Mann stand hinter ihr, den Arm um ihren Hals gelegt.

Er war groß, Anfang sechzig, mit schütterem grauem Haar, das ihm aus der Stirn gekämmt war. Er trug eine dicke Aschenbecherbrille, war unrasiert und sah aus, als hätte er in dem unförmigen braunen Anzug geschlafen, der an seinem Körper herunterhing und ihn aussehen ließ, als hätte er in kurzer Zeit viel Gewicht verloren.

Er hielt Easy St. John vor sich wie einen Schutzschild und schob sie ins Zimmer. Mit dem linken Arm zog er ihren Kopf nach hinten und zwang sie nach vorne, während er in der rechten Hand, die er vor ihren Körper hielt, eine fiese kleine IMI-Desert-Eagle-Automatik hielt – die .44er-Magnum-Ausführung, dachte Bond. Nicht dass es einen großen Unterschied gemacht hätte, die Israelis hatten eine Handfeuerwaffe entwickelt, die ein Ziel auf diese Entfernung in beiden Ausführungen ausschalten würde.

»Verzeihen Sie«, sagte der Mann. Er sah durch die dicken Brillengläser, die seine Augen riesig erscheinen ließen, seltsam verzerrt aus. »Sie sind der neue Vanya, wie ich höre.«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen, mein Freund. Warum lassen Sie die Dame nicht gehen? Es ist nicht leicht, ein vernünftiges Gespräch zu führen, wenn jemand mit so einem Ding herumfuchtelt.«

»Ich möchte am Leben bleiben.« Er hatte einen starken Akzent. Ein Münchner, dachte Bond, obwohl er kein Professor Higgins war, was deutsche Dialekte betraf.

»Ich glaube, das wollen wir alle.«

»Dann setzen Sie sich bitte.« Er zeigte mit der Mündung der Desert Eagle in Richtung eines Sessels. Er wusste, wie man mit der Waffe umging, Sehschwäche hin oder her.