Die blutigen Vettern - John Gardner - E-Book

Die blutigen Vettern E-Book

John Gardner

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Beschreibung

Die Vettern Peter und Paul Magnus leben von der Gewalt. Aus Stripklubs im Londoner Vergnügungsviertel, aus Spielhöllen, von Callgirls, als erpresserische «Beschützer» von Geschäftsleuten ziehen sie skrupellos Gewinne. Da taucht Konkurrenz aus Amerika auf: Mafiosi! Ein Unterweltkrieg ohne Beispiel entbrennt, bei dem auch Inspektor Derek Torry von Scotland Yard Kugeln, in die Luft gesprengte Etablissements und Leichen um die Ohren fliegen … (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 203

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John Gardner

Die blutigen Vettern

Aus dem Englischen von Klaus Prost

FISCHER Digital

Inhalt

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1

»Sind Sie Robert Eric Terrice?« fragte der Große mit harter, unangenehmer Stimme.

»Ja.« Die Antwort klang verwundert.

»Sind Sie Besitzer eines hellgrauen Bentley S 3?«

»Ja, aber …«

»Halten Sie den Mund.« Der Große zeigte einen Dienstausweis. »Mann. Chefsuperintendent Mann, von Scotland Yard, Abteilung C 1. Sagt Ihnen das was?«

»Was?«

»Das verdammte C 1.«

»Sollte es das?«

»Eigentlich schon. Mein Freund hier ist auch von C 1: Inspektor Robins.«

Terrice wollte aufstehen, aber Mann beugte sich vor und drückte ihn in seinen Sitz zurück.

»Noch nicht, Junge. Ihnen gehört also ein hellgrauer Bentley S 3 mit der Zulassungsnummer CXT1567 A?«

»Ja, das ist meiner. Bezahlt, versteuert und versichert.«

»Und Sie sind mit diesem Wagen heute morgen von Calais kommend auf der Lord Warden in unser Land eingereist?«

»Das wissen Sie doch verdammt genau.«

»Und wo sind Sie gewesen?«

»In Frankreich, aber ich weiß nicht …«

»Unwichtig, was Sie nicht wissen! Wo in Frankreich? Haben Sie sich an der Pracht der Loireschlösser erfreut? Oder an der üppigen Schönheit der Weingärten von Burgund? Oder haben Sie sich vielleicht mit einer echten Pariser Nutte amüsiert?«

»In Paris war ich.«

»Nur durchgefahren oder dageblieben?«

»Muß ich Ihre blöden Fragen eigentlich beantworten? Was soll ich denn verbrochen haben?«

»Sie brauchen meine Fragen nicht zu beantworten, und ich habe nicht gesagt, daß Sie was verbrochen haben. Aber ich würde Ihnen raten zu antworten. In Ihrem eigenen Interesse würde ich Ihnen raten, alles auszuspucken, was Sie wissen.«

»Er meint, daß es sonst für Sie sehr ungemütlich werden könnte«, präzisierte Robins.

»Wo waren Sie in Frankreich?« wiederholte Mann.

»In Nizza. Ich fuhr nach Nizza.«

»Auf welchem Weg?«

»Dem kürzesten, über Grenoble und Grasse.«

»Und auf dem Rückweg?«

»An der Küste entlang. Über Marseille und dann das Rhônetal rauf.«

»Was haben Sie in Nizza getan?«

»Was glauben Sie wohl?«

»Sonne, saufen und vögeln.«

»Ja, so was in der Art.«

»Sind Sie über Nacht in Marseille geblieben?«

»Nur eine Nacht. Was soll ich eigentlich angestellt haben?«

»Wissen Sie das wirklich nicht?«

»Verdammt, nein! Ich weiß es nicht.«

»Sie sind eine Nacht in Marseille geblieben?«

»Das habe ich Ihnen gerade gesagt.«

»Und war Ihr Wagen in einer Werkstatt?«

»Woher wissen Sie das? Ja, ich hatte Ärger mit den Scheinwerfern.«

»War er über Nacht in der Werkstatt?«

»Ja, eine Nacht.«

»Das genügt gerade.«

»Um die Scheinwerfer zu richten, ja.«

»Um das Zeug einzuladen.«

»Was für Zeug einzuladen?«

»Unwichtig. Wie haben Sie die Nacht verbracht?«

»Schlaflos.«

»Können Sie nachweisen, wo Sie waren?«

»Ja. Ich war bei einem Mädchen. Ich hatte ihre Nummer von einem Kerl in Nizza.«

»Was für ein Kerl?«

»Ich habe ihn irgendwo kennengelernt. Ich hatte ihm erzählt, daß ich durch Marseille komme. Und da gab er mir die Nummer.«

»Und Sie haben die Nacht bei diesem Mädchen verbracht?«

»Die ganze Nacht.«

»Glauben Sie, daß sie es bestätigen wird?«

»Das weiß ich nicht. Ich glaube schon.«

»Haben Sie eine Rechnung von der Werkstatt?«

»Nein. Ich habe am nächsten Morgen bar bezahlt.«

»Welche Werkstatt?«

»Mein Gott, den Namen weiß ich nicht! Ganz nahe bei meinem Hotel. Ich könnte sie Ihnen zeigen.«

»Meinen Sie wirklich, wir würden das Geld der Steuerzahler verschwenden, um mit Ihnen einen Ausflug nach Marseille zu machen, damit Sie uns die Werkstatt zeigen können?«

»Liegt etwas gegen mich vor?«

»Vielleicht.«

»Was? Daß ich in Marseille mit einem Mädchen geschlafen habe?«

»Daß Sie einen Bentley nach England eingeführt haben, bei dem jeder Hohlraum mit Scheiße vollgestopft ist.«

»Mit was?«

»Mit hundertfünfzig Pfund Heroin.«

»Sie sind verrückt. Ich weiß nichts von Heroin.«

»Terrice, ich glaube Ihnen. Ich nehme an, daß Sie bezahlt wurden, um nach Nizza zu fahren und sich ein paar schöne Tage zu machen. Sie hatten den Auftrag, auf der Rückfahrt durch Marseille zu kommen. Dort sollten Sie Ärger mit den Scheinwerfern haben und den Wagen in die Werkstatt bringen. Außerdem hat man Ihnen eine Telefonnummer gegeben, über die Sie ein Mädchen erreichten. Sie blieben die ganze Nacht bei dem Mädchen, während einige Herren Ihren Wagen mit Heroin vollstopften. Wer hat Sie bezahlt, Terrice? Nennen Sie uns die Namen!«

»Niemand hat mich bezahlt. Ich weiß überhaupt nichts. Ich will meinen Anwalt sprechen.«

»Dann bringen wir Sie am besten zu ihm. In London können wir in Ruhe die Anzeige aufsetzen. Machen Sie mir nichts vor, Terrice. Ich kriege die Namen, und wenn ich sie mit glühenden Zangen aus Ihnen herausziehen müßte.«

»Ich will meinen Anwalt sprechen.«

»Wenn Sie nicht aufpassen, werden Sie eher einen Arzt brauchen. Holen Sie den Wagen, Robins. Wir fahren zum Yard.«

2

Sie fuhren in dem schwarzen Zodiac von der Fahrbereitschaft der Kriminalpolizei, mit dem sie nach Dover gekommen waren. Vorn saßen der uniformierte Fahrer und ein Polizist. Terrice saß bleich und erschüttert hinten zwischen Mann und Robins.

Sie waren etwa drei Meilen auf der Autobahn gefahren, als der Fahrer den Verfolger bemerkte.

»Hinter uns ist ein weißer Jaguar. Seit etwa einer Meile hält er gleichen Abstand zu uns.«

Mann schaute aus dem Rückfenster und befahl: »Fahren Sie schneller!«

Der Fahrer gehorchte, aber der Jaguar hielt seinen Abstand.

»Wir hätten in Dover bleiben sollen«, murmelte Robins.

Der Jaguar begann aufzuholen. Als Mann sprach, klang es drängend. »Geben Sie einen Notruf durch! Hier irgendwo müssen Streifenwagen sein. Sie sollen schnell herkommen.«

Der Polizist griff nach dem Mikrophon und begann zu sprechen, aber er brachte den ersten Satz nicht zu Ende.

Der Jaguar schoß vor, als ob er den Zodiac überholen wollte. Ein paar Sekunden war er direkt neben und viel zu dicht an dem Polizeiwagen.

»Die sind wahnsinnig! Weichen Sie aus! Um Gottes willen, fahren Sie zur Seite!« schrie Mann.

Der Lärm der Motoren und Reifen übertönte das metallische Klicken auf dem Kofferraum des Zodiac. Mann hatte gerade noch Zeit, einen Blick nach hinten zu werfen, während der Jaguar vorbeischoß. Der Polizeifahrer bremste heftig.

»Was ist das? Da klebt ein rundes Ding am …«

Der chemische Zünder brachte die Magnetbombe auf dem Zodiac zur Explosion. Der Wagen wurde in zwei Teile gerissen. Robert Terrice, der Bombe am nächsten, wurde völlig zerfetzt. Mann zu seiner Rechten und Robins zur Linken wurden buchstäblich halbiert und mit Blechfetzen zur Seite geschleudert. Sie spürten nichts. Der Vorderteil des Wagens, in lodernde Flammen gehüllt, fuhr weiter und prallte gegen die Leitplanke, wo er zu einem unförmigen Metallblock verschmolz. Der Fahrer und der Polizist wurden zerquetscht und verbrannten darin.

Später berichtete ein Augenzeuge, ein Mann auf dem Rücksitz des Jaguars habe einen runden Gegenstand geschickt auf den Kofferraum des Zodiac geworfen, bevor der Jaguar mit hoher Geschwindigkeit verschwand. Das Ding habe wie eine große graue Keksbüchse ausgesehen.

Die nach Norden führende Fahrspur der Autobahn M 2 war fast drei Stunden gesperrt. Die örtliche Polizei räumte die Straße und suchte nach Informationen über den weißen Jaguar, während in London die ganze Abteilung C alarmiert wurde. Vier Polizeibeamte hatten bei dem Anschlag ihr Leben verloren. Nichts kann die Polizei schneller in Alarm versetzen, als wenn eigene Leute ermordet werden.

In Scotland Yard sprach Superintendent Tickerman von C 1 ziemlich lange mit seinem Chef, dem Chefsuperintendenten, der von allen Angehörigen von C 1 nur der Guv’nor genannt wurde. Der Guv’nor gab ein knarrendes Räuspern von sich, was bei ihm als das Deutlichste an Gefühlsäußerung galt. »Ich kann immer noch nicht begreifen, daß Terrice mit einer solchen Ladung direkt nach Dover kam.«

»Nun, er war ja nicht allein.«

Der Guv’nor dachte einen Augenblick nach. »Nein. Als Mann ihn am Kragen hatte, brachten sie ihn um.«

»Und mit ihm vier Polizisten. Vier gute Polizisten. Es bleiben uns hundertfünfzig Pfund Heroin.«

»Und das beunruhigt mich.«

»Was? Die Menge?«

»Hören Sie, Ticker, wer importiert solche Mengen?«

»Hier im Land niemand.«

»Richtig. Es gibt nur eine Gruppe in der Welt.«

»Genau, aber das ist nicht ihr Stil, selbst wenn sie den Markt bei uns übernehmen wollten. Sie kennen doch alle Berichte. Wie oft wird ein unschuldiger Außenstehender bei ihren Aktionen verletzt? Wie oft töten sie einen Polizisten?«

»Sehr selten. Es stimmt, das ist nicht ihr Stil.« Der Guv’nor brummte. »Immer das gleiche. Große Mengen erwischen wir nur, wenn wir einen Tip kriegen. Ohne diesen Anruf hätten wir uns nie um den verdammten Bentley gekümmert, und wenn diese Burschen einen großen Schlag planten, dann wußte Terrice nichts davon. Sie hätten ihn nicht umzubringen brauchen.«

»Torry müßte über ihre Arbeitsweise Bescheid wissen.«

Tickerman meinte Inspektor John Derek Torry von C 1, dem die älteren Beamten wie der Guv’nor trotz seiner ausgezeichneten Beurteilungen nie recht trauten. Es war eigentlich nicht Neid, denn die meisten Polizeibeamten bewundern erfolgreiche Kollegen durchaus. Es war etwas in Torrys Werdegang, das sie störte. Vielleicht nur die Tatsache, daß er nicht die traditionelle Polizeilaufbahn hinter sich hatte, sondern seine Erfahrungen auf anderen Wegen gesammelt hatte.

Der Guv’nor war ein harter und zäher Mann, der sich langsam vom einfachen Polizisten emporgearbeitet hatte zu der verantwortlichen Stellung, die er jetzt innehatte. Torry dagegen war jung und gewandt und außerdem das Produkt zweier Gesellschaftsgruppen. Geboren in London, englische Mutter und italienischer Vater, mischte sich in ihm das Erbgut zweier starker und gegensätzlicher Rassen. Dadurch allein war er schon anders als seine Kollegen.

Dazu kam noch Torrys amerikanische Ausbildung. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs war er in die Vereinigten Staaten evakuiert worden. Er hatte zuerst Jura studiert, dann seine Staatsangehörigkeit gewechselt und war Polizist bei der Stadtpolizei von New York geworden.

Ursprünglich hatte er Torrini geheißen. Nach dem Tod seines Vaters war er nach England zurückgekehrt und hatte wieder die britische Staatsangehörigkeit angenommen. Bevor er sich um eine Stellung bei der Londoner Polizei bewarb, hatte er seinen Namen in Torry umgewandelt, weil das englischer klang.

 

Eine Nacht verging in höchster Aktivität, die aber keine neuen Erkenntnisse brachte. Nichts Neues über Terrice, keine Informationen über den weißen Jaguar. Zu diesem Zeitpunkt wußte man kaum etwas über Robert Terrice. Er schien aus dem Nichts gekommen zu sein und weder Freunde noch Verwandte zu haben.

Später an diesem Tag fand man dann seine Adresse. Seit Januar 1970 hatte Terrice in einer Wohnung in Notting Hill Gate in bescheidenem Luxus gelebt. Die Beamten, die sich über die Wohnung hermachten, hatten von Terrice keine Fingerabdrücke, so daß sie beim Sammeln der Abdrücke behutsam vorgehen mußten. Ein Kriminalbeamter arbeitete sich geduldig durch Bücher und Papiere. Sie enthüllten wenig und enthielten keine Hinweise auf Verwandte, Freunde oder die Bank des Verstorbenen. Die meisten Bücher befaßten sich mit Autos und Autorennen. Die übrigen waren Krimis und billige Romane.

Ein Kriminal-Constable verhörte den Hausmeister mit geringem Erfolg. Der Bentley war vor etwa sechs Monaten aufgetaucht. Der Hausmeister hatte sich darüber gewundert, weil er auf einen rasanten Jensen Interceptor folgte. Er fand, daß der biedere Bentley nicht recht zu Terrice paßte. In seiner Wohnung hatte er nur selten Besuche empfangen, darunter eine junge Frau. Der Hausmeister kannte ihren Namen nicht, aber sie sei hübsch gewesen, mit dunklem Haar und einer guten Figur. Sie sei oft die ganze Nacht geblieben. Ja, Terrice sei oft für längere Zeit verreist gewesen.

Am nächsten Morgen war der verstorbene Robert Terrice immer noch so etwas wie ein Rätsel. Es geschah nichts Neues bis zum Morgen des übernächsten Tages.

3

Das Zimmer im Dorchester sah aus wie ein Schlachthaus. Es roch unangenehm nach einer Mischung aus Blut und Schießpulver. Es waren Blutflecken an den Wänden, auch eine Menge an der Decke rund um ein schwarzes Einschußloch.

Die beiden Gestalten trugen Schlafanzüge und lagen auf dem Boden, eine mit einem grünseidenen Hausmantel bedeckt. Die Leiche in der Nähe der Tür lag da wie eine Puppe. Es fehlte der größte Teil des Schädels, aber das Kinn war in der blutigen Masse gut erkennbar.

Inspektor Derek Torry schlug im Geist ein Kreuz, wandte den Blick von den Leichen ab und fragte sich einen Augenblick, was er hier tat. Anscheinend verbrachte er eine Menge Zeit damit, Dinge zu betrachten, die sich aus menschlichen Wesen in Abfall verwandelt hatten. Gewaltsame Todesfälle gehörten zur Hauptbeschäftigung von C 1, der Abteilung »Crime One«.

Torry hatte Nachtdienst. Es war ruhig gewesen, trotz des Bombenanschlags auf der Autobahn. Es war eine Atempause, Zeit, um den endlosen Aktenkram zu erledigen. Im großen, kahlen Büro im vierten Stock von Scotland Yard hatte ein Duett von Schreibmaschinen geklappert, gespielt von Sergeant Hart und Torry.

Der Anruf kam um vier Minuten vor drei. Schießerei im Dorchester-Hotel. Das Polizeiamt Westend war am Tatort. Torry rief Tickerman an, der ihm verschlafen zuhörte und sagte, er wolle am Morgen einen Bericht auf seinem Schreibtisch haben. Hart forderte einen Wagen an, und dann waren sie draußen in der klammen Finsternis von London.

Trotz der Nachtstunde herrschte noch Verkehr in der Park Lane. Der Fahrer schaltete die Sirene ein, und sie rasten davon. Vor der einstmals beeindruckenden Hotelfront drängte sich eine Menschenmenge.

»Brauchen die überhaupt keinen Schlaf?« fragte Hart.

Torry schwieg. Er mochte Hart nicht besonders, und dieses Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit. Fast war es, als ob sie die Ähnlichkeit ihrer Charaktere erkannt hätten. Ihre Abneigung erzeugte sonderbarerweise eine Art von gesundem Respekt.

Die Zahl der uniformierten Beamten, die sich vor dem Hotel aufhielten, hätte ausgereicht, um ein paar größere Demonstrationen aufzulösen. Torry und Hart zeigten dem Mann in Uniform neben der Glastür ihre Dienstausweise und gingen durch die Halle zu den Fahrstühlen. Ein uniformierter Sergeant nannte ihnen die Zimmernummer im dritten Stock. Schweigend fuhren sie nach oben. Jetzt blickten sie auf das Gemetzel.

Am anderen Ende des Zimmers, bei den Fenstern, entdeckte Torry zwei Kriminalbeamte vom Polizeiamt Westend. Er wußte ihre Namen nicht, aber die Gesichter kannte er. Der Superintendent sah herüber und erkannte Torry.

»Crime One zur Entlastung.« Es klang ein wenig spöttisch.

Torry ging bedachtsam auf den Superintendenten zu. Hart folgte ihm. »Wir dachten, wir schauen mal herein, Sir. Können wir helfen?«

»Wir könnten den halben Yard brauchen. Wer ist Ihr Vorgesetzter?«

»Mr. Tickerman, Sir.«

»Er wird einen Bericht verlangen. Ich gebe Ihnen die Einzelheiten.«

Die beiden Getöteten auf dem Boden waren Amerikaner. Geschäftsleute, im Gästebuch des Hotels als Paul Denago und Richard Fantonelli eingetragen. Sie hatten schon einmal im Dorchester gewohnt, vor etwa drei Monaten. Bei diesem früheren Besuch hatten sie den Eindruck erweckt, daß sie Geschäft mit Vernügen zu verbinden wußten. Am vorhergehenden Abend hatten Denago und Fantonelli allein im Hotel gegessen und sich um kurz vor elf ihren Zimmerschlüssel vom Empfang geholt.

Die Schüsse, die die Gäste und den Nachtdienst im dritten Stock geweckt hatten, waren um halb drei gefallen. In der Halle hatte es keine ungewöhnlichen Vorkommnisse gegeben. Niemand hatte verdächtige Personen auf dem Weg zum oder vom dritten Stock beobachtet.

»Was haben wir für Beschreibungen?« Hart deutete auf die Leichen.

»Ihre Pässe.« Der Superintendent winkte einem Beamten in Zivil, der mit zwei Pässen zu ihnen kam, die geöffnet in Plastikhüllen steckten. »Als Beruf haben sie Geschäftsführer angegeben«, sagte er.

Die Paßfotos waren durch die Plastikhüllen gut zu erkennen. Beide schienen um Mitte Vierzig zu sein. Unverkennbar italienische Gesichtszüge, wie man sie überall in Europa und Nordamerika findet.

Torry deutete mit dem Finger auf Fantonellis Foto. »Den kenne ich.«

»Wirklich?« fragte der Superintendent hoffnungsvoll.

»Ich kenne sein Gesicht. Ich möchte wetten, daß er zur Mafia gehört. In Washington haben sie bestimmt etwas über ihn.« Er strengte sein Gedächtnis an und versuchte sich an die Zeit in New York zu erinnern, aber es fiel ihm nichts ein außer der Tatsache, daß dieses Gesicht irgendwann einmal in einer Akte aufgetaucht war und in Beziehung zur Mafia stand.

Torry und Hart blieben fast eine volle Stunde und notierten sich Einzelheiten, bevor sie in die Abgeschiedenheit ihres Büros zurückkehrten, um den Bericht für Tickerman zu schreiben. Um acht Uhr war ihr Dienst zu Ende, und Torry kehrte in seine Wohnung in der Cromwell Road zurück: zwei Zimmer mit Bad und Küche im ersten Stock. Als er an diesem Morgen heimkam, immer noch bedrückt von den Ereignissen der Nacht, hatte Torry das Gefühl, daß die Wohnung noch dürftiger und ungemütlicher war als sonst.

Es waren fast auf den Tag genau acht Wochen, seit Sue ihre Verlobung gelöst hatte. Seit diesem Zeitpunkt fand er seine häusliche Umgebung bedrückend. Der Abbruch der Verlobung kam für Torry nicht überraschend. Sie hatten viele Meinungsverschiedenheiten, darunter wegen seiner Unfähigkeit, seine höchst paradoxen Gefühle in bezug auf den römisch-katholischen Glauben zu erklären, mit dem er aufgewachsen war und der ihn einhüllte wie ein geliebter alter Mantel, der von den vertrauten, wenn auch nicht lieblichen Gerüchen der Vergangenheit durchtränkt war.

Als Polizist hatte er gelernt, genau und logisch zu denken. Als Lehrerin hatte Sue Crompton eine ähnliche Einstellung zu den Tatsachen, aber sie fand, daß seine Argumente und Handlungen in bezug auf religiöse Dinge zu einer Besessenheit führten, die ihn unbeweglich machte.

»Derek, es tut mir leid«, sagte sie an jenem letzten Abend. Ihre Brustwarzen zeichneten sich herausfordernd unter dem schwarzen Rollkragenpullover ab. Torry sah das Bild vor sich, wie sie den einen Fuß vorgestellt hatte und sich der rote Rock über ihrem Schenkel spannte, so daß er wieder jenes alte verzweifelte Verlangen spürte, das sich auflehnte gegen das Gefühl für Familientradition, Religion und den ganzen Mist aus der Vergangenheit, der die Liebe verbot, wenn sie nicht den Segen der Kirche hatte. »Ich weiß, daß du an diese Dinge nicht mehr glaubst als ich. Wir haben zu oft darüber gesprochen.« Ihre Augen glitzerten verdächtig, die Tränen waren nahe. »Es ist so einfach. Ich verstehe dich nicht. Ich verstehe nicht, warum du an Dingen hängst, von denen du selbst zugibst, daß sie aus einem überholten Aberglauben stammen.«

Er versuchte es noch einmal zu erklären. Aber wie schon so oft in der Vergangenheit wurde das Gespräch explosiv, und endlich verließ sie ihn auf dem Höhepunkt eines verletzenden Streits.

»Mama hat recht, Derek«, sagte sein Bruder Roberto, als Torry ihm anvertraute, daß die Verlobung geplatzt war. »Du solltest dir wie ich ein gutes katholisches Mädchen suchen. Ich bin mit Therese von Anfang an glücklich gewesen. Wir verstehen uns. Es ist gefährlich, jemand zu heiraten, der nicht zur eigenen Art gehört.«

»Ich bin nicht du, Bobby.«

»Aber du gehst noch zur Messe und besuchst Pfarrer Conrad.«

»Ich bin nicht katholischer als der Vorsitzende Mao. Es ist eine Gewohnheit, ein Symbol, um den bösen Blick abzuwehren, Bobby. Es macht mich selbst verrückt. Sue wollte mit mir schlafen. Seit zwei Jahren will sie das, und ich lehnte ab. Sie war meine Braut, und trotz meiner Wünsche behandelte ich sie mit dem Respekt des Bräutigams. Ich verstehe mich selbst nicht. Ich schlafe mit anderen Mädchen, und ich glaube, sie weiß das. Aber sie könnte ich nicht anrühren.«

Als Torry jetzt allein in seinem Wohnzimmer stand, erinnerte er sich an diese Gespräche mit Sue und mit seinem Bruder. Aber dann fiel ihm wieder dieser Doppelmord ein, das Bild der beiden Leichen im Dorchester, die zersplitterten Knochen und das Blut – der Schmutz der Gewalt. Er zuckte die Achseln und ging langsam ins Badezimmer.

4

Drei Autos waren da. Eins vor der Telefonzelle und eins direkt dahinter, beide dicht am Randstein. Das dritte auf der anderen Straßenseite. Weiter oben an der Straßenkreuzung dröhnte immer noch der nächtliche Verkehr von New York.

Don Peppe sah auf seine Uhr. In drei Minuten mußte der Anruf kommen. Das war ein Teil ihres abhörsicheren Nachrichtensystems.

In London lag Anthony Chassen in seinem Hotelzimmer auf dem Bett. Das Telefon stand in Reichweite, und er beobachtete es wie eine angriffslustige Klapperschlange.

Don Peppe beugte sich vor und sprach leise zu den Männern auf den Vordersitzen des Wagens. Der Fahrer ließ die Scheinwerfer kurz aufleuchten. Der Wagen auf der anderen Straßenseite antwortete mit einem Aufblitzen, während der Wagen vor ihnen mit den Bremsleuchten blinkte. Die Männer in den drei Wagen waren bereit. Giuseppe Vescari – kurz Don Peppe genannt – war im Begriff, den Wagen zu verlassen. Damit würde er in den nächsten Minuten im Freien sein, bei Nacht, an einem der denkbar gefährlichsten Orte: in einer beleuchteten Telefonzelle.

Peppe glitt vom Rücksitz, schloß leise hinter sich die Tür und ging langsam zur Telefonkabine. Als er das gläserne Rechteck erreichte, begann die Glocke zu läuten.

In seinem Zimmer im Hotel Mayfair griff Anthony Chassen zum Hörer.

»Ihre Anmeldung für New York.«

»Gut, danke.«

Ein leises Rauschen, und dann Peppes Stimme. »Anthony?«

»Ja, ich bin hier.«

»Wie sieht es bei dir aus?«

»Nicht gut. Es wird dir nicht gefallen.«

Ein keuchendes Luftholen am anderen Ende in New York. »Was ist passiert?«

»Der Fahrer und vier Bullen sind tot. Anscheinend eine Bombe im Wagen.«

»Piromani – Brandstifter!«

»Es gibt noch Schlimmeres.«

»Was?«

»Paul und Ricardo. Beide tot.«

»Was?« Ungläubig. »In London? Unmöglich!«

»In ihrem Hotelzimmer.«

»Paul und Ricardo. Non e possibile. Was sind das für Schweine, mit denen wir es zu tun haben. Wissen sie, daß du in London bist?«

»Ich glaube, nicht.«

»Und sie weigern sich, die Vereinbarung einzuhalten?«

»Das ergibt sich aus dem, was mit Paul und Ricardo geschehen ist.«

»Ricardo war mit einer Tochter der Schwester meiner Mutter verheiratet. Kannst du an sie herankommen?«

»Ein Gegenschlag?«

»Nicht gegen sie. Gegen jemand, der ihnen nahesteht. Es soll ihnen weh tun. Danach die Verhandlungen neu eröffnen. Ruf mich in zwei Tagen an!«

 

Torry hatte gebadet und sich rasiert. Er zog gerade die Vorhänge zu, um das Tageslicht aus seinem Schlafzimmer zu verbannen, als das Telefon klingelte. Im selben Augenblick wußte er, daß er an Schlaf nicht mehr denken durfte. Tickerman war am Apparat.

»Nun, waren Sie schon im Land der Träume, Derek?«

»Noch nicht, es sei denn, Sie sind ein besonders häßlicher Traum.«

»Jedenfalls sind Sie nicht ganz so bösartig wie Hart. Ich glaube, er hatte ein Mädchen bei sich.«

»Er ist jung und attraktiv, wie ich es auch mal war.«

»Vor langer Zeit«, sagte Tickerman lachend.

»Was gibt es?«

»Ihr Typ wird verlangt.«

»Sofort?«

»Vor zehn Minuten. Sie stehen auf der Einsatzliste. Der Guv’nor hat Arbeit für uns.«

Torry lächelte traurig. »Weil ich meinen großen Mund nicht halten konnte und sagte, ich kenne Fantonelli?«

Tickerman am anderen Ende kicherte. »Er nannte Sie unseren Fachmann für amerikanische Angelegenheiten.«

»Dann darf ich ihn nicht enttäuschen. Ich komme so schnell wie möglich, Tick.«

 

Der Guv’nor stand hinter seinem Schreibtisch. Vor ihm in dem kahlen Büro saßen Tickerman, Hart und Torry. Torry lümmelte auf seinem Stuhl. Die beiden anderen saßen kerzengerade.

»Es tut mir leid, daß ich Ihre Freizeit unterbrechen und Sie so kurzfristig zum Dienst zurückholen mußte.« Der Guv’nor richtete seinen Blick erst auf Torry, dann auf Hart. »Sind Sie mit dem jüngsten Fall der Rauschgiftabteilung vertraut? Die Heroinladung in Dover und der anschließende Mord an vier Polizisten und einem Verdächtigen, Robert Terrice?«

Sie nickten. Fast im Takt, dachte Torry: nickende Bullen.

»Ich habe Ihren Bericht über die Schießerei im Dorchester heute nacht gelesen.« Der Guv’nor machte eine Pause. »Aus guten Quellen wissen wir jetzt, daß Robert Terrice ein enger Mitarbeiter von Peter und Paul Magnus war. Er fuhr für sie.«

Die Neuigkeit erfüllte den Raum wie elektrische Spannung. Die Vettern Magnus, Peter und Paul, waren ein Paar, für dessen Überführung jeder Londoner Polizist seine Pension geopfert hätte. Sie waren eine Landplage, Abschaum – aber nicht zu überführen.

Es gab keine Beweise gegen sie. Sie beherrschten die Kunst, Tatsachen zu verschleiern und Beweisstücke zu verbergen. Man brauchte kein Hellseher zu sein, um die Namen von vier Spielklubs zu nennen, die den Vettern Magnus gehörten und von ihnen betrieben wurden. Außerdem beherrschten sie eine Anzahl kleinerer Klubs und kassierten Schutzgebühren von einer Reihe von Callgirlringen im Westend. Aber Beweise zu finden, um sie vor Gericht zu bringen, war etwas anderes.

Der Guv’nor fuhr fort: »Es ist noch eine andere interessante Tatsache ans Licht gekommen. Vier Mitglieder des Hotelpersonals – ein Portier, zwei Kellner und ein Liftboy – geben an, daß Fantonelli und Denago bei ihrem letzten Besuch vor drei Monaten einmal zwei Männer im Hotel empfingen. Die gleichen beiden Männer empfingen und bewirteten sie am Abend ihrer Ankunft vor drei Tagen. Die beiden Männer wurden einwandfrei als Peter und Paul Magnus identifiziert.«

Wieder diese elektrische Spannung. Da war ein Strohhalm, an den man sich halten konnte! Eine erste Verbindung!