Der Agent, meine Tochter & Ich - Jana Herbst - E-Book

Der Agent, meine Tochter & Ich E-Book

Jana Herbst

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Beschreibung

Witzig, romantisch und gefährlich: Der neue Agenten-Liebesroman nach »Highheels, Herz & Handschellen« von Jana Herbst! Sarah Wagner ist Anfang dreißig, zuverlässig, solide und berechenbar. Eigenschaften, die sie sich mit einem Baumwollschlüpfer teilt. Aber das stört sie nicht, denn sie liebt ihr beschauliches Leben als Alleinerziehende - Abwechslung und Abenteuer meidet sie genauso wie Clubnächte und Affären. Und doch lässt sie sich von ihren Freundinnen in einen Club schleifen, in dem sie Lars kennenlernt. Sie verbringt eine leidenschaftliche Nacht mit ihm, nach der sie sich heimlich aus seiner Wohnung schleicht, um in ihr ruhiges Leben zurückzukehren. Vier Wochen später gerät alles außer Kontrolle: Lars, ihr One-Night-Stand taucht auf, offenbart ihr, dass er Geheimagent ist und bringt Chaos in ihr Leben. Dann wird es plötzlich ernst, denn Sarah steckt unwissend in Lars' Mission. Tiefer und gefährlicher als beide ahnen ... »Der Agent, meine Tochter & Ich« ist ein eBook von feelings*emotional eBooks. Mehr von uns ausgewählte erotische, romantische, prickelnde, herzbeglückende eBooks findest Du auf unserem Blog: http://feelings-ebooks.de/. Genieße jede Woche eine neue Geschichte - wir freuen uns auf Dich!

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Jana Herbst

Der Agent, meine Tochter & Ich

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Witzig, romantisch und gefährlich: Der neue Agenten-Liebesroman nach »Highheels, Herz & Handschellen« von Jana Herbst!

Inhaltsübersicht

WidmungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47EpilogDanksagungLeseprobe: Highheels, Herz & HandschellenKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3
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Für meine beste Freundin

Ein Pullover hat uns zusammengeführt und nichts kann uns trennen

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Kapitel 1

Ooookkkkkay.

Die Situation war nicht völlig ausweglos.

Sarah könnte aus dem Bettlaken ein Seil knüpfen, daran aus dem Fenster klettern, nach Usbekistan fliehen und sich dort ein Loch graben, das so tief war, dass Archäologen sie erst drei Generationen später finden würden. Zusammengerollt und vermutlich immer noch mit einer leuchtenden Schamröte auf den mumifizierten Wangen. Allerdings musste sie dafür erst Lars-Rodriguez von selbigem Laken bekommen, was ihren Plan erheblich erschwerte. Denn im Gegensatz zu allen anderen Menschen, die zu fünfundsiebzig Prozent aus Wasser bestanden, bestand er zu gleichem Prozentsatz aus einer soliden Muskelmasse.

Oder sie konnte sich aus der fremden Wohnung schleichen, ihren eigenen Tod vortäuschen und ein neues Leben beginnen. Das Handling wäre ein wenig schwierig, denn sie brauchte gefälschte Ausweise, eine neue Identität, einen neuen Job und so weiter. Zuerst müsste sie allerdings ihre Tochter Lilly davon überzeugen, was in Anbetracht der Tatsache, dass diese sich in den achtjährigen Luca aus ihrer Klasse verliebt hatte, genauso erfolgversprechend schien, wie einem Hund klarzumachen, dass er ab jetzt eine Katze war.

Was, was um Himmels willen hatte sie sich dabei gedacht, mit Lars-Rodriguez nach Hause zu gehen?

Sarah Wagner tat so etwas nicht.

Sarah Wagner war anständig, grundsolide, respektabel und zuverlässig.

Guter Gott, die Beschreibung ihrer Person klang wie der Werbeslogan eines Baumwollschlüpfers. Trotzdem, One-Night-Stands waren nicht ihr Ding. Clubnächte auch nicht. Pinkfarbene Cocktails mit Ananasscheiben am Rand genauso wenig.

Und doch lag sie hier.

Nackt.

In einem Bett.

Nicht in ihrem. Und nicht allein.

Wenn ihre Vagina jubilieren könnte, würde sie es tun, und wenn Schamröte im Dunkeln leuchten könnte, wäre das Schlafzimmer verdammt hell.

Wie um sie darin zu bestätigen, dass ihre Situation nur allzu real war, legte ihr ebenfalls nackter Bettpartner seinen Arm besitzergreifend über ihren Oberkörper und zog sie näher an sich heran.

Ja, schön, das fühlte sich gut an.

Sie würde sogar so weit gehen, das Wort scharf zu benutzen, was sie in Bezug auf zwischenmenschliche Situationen noch nie getan hatte. Bisher hatte sie scharf eher in Zusammenhang mit Lebensmitteln und Messern verwendet. Oder allerhöchstens gedacht, wenn sie einen gut aussehenden Mann … nein, selbst dann nicht.

Sie war nicht eine jener Frauen, die Männern hinterherlechzte, die sich jeden Abend in einer Bar abschoss und die in dreihundert WhatsApp-Chats mit anderen Frauen über Männer lästerte oder Dates durchsprach. Denn sie hatte alles, was sie wollte: ihren Traumjob, ein wunderschönes Haus in Berlin und eine unglaublich tolle Tochter, die sie jeden Tag aufs Neue die Welt durch ihre Augen sehen ließ. Es war eine bunte, aufregende, friedliche Welt, die sie umgab, und die sie für nichts und niemanden austauschen würde.

Und doch lag sie hier.

Mit mehr Restalkohol im Blut, als sie für gewöhnlich im Laufe eines Jahres trank. Vermutlich war genau das der Punkt. Der Alkohol. Er war schuld, dass sie zweimal mit Lars-Rodriguez geschlafen hatte – und sie sprach hier nicht von Blümchensex.

Neeeeiiinnnn.

Sie musste dem Sahnehäubchen ja auch noch die Amarenakirsche draufknallen und wilden, leidenschaftlichen, hemmungslosen Sex haben. Worauf es Sarah Wagner auf gar keinen Fall, unter keinen Umständen abgesehen hatte. Bisher.

Uff.

Als sie begann, die Situation genauer zu analysieren, hob sie automatisch die Hand, um ihre Brille hochzuschieben, doch dank der Kontaktlinsen, die sie heute trug, griff sie ins Leere. Oh Mann.

Sie hätte am gestrigen Freitagabend einfach zu Hause bleiben sollen, wie immer.

Sie hätte den Mädels − welch nette Umschreibung für Damen Anfang bis Mitte dreißig − absagen sollen. Im Prinzip hatte sie es auch getan. Irgendwie. Nur, dass ihre Absage nicht ernst genommen worden war.

Auch diese bunten Cocktails hätte sie ablehnen sollen.

Aber vor allen Dingen hätte sie den Avancen des dunkelblonden Hünen standhalten sollen. Ja. Das war der entscheidende Fehler gewesen. Allerdings waren ihre Hormone, ihr Körper und ihre … nun ja, Libido da völlig anderer Meinung und applaudierten lautstark zu der Entscheidung, mit Lars-Rodriguez nach Hause gegangen zu sein. Und wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, musste sie zugeben, dass sie das Flittchen gewesen war, das Lars-Rodriguez angemacht hatte. Junge, Junge.

Gut, der Drops war gelutscht – Sarah errötete, als sie daran dachte, was noch alles gelutscht worden war –, sie konnte das Geschehene nicht mehr rückgängig machen, aber sie konnte sich dezent aus der Wohnung schleichen, nach Hause fahren und sich dort für die nächsten paar Jahrhunderte schämen. Immerhin kannte Lars-Rodriguez nicht ihren richtigen Namen. Denn zu allem Überfluss hatte sie –

»Madelaine«, seufzte Lars-Rodriguez neben ihr im Schlaf. Yep, sie hatte ihn auch noch in Bezug auf ihren Namen angelogen. Sie drehte sich zu ihm um. Grundgütiger. Dieser Mann war wirklich mit Abstand das Attraktivste, was sie seit Jahren gesehen hatte. Okay, das war auch nicht sonderlich schwer, sie arbeitete in einem Museum. Die meisten männlichen Besucher, mit denen sie Kontakt hatte, kamen dank ihres Rentnerausweises vergünstigt rein, und die andere Hälfte war so jung, dass sie mürrisch ihren Lehrern hinterhertrottete, während sie heimlich bei Instagram, Snapchat, Facebook und wer wusste schon genau, wo sonst noch, online war.

In Lars-Rodriguez’ Schlafzimmer war es dunkel, aber nicht so dunkel, dass sie ihren temporären Liebhaber nicht studieren konnte, denn durch die Lamellen der Jalousie schienen die Straßenlaterne und das flackernde Licht des Dönerladenschildes gegenüber. Oh, diese Romantik. Aber sie lebte nun mal in Berlin, da gehörte Döneressen zum guten Ton.

Er lag ihr zugewandt, sein Gesicht entspannt zerknittert, seine Wangen von einem dunkelblonden Bart überzogen, der schon länger als drei Tage keinen Rasierapparat gesehen hatte. Er sah damit ein bisschen wie Chris Hemsworth in Thor aus und hatte sie mit den Barthaaren an Stellen gekitzelt, die … Ja. An diesen Stellen.

Sein ebenfalls dunkelblondes Haar war kurz und völlig durcheinander, weil sie sich dort reingekrallt hatte, als er … Genau. Dabei.

Vorsichtig hob Sarah ihren Arm und fuhr mit der Spitze ihres Fingers über die Linien seines Gesichts. Er war vermutlich älter als sie, Ende dreißig, Anfang vierzig. Eine feine Narbe teilte seine rechte Augenbraue und verlieh ihm einen Hauch Verwegenheit. Seine Lippen waren weich und hatten sie so sanft geküsst, wie sie noch nie zuvor geküsst worden war, nachdem er ihr so was von schmutzige Worte ins Ohr gehaucht hatte. Das Gesicht, in das sie blickte, war offen und freundlich, mit einem leichten Einschlag zum ironisch Spitzbübischen.

Als hätte er es nicht nötig, die Welt ernst zu nehmen.

Als würde er die Dinge auf sich zukommen lassen.

Etwas, das Sarah Wagner unter keinen Umständen tat, weil sie die Richtung, die Geschwindigkeit und die Beschaffenheit der Dinge lenkte, die auf sie zukamen.

An den Rändern seiner Augen verzweigten sich Lachfalten. Sarah konnte nicht anders, als ihre Handfläche auf seine Wange zu legen und die Wärme zu genießen. Er war bildhübsch und gleichzeitig wild. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, wenn sie an die Nachtstunden dachte, die sie miteinander verbracht hatten, und das tiefe Loch der Einsamkeit in ihr, das er gefüllt hatte.

Durch seinen Charme, seinen Witz und seine Schlagfertigkeit. Nun ja, auch sein Penis war nicht ganz unbeteiligt gewesen an dem Gefühl des Ausgefülltseins. An Liebe auf den ersten Blick glaubte Sarah nicht, aber an eine gewisse Anziehungskraft zwischen zwei Individuen – denn diese Tatsache konnte sie spätestens seit heute Nacht nicht mehr wegdiskutieren.

Doch sie würde gehen und Lars-Rodriguez zurücklassen. Ohne dass sie auch nur die geringste Chance gehabt hätte, es zu verhindern, rann ihr eine Träne die Schläfe hinab und wurde sofort vom Stoff des Kissens aufgesogen. Als wäre die gewebte Baumwolle ihre Konspirateurin im Versuch, ihre Gefühle zu verheimlichen.

»Gefällt dir, was du siehst, Madelaine?«

Madelaine. Sie fühlte sich schlecht, wenn er sie so nannte, denn Madelaine war ein Alter Ego, das sich nur seinetwegen einer lebhaften Existenz erfreute. Sie hieß zwar Sarah Madelaine Wagner, aber Madelaine, die frivole französische Sexshopmitarbeiterin, gab es nicht. Ebenso wenig wie Madelaine, das durchtriebene Cowgirl, dessen liebstes Hobby Reiten war.

Oh Gott.

OH GOTT!

Was war nur los mit ihr?! Andererseits war er vermutlich weder Lars, der heiße Agent, noch Rodriguez, der feurige Kabelverleger. Sie hatten beide ihre Rollen gespielt im wilden Rhythmus der Nacht.

»Ja«, hauchte sie trotzdem, denn es gefiel ihr außerordentlich, was sie sah, sodass Lügen nicht zur Debatte stand. Außerdem waren die tanzenden Schatten der Nacht dem gleißenden Licht des Tages noch nicht gänzlich gewichen. Ihr Spiel war noch nicht vorbei.

»Das zwischen uns, Madelaine, das ist etwas ganz Besonderes.«

Ja. Sarah schluckte und sagte nichts.

»Ich suche dich schon sehr lange.«

Ihr Herz brach, und sie wusste, dass es nicht fair war, was sie tat. Sie ließ Lars-Rodriguez in dem Glauben, dass sich zwischen ihnen etwas entwickeln könnte, was Bestand haben würde. Doch das ging nicht.

Sie wusste es. Er noch nicht.

Lars-Rodriguez öffnete die Augen, und das strahlende Blau seiner Iris schien zu phosphoreszieren.

Wie um alles in der Welt sollte sie sich seinem Bann entziehen?

Er schob seine Hand in ihren Nacken, zog ihren Kopf zu sich und küsste sie. Behutsam und vorsichtig, als würde er erahnen, was gerade in ihrem Kopf vor sich ging. Dass sie eigentlich gehen wollte und doch blieb. Weil er sich im Laufe weniger Stunden einen Weg in ihr Herz gebahnt hatte. Ein wohliges Seufzen erklang aus seiner Kehle, als er sich auf sie schob und Sarah jegliche Erinnerung daran verlor, warum sie gehen wollte.

Es zählte lediglich der Moment.

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Kapitel 2

Telefonate an einem Freitagmittag waren selten erfreulich. Vor allem dann nicht, wenn sich eine ihrer engsten Freundinnen in der Leitung befand, für die ein Nein keine verbindliche Aussage war, sondern eher eine Herausforderung.

»Nein, Mara, es geht wirklich nicht heute Abend, ich habe keinen Babysitter«, sagte Sarah, was absolut der Wahrheit entsprach, denn sie hatte gar nicht erst nach einem gesucht. Nicht, weil sie es vergessen hatte, denn sie vergaß grundsätzlich nichts, sondern weil sie ihre Tochter als Ausrede benutzen wollte, um heute Abend nicht in den Club gehen zu müssen. Billig, aber funktional.

»Außerdem habe ich nichts zum Anziehen.«

Was auch nicht gelogen war, denn außer ihren knielangen Röcken und ihren Blusen gab es nichts in ihrem Kleiderschrank, was nach P-A-R-T-Y schrie. Eher nach L-A-N-G-W-E-I-L-I-G, aber hey, als Kuratorin eines Museums sollte man versuchen, durch sein Können bezüglich der Präsentation der Exponate zu bestechen und nicht durch die Darbietung der Möpse. Zumindest nicht ihrer Möpse. Die Möpse der weiblichen Statuen durfte sie zeigen. Seit wann machte sie sich so viele Gedanken über Möpse?!

»Süße, ich bin Managerin eines Millionenkonzerns. Gib mir eine halbe Stunde, dann habe ich alles geklärt.«

Die Leitung war tot, und Sarah starrte ungläubig darauf.

Sie hätte es wissen müssen. Es handelte sich schließlich um Mara. Ihr Foto befand sich neben dem vor Ehrfurcht zitternden Wort dominant im Lexikon. Noch bevor sie einen Raum betrat, wehte ihre Verarsch-mich-nicht-Aura hinein. Sarah glaubte nicht, dass Mara in ihrem Job wirklich schwerwiegende Verhandlungen aussitzen musste. Mara sagte, wie sie es gern hätte, und so wurde es gemacht. Dabei war ihre Freundin weder richtig groß, noch sah sie aus, als hätte sie mit Arnold Schwarzenegger während seiner Bodybuilderhochphase trainiert. Es war ihr in die Wiege gelegt worden, und Mara wusste exakt, wie sie jedes Quäntchen ihrer Gabe ausnutzen konnte. Sarah war nicht mehr so eng mit ihr befreundet wie früher, dafür hatten sie in diesem Lebensabschnitt zu wenig gemeinsam, aber sie waren einander immer noch verbunden. Und genau deswegen hätte Sarah wissen müssen, dass ihre Ausreden wie vertrocknete Blätter waren, die Mara in ihren Händen zerbröselte.

Sarah saß in ihrem kleinen Büro im Museum und fragte sich, ob es noch irgendeine Möglichkeit gab, aus der Nummer rauszukommen, denn sie hatte ihren Abend bereits durchgeplant. Und mit der gleichen Hartnäckigkeit, mit der Mara vermutlich das Gleichgewicht der Welt lenkte, verteidigte Sarah ihre Pläne. Heute würde sie um halb fünf Lilly von einer Freundin abholen, deren Mutter sie nach dem Hort mit zu sich genommen hatte. Um fünf würde sie nach Hause kommen, um sechs essen, bis sieben Uhr das Haus aufgeräumt haben und anschließend auf der Couch zusammenbrechen. Sie konnte beinahe schon das vollmundig-beerige Aroma der Cuvée auf ihrer Zunge spüren. Wie sollte sie auch einem Rotwein widerstehen, der Vollmond hieß?

Zu ebenjener Zeit, wenn der Vollmond am Himmel stand, in einem Club tanzen zu gehen, lag ihr ungefähr genauso, wie auf Mandarin Vertragsverhandlungen in der Automobilbranche zu führen. Und dennoch fragte Mara jedes Jahr kurz vor dem zwanzigsten Mai nach, denn dieses Datum hatte sie als Jahrestag der Clique auserkoren. Sarah seufzte.

Über Mara – mit der sie nach einer Vorlesung, in der sie nebeneinandergesessen hatten, plötzlich und nach Anordnung der Chefin der Welt persönlich, befreundet war − schlitterte sie während ihrer Studienzeit in eine Clique hinein. Allesamt kamen aus extrem guten Verhältnissen. Geld war nie eine Frage, genauso wenig wie Autos, teure Clubs und Designerkleidung. Sarah passte optisch, aber nicht finanziell dazu, aber was wusste man schon mit Anfang zwanzig? Zuvor war sie immer nur der Freak gewesen, der sich für Ausstellungen und Museen interessierte. Ihr Wunsch, dazuzugehören, manifestierte sich darin, dass Sarah sich verstellte, ihre Interessen schleifen ließ, in Clubs ging, die ihr eigentlich zu laut waren, lachte, auch wenn sie es nicht lustig fand, und liebte, ohne zu lieben.

Heute, mehr als zehn Jahre später, wusste sie, dass die Upperclass nichts für sie gewesen war. Vermutlich hätte sie es auch damals schon eher gesehen, wenn da nicht Konstantin gewesen wäre, in den sie auf eine junge, naive Art verknallt gewesen war.

Er war, neben einem völlig verkorksten ersten Mal mit Sven aus ihrem Abiturjahrgang, ihr erster Liebhaber, und auf seine Weise mochte er sie. Auf die Weise, wie ein Mensch, der immer alles haben konnte, etwas besaß, um das er nicht kämpfen musste. Außerdem hielt Sarah für Konstantins Rebellion gegen sein Elternhaus her und letztendlich gegen das, was ihm vorbestimmt war: das Leiten des Familienimperiums.

Alle hatten stillschweigend hingenommen, wie verschieden sie waren, bis zu jenem Tag, als Sarah, kurz vor Beendigung ihres Studiums, Konstantins Mutter in den Schoß gekotzt hatte.

Mitten im heißen, stickigen Hochsommer kamen Konstantin und sie in den frühen Morgenstunden nach Hause, die Ohren noch dumpf vom Bass des Clubs, die Klamotten verraucht, die Stimmung ausgelassen. Viel zu aufgekratzt zum Schlafen, bereiteten sie sich in der Küche ein Sandwich zu. Konstantin wankte leicht, als er in seinen Toast biss und dabei Mayonnaise verkleckerte. Sarah ging zu ihm, klaubte den Klecks mit ihrem Zeigefinger auf und steckte ihn sich dann langsam und genüsslich in den Mund. Dabei sah sie Konstantin fest in die Augen. Er ließ das Sandwich fallen, und es traf mit einem Platschen auf den Fliesen auf, das ihr heute den Schweiß auf die Stirn treiben würde, denn sie würde es sauber machen müssen. Sarah wich zurück, umrundete die Kochinsel und ging mit einem verführerischen Lächeln in Richtung Garten. Konstantin folgte ihr. Dabei zog er sich das T-Shirt über seinen Kopf und schlüpfte aus seinen Schuhen. Im Garten angekommen, blieb Sarah vor dem Pool stehen und zog sich das Kleid aus. In Unterwäsche stand sie vor ihm und wartete darauf, dass ihre nackte Haut seine fühlen würde, und als sein Körper ihren berührte, ließ sie sich mit ihm zusammen ins Wasser fallen.

Diese Nacht war der letzte sorgenfreie Augenblick. Sie liebten und hielten sich; Sarah dachte oft an diese Nacht als den Wendepunkt der Geschichte – ihrer Lebensgeschichte.

Am nächsten Tag standen sie spät auf und wollten – okay, sie mussten – Konstantins Mutter zum Mittagessen Gesellschaft leisten. Konstantin mit leichten Kopfschmerzen, Sarah mit einer Übelkeit, als hätte sie gestern mitgetrunken. Sie nahmen am Tisch Platz, und Konstantins Mutter fragte ihn semi-interessiert über den Abend aus, als das Essen serviert wurde. Sarah nahm die silberne Haube von ihrem Teller und blickte dem toten Fisch, der dort lag, in die trüben Augen. Der kalte Schweiß brach ihr aus, und sie sah panisch zu Konstantin, als es auch schon zu spät war. In einem Schwall, den sie nicht unterdrücken konnte, kotzte sie neben sich – in den Schoß von Elisabeth.

Elisabeth, die zweite in der Familie, wohlgemerkt.

Jene zweite Elisabeth, die ihre aschblonden Haare immer in einem akkuraten Chignon trug, bei dem sich nicht eine Strähne traute, aus dem Gefüge auszubrechen, denn das wäre ihr Todesurteil gewesen.

Die Elisabeth, die vermutlich in ihren engen, schwarzen Kostümen schlief, ohne dabei Falten darin zu hinterlassen.

Bei der Kotze im Schoß nur bedingt dazu beitrug, dass ihre Miene sich erhellte.

Gütiger Gott, war das peinlich gewesen.

Während Sarah versuchte, sich zu entschuldigen, kroch ihr die Magensäure erneut die Speiseröhre hoch, dieses Mal erleichterte sie sich, indem sie Elisabeth auf die Füße kotzte. Auf die schwarzen Prada-Pumps. Wenn Sarah sich konzentrierte, konnte sie sich heute noch das Bild ihrer Spucke vor Augen rufen, wie sie sich einen Weg zwischen den Nylonstrümpfen und dem Leder des Schuhs suchte.

Es folgten Tests, Untersuchungen, Arzttermine, die Erkenntnis, dass sie in der vierten Woche schwanger war, und Gespräche mit ihrer Familie und Konstantins.

Sarah fand sich in einem Albtraum wieder, voller Anschuldigungen über eine geplante Schwangerschaft, um an das Familienvermögen zu kommen. Eines Abends hielt sie es nicht mehr aus. Sie schnappte sich den Autoschlüssel ihrer Eltern und fuhr los. Der alte Golf besaß nichts von all dem Luxus, den die Autos des Elisabeth’schen Familienclan-Fuhrparks bereithielten. Aber an jenem Abend war es genau das, was Sarah brauchte. Das voll aufgedrehte Radio rauschte und krächzte, der Wind zerzauste ihr die Haare. An einem Feld im Berliner Umland setzte sie den Blinker, fuhr rechts ran und stieg aus. Die Sterne funkelten auf sie hinab, und sie ließ sich rückwärts ins Gras sinken, die Hände über ihrem Bauch gefaltet, und dachte nach. Ein Kind. Ein Baby. In ihrem Bauch. Warum überhaupt? Der Arzt hatte etwas von Hormonschwankungen gesagt und dass die Pille nicht richtig dosiert war. Nach der Schwangerschaft würde er ihr eine neue verschreiben.

Nach der Schwangerschaft implizierte nicht, wie sie die Schwangerschaft beenden würde. Durch eine Geburt oder Abtreibung.

Welche Entscheidung würde sie treffen? Konstantins Familie war genauso gegen das Kind, wie sie vermutlich während der Märzrevolution 1848 gegen die Abschaffung der Adelsprivilegien gewesen wäre. Konstantin selbst sagte nichts. Er würde jede Entscheidung von ihr akzeptieren, dafür war er Manns genug, aber würden sie sich durch ein Kind nicht aneinander binden und versuchen, etwas zum Erfolg zu bringen, was per se keine Zukunft hatte?

Zu viele Fragen.

Sie schloss die Augen und atmete die kühle Nachtluft ein, die, frei von all dem Stadtmief, ihre Gedanken säuberte. Es roch nach Wiese, nach Feld, nach Wald und Freiheit.

Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie die Sterne in ihrer Unendlichkeit am Firmament. Unberührt von dem Schicksal eines einzigen Lebewesens, leuchteten sie. Und in diesem Augenblick wurde Sarah einiges klar. Im Leben wurde einem nichts geschenkt. Man musste hart arbeiten, durfte sich durch nichts und niemanden vom Weg abbringen lassen und musste sein Ding durchziehen.

Sie würde das Kind bekommen, ihr Studium beenden und sich einen Job suchen, in dem sie erfolgreich werden würde. Denn die meisten würden erwarten, dass sie scheiterte, kaum über die Runden käme und am Ende doch wieder angekrochen kam.

Nein. Nicht mit ihr.

Die Nacht ließ sie ihr Leben mit einer erschreckenden Klarheit sehen.

Konstantin gehörte nicht dazu.

Sie sah ihn vor sich. Sein verschmitztes Grinsen. Sah ihn, wie er auf einer Party tanzte, ihr zulachte.

Konstantin würde seinen Weg gehen, weder den seiner Eltern noch ihren. Es sei denn, er hätte Verpflichtungen. Wie eine Familie, um die er sich kümmern musste. Sie würde ihn gehen lassen. Würde es sie schmerzen, wenn er nicht mehr an ihrer Seite war? Sie mochte Konstantin. Aber liebte sie ihn auch? Würde sie für immer, gebunden durch ein Kind, mit ihm zusammen sein wollen?

Die Antwort war so einfach: Nein.

Denn sie wollte jemanden, der um ihretwillen bei ihr war, der glücklich mit ihr war, mit dem Leben, das sie sich aufbauen würden, aber das würde mit Konstantin niemals so sein. Auf der Oberfläche seiner Iris würde sich immer die Zukunft reflektieren, die er dank ihr und des Kindes niemals haben würde. Und Sarah selbst würde nie sie selbst sein können, sich immer Konstantin, seiner Familie und deren Erwartungen anpassen. Sie hatte sich verstellt, um in diesen Kreisen mitzukommen, um Spaß zu haben, und den hatte sie auch gehabt, keine Frage, aber es war an der Zeit, erwachsen zu werden.

Sie würde sich besser organisieren, sich stärker fokussieren und sich vor allen Dingen nicht mehr ablenken lassen, damit sie die Hürden nehmen konnte, die sich ihr gewiss in den Weg stellten. Platz für Aufregung und Abenteuer würde es vorerst nicht geben, aber davon hatte sie auch genug gehabt.

Konstantins Eltern witterten einen Skandal, allen voran Elisabeth, die zweite in der Familie, und ließen Sarah Berge von Dokumenten unterschreiben. Mit jedem Tintenstrich, der trocknete, fühlte sie sich der Freiheit und dem ruhigen Leben, das sie führen wollte, näher. Nun, da sie die Außenstehende war, verschob sich ihr Blickwinkel, und sie erkannte, wie oberflächlich die Kreise um Konstantin waren. Allen voran Elisabeth, die Chignon tragende Prada-Hexe. Das Einzige, was sie Elisabeth zugutehalten musste, waren ihre ausgezeichneten Weinkenntnisse, die sie Sarah vermittelt hatte. Da war sie so ein bisschen wie diese Trüffelschweine, die im Wald zielsicher die begehrten Pilze fanden. Betrat Elisabeth einen Weinladen, griff sie unter Garantie nach dem Wein, der spätestens ein paar Tage später prämiert wurde. Wenn das aber alles war, was man an einem Menschen schätzte, sagte das auch schon eine Menge aus.

Kurz vor der Geburt tauchte Konstantin vor ihrem elterlichen Wohnhaus auf. Sie hatten sich länger nicht gesehen, und aus ihrem kleinen Bäuchlein war mittlerweile eine Bowlingkugel geworden. Er hob den Arm, um ihn zu berühren, ließ die Bewegung jedoch unbestimmt in der Luft enden.

»Hey«, sagte er.

»Selber hey«, antwortete sie und umarmte ihn. »Willst du mit hochkommen?«

Unsicher stand er vor ihr. Öffnete den Mund und schloss ihn wieder.

»Ich gehe«, sagte er schließlich.

»Wohin?«, fragte Sarah. Ihr war klar, dass er nicht den Aldi-Markt um die Ecke meinte.

»Amerika. New York. Schauspielschule«, antwortete er, seine Worte eine unmelodische Abfolge abgehackter Bedeutungen.

»Aber das ist doch fantastisch«, sagte Sarah. »Das wolltest du die ganze Zeit machen.«

»Ja«, sagte er zähneknirschend. »Meine Eltern sind nicht begeistert.«

»Egal. Es ist dein Leben. Ich gratuliere dir«, sagte Sarah und umarmte ihn erneut.

»Das heißt aber auch, dass ich sicherlich nicht bei der Geburt … Also ich kann nicht. Es geht bald los, also mein Flug … Ich meine –«

»Konstantin«, unterbrach sie ihn. »Es ist alles okay. Wirklich. Ich komme klar.«

Er unterbrach den Augenkontakt und kramte schnell in seiner Hosentasche, ungewohnt unsicher.

»Meine Eltern haben ein weiteres Haus gekauft und mir geschenkt«, sagte er schnell. »Eigentlich für mich als Erpressung, damit ich hierbleibe. Aber ich will, dass du es bekommst.«

»Spinnst du? Du kannst mir kein Haus schenken. Einfach so.«

»Doch, ich kann, und ich werde. Sarah, du trägst mein Kind aus, du lässt mich gehen, weil du weißt, dass ich kein guter Vater wäre. Im Moment zumindest nicht. Ich wäre … ich könnte nicht … Du gibst so viel auf. Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Ich lebe ab jetzt sowieso in Amerika. Wozu brauche ich ein Haus hier? Es hat sogar einen Pool.«

Sie sah auf den Schlüssel. Die Versuchung war groß. Konstantin nahm ihre Hand in seine, öffnete sie und legte den Schlüssel hinein. Er lächelte sie an.

»Wenn du jemals etwas brauchst …«

»Ich werde klarkommen«, sagte Sarah und wusste, dass es stimmte.

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Kapitel 3

Das Telefon klingelte erneut und riss Sarah aus dem Strudel ihrer Vergangenheit.

»Ich bin’s. Babysitter ist organisiert, ein Kleid wird dir in …«, es ertönte ein leises Klimpern, als würde Mara durch das Schütteln ihres Handgelenkes die goldenen Kettchen darum neu gruppieren, damit sie den Blick auf die Rolex preisgaben. Was nur Show war, denn Mara wusste immer auf die Minute genau, wie spät es war – noch nicht einmal die Zeit wagte es, mit ihr zu diskutieren, »… sechs Stunden geliefert. Ich habe mich für passende Heels entschieden, weil ich mir sicher bin, dass du außer Ballerinas – pfui – nichts hast. Wir holen dich ab, Herzchen.«

»Woah, halt!«, rief Sarah, bevor Mara auch dieses Gespräch abrupt beenden konnte. So nicht. Sie würde nicht zweimal an diesem Tag grenzdebil und mit offenem Mund den Telefonhörer anstarren.

»Was denn? Ist dir etwas unklar? Ich habe eine ziemlich wichtige Telefonkonferenz in vier Minuten.«

Pah, zum Teufel mit der Telefonkonferenz. Selbst wenn die fünf Wirtschaftsweisen Mara persönlich um Rat bezüglich des Gutachtens der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands baten, war Sarah das so was von egal.

»Welcher Babysitter?«, fragte sie.

»Weiß nicht. Eine Studentin.«

Ein Zettel raschelte.

»Luisa. Einundzwanzig. Mag Katzen und Kinder und so einen Kram.«

Kram? Kram? Was war der Kram? Meth? Kokain? Heroin? Gangbang-Partys?

»Wie um alles in der Welt kommst du darauf, dass ich einer wildfremden Luisa meine Tochter anvertraue?«

Schweigen.

»Ist das ein Problem für dich? Ich habe sie checken lassen. Sie hat keine Vorstrafen.«

»Du hast was?!«, fragte Sarah und sprang von ihrem Bürostuhl auf, wodurch sie an der Schnur riss und das Telefon bedenklich weit in die Höhe beförderte.

»Ich habe Beziehungen, Sarah. Ich würde Luisa meine … meine … Kreditkarte anvertrauen.«

Sarah verschluckte sich an ihren eigenen Worten und hustete.

»Du setzt Lilly mit deiner Kreditkarte gleich?! Ernsthaft?«

Da hätte Mara ihr auch erzählen können, dass Lilly beim Club der Pädophilen übernachten würde und als besondere Überraschung Süßigkeiten und einen Hundewelpen bekäme.

»Nein, natürlich nicht. Ich habe nur nichts Vergleichbares, außer vielleicht den vertrockneten Kaktus in meiner Wohnung, aber das Beispiel wäre noch unangebrachter. Liebes, das wird schon. Sieh sie dir mal an, ich schicke dir alle Infos, die ich über sie habe, und dann sehen wir weiter. Ich muss auflegen«, sagte sie, während sie bereits ein anderes Telefonat entgegennahm. Im Bruchteil einer Sekunde hatte sich ihre Stimme von liebevoll-zuckersüß zu ich-reiß-dir-den-Arsch-auf-wenn-du-falsch-atmest verändert.

Resigniert setzte Sarah sich wieder hin. Das Schlimmste an dieser Situation war gar nicht mal, dass Sarah die Zügel aus der Hand geben musste, sondern dass sie sie Mara praktisch entgegengeworfen hatte. Hätte Sarah sich eine bessere Ausrede – gebrochener Fuß, vermasselte Brust-OP, Businessmeeting in New York – ausgedacht oder selbst einen Babysitter organisiert, müsste sie sich nicht mit Luisa aus dem Pädophilenclub anfreunden.

Sarah hatte Lilly noch nie einer wildfremden Person anvertraut. Alle Babysitter waren Teenager aus der Nachbarschaft. Sie hatte sie aufwachsen sehen und vertraute ihnen, aber die fremde Luisa? Sarahs Handy vibrierte, und sie sah auf dem Display, dass Mara ihr eine E-Mail geschickt hatte.

Okay. Luisa sah vernünftig aus, und irgendjemand – vermutlich Maras Sekretär – hatte sogar Screenshots von Luisas Facebookprofil eingefügt. In Sarahs Augen machte ihn das nicht zwingend kompetent, sondern eher … gruselig. Sie würde weder Mara noch ihren Sekretär aus der Unterwelt zum Feind haben wollen. Sie klickte sich weiter durch Luisas Profil. Keine Trinkeskapaden, lediglich Fotos mit ihrer Katze und diese Naturbilder mit esoterischen Sprüchen drauf. So was wie: Glaube an dich, dann glauben dir auch andere. Ernsthaft? Wer glaubte an solche Sprüche?! Alles, was Sarah bisher in ihrem Leben erreicht hatte, hatte sie nicht erreicht, weil sie an irgendetwas glaubte, sondern durch harte Arbeit, sei es in der Zeit ihrer Dissertation oder während ihres Volontariats.

Gut, trotzdem war Luisa nicht der schlimmste Babysitter, den sie sich vorstellen konnte. Sie würde Schritt für Schritt durch den Tag gehen, was bedeutete, dass sie sich nun wieder voll und ganz der bevorstehenden Ausstellung widmete. In einer Stunde würde sie ein Telefonat mit dem Louvre – oh Gott, oh Gott, tief durchatmen – führen wegen eines Exponats, das sie sich dort auslieh. Sie würde nicht so weit gehen, auszuflippen, wenn das klappte, was der Kurator bei dem letzten Gespräch angedeutet hatte, aber sie würde sicherlich einmal laut Juhu schreien. Okay, vielleicht auch eher leise. In ihrem Büro. Wenn das Museum bereits geschlossen hatte. Denn emotionale Ausbrüche lagen ihr nicht.

Bevor sie sich mental auf das Gespräch vorbereiten konnte, klopfte es an der Tür, und Björn Sanders, ihr Assistent, streckte den Kopf herein. Sarah strich ihre Bluse glatt und rückte ihre Brille zurecht, dann lächelte sie ihn an. Durch seine Größe und der damit verbundenen Körperhaltung erweckte er immer den Anschein, als ob er rennen würde, dabei beugte er seinen Oberkörper lediglich nach vorn, um mit seinem Kopf nirgends anzustoßen. Sarah respektierte ihn, er kam stets akkurat gekleidet zur Arbeit und erledigte seine Aufgaben zuverlässig und schnell. Ha, wer war jetzt der Baumwollschlüpfer?!

»Die Sicherheitsfirma hat gerade angerufen. Die Alarmserie war vermutlich ein Kurzschluss.«

»Vermutlich? Auf vermutlich kann ich mich nicht verlassen. Ruf bitte bei der Sicherheitsfirma an und lass einen Techniker vorbeikommen, der unser System überprüft. Gerade im Hinblick auf unsere Ausstellung darf diesbezüglich nichts schiefgehen.«

Björn nickte und schickte sich an, ihr Büro zu verlassen.

»Warte kurz«, sagte sie und grinste ihn dann breit an. »Ich habe gestern Abend, als ich zu Hause war, noch mit dem Kurator vom Louvre telefoniert.«

Björns Oberkörper bog sich noch weiter vor.

»Und?«

»Wir bekommen sehr wahrscheinlich den Amor«, sagte Sarah und klatschte in die Hände.

»Den Amor?«, fragte Björn, und in seiner Stimme schwang ebenfalls Freude mit.

»Ja«, sagte Sarah.

»Das ist großartig. Damit hätte ich nie gerechnet. Glückwunsch«, sagte er und verließ nun endgültig ihr Büro.

Ja, so war Björn. Geschäftsmäßig und so emotional wie die Statuen vor ihrer Bürotür, aber das war okay, denn sie arbeiteten wirklich gut zusammen. Sarah räusperte sich. Stichwort arbeiten. Ihre Ausstellung. Sicherheit. Probleme.

Am Anfang der Woche hatte es eine Serie falscher Alarme auf der Museumsinsel gegeben, was so ziemlich jeden auf den Plan gerufen hatte, der in irgendeiner Weise mit irgendeinem Museum Berlins zu tun hatte. Für die SMB, die Staatlichen Museen zu Berlin, war eine Sicherheitsfirma zuständig, und auch wenn das Museum, in dem sie arbeitete, wesentlich kleiner sowie relativ neu war und bisher weniger Zulauf hatte, würde sie darauf bestehen, dass ihre Systeme ebenfalls überprüft wurden. Denn in exakt sechs Wochen, am ersten Juli, begann eine große Ausstellung mit Exponaten, die sie sich aus Museen der ganzen Welt geliehen hatte. Mit einer Riesenüberraschung, wenn es klappte. Seit Monaten steckte sie all ihre Zeit und Energie in diese eine Ausstellung, und da konnte sie es gar nicht brauchen, dass mitten während der Eröffnungsfeier der Feueralarm losging. Zumal dies ihr erster Job als Kuratorin war und sie unter erschwerten Bedingungen arbeitete, denn aufgrund der geringen Größe übernahm einer der anderen Museumsleiter die Leitung ihres Museums zusätzlich. Was bedeutete, dass sie im Prinzip allein und ihr Chef nur auf dem Papier ihr Chef war. Sarah war wild entschlossen, allen zu zeigen, was in ihr steckte, und diese Ausstellung war die perfekte Möglichkeit.

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Kapitel 4

Lars saß im Besprechungsraum und starrte auf den leeren Platz neben ihm. Er war nicht nur leer, er war verlassen, was bedeutete, dass dort einst einmal jemand gesessen hatte.

»Wir sind an diesem Freitagnachmittag zusammengekommen, um Abschied zu nehmen. Wie ihr wisst, wird es keine offizielle Beerdigung geben, daher nutzen wir den Augenblick der Zusammenkunft, um unseres Kollegen und Freundes Filip zu gedenken.«

Es war bei ihnen üblich, Kollegen, die bei einem Einsatz gestorben waren, bei ihrem letzten Einsatznamen zu nennen. Kaum jemand kannte sich mit richtigem Namen. Nur Lars wusste, dass Filip in Wirklichkeit Elias hieß. Er war immerhin sein bester Freund gewesen. Sein Tod war beinahe ein Vierteljahr her. Wenn er selbst einmal vor den Herrn treten würde, würde man dann auch Ewigkeiten warten, bis man zwei Minuten über ihn redete?

»Filip war einer der Ersten, der –«

Die Tür wurde aufgerissen, und ein Mitarbeiter der Abhörabteilung stürmte herein.

»Es tut mir leid, euch zu unterbrechen, aber wir haben soeben einen Anruf abgefangen«, sagte er und war auch schon wieder verschwunden.

Sein Chef nickte ihnen knapp zu und verließ den Raum. Sie alle waren Profis und waren sich bewusst, welches Risiko ihr Job barg. Sie verhinderten Attentate, befreiten Geiseln, stürzten Diktatoren und brutale Militärmachthaber. Und das alles im Untergrund, nicht wahrgenommen von der Öffentlichkeit und frei von politischen Verflechtungen. Sie konnten in höchstem Maße flexibel agieren. Im Umkehrschluss bedeutete dies jedoch auch, dass, wenn einer von ihnen starb, er leise ging, ohne Aufmerksamkeit, ohne dass jemand erfahren würde, was er für die freie Welt geleistet hatte. Es gab keine Beerdigung, weil weder der Leichnam noch die Person je existiert hatte. Das Einzige, was es nach dem Tod eines Agenten gab, war diese Zusammenkunft. Man sprach über gemeinsame Einsätze mit dem Verstorbenen, erzählte Anekdoten, ließ ihn noch einmal für einen kurzen Augenblick zurückkehren, ehe er für immer verschwand. Filip war einer der Besten gewesen, und er hätte es verdammt noch mal verdient, geehrt zu werden. Lars stand auf und folgte den anderen Agenten aus dem Konferenzzimmer. Vor der Tür zerstob die Menge, die ohnehin nur aus wenigen bestanden hatte. Die meisten hatten zwar gerade keine aktive Mission, was aber nicht bedeutete, dass sie nicht arbeiten mussten. Es gab ständig neue Schulungen, sie mussten ihre beendeten Einsätze dokumentieren, neue vorbereiten. Einen Augenblick stand Lars vor der Tür und überlegte, was er tun konnte. Er hatte zwar auch noch einiges an Papierkram zu erledigen, aber das konnte warten. Papier war geduldig. Außerdem hielt er sich relativ selten an Regeln und tat somit noch seltener das, was er tun sollte. Seiner Erfahrung nach hatte ihm diese Einstellung schön öfter den Arsch gerettet, als in einer Gefahrensituation das Regelwerk durchzuexerzieren. Sein Chef sah das anders, aber das störte Lars nicht wirklich. Weiter hinten in der Zentrale sah er ihn, einen Arm auf dem Schreibtisch abgestützt, den Oberkörper weit vorgebeugt, mit der anderen Hand drückte er sich einen Kopfhörer ans Ohr. Lars beschloss, in Erfahrung zu bringen, warum die Gedenkfeier seines besten Freundes so ein jähes Ende gefunden hatte. Er stellte sich neben seinen Chef und nickte ihm zu. Dieser legte den Kopfhörer zur Seite und sah ihn an.

»Aktive Mission im Moment?«

»Nein.«

»Wir haben einen Telefonanruf abgefangen«, sagte er.

»Worum geht es?«

»Da scheint jemand ein ganz großes Ding zu planen. Könnte sich um Kunstraub handeln.«

»Wann?«

»Kann ich dir noch nicht sagen. Wir müssen erst das Gespräch analysieren und die Telefonteilnehmer überprüfen, dann berufe ich ein Meeting ein. Geh dich noch mal austoben, so schnell wirst du nicht mehr dazu kommen.«

Lars ging. Die ITs würden den Anruf zurückverfolgen, die Anrufer identifizieren, ausmachen, in welchem Geflecht krimineller Machenschaften sie sich befanden, und erst dann würde man überlegen, inwiefern Lars eingeschleust werden würde. Bis dahin konnte er nicht viel tun.

Doch.

Er konnte. Er würde Filip gebührend verabschieden. Heute. In dem Club, in dem sie ihren letzten gemeinsamen Einsatz gehabt hatten. Bei dem Filip durch eine Autobombe gestorben war.

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Kapitel 5

In einem kleinen Dorf aufzuwachsen, war nicht so einfach und romantisch, wie man sich das gern vorstellte. In Magazinen wie Landleben heute oder Landleben jetzt wurden lediglich die exorbitant großen Häuser, die mit viel Geld hergerichtet wurden, gezeigt. Was sich darin abspielte, interessierte niemanden. Auch, dass jeder jeden kannte, war für diese Zeitschriften nicht von Bedeutung. Aber gerade das war der entscheidende Faktor. Es gab keine Geheimnisse. Gab es in einer Familie Streit, wurde das öffentlich breitgetreten, ging jemand fremd, wussten es alle, fand die Lehrerin blaue Flecken, die ihrer Meinung nach suspekt waren, wurde es in der Dorfkneipe diskutiert. Kam dann das Jugendamt und holte die Kinder aus der Familie, gab es keine Zurückhaltung mehr.

Pflegefamilien waren dünn gesät, und man musste sich damit zufriedengeben, etliche Kilometer von seinen Freunden und seiner Familie zu landen, was allerdings nicht das größte Problem war. Denn die Gefahr, dass die neuen »Eltern« sich einen Dreck um die Kinder scherten, die sie aufnahmen, sie auf dem Hof mitarbeiten ließen und das Geld einsackten, war nicht gerade klein. So genau schaute da keiner hin, man musste ja nicht gleich alles an die große Glocke hängen – man kannte sich doch …

Probleme wurden in der Gemeinschaft anders gelöst, am Gartenzaun, bei einem Bier, bei einem Stück Kuchen. Wie auch immer.

Geriet ein Kind erst einmal in solche Verhältnisse, war es schwer, da rauszukommen. Denn mindestens genauso schlimm wie das Leben, das man führte, waren die Sehnsüchte, die es in einem weckte. Die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, nach Stabilität und nicht zuletzt auch nach Geld in der Tasche. Diese Wünsche konnten einen wahrlich kaputtmachen. Manchmal zerrissen sie einen innerlich, weil sie nicht zusammengingen und man entscheiden musste, welcher wichtiger war und langfristig sinnvoller. Letztendlich musste man für das, was man wollte, immerzu kämpfen, und das verdammt hart.

Man durfte vor nichts zurückschrecken.

Die Welt war grausam, man musste sich anpassen. Und die richtige Wahl treffen. Die war eindeutig Tim Lehmann. Er war schwach und angreifbar, denn er würde alles tun, um das Leben seiner Tochter zu schützen. Man musste die Schwachstellen kennen und keine Skrupel haben, sie auszunutzen. Das Leben bot keinen Platz für jene, die zögerten, sich das zu nehmen, was ihnen verdammt noch mal zustand.

Die einzige unsichere Variable in einem ansonsten perfekten Plan war Sarah Wagner. Aber auch sie würde kein Problem darstellen, denn der Zweck heiligte die Mittel. In diesem Fall jedes Mittel.

Es wurde Zeit für die nächste E-Mail.

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Kapitel 6

Um Punkt siebzehn Uhr öffnete Sarah die Tür ihres Hauses und wäre beinahe auf dem Boden zusammengebrochen. Der Tag, nein, die Woche, ach was, ihr ganzes Leben als alleinerziehende, berufstätige Mutter mit gewissen Karriereambitionen war anstrengend. Anstrengend im Sinne von Reinhold-Messner-erklimmt-einen-Berg-mit-null-Sauerstoff-in-der-Atmosphäre-und-fünfzig-Kilo-auf-dem-Rücken. Mit dem Unterschied, dass er irgendwann sein Ziel erreichte, sein Gepäck abwarf und auf dem Gipfel ein Nickerchen hielt, während Sarah den Berg aufs Neue erklomm. Jeden Tag. Mal mit mehr, mal mit weniger Gepäck. Ohne eine gewisse Organisation war ihr Leben nicht zu bewerkstelligen. Jede Woche wurde von ihr minutiös durchgeplant, jede Aktivität genauestens abgestimmt und in den Alltag integriert. Sie fing früh an zu arbeiten, ging pünktlich und arbeitete weiter, wenn Lilly im Bett lag. Ihre Eltern lebten seit zwei Jahren nicht mehr in Berlin, und sie hatte lediglich einen kleinen Freundeskreis und Babysitter, auf die sie zurückgreifen konnte, wenn sie es allein nicht schaffte. Spontaneität war ihr genauso willkommen wie Herpesbläschen bei einem Date. Nicht, dass sie je datete … Mittlerweile war sie so sehr an ihre Routine gewöhnt, dass es sie regelrecht nervös machte, von ihrem Programm abzuweichen. Aber das würde sie nicht zugeben. Sie war ja kein Freak. Sie konnte schon auch mal spontan sein. Vermutlich.

»Wann kommt Luisa, Mama?«

Sie hatte keine Ahnung, was nicht unbedingt dazu beitrug, ihre Laune zu heben. Sie wusste noch nicht einmal, ob sie ihr die Tür öffnen oder sich doch lieber mit Lilly im Keller verbarrikadieren sollte.

»Ich vermute, bald. Mach bitte deine Hausaufgaben, ich bereite das Essen vor.«

Kaum, dass sie ihre Tasche in der Kammer verstaut und ihre Ballerinas – jaaaaa, okay, sie trug Ballerinas, aber was, bitte, war daran falsch? Sie konnte ja schließlich nicht in High Heels durchs Museum staksen – ausgezogen hatte, klingelte es an der Tür.

Das Kleid. Richtig. Oder die Babysitterin. Über einen spontanen Besuch von Ted Bundy hätte sie sich genauso gefreut. Sie strich ihren blauen, knielangen Rock glatt und öffnete die Tür. Ihr starrten die aufgeregten, perfekt geschminkten, jugendlich glatt gebotoxten Gesichter ihrer Freundinnen Mara, Ella, Sandra, Alexandra und Heike entgegen. Allesamt Karrierefrauen, wie sie im Buche standen. Ella war im Vorstand einer Bank, Sandra Geschäftsführerin eines exklusiven Bekleidungsgeschäfts, Heike hatte sich ein eigenes Imperium aus Praxen für Ernährungsberatung geschaffen. Die schlanke und fettfreie Crème de la Crème gehörte zu ihren Kunden. Und Alexandra war Chefärztin der Orthopädie, eine absolute Koryphäe. Nicht, dass Sarah selbst mit dem, was sie bisher erreicht hatte, unzufrieden war, aber wie damals konnte sie nicht mit ihren Freundinnen mithalten. Allerdings versuchte sie es auch nicht mehr, denn sie hatte etwas, was bisher keiner ihrer Freundinnen vergönnt war: Lilly. Und das machte sie um so vieles reicher, als es jede Position und jedes Gehalt der Welt bewirken konnten.

»Überraschung!«, riefen sie im Chor und kamen – jede mit einer Flasche Champagner bewaffnet und in winzigen Abendkleidern steckend – herein.

»Bist du bereit für heute Abend?«, fragte Mara, nachdem sie ihr einen dicken Kuss auf die Wange gedrückt und sich an ihr vorbeigedrängt hatte.

Grundgütiger, nein, ich habe seit Tagen nicht geschlafen, weil Lilly Albträume hat. Ich sitze an einem nervenaufreibenden Projekt und habe keine Ahnung, ob ich noch Reste aus meiner Mascara kratzen kann.

»Und wie«, sagte Sarah stattdessen, und als sie ihre fünf Freundinnen beobachtete, die ihr Haus bevölkerten, Champagner einschenkten, Lilly herzten und einfach so verdammt glücklich aussahen, überschwappte sie eine Welle der Euphorie. Heute Abend würde sie ausgehen, Spaß haben und einmal nicht daran denken, dass Lilly morgen um Punkt sieben Uhr an ihrem Bett stehen würde, sie den Haushalt und den Einkauf erledigen musste. Sarah würde spontan sein, wie auch immer das ging. Vielleicht konnte sie es ja noch schnell googeln?

»Um halb elf kommt der Wagen. Wir freuen uns riesig! Haben uns ja eine Ewigkeit nicht gesehen, wir gehen in einen brandneuen Club. Das wird episch.«

Sarah riss die Augen auf. Halb elf? Da befand sie sich normalerweise in der ersten REM-Phase. Okay. Manchmal sogar schon in der zweiten. Heute Abend sollte sie die Energie aufbringen und um diese Uhrzeit noch tanzen? Sie seufzte und begann, den Satz, den sie vor wenigen Sekunden noch euphorisch gedacht hatte, im Geiste zu wiederholen: Ich werde Spaß haben.

Mara begann zu reden, und sie dabei zu unterbrechen oder zu versuchen mitzureden, glich in etwa dem Vorhaben, logisch mit einem Fisch darüber zu diskutieren, dass man auch außerhalb des Wassers atmen konnte.

Vier Stunden und zu viele Gläser Champagner später stand Sarah vor dem Spiegel in ihrem Badezimmer und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.

»Was ist los?«, fragte Mara.

»Meine Haare sehen aus wie die Frisur von Johnny Depp in Edward mit den Scherenhänden«, sagte Sarah, nahm eine Haarsträhne, hielt sie nach oben und ließ sie wieder auf ihre Schulter fallen. Sie hatte gerade ihren schlichten Dutt – keinen Chignon! – gelöst, den sie jeden Tag trug, und versucht, sich anhand eines YouTube-Videos eine schicke Frisur zu zaubern. Das Ergebnis war desaströs. Außerdem hatte sie mittlerweile dermaßen einen im Tee, dass ihr Lidstrich so aussehen würde wie diese Uhren auf den Gemälden von Dalí.

»Ja, ich habe mir schon beim letzten Mal, als wir uns gesehen haben, gedacht, dass du dich ein bisschen gehen lässt«, sagte Mara zuckersüß.

»Kann ja nicht jeder täglich zum Aufspritzen rennen, nicht wahr?«, gab Sarah genauso süß zurück.

»Ach, du musst ja nicht täglich gehen, eine Generalüberholung würde schon reichen. Brüste, Lippen, Arsch –«

»Zu deinem Arzt gehe ich auf jeden Fall nicht.«

»Miststück.«

»Dito.«

»Ach Sarah, ich freue mich, dich heute Abend mal wieder zu sehen«, sagte Mara und schlang ihre Arme um Sarahs Taille.

Sarah grinste. Und weinte. Und grinste.

»Was ist hier los, Ladys?«, fragte Sandra und kam mit einem schwarzen großen Bekleidungsbeutel herein.

Ahhh. Das Kleid. Es war ihr nicht geliefert worden, sondern Sandra hatte es aus einer ihrer Boutiquen einfach mitgebracht. Zusammen mit High Heels, an deren Seite praktisch ein gebrochener Knöchel aufgemalt war. Darin sollte sie laufen? Zu Eröffnungsfeiern trug sie schon gelegentlich Schuhe mit Absätzen, aber die waren moderat, nicht nuttig. Sie arbeitete in einem Museum, da war es nicht angebracht auszusehen, als käme sie vom Straßenstrich. Von einer Kuratorin erwartete man gewisse Ressentiments und keinen Look, als wäre man Anwärterin auf den Titel »Schlampe des Jahres«.

Oh Gott, sie hatte zu viel Alkohol intus.

»Sarah hat gerade festgestellt, dass sie sich in den letzten Jahren ein wenig hat gehen lassen«, sagte Mara, kniff Sarah in die Hüften und löste sich von ihr.

»Nichts, was wir mit ein bisschen Frauenpower nicht reparieren könnten«, sagte Sandra und rief die anderen.

Sarah wurde ein weiteres Glas Champagner in die Hand gedrückt und auf einen Stuhl gesetzt. Sie schloss die Augen und ließ eine Tortur aus Augenbrauenzupfen, Make-up, Lidschatten und Lippenstift über sich ergehen. Jemand zerrte und zupfte an ihren Haaren und drückte ihr schließlich ihre Kontaktlinsen in die Hand, die sie sich mit geübten Fingern einsetzte. Sie trug meistens ihre schwarz gerahmte Brille, weil es angenehmer war, wenn man viel am Bildschirm arbeitete, aber selbstverständlich hatte sie für die offiziellen Anlässe Kontaktlinsen.

»Jetzt schlüpf nur noch in das Kleid, und dann bist du fertig«, sagte Mara und klatschte in die Hände. »Du siehst heiß aus, wenn du nicht deinen biederen Bibliothekarinnen-Look trägst. Wie aus einem Pornofilm entsprungen. Sandra, hast du auch passende Unterwäsche?«

Sarah runzelte die Stirn.

»Was soll ich damit?«, fragte sie.

»Erstens können deine Möpse einen kleinen Push nach oben gut vertragen, zweitens benötigst du bei dem Kleid einen BH, bei dem man einen Träger lösen kann, und drittens gehen wir aus. Alles ist möglich.«

Sarah lachte.

»Ha, als ob ich mir das Gehirn rausvögeln lasse, während nebenan meine Tochter schläft. Am Ende kommt sie noch rein, und ich muss mit ihr DAS Gespräch führen.«

»Luisa schläft hier, du kannst dir das Hirn woanders rausvögeln lassen«, sagte Mara in einem Ton, der keine Widerrede duldete. War Mara neuerdings unter die Zuhälterinnen gegangen? Bestimmt würde sie auch in diesem Business senkrecht durchstarten. Hihi, senkrecht.

Sarah unterdrückte ein Lachen. Der Champagner und die aufgeregt gackernden Damen in ihrem Haus hatten ihren Verstand gehörig benebelt. Außerdem war da die Tatsache, dass Lilly praktisch von dem Moment an, als Luisa das Wohnzimmer betreten hatte, den Boden küsste, auf dem sie in Esoterikmanier dahinwandelte. Luisa war wirklich ein Herzchen und saß gerade mit einer längst schon schlafenden Lilly auf der Couch und las ein Buch.

Ein B-U-C-H. Aus Papier. Über Selbstfindung.

Schnell schlüpfte Sarah aus ihrer Unterwäsche und rein in die Dessous. Alexandra half ihr ins Kleid und schloss den Reißverschluss, während Mara die Schuhe vor ihr abstellte.

Wankend lief sie, begleitet von den Pfiffen und Jubelschreien ihrer Freundinnen, zum Spiegel und schnappte erschrocken nach Luft.

Sie drehte sich, begutachtete sich von allen Seiten und versuchte, sich selbst in dem Abbild des Spiegels zu finden. Vergebens. Sarah sah aus wie damals. Frech, sexy, aufreizend, ihre dunkelbraunen Haare fielen ihr, Glätteisen sei Dank, lang und glatt über die Schultern, ihre grünen Augen waren katzenhaft dunkel umrandet, ihr Körper steckte in diesem Traum eines Kleides.

Es sah aus, als hätte jemand von ihrer rechten Schulter aus schwarze durchsichtige Spitze über ihren Körper gegossen, die ab der Wölbung ihrer Brüste blickdicht wurde. Was gut war, denn ihr BH war praktisch nicht existent, so hauchdünn war er.

Insgesamt saß das Kleid supereng und hob jede einzelne Kurve hervor, und von denen hatte sie reichlich. Aus dem Spindeldürr-und-Lücke-zwischen-den-Oberschenkeln-Alter war sie raus. Heute Abend jedoch waren ihr die Problemzonen ihres Körpers völlig egal, denn das Kleid transformierte sie in begehrenswerte Rundungen. Interessant.

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Kapitel 7

Lars drückte mit seinem Zeigefinger gegen den Rand seines Whiskeyglases, bis es beinahe umkippte.

In vielerlei Hinsicht spiegelte dieses Glas das ganze Leben wider. Man versuchte einfach nur, die Balance zu finden und nicht umzufallen. Aber es gab jene Menschen, die einem diese Möglichkeit abnahmen. Sie entschieden über Leben und Tod. Sie rissen jemandem das Glas aus der Hand und warfen es auf den Boden. Drückten den Abzug.

So jemand war Lars.

Schnell zog er seine Hand weg, schnappte sich in einer einzigen geschmeidigen Bewegung das Glas, bevor es sich auch nur einen Millimeter bewegen konnte, und setzte es an seine Lippen. Er verzog seine Mundwinkel leicht, als der Alkohol brennend seine Kehle hinunterfloss.

»Auf dich, mein Freund«, sagte er leise und stellte das Glas sanft ab. Er nickte dem Mann an der Bar zu und zeigte auf sein Glas. Noch einen.

Bei ihrem letzten gemeinsamen Auftrag hatten Elias und er genau an dieser Stelle in dem Club gesessen und einen russischen Drogenboss observiert. Sie hatten vorgegeben, gute Freunde zu sein, die Ausschau nach Frauen hielten.

Lars setzte das gefüllte Glas erneut an seine Lippen, legte den Kopf in den Nacken und trank es mit einem Schluck aus. Das Gewirr aus lauter Musik, verworrenen Stimmen, Lachen, Schreien, Gesprächen, das er die ganze Zeit versucht hatte auszublenden, stürzte auf ihn ein. Um ihn herum schwirrte die nervöse Energie von Menschen, die auf der Suche waren. Nach Spaß, nach Gesellschaft, nach Zerstreuung.

Lars auch? Er wusste es nicht.

Grundsätzlich scheute er niemals weibliche Gesellschaft, aber heute verabschiedete er seinen besten Freund. Andererseits wäre er schon bald wieder im Einsatz und hätte keine Zeit für Zweisamkeit. Er bevorzugte keinen bestimmten Frauentyp, dafür dauerten seine Beziehungen nicht lange genug. Wahrscheinlich konnte man es nicht mal Beziehung nennen. Seine Momente, in denen er sich mit Frauen amüsierte, traf es eher. In letzter Zeit beschlich ihn jedoch häufiger das Gefühl, dass er mehr wollte. Nach diesem Einsatz würde er sich überlegen, wie dieses mehr aussehen konnte. Vielleicht würde er tatsächlich aufhören. Einen neuen Lebensabschnitt beginnen, in dem normale Dinge wie Beziehungen möglich waren. Allerdings – und da war er sich ziemlich sicher – wollte er keine Kinder haben. Sie waren … merkwürdig. Es gab die, von denen er in Krisengebieten leider genug gesehen hatte. Hinter den Emotionen, die sie zeigen wollten, verbargen sie jene, die ihnen von ihrer Umwelt eingepflanzt worden waren. Hass auf einen Feind, den sie nicht kannten, und eine Problematik, die sie nicht verstanden. Und dann gab es noch die anderen. Lars sah sie an und suchte nach etwas, das hinter dem Offensichtlichen schwelte. Nach guten oder bösen Regungen, und fand nichts. Diese Kinder irritierten ihn, denn er fragte sich, ob das, was sie zeigten, wirklich alles war, was sie fühlten. Allein, dass er sich diese Frage stellte, zeigte, wie wenig er sie verstand. Was für ein Vater wäre er, wenn er die Absichten und Gefühle seines Kindes immer hinterfragen würde?

Außerdem schliefen die Kinder hierzulande ständig im Bett der Eltern. Kinder drängten sich überall hinein mit ihren klebrigen Händen auf der Suche nach irgendwelchen Süßigkeiten. Sie nervten.

Sie fragten unablässig irgendwelche Dinge, und wenn man es ihnen erklärte, fragten sie: Warum?

Und dann erklärte man das.

Und dann fragten sie wieder: Warum?

Und dann sollte man auch noch das Warum des Warums erklären.

Da konnte man sich schon mal bei dem Gedanken ertappen, diesen einen Punkt im Nacken zu drücken, der sofortige Bewusstlosigkeit auslöste. Oder?

Aber das Schlimmste an Kindern war: Sie veränderten Frauen. Aus einer heißen Traumfrau wurde eine Mutter, die rund um die Uhr nur noch mit ihrem Baby beschäftigt war.

Die ihre Haare nicht mehr machte und Kotze auf einem Shirt hatte, das seit Ewigkeiten nicht gewaschen worden war.

Die nur noch gesunden Kram kaufte wie Dinkel-Hirse-Stangen.

Die keine Lust mehr auf Sex hatte. Und wenn, dann nur auf anständigen Sex. Mit Handtuch und leise.

Das alles wusste er, weil er einmal ein Kind bewachen musste, das als Opfer einer Entführung ausgesucht worden war. Rund um die Uhr hatte er auf Spielplätzen abgehangen und diese ganzen Frauengespräche mitbekommen. Er kannte mittlerweile jedes Hausmittel gegen Dammriss und jeden erdenklichen Trick, falls das Baby die Brustwarze beim Stillen nicht ganz einsaugte.

Nein, nicht mit Lars. So würde seine Zukunft nicht aussehen.

Sein ganzes Leben lang musste er auf Beziehungen verzichten, da war er einfach nicht bereit, seinen Beziehungspartner zu teilen. Denn eine Frau an seiner Seite konnte er sich hervorragend vorstellen. Die Vertrautheit. Die Liebe. Viel Liebe. Bis ans Ende seiner Tage Liebe. Emotionen waren nichts, was Lars scheute. Im Gegenteil. Das Leben basierte auf Emotionen, alle Handlungen, die guten wie die schlechten. Während eines Auftrags musste er seine eigenen Emotionen stets unterdrücken, um die Mission nicht zu gefährden, aber für den Rest seines Lebens würde er das sicherlich nicht tun. Dafür waren ihm Gefühle viel zu wichtig.

Er saß an der Längsseite des Bartresens. Neben ihm ein armer Hund, der sicher nicht nach der ewigen Liebe suchte und bereits seine zweite Abfuhr an diesem Abend kassiert hatte. Allerdings geschah ihm das ganz recht. Wenn Lars mit dem Spruch »Bin neu in der Stadt, kannst du mir den Weg zu deiner Wohnung zeigen?« angemacht werden würde, würde er den Typen am Kragen packen, ihn auf den Boden schleudern und ihm sagen, dass er ihm den Weg in die Notaufnahme zeigen konnte.

Lars spürte, wie die Anspannung und Frustration des Typen neben ihm stiegen. So was konnte nach hinten losgehen. Er kannte Männer, die aus nichtigeren Gründen töteten. Auch wenn der Mann keine Herausforderung darstellte, wollte Lars wissen, mit wem er es zu tun hatte. Er rempelte ihn leicht an und schlug ihm kurz darauf freundschaftlich entschuldigend auf die Schulter. Dieser kurze Augenblick hatte gereicht, um das Portemonnaie des Typen aus der Hosentasche zu ziehen, einen Blick auf den Ausweis zu werfen und es dann wieder zurückzuschieben. Er hieß Manfred. Der Name passte wie Arsch auf Eimer. Lars konnte beinahe das Fump hören, mit dem das Hinterteil auf dem Plastik auftraf und sich festsaugte.

Manfred versuchte, Blickkontakt mit einer Blonden an der anderen Seite der Bar aufzunehmen. Sie sah ihn an und blickte dann unbeeindruckt wieder weg.

Woah, weit außerhalb deiner Liga, mein Freund.

Lars bestellte noch einen Whiskey. Er hob sein Glas und prostete Elias in Gedanken zu.

»Läuft’s bei dir auch scheiße, Mann?«, fragte Manfred. Auf seiner Stirn und über seiner Lippe hatte sich ein feiner Schweißfilm gebildet, und auch unter seinen Achseln waren dunkle Flecken erkennbar. Anzeichen von Stress und zu viel Alkohol.

»Heute ist kein guter Tag«, bestätigte Lars und stellte sein Glas ab. »Ich werde bald reinhauen, Digga.«

Manfred sah ihn kurz fragend an, zuckte aber dann nur desinteressiert mit den Schultern. Diese Reaktion auf seinen nordischen Dialekt kannte Lars bereits. Aber er war aus Hamburg und würde seinen Dialekt niemals aufgeben, es sei denn, er passte nicht zu einer Undercover-Identität. Lars war eigens aus Hamburg für Eliasʼ Gedenkfeier nach Berlin gekommen und wohnte in einer der Wohnungen, die den Agenten zur Verfügung gestellt wurden. Und genau dorthin würde er sich langsam, aber sicher zurückziehen.

Vielleicht konnte Lars Manfred einreden, nach Hause zu gehen und sich einen Porno runterzuladen.

»Blöde Tussen. Denken, sie wären was Besseres, dabei wollen sie doch alle nur ficken.«

Solche Aussagen kündigten in der Regel keine höfliche Konversation an, sondern Ärger. Lars überlegte noch, ob er Manfred zu einem kleinen Schläfchen verhelfen und ihn dann unbemerkt raustragen sollte, als es bereits zu spät war.

Denn mehrere Dinge geschahen gleichzeitig: Im Spiegel sah Lars, wie sich die heißeste Brünette des Clubs dem Tresen näherte, als gerade auf Manfreds anderer Seite ein Platz frei wurde. Der einzige Platz an der Bar. Die Brünette musste sich neben Manfred stellen, wenn sie etwas ordern wollte. Gleichzeitig drehte Manfred Lars den Rücken zu und entdeckte sie ebenfalls.

Lars beschloss, sich vorerst zurückzuhalten. Die meisten Frauen waren durchaus in der Lage, sich selbst zu wehren, und vielleicht, vielleicht hatte er ja etwas Glück, und Manfred stellte selbst fest, dass er ein kompletter Vollidiot war und auch diese Frau Lichtjahre außerhalb seiner Liga war. Genau genommen war diese junge Dame weit entfernt von jedermanns Liga. Sie schien von einem anderen Planeten zu kommen.

Lars schätzte sie auf Anfang dreißig, ihre dunkelbraunen Haare waren ursprünglich glatt, aber durch das wilde Tanzen und die hohe Luftfeuchtigkeit lockten sie sich. Nicht solche kleinen Löckchen, sondern diese sanften Wellen, die so aussahen, als wäre sie gerade der Brandung entstiegen.

Ihre Schuhe waren heiß. Mal ehrlich, ein Mann wollte nun mal keine praktischen Jack-Wolfskin-Treter an den zarten Füßen einer Frau sehen, sondern High Heels, die ihre Beine und den Hintern betonten. Ihre waren schwarz, um die Ferse leicht gewellt, der Stoff mit kleinen silbernen Perlen besetzt. Rote Sohle. Das bedeutete etwas, aber Lars wusste nicht genau, was.

Die Höhe der Absätze kam ihm maßlos übertrieben vor. Ihre Füße mussten schmerzen wie nach einer Bastonadefolter, bei der die Fußsohlen mit Schlägen versehen wurden, aber sie lief beinahe leichtfüßig an die Bar. Lars hatte sie bereits beim Betreten des Clubs bemerkt, denn er war weder scheintot noch ein Eunuch. Nicht nur seinem Sitznachbarn fielen die Augen aus dem Kopf, auch Lars musste kräftig schlucken so wie jeder Mann im Umkreis von dreißig Kilometern. Das Kleid schmiegte sich extrem eng an ihren weiblichen Körper mit perfekten Rundungen und betonte ein Paar Brüste, die zum Anfassen gemacht worden waren. Er stellte sich vor, wie er ihre freie Schulter mit Küssen übersäte.

»Die