Highheels, Herz & Handschellen - Jana Herbst - E-Book
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Highheels, Herz & Handschellen E-Book

Jana Herbst

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Beschreibung

"Ein rasanter, witziger und gefühlvoller Roman, um einen unglaublich heißen Agenten - und seine Partnerin wider Willen!" Anna Blume, bekannte Künstlerin und Liebling der Boulevard-Presse steckt ganz schön tief im Schlamassel. Nicht nur, dass sie in einer einsamen Hütte im Wald ohne Strom, Kaffeemaschine und Kühlschrank festsitzt. Nein, auch ihr Handy verweigert seinen Dienst. Am meisten aber beschäftigt sie der geheimnisvolle Agent, Filip, der mit ihr zusammen in der Hütte sitzt. Er hat ihr den besten Kuss ihres Lebens gegeben, nur um ihr danach zu sagen, dass sie ab jetzt an einem Undercover - Einsatz beteiligt ist. Mit dem Ziel, einen Mafiaring zu sprengen. Plötzlich wird Anna nicht nur zum Mittelpunkt eines gefährlichen Falles, sondern auch von Filips Gedanken, der in Annas Gegenwart mehr als einen Grundsatz über Bord wirft ... »Highheels, Herz & Handschellen« von Jana Herbst ist ein eBook von feelings*emotional eBooks. Mehr von uns ausgewählte erotische, romantische, prickelnde, herzbeglückende eBooks findest Du auf unserer Facebook-Seite. Genieße jede Woche eine neue Geschichte - wir freuen uns auf Dich!"

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Jana Herbst

Highheels, Herz & Handschellen

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

WidmungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Epilog
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Für meinen Mann.

Bis zum Uranus und zurück.

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Kapitel 1

Adorno sagt: Jedes Kunstwerk ist ein Augenblick; jedes gelungene ein Einstand, momentanes Innehalten des Prozesses, als der es dem beharrlichen Auge sich offenbart.

Heilige Scheiße.

Anna sagt: Man weiß, dass in seinem Leben etwas grundlegend schiefläuft, wenn man über die Sätze toter Männer nachdenkt, dabei weit unter sechzig ist und für Highheels morden würde.

Anna sah sich erneut in dem Haus um – genießen Sie die Ruhe und Entspanntheit des Waldes; seien Sie einmal wieder nur für sich – und wusste sofort, dass sie mehr Probleme hatte als Adornos Theorien, die sie selbst dann nicht verstand, wenn man sie ihr mit Strichmännchen aufzeichnete. Sie war am Arsch, und die Bruchbude würde dem nächsten Windstoß nicht standhalten.

Die ganze Hütte bestand aus einem großen verwinkelten Zimmer mit geraden Wänden und kleinen Nischen, was merkwürdig war, weil das Haus von außen rund war. Mit dem Dach, das an einen Klecks Baiser erinnerte und wahrscheinlich genauso stabil war, erinnerte es Anna sofort an einen Pilz. Wie genau es dazu kam, dass im Inneren die Wände gerade waren, wusste sie nicht, und es war ihr im Grunde auch egal. Gleich neben der Tür rechts war die Küche. Zumindest vermutete Anna das. Denn um wirklich als Küche durchzugehen, fehlten einige essenzielle Dinge: Kitchen-Aid, Kaffeevollautomat, Mixer, Mikrowelle, Kühlschrank, Herd. An der Wand befand sich ein großes weißes Ding, das irgendwie als Herd durchgehen konnte, aber irgendwie auch nicht, rechts und links daneben standen zwei kleine Schränke, auf denen jemand alte, rustikale Holzplatten befestigt hatte. Die Nische selbst wurde vom Rest der Hütte durch einen Tresen abgeteilt, vor dem windschiefe Barhocker standen. Wundervoll. Sollte sie sich etwas zu essen machen können, woran sie per se nicht glaubte, würde sie vom Stuhl kippen beim Versuch, es zu verspeisen.

Gleich daneben befand sich die einzige Tür in der Hütte. Das Loch – die Titulierung Badezimmer hatte es nicht verdient – befand sich dahinter. Ein kleines Waschbecken, eine vergilbte Badewanne, ein Klo. Spinnen, Spinnweben, Käfer, noch mehr lebende Dinge. Anna hatte die Tür sofort wieder zugeknallt, als sie bemerkt hatte, dass sich noch andere Lebewesen außer ihr in dem Raum befanden. Angrenzend an das Loch war eine Nische mit einem Bett, in dem vermutlich fünf Generationen geschlafen hatten und mindestens drei gestorben waren. Auf der gleichen Matratze und mit dem gleichen Bezug. Anna würde sich lieber die Hand abhacken, als auch nur die Tagesdecke zu berühren. Der Rest des Hauses bestand aus dem Wohnzimmer, nämlich einer Couch mitten im Raum und einem Kamin.

Kein Fernseher.

Kein Fernseher.

Kein Fernseher.

Was auch nicht möglich war, denn in dieser Hütte gab es keinen Strom. Nichts, nada. Es gab zwar einen Lichtschalter und eine Lampe, aber als Anna den Schalter gedrückt hatte, war nichts geschehen.

Dass es so etwas überhaupt noch gab. Anna schüttelte den Kopf. Die goldenen Kreolen an ihren Ohren reflektierten die Sonne, die in die Hütte schien, und warfen goldene Kleckse an die Wand, an welcher sich die einzigen Dekorationselemente befanden. Hübsche Hirschgeweihe samt Schädel, die man betrachten konnte, wenn man morbide veranlagt war. Waren das überhaupt Hirsche? Oder vielleicht Antilopen? Gab es die überhaupt in Deutschland? Was suchten dann die Geweihe an der Wand in einer Hütte mitten in Mecklenburg-Vorpommern? Neben den Geweihen fanden sich handgewebte Teppiche, die illustre Jagdszenen darstellten. Mottotechnisch war die Hütte für Menschen eingerichtet, die – simpel ausgedrückt – auf das Abschlachten von Tieren standen. Da Anna Vegetarierin war, gehörte sie nicht in diese Zielgruppe. Überhaupt fühlte sie sich weder von der Lage der Hütte noch von der Einrichtung noch vom Zustand angesprochen.

Schon als sie vor ungefähr einer Stunde über die Türschwelle getreten war, hatten sich die Absätze ihrer Louboutins in einem Loch im Boden verfangen.

Hallo? Boden? Loch? Finde den Fehler.

Hier sollte sie also nun zehn Tage bleiben. Nach dem Willen ihrer Agentin, um ein von ihr neu konzipiertes Image glaubwürdiger zu machen. Anna würde die nächste Stunde dazu nutzen, sich über einige Dinge in ihrem Leben Gedanken zu machen, und dann würde sie abhauen, das nächste Fünfsternehotel aufsuchen und sich einen mindestens dreistündigen Aufenthalt im Spa gönnen. Aber zuerst das Wichtigste: Nachdenken.

Schritt Nummer 1: Karriere auf Anweisung ihrer Agentin neu strukturieren. Zu schaffen, hatte sie schon oft genug gemacht.

Schritt Nummer 2: Agentin gedanklich umbringen. Kinderspiel.

Schritt Nummer 3: Zwangsurlaub möglichst schnell abbrechen.

Schritt Nummer 4: Was zum Henker war dieses … dieses weiße Ding, das da in dem großen Wohn-Ess-Schlaf-Raum stand?

Pläne waren schon immer etwas, was Anna schätzte. Sie aufzustellen brachte Ruhe in ihren chaotischen und unstrukturierten Alltag. Eingehalten hatte sie noch keinen, aber das war auch nur zweitrangig. Das Erstellen machte Spaß und war wie eine beruhigende Hand, die ihre manchmal konfusen Gedanken streichelte und beruhigte.

Um ihren Vierpunkteplan so schnell wie möglich abzuarbeiten, suchte Anna nach einer passablen Sitzgelegenheit. Kritisch beäugte sie die Couch, die sich noch nicht einmal ihre Oma in die Wohnung gestellt hätte, weil sie ihr zu altbacken gewesen wäre. Die Oberfläche schien weitestgehend sauber zu sein, und so ließ sich Anna resigniert darauffallen. Eine Staubwolke stob nach oben, und ehe ihr einfiel, dass sie jetzt lieber nicht einatmen sollte, hatte sie es bereits getan. Sie versuchte, den Hustenreiz zu unterdrücken. Ihre Augen begannen zu tränen, und die ersten Räusperer entwichen ihr. Sie hustete kurz. Ihre Augen tränten, ihre Mascara verflüssigte sich, ihre Augen brannten und tränten noch mehr. Sie gab dem Drang ihres Körpers nach und hustete mit aller Kraft, um auch den kleinsten Staubpartikel aus ihrer Lunge zu befördern. Hustend und weinend stand sie auf und stolperte aus der kleinen Hütte – das Stadtgetöse vergessen, mit der Natur im Einklang sein; genau! – hinaus ins Freie. Gierig sog sie die Luft ein – okay, die Luft war wirklich frisch –, zwang sich, wieder ruhiger zu atmen, und tupfte sich die Tränen weg.

»So eine verdammte Scheiße. Und du bist schuld, ja, du«, schrie Anna einen Schmetterling an, der sich daraufhin aus dem kleinen Vorgarten verzog und in die Tiefen des Waldes hineinflatterte. Okay, der Vorgarten war ganz nett. Mit den vielen bunten Blumen, dem kleinen Kiesweg, dem pittoresken Zaun, den Sträuchern und den Kräutern sah er schon recht urig aus.

Aber trotzdem. So was konnte man auch in der Stadt haben, dafür musste man nicht in den Wald. Der Katalogschreiber gehörte verklagt, bis auf den letzten Cent, und danach gehäutet und gevierteilt. Ihre Jeans hatte ein Vermögen gekostet – und jetzt? Da war Staub aus drei Jahrzehnten dran.

Gott, wie hatte es nur so weit kommen können? Die Antwort war einfach: Lucia.

Eine Frau, die einen Navy Seal zum Weinen bringen konnte.

Eine Frau, deren Blick allein schon reichte, damit gestandene Männer in die Knie gingen.

Eine Frau, die eigentlich für Anna arbeitete.

Oder Anna für sie? Schwer zu sagen.

Anna war Künstlerin und Lucia, die Frau mit direkten familiären Wurzeln in die Unterwelt, ihre Agentin.

Sie hatte Anna vor drei Wochen die Pistole auf die Brust gesetzt, mit anderen Worten, ihr den Katalog in die Hand gedrückt mit einem Post-it auf jener schicksalhaften Seite mit der Hütte mitten im Wald. Und wenn Lucia ihr so etwas vorschlug, dann war das kein Vorschlagen im eigentlichen Sinne. Eher ein: »Wenn du es nicht machst …« Hier hörten ihre Drohungen für gewöhnlich auf, denn mehr hatte Lucia nicht nötig. Anna hatte protestiert und ihr die Verkaufszahlen der letzten Ausstellung in Erinnerung gerufen, was im Grunde unnötig war, weil Lucia die Zahlen in- und auswendig kannte.

Lucia hatte sie einfach nur angesehen.

Lange.

Anna war auf ihrem Stuhl rumgerutscht. Hatte sich den Strohhalm ihres Frappuccinos genommen und hochkonzentriert ein kleines Eiswürfelstück, das dem Häcksler entgangen war, untergetaucht.

Endlich hatte Lucia gesprochen. Kurz und knapp, mit ihrer Stimme, die so rauchig war wie drei Packungen blaue Gauloises: »Willst du, dass diese Zahlen auch in Zukunft so aussehen?«

Und das war das Ende der Diskussion gewesen und der Anfang ihres Aufenthaltes, denn zu all den unleidlichen Eigenschaften, die Lucia hatte, gehörte auch noch jene, immer recht zu haben.

Die Hütte – urige Gemütlichkeit – hatte sich sogar einigermaßen nett angehört in der Beschreibung. Aber offensichtlich hatte urig mehrere Bedeutungen. Von Insekten bevölkert war eine davon.

Im Schutz ihrer klimatisierten Stadtvilla in Berlin hatte Anna gedacht, sie könnte die ganze Sache durchziehen. Ja, insgeheim hatte sie sich sogar ein bisschen darauf gefreut. Ein kleines Abenteuer – hey, warum nicht?

Mal herausfinden, ob man noch zu mehr fähig war, als nur die Kurzwahltaste des Telefons zu drücken und sich Essen liefern zu lassen. Was um alles in der Welt hatte sie sich dabei gedacht?

Anna setzte sich auf einen Baumstumpf und blickte finster die Hütte an – Vintage, wohin das Auge blickt. Das war ja wohl eindeutig Sperrmüll. Und dann, langsam aber sicher, verschwand der Staub aus ihren Gehirnwindungen, und sie konnte wieder einigermaßen klar denken. Wenn sie ehrlich war, dann war ihr Schicksal durchaus erträglich, und es gab bestimmt den einen oder anderen, der gern mit ihr tauschen würde. Auch wenn sie nicht wüsste, welcher ihrer Freunde statt ihrer zwei Wochen hier durchziehen würde.

Christine, die sich einmal im Monat ein ganzes Wochenende um ihre Haare und Haut kümmerte? Bestimmt nicht.

Ihre Personal Trainerin und beste Freundin, Katharina, die kreischend vor jeder Wespe davonrannte, wenn sie im Park trainierten? Nie.

Wie wäre es mit Marc, mit dem sie damals studiert hatte und mit dem sie gelegentlich zusammen aß? Ha, ha. Marc stürzte in eine mittelschwere Midlife-Crisis, wenn seine Haare nicht richtig saßen.

All ihre Freunde waren eben Städter. Die täglichen Herausforderungen bestanden aus Starbucks suchen, Lunch organisieren, Afterwork-Partys, unfreundlichen Taxifahrern, unpünktlichen S-Bahnen, Klempner organisieren, damit dieser eine kaputte Glühbirne austauschte. Vom Überleben in der Wildnis, sprich Kochen ohne Mikrowelle und Bringservice, hatte niemand eine Ahnung.

Am ehesten würde sie Ben, der unverhofft den Grundstein ihrer Karriere gelegt hatte, zutrauen, in außerstädtischen Regionen klarzukommen.

Ben war Pragmatiker, er würde es schon schaffen. Wahrscheinlich würde er es sogar genießen. Aber er würde einen Teufel tun und sie ablösen. Er würde sie eher mit seiner rauen Stimme auslachen, sich ein Bier schnappen und die Show »Anna in der Wildnis« genießen.

Anna und Ben kannten sich schon so lange, dass Anna sein kehliges Lachen bei dem Gedanken beinahe hören konnte.

Anna war damals mit dem Zug von Bremen nach Berlin gefahren, um dort ihr Kunststudium zu beginnen. Sie hatte nie den Wunsch gehabt, eine berühmte Künstlerin zu werden, auch wenn Kunst sie schon immer magisch angezogen hatte. Die Möglichkeiten, sich selbst und seine Umwelt durch Kunst auszudrücken, die Perfektion des menschlichen Körpers in Skulpturen darzustellen, zu lernen, das Schöne überall zu sehen, waren verlockende Zukunftsmodelle. Die Miete bezahlen zu können allerdings auch.

Man studiert nicht Kunst.

Künstler arbeiten für einen Hungerlohn.

Kunst macht nicht satt.

Die Chancen, bekannt zu werden, sind fast null.

Und doch. Was, wenn man nichts anderes machen möchte, wenn der Schaffensdrang zu groß ist, wenn man sich die Welt gemalt vorstellt, wenn man Menschen auf ihre Einzigartigkeit hin ansieht? Was dann? Mathe und Physik schieden als zukünftige Berufsrichtungen aus. Sie hatte kein Verständnis dafür. Formeln erschlossen sich ihr nicht. Deutsch und Englisch wären annehmbar gewesen, jedoch nicht erfolgversprechend. Sport schied komplett aus. Erdkunde und Geschichte waren okay. Aber wollte sie ihr Leben »okay« leben oder das tun, wozu sie geschaffen worden war? Sie war noch so jung, sie würde sich fünf Jahre Zeit geben, um mit Kunst etwas zu erreichen. Und dann würde sie einen Plan B erarbeiten müssen. Und so hatte sie sich an verschiedenen Unis beworben. Sie hatte nicht gewusst, ob sie gut war. Ihre Eltern und Freunde hatten ihr Talent bezeugt. Aber waren Freunde und Eltern nicht genau dafür da? Zur Bestätigung?

Überraschenderweise hatte die UdK, die Universität der Künste, in Berlin sie genommen, und so war Anna aus ihrem elterlichen Haus ausgezogen und hatte sich ein Zimmer in einer WG in Berlin gemietet. Begeistert war sie von diesem Umstand nicht gerade gewesen, aber ihre finanziellen Mittel hatten ihr keine andere Wahl gelassen. Sie hatte versucht, unvoreingenommen an die Sache ranzugehen.

Und dann war plötzlich Ben ins Spiel gekommen. Sie hatten im gleichen Abteil nach Berlin gesessen. Anna voller Ungewissheit, was nun auf sie zukommen würde, Ben voller Cuba Libre. Es hatte so ausgesehen, als hätte ihn jemand über die Sitzbank des Abteils gegossen. Seine langen Arme und Beine teilweise herunterhängend, teilweise über seinem Körper liegend. Er hatte wie eine Kneipe gerochen und ausgesehen. Das zerzauste Haar hatte unter einer zerlöcherten Wollmütze hervorgelugt, die er sich tief ins Gesicht gezogen hatte. Die zerrissene Jeans hatte muskulöse behaarte Beine entblößt, das dunkelblaue T-Shirt mit dem weiten V-Ausschnitt hatte tätowierte Oberarme gezeigt. Anna hatte Schiss vor ihm gehabt. In ihrem kleinen Dorf hatte es so etwas nicht gegeben. Schon ein zweites Ohrloch galt dort als skandalös. Bei einer Tätowierung hätte sich vermutlich der Ältestenrat getroffen und die Person des Dorfes verwiesen. Himmel, dafür wäre wahrscheinlich wirklich ein Ältestenrat gegründet worden. Anna war durch den ganzen Zug gerannt, hatte aber erkennen müssen, dass dies das einzige Abteil mit freien Plätzen gewesen war. Nachdem Anna die Tür geöffnet hatte und die Ausdünstungen ihr olfaktorisches System belästigt hatten, wusste sie auch, warum.

Gleichzeitig war Anna klar gewesen, dass mit ihrem Leben, wie sie es bisher kannte, Schluss war. War sie offen genug für die Großstadt? War sie cool genug, um mit der tätowierten Alkoholleiche mithalten zu können? Sie würde es herausfinden. Jetzt.

Sie war eingetreten und hatte die Tür des Abteils schwungvoll geschlossen. Stöhnend war Ben aufgewacht. Er hatte seinen Kopf in beiden Händen gehalten und nach einer Aspirin oder Wodka verlangt. Aspirin hatte keiner der beiden dabei gehabt. Wodka schon.

Während Anna und Ben einen Wodka nach dem anderen getrunken hatten, hatte sich herausgestellt, dass Ben ein Café besaß. Als die Flasche nur noch halbvoll gewesen war, hatten sie sich angefreundet, als die Flasche leer war, hatte Ben Anna versprochen, ihre Kunstwerke bei sich auszustellen. Außerdem hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht, sie zum Essen eingeladen und ihr angeboten, bei sich zu wohnen. In dieser Reihenfolge. Dann war er zur Seite gekippt und war wieder eingeschlafen.

Anna hingegen war noch so gut wie nüchtern gewesen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Den Rest der Fahrt über hatte sie damit verbracht, darüber zu grübeln, warum sie von ihrem ersten harten Alkohol nicht betrunken geworden war.

Jahre später, auf einer Party, auf der sie alle, einschließlich des Gastgebers, unter den Tisch getrunken hatte, legte sie sich auf einen Gendefekt fest, aufgrund dessen sie einfach nicht betrunken werden konnte. Wie sonst war es möglich, dass eine zierliche Frau von eins fünfundsechzig nach einer halben Flasche Wodka noch gerade stand?

Die Öffentlichkeit kannte diese Version ihres Karrierestarts selbstverständlich nicht. Ihre Agentin hatte aus der Geschichte mit Ben folgenden Pressetext gemacht:

Seit ihrer Kindheit wusste Anna, dass sie Künstlerin werden wollte. Aus Stöcken, Lehm, Knöpfen und allem, was nicht niet- und nagelfest war, baute sie bereits damals Skulpturen, malte Bilder, schuf Dinge. Sie sah Schönheit in Gegenständen, in denen sonst niemand etwas sehen konnte. Zielstrebig bewarb sie sich an der Universität der Künste in Berlin. Bereits im ersten Studienjahr organisierte sie in einem Café eine kleine Ausstellung und zog mit dieser die Aufmerksamkeit der nationalen sowie internationalen Presse auf sich.

Ooookay, das war übertrieben, las sich aber insgesamt besser als die Wodkageschichte, wenn auch weniger lustig.

Mit der Ausstellung in Bens Café war die große Überraschung gekommen. Etwas, womit niemand gerechnet hatte, am allerwenigsten Anna. Ihre Bilder und Skulpturen waren binnen einer Woche verkauft. Vor dreizehn Jahren gab es noch so etwas wie Mundpropaganda, Talentscouts und Geheimtipps. Jedenfalls hatte eine große Galerie sie sofort angerufen und sie für eine Ausstellung gebucht. Anna hatte sich wie im siebten Himmel gefühlt. Auch Ben hatte von ihr profitiert, denn schließlich war er es gewesen, der sie entdeckt hatte. Sein Underground-Café war plötzlich so gefragt wie nie. Noch mehr Künstler stellten bei ihm aus, noch mehr Kunstkenner kamen und brachten ihren Hunger und Durst mit. Aus dem kleinen Café war ein ziemlich teures und angesagtes Restaurant geworden.

Ihr Leben schien perfekt zu laufen. Die gebratenen Tauben waren ihr tatsächlich in den Mund geflogen.

Dann war die erste große Ausstellung gekommen.

Die Presse.

Die Menschenmengen.

Und da hatte Anna gewusst, dass es doch nicht so einfach sein würde. Dass sie sich übernommen hatte, dass ihr sämtliches Know-how fehlte, um in der Szene längerfristig zu bestehen.

Und da war – Gott sei Dank – ihre Agentin Lucia ins Spiel gekommen; mit dem Namen einer Heiligen, dem Gemüt eines Rottweilers und der Geduld eines libanesischen Freiheitskämpfers auf Speed. Sie war zu Annas erster Ausstellung gekommen, war hereingerauscht und direkt auf sie zugegangen. Anna hatte zu diesem Zeitpunkt an der Bar gestanden, mit einem Glas Champagner in der Hand, umringt von Presseleuten und Besuchern, die Fragen an sie hatten. Den Überblick hatte sie schon lange verloren, ebenso die Hoffnung, jemals wieder von der Bar wegzukommen. Also tat sie das, was sie im Zweifel immer tat: einfach drauflosreden.

Lucia hatte ein hautenges Lackkleid getragen, das bei jedem Schritt knautschte, hatte schwarze kurze Haare, die zu einem strengen Bob geschnitten waren, und feuerrote Lippen. Sie war der Prototyp einer Agentin. Damals wie heute. Bei ihr lernten die PR-Berater von Lady Gaga. Eigentlich bräuchte Lucia eine eigene Agentin.

»Hast du schon einen Agenten, meine Süße?«, hatte sie Anna zugeraunt, während sie sich demonstrativ vor sie gestellt hatte.

»Nein«, hatte Anna geantwortet.

»Fünfzehn Prozent von allen Einnahmen. Ich heiße Lucia. Dein Künstlername?«

»Hab ich nicht.«

»Dann nehmen wir nur deinen Vornamen. Anna. Anna die Große.«

Von diesem Zeitpunkt an war Annas Karriere steil nach oben gegangen. Nicht nur steil, sondern senkrecht. Und das nicht unbedingt, weil ihre Kunstwerke so originell und einzigartig waren. Also, sie waren nicht schlecht, aber das gewisse Etwas wurde ihnen nur dank Lucia zugesprochen. Anna war innerhalb kürzester Zeit zum It-Girl der Kunstszene avanciert. Ihre erste eigene Wohnung war ein luxuriöses Appartement, das unglaublich teuer war, ihr Konto aber noch nicht einmal schwanken ließ.

Lucia sorgte dafür, dass es genug Skandale und Meldungen um Anna gab. Natürlich nur exzentrische Ausrutscher, die zu einer Künstlerin passten. Anna war schon in einer Entziehungskur gewesen, ohne jemals Drogen genommen zu haben. Sie hatte wöchentlich ihre Haarfarbe gewechselt und war in ferne Länder gereist, um sich inspirieren zu lassen. Nie hatte Lucia zugelassen, dass Anna aus dem Gespräch kam. Neben einem denkwürdigen Ruf hatte ihr das Geld eingebracht. Nicht nur ein bisschen oder eine Menge Geld, sie war stinkreich geworden. Ihre Wohnung hatte sie bald darauf wieder verkauft und sich dafür eine Villa gekauft – ihren Eltern auch, was sie aber nicht an die große Glocke gehängt hatte. Angeblich hatte sie sogar einen Tank im Keller, in dem sie schlief oder – je nach Zeitschrift – sich nach ihrem Tod konservieren lassen wollte.

Anna hatte nie wirklich gewusst, was sie von dem Trubel um ihre Person halten sollte. Sie war irgendwie hineingeschlittert. War es wirklich das, was sie wollte? Der ganze Hype? Sie war damals noch jung gewesen, die Verführung des Geldes und des Ruhms zu groß, und danach war es zu spät gewesen, um sich darüber Gedanken zu machen. Aber konnte sie sich wirklich darüber beklagen? Ben brachte die Angelegenheit gern auf den Punkt: »Scheiße, du bist reich geworden! Die Konkurrenz schläft nicht. Arbeite und horte Geld, solange es geht, und mach verdammt noch mal, was deine Agentin dir sagt.«

Anna würde schon wissen, wann sie genug davon hatte. Und so lange war ihr Motto: The show must go on.

Lucias neuestes Motto hingegen war: Back to the Nature. Finde zurück zu dir. Und das nur, weil sie neuerdings zweimal in der Woche zum Yoga ging. Mit dem Yoga-Kurs stellte sich bei Lucia ein neues Bewusstsein ein. Anna wusste allerdings nie, was bei Lucia echt war. Ihre Haare trug sie nun länger und honigblond gefärbt, das schwere Make-up war verschwunden, ihre alterslose Haut erstrahlte pfirsichfarben, ihre Augen wurden lediglich durch getuschte Wimpern umrahmt, und auf ihren Lippen schimmerte bloß ein Hauch Lipgloss. Tagelang hatte sie auf Anna eingeredet, dass sie auf der Ökowelle mitreiten solle. Es war noch schlimmer geworden, als Anna eine Skulptur fertiggestellt hatte, die – wie Lucia fand – Ähnlichkeit mit einem Baum hatte.

»Anna, was glaubst du, wie viele Eso-Frauen es gibt, die dir die Geschichte voll abkaufen, dich unbedingt unterstützen und solche Baumskulpturen von dir kaufen wollen? Bio ist in. Öko ist der Trend. Zehn Tage in einer Hütte im Wald, mehr will ich gar nicht von dir. Was sind schon zehn Tage? Du bist versorgt, kannst in Ruhe arbeiten, alles ist gut.«

Mit der Aktion in der Hütte hatte Lucia eine neue künstlerische Ära bei Anna einleiten wollen. Sie hoffte, dass der Aufenthalt Anna zu weiteren Bäumen beflügelte.

Anna mochte die Natur. Ein Park in der Stadt zum Beispiel war super. Fotos von Wäldern herrlich. Aber so richtig in einem Wald leben? Ähhh … Nee. Dafür lebte sie schon zu lange in der Stadt, um deren Annehmlichkeiten missen zu wollen. Trotz allem hatte Anna sich darauf eingelassen. Weil Lucia wusste, was sie tat, und weil die Konkurrenz nie schläft. Ein Chauffeur hatte sie über einen holprigen, nie enden wollenden Waldweg hierhergefahren. Er war so oft abgebogen, dass sie die Orientierung verloren hatte und in ihren Sitz zurückgesunken war. Auf den Weg hätte sie sich sowieso nicht konzentrieren können, weil neben ihr ein ausgewählter Reporter saß und ununterbrochen Fragen stellte. Lucia hatte sich selbst übertroffen. Jede noch so kleine Boulevardzeitschrift hatte mitbekommen, dass Anna in den Wald zog, und wollte die Geschichte bringen. Lucia hingegen hatte das Verlangen der Presse geschürt, indem sie die Story limitiert hatte. Lediglich ein Vertreter einer Presseagentur hatte Anna begleiten dürfen und ein Exklusivinterview bekommen. Und auch erst, nachdem er unterschrieben hatte, den genauen Standort der Hütte nicht bekannt zu geben. Schließlich würde Anna sich allein in einer Hütte im Wald befinden.

Allein. Allein. Allein.

Mit jedem Meter, den der Wagen in den Wald vorgedrungen war, war ihre Beklommenheit gestiegen. Als der Wagen vor der Hütte gehalten hatte, hatte sie keine Zeit gehabt, sich die Szenerie genauer anzusehen, denn sie hatte sich immer noch mitten im Interview befunden. Wobei sie vermutet hatte, dass sie sich ihre Worte hätte sparen können, da am nächsten Tag wahrscheinlich eine ausführliche Dokumentation über ihre Brüste erscheinen würde. Anna hatte mit einem Dauerlächeln ihre Koffer in der Hütte abgestellt und gleichzeitig beschlossen, dass kein schmerzhafter Tod schmerzhaft genug für Lucia war. In dieser Hütte war nichts. Ein Bett, eine uralte Couch, ein großes weißes Ding und ein Tisch.

Fertig.

Keine Kaffeemaschine.

Kein Kühlschrank.

K-ü-h-l-s-c-h-r-a-n-k. Kühlt Lebensmittel.

Hält die Lebensmittel frisch, die Antonia, ihre Haushälterin, ihr kochte.

Keine Pasta Arrabiata.

Keine Gemüselasagne.

Verderben.

Ende.

Aus.

Vorbei.

Anna dachte an die Kisten, die bereits gestern geliefert worden waren und die sie nach ihrer Ankunft durchforstet hatte. Vorräte. Dosen. Ravioli in Dosen, Suppen in Dosen. Alles in Dosen. Ein hysterisches Lachen bäumte sich in Anna auf und endete in einem resignierten Schluchzen.

Sie hatte bereits die Hütte auf den Kopf gestellt, aber es gab keinen Dosenöffner.

Sie könnte sich Pizza/Chinesisch/Sushi/was auch immer bestellen, aber ihr Handy fand weder ein Funksignal noch WLAN.

Das Einzige, was sie hatte, war Brot. Trockenes Brot. Und unzählige Beeren an Sträuchern um das Haus herum, wovon vermutlich mindestens eine Sorte taub machte, eine andere blind und die letzte tödlich giftig war. Na dann mal los.

Sie stand von ihrem Baumstumpf auf, richtete ihr Handy gen Himmel und begann sich im Kreis zu drehen. Sie würde einen Funkmast finden, und wenn es das Letzte war, was sie tun würde. Und dann würde sie Lucia anrufen und schreien und brüllen.

[home]

Kapitel 2

Er könnte sich auf den Rücken werfen, seine Waffe ziehen und seine Verfolger erschießen. Einer auf vier Uhr, der Nächste auf sechs, der Letzte auf acht. Lächerlich, dass DelMarco tatsächlich glaubte, dass drei Männer etwas gegen ihn ausrichten könnten. Selbst wenn er nicht bewaffnet wäre, hätten die drei keine Chance. Während er durch den Wald lief, hatte er unzählige Möglichkeiten ausgemacht, die drei zu töten. Ein kleiner Ast war ebenso fatal wie ein Pfeil, wenn er mit der richtigen Geschwindigkeit und im richtigen Winkel ins Herz katapultiert wurde. Filip kannte sowohl die richtige Geschwindigkeit als auch den richtigen Winkel. Damals im Kosovo hatte dieses Wissen ihn und ein ganzes Dorf gerettet, als er die Gegner, die ihn bereits entwaffnet geglaubt hatten, getötet hatte. Der Trick war, den Feind so nah wie möglich rankommen zu lassen, um effektiv zuschlagen zu können. Kampftechniken waren etwas, das Filip beherrschte wie kein anderer seiner Kollegen. Er war der Beste, der Schnellste, der Tödlichste. Das war keine Selbstüberschätzung, denn schließlich lebte er noch. Seine eigenen Möglichkeiten korrekt einschätzen zu können war in seinem Beruf überlebenswichtig. Viele seiner Mitstreiter und Freunde hatten sich selbst überschätzt und mit ihrem Leben bezahlt. Es war bitter, wenn jemand aus Filips eigenen Reihen starb, aber jeder von ihnen wusste, dass die nächste Mission die letzte sein konnte. Der Tod gehörte dazu wie ein guter Bekannter. Filip hatte ihn unzählige Male gesehen und selbst herbeigeführt. Er hatte verschiedene Gesichter. Er konnte schmerzhaft sein, schnell, befreiend, quälend. Eins hatten jedoch sämtliche Versionen gemeinsam: Sie waren alle endgültig.

Und wenn die drei Typen von DelMarco nicht bald eine andere Richtung einschlagen und die Verfolgung abbrechen würden, würde er ihnen zeigen, was genau endgültig bedeutete.

Filip wusste, dass es sich herzlos und sadistisch anhörte, wenn er emotionslos vom Töten sprach, aber sein Job bestand darin, Menschen zu schützen und ihnen ein weitestgehend normales Leben zu ermöglichen. Und dies funktionierte eben nur dann, wenn er dafür sorgte, dass Menschen, die abgrundtief böse waren, die Spaß am Töten hatten, die für unendlich viel Leid verantwortlich waren und die niemals einem Gerichtsprozess beiwohnen würden, nicht mehr auf der Erde weilten. Wenn er beispielsweise Joseph Kony töten würde, der in Uganda Kindersoldaten ausbildete, die wiederum Frauen, Kinder und Männer abschlachteten, und den bis jetzt niemand fassen konnte, wäre sicherlich niemand traurig. Und in eben jene Kategorie gehörten die drei Mistkerle, die ihm gerade auf den Fersen waren. Sie töteten, weil es Spaß machte, sie führten Strichlisten, und es kümmerte sie nicht, wen sie umbrachten. Und genauso wenig würde es Filip kümmern, wenn er sie töten würde. Aber wenn die drei nicht zu DelMarco zurückkämen, wäre seine Tarnung im Arsch.

Und das ging nicht.

Also weiterlaufen.

Überlegen.

Denken.

Warum musst du in die Hütte?

Er hätte keinerlei Erklärung dafür. Zumindest keine plausible. Er musste versuchen, sie abzuschütteln. An sich war auch das kein Problem, aber er durfte sie nicht auffällig abschütteln. Den dreien müsste es so vorkommen, als hätten sie ihn versehentlich verloren, und in einem Waldstück in Mecklenburg war das nicht gerade einfach. Es war Herbst, die Sträucher und Bäume trugen nur noch wenige Blätter, die ihm nicht ausreichend Schutz bieten konnten. Und wenn er sich auf einen Baum schwingen würde, würde es den dreien auffallen, dass er plötzlich weg war.

Damals im Kongo hatte er genug Möglichkeiten gehabt, seine Verfolger loszuwerden. Der Dschungel war perfekt dafür. Grünes Dickicht so weit das Auge reichte. Er hatte sich nur neben dem Weg ins Gebüsch fallen lassen müssen und war von den dichten, dicken Blättern verschlungen worden. Doch hier? Keine Chance. Er musste weiterlaufen und er brauchte verdammt noch mal einen Plan.

Wenn er das Trio abschütteln konnte, hatte er keine Probleme, es sei denn, DelMarco würde ihn darauf ansprechen, aber das glaubte er nicht, denn dann müsste er zugeben, dass er ihn beschatten ließ.

Dass er Filip nicht traute.

Dass er etwas vermutete.

Und das würde er nie im Leben zugeben, denn das wiederum würde bedeuten, dass er den Feind verdammt nah an sich herangelassen hätte, ohne es zu bemerken.

Oh ja, DelMarco, ich bin der Feind. Ich werde dich töten. Nicht heute, nicht morgen, aber bald werde ich dir eine Kugel zwischen die Augen jagen. Obwohl dieser Tod zu schnell und zu harmlos für dich wäre.

Filip lief weiter, erhöhte sein Tempo, ohne dabei in Trab zu verfallen. Sollte er die drei nicht abschütteln können und sollten sie ihm seine Ausrede, die er hoffentlich bis dahin hatte, nicht glauben, würde er sie erschießen. Er hatte grünes Licht von oben. Absolute Freigabe, die Mission auf die eine oder andere Art zu Ende zu bringen. Er würde das Trio ausschalten, dann würde er umgehend zu DelMarco zurückgehen und ihn eliminieren. Nur sein eigentliches Ziel hätte er dann nicht erreicht. Die Liste wäre immer noch in DelMarcos Safe, von dem er nicht wusste, wo er sich befand. Wenn er die Famiglia ausschalten würde, wären alle anderen gewarnt und würden untertauchen.

Verdammt. Verdammt. Verdammt.

DelMarco, die tratschende Tucke, hatte ihm sogar seine Unterhosengröße verraten, aber nicht, wo sich der scheiß Safe befand. Bevor er DelMarco verlieren würde, würde er eben Plan B durchziehen. Komplettes Pulverisieren des Hauses, inklusive des Safes und der Liste. Filip würde auch noch auf anderem Wege herausbekommen, wer die Unterhändler waren.

Eine Sache war jedoch klar: Wenn er heute auffliegen sollte, wäre er auf sich allein gestellt, offiziell existierte er nicht, wie auch seine Chefs und sein Arbeitsplatz. Nichts davon gab es. Aber er würde nicht enttarnt werden, denn er war der Beste.

Er sah die Hütte in weiter Ferne. Sie stand auf einer Lichtung und war seit Wochen seine Kommandozentrale gewesen. Sein Kommunikationsmittel nach oben. Unter einem Dielenbrett war seine Funkstation versteckt, denn es war zu riskant, seinen Boss vom Handy aus anzurufen. Er schlug einen schnellen Haken nach rechts, hörte, wie Sebastian sein Tempo verlangsamte, damit das Trio sich wieder in eine richtige Angriffsposition formieren konnte. Er würde sie nicht loswerden. Er tastete nach der Waffe, die in seinem Hosenbund steckte.

Heute würde es zu Ende gehen. Das Trio musste sterben.

Er hob den Blick und sah sie.

Seine Ausrede.

Seine Möglichkeit, doch noch alles zu einem guten Ende zu bringen.

Sie stand vor dem Haus, ihre nussbraunen langen Haare fielen ihr lose über die Schultern. Sie hatte eine extrem enge Jeans an, die ihren Körper an genau den richtigen Stellen betonte. Passend dazu trug sie schwarze Highheels, die ihren Körper auf diese gewisse Art streckten und ihr eine unglaublich erotische Haltung verpassten. Obenrum trug sie ein relativ schlichtes Shirt, dessen V-Ausschnitt Einblicke in etwas gewährte, das für jeden Mann das Paradies war. Eine feuerrote Kette baumelte um ihren Hals und spielte verführerisch mit ihren Brüsten. Insgesamt erweckte sie den perfekten Eindruck. Als würde sie auf jemanden warten. Als wäre dieser Jemand ein Mann und als hätte sie gewisse Dinge mit ihm vor.

Süße, heute wartest du auf mich, nur dass du davon nichts weißt.

Aber was zur Hölle tat sie da? Sie drehte sich im Kreis, einen Arm weit nach oben gereckt. Filip kniff die Augen zusammen. In ihrer ausgestreckten Hand reflektierte etwas. Ein Handy. Versuchte sie so etwa Empfang zu bekommen? Mitten im Wald? Überhaupt, was machte sie in diesem Outfit in der Hütte? Präziser: vor der Hütte? War sie eine Kollegin? Hatte man ihm Unterstützung geschickt? Aber wenn sie eine aus seinem Lager wäre, würde sie wissen, dass man keinen besseren Handyempfang bekam, wenn man das Ding in der Luft herumdrehte. Kaum denkbar, dass sie zu seinen Leuten gehörte.

Vielleicht wartete sie tatsächlich hier auf einen Mann. Auf ihren Mann.

Eine Zivilistin. Verdammt.

Egal. Sie musste jetzt als seine Tarnung herhalten. Zivilisten waren immer die letzte Lösung, und eine andere gab es nicht. Fertig.

Er verlangsamte seinen Schritt, versuchte ihn gediegen wirken zu lassen und ging zielstrebig auf die Frau zu. Bis jetzt erweckte er den Eindruck, dass er es eilig gehabt hatte, zu einem Date zu kommen.

Stell keine Fragen, Süße, spiel einfach mit, sonst muss ich drei Männer töten.

 

Da! War das ein Signal gewesen? Anna drehte sich einen Zentimeter weiter nach links und verharrte in dieser Position. Vage nahm sie wahr, dass im Wald Äste knackten, kümmerte sich aber nicht weiter darum. Sie war schließlich im Wald, oder? Und Äste brachen nun mal. Ihr Handy schwankte zwischen einem Strich und keinem Empfang.

Entscheide dich, du blödes Ding.

Balken. Ja!

Kein Empfang. Scheiße.

Bal… Kein Empfang. War ja klar.

Anna ließ den Arm sinken und kickte frustriert gegen einen Stock, der daraufhin Richtung Waldrand flog und gegen ein Paar … ihh Turnschuhe prallte. Anna hob ihren Blick.

Wooohhhhaaaaa!

Was war das denn?

Wer war das?

Und warum kam er auf sie zu?

Ihr Mund wurde augenblicklich so staubtrocken wie der Waldboden. Anna konnte den Impuls, sich über die Lippen zu lecken, nicht unterdrücken. Seine Augen fixierten sie, offensichtlich wollte er sie bereits aus der Entfernung einschüchtern. Nur, dass er sie nicht einschüchterte. Er machte sie heiß. Alles in ihr zog sich zusammen, und einen Augenblick dachte sie, dass das vermutlich die falsche Reaktion auf einen Fremden im Wald war, der aussah wie Jude Law, gemischt mit David Beckham.

In noch muskulöser.

In grimmiger.

In entschlossener.

In düsterer.

In sexyer.

Ihre Knie wurden weich und drohten nachzugeben, gerade als er seinen Arm um sie schlang, seine prankenähnliche Hand gegen ihren unteren Rücken drückte und sie an sich zog. Anna prallte gegen eine Brust, die aus Stahl hätte sein können. Die Luft entwich mit einem Stoß aus ihren Lungen, eine weitere große Hand umfasste ihre Wange. Fingerspitzen griffen unter ihren Kiefer und bogen ihren Kopf nach oben und noch näher an diesen … Mann.

Lippen senkten sich zu ihren hinab. Trafen hart auf ihren Mund. Nahmen sich, was sie brauchten. Anna öffnete ihren Mund und stieß ihre Zunge hervor.

Wow. Er schmeckt unglaublich männlich.

Sie wollte ihn. Sie wollte ihn kosten. Sie wollte ihn schmecken. Sie wollte ihn für sich allein.

Wer war er eigentlich? Und sollte sie nicht Angst haben? Sie schob die Gedanken mit einem Schlag ihrer Zunge in seinem Mund zur Seite. Er stöhnte.

Er war überrascht von ihrem Vorstoßen, sie spürte, wie er kurz zögerte, dann empfing er ihre Zunge mit der seinen. Der Kuss war nicht romantisch. Er war wild, animalisch, fordernd. Ehe Anna sich noch weiter überlegen konnte, ob sie Angst hatte oder nicht, entschied sich ihr Körper für eine Reaktion, die völlig außerhalb dessen lag, was sie erwartet hatte. Sie sprang hoch und schlang die Beine um ihn. Er griff mit einer Hand um ihren Po und trug sie zur Eingangstür der Hütte, als würde sie nichts wiegen. Ihr Rücken prallte dagegen, aber sie spürte keinen Schmerz. Sie spürte nur … nun ja, Dinge, die man in einer solchen Situation eben spürt.

In einer Situation, in der ein völlig fremder Mann aus dem Wald auftauchte und sie küsste.

Und als ob die letzte Beziehung schon wirklich, wirklich lange her war.

Sie spürte nur noch ihn.

Sie verlor sich.

 

Filip ließ seine Hand weiter über den Hintern der Frau gleiten. Ein heiseres Grollen ertönte aus seiner Kehle. Die Frau roch unglaublich gut. Sauber, rein, unschuldig. Nicht so wie die Menschen, mit denen er sich normalerweise während eines Jobs umgab. Undercover-Arbeit schloss Frauen nicht aus, aber die, mit denen er sich in letzter Zeit abgegeben hatte, konnten dieser Frau keineswegs das Wasser reichen. Sie verdienten es noch nicht einmal, die gleiche Luft zu atmen. Er könnte noch ewig hier stehen und die Fremde befummeln, wenn nicht drei von DelMarcos Leuten im Wald lauern und jede seiner Bewegungen beobachten würden. Seine Hand suchte die Türklinke, drückte sie runter, und schon stolperte er mit der Lady in seinen Armen in die Hütte. Sie drehte ihren Kopf leicht und intensivierte damit den Kuss. Der Gedanke an DelMarcos Männer wurde komplett überdeckt von einem anderen: Bett. Wo zum Henker war noch mal das Bett? Egal. Da stand eine Couch.

Er wollte sie sanft ablegen, fand sich aber plötzlich auf ihr wieder, die Hand, die vorher auf ihrem Hintern war, unter ihrem T-Shirt. Sie stöhnte und bog sich ihm entgegen. Ihre Haut war weich, und ihr Geruch brachte ihn um den Verstand. Er war kurz davor, sich zu verlieren, sich ganz auf sie einzulassen, weswegen er der ganzen Sache ein Ende bereiten musste. Sofort.

 

Anna spürte, wie sich der Mann kurz verkrampfte, und sie dachte schon, er wäre einer jener eiligen Typen, als sie bemerkte, dass sie allein auf der Couch lag. Ihr Körper fühlte sich plötzlich falsch an. Beraubt von dieser fantastischen Sensation.

Wow. Sie fuhr sich mit dem rechten Zeigefinger über ihre Lippen. Spürte die Schwellung und die Feuchtigkeit, die er dort und an noch einer anderen Stelle hinterlassen hatte. Sie hob ihren Kopf und sah, dass er vor dem Fenster stand und hinausblickte. Aber nicht auf diese Ich-genieße-die-Aussicht-Weise, sondern auf eine wachsame, alarmierte Art.

Anna setzte sich ebenfalls alarmiert auf.

Super, ihre Überlebensinstinkte hatten sie also nicht ganz verlassen, auch wenn sie eher hätten anspringen sollen.

Er drehte sich zu ihr um.

»Sie sind weg«, sagte er, und seine Stimme war tief und männlich und ein Versprechen. Ein Versprechen, dass das, was sie angefangen hatten, grandios hätte zu Ende gehen können. Mist, verdammter.

Anna überlegte, ob sie und, wenn ja, wie sie antworten sollte. In Ermangelung einer Idee schwieg sie und machte sich ihre eigenen Gedanken.

Wer war weg?

War das gut?

Oder wäre es besser, wenn sie noch da wären?

War jetzt der richtige Zeitpunkt, um Angst zu haben?

»Was zum Henker machst du hier? Wer hat dich geschickt?«, fragte er, und seine eisblauen Augen durchbohrten sie.

Von all der Erotik war nichts mehr zu spüren. Er war plötzlich wie harter Stahl, undurchdringlich.

Die zweite Frage kam ihr komisch vor, aber auf die erste hätte sie auch kommen können. Sie hätte wahrscheinlich jedes Recht der Welt gehabt, diese Frage zuerst zu stellen, schließlich hatte sie diese Hütte regulär gemietet … Es sei denn, es war etwas schiefgegangen und es gab eine Doppelbuchung. Ja, das musste es sein. Vielleicht war das ja ihre Möglichkeit, hier eher abzuhauen. Sie würde freiwillig das Feld räumen und auf keinen Fall auf ihrer Buchung bestehen. Ihr schien es sowieso, als wäre der Mann besser für den Aufenthalt im Wald geeignet als sie. Er schien in dieser Hinsicht durchaus kompetent zu sein. Immerhin trug er diese … diese Turnschuhe. Warum sonst sollte man sich so etwas antun, wenn es nicht einen pragmatischen Grund hatte? Sie musterte ihn weiter. Seine Hose war eine normale Jeans. Daran gab es nichts auszusetzen. Sein schwarzes T-Shirt war nichts Besonderes, saß aber an den richtigen Stellen eng. Seine Schultern waren unglaublich breit und muskulös und … lecker. Ihre Augen wanderten weiter nach oben zu dem Mund, der sie ohne Vorwarnung geküsst hatte. Und wie er geküsst hatte.

Junge, Junge, Junge.

Unwillkürlich musste sie sich mit der Zungenspitze über die Lippe fahren. Ihre Augen wanderten weiter zu den seinen. Eisblau wie ein Fjord, wie ein Bergsee, wie das Meer, irgendwie abtrünnig, aber auch einfühlsam. Jetzt gerade ungeduldig. Ach ja. Er hatte ihr eine Frage gestellt. Vor ungefähr zehn Minuten.

»Lucia«, sagte Anna krächzend und räusperte sich schnell, um dann mit einigermaßen fester Stimme fortzufahren: »Lucia hat mich geschickt. Ich mache hier Urlaub. Sozusagen.«

Hm. Hatte Lucia sie wirklich geschickt? Konnte man wahrscheinlich so nicht sagen, aber Anna hatte nicht gewusst, was sie sonst auf die Frage hätte antworten sollen, und sie wollte ihn nicht weiter mit offenem Mund und lüsternem Blick anstarren. Immerhin war sie eine Frau von Welt mit Millionen auf dem Konto, da starrte man Männer nicht so an wie ein Teenager einen Popstar.

»Lucia«, wiederholte er und sagte dann mit Nachdruck: »Urlaub.« Er sah Anna mit einer in die Höhe gezogenen Augenbraue an und ließ seinen Blick dann durch die Hütte streifen. Als sein Blick ihre Koffer und die Kisten mit Lebensmitteln sowie ihren Arbeitsmaterialien streifte, geschah etwas mit seinem Gesichtsausdruck. Er entspannte sich.

»War nicht meine Idee«, sagte Anna und lachte kurz auf, als hätte er eben einen Witz gemacht. Peinlich. Als ob sie sich für ihre Anwesenheit entschuldigen musste. Der Mann schüchterte sie ein, und sie konnte nichts dagegen tun.

»Bist du allein hier?«

»Ja.«

Ohoh. Hätte sie ihm nicht lieber sagen sollen, dass ihr großer, starker Freund, der achthundert schwarze Gürtel in Karate hatte, gleich kommen würde?

Wäre besser gewesen, aber lügen hatte ihr noch nie gelegen. Bei jeder PR-Strategie von Lucia wahrte sie bestenfalls den Schein. In Interviews war sie schon immer bemüht gewesen, nur minimal lügen zu müssen. Ihre Zurückhaltung wurde stets als Verschrobenheit der Künstlerin gewertet, was ihr wiederum entgegenkam. Überhaupt galt so etwas in ihrem Job nicht direkt als Lüge. Sie spielte eine Rolle. Anna war eine Kunstfigur. Sie tat das, was die Öffentlichkeit von ihr verlangte. Es gab einen Unterschied zwischen der Privat-Anna und der Künstlerin-Anna.

Wenn sie lügen musste, dann musste sie lange, lange darauf vorbereitet sein und sich die Geschichte so oft wiederholen, bis sie sie selbst glaubte.

Der Mann drehte sich erneut zum Fenster, und in diesem Moment sah Anna etwas, das ihr bisher verborgen geblieben war. Gut, sie hatte auch nicht wirklich Zeit gehabt, ihn ausführlich von allen Seiten zu betrachten. Unter seinem T-Shirt, in der Höhe seines Hosenbundes, war eine Auswölbung erkennbar, die ihr aus einschlägigen Filmen bekannt war.

Der Mann trug eine Waffe.

Heiße Blitze durchzuckten sie, während ihr eiskalte Schauer über den Körper fuhren.

Sie war nicht durch Zufall auf Prinz Charming getroffen. Eher auf Prinz Banküberfall. Zeit, einen Abgang zu machen. Sollte sie wegrennen? Sie begutachtete ihre Schuhe. Ziemlich viel Geld dafür, dass die Dinger kaum eine Sohle hatten. Und relativ unpraktisch, da der Dielenboden Löcher hatte. Und für den Wald sowieso komplett ungeeignet. Rennen schied also aus. Blieb nur noch Angriff.

Körperlich hatte sie keine Chance gegen ihn. Er war gut anderthalb Köpfe größer als sie und doppelt so breit. Sie musste also mit dem Überraschungsmoment arbeiten. Daher stand sie betont langsam auf und schlenderte Richtung Küche. Dabei vermied sie es, in seine Richtung zu blicken. Vermutlich sollte sie irgendetwas Belangloses sagen und dabei das Messer suchen, das sie in einer der Tüten gesehen hatte.

»Haben Sie diese Hütte auch gebucht? Ich habe mir gleich gedacht, dass bei der Anmeldung etwas schiefgegangen ist. Der Mann am Telefon war so komisch«, sagte sie mit hoher, schriller Stimme.

Na toll, Anna. Noch auffälliger unauffällig tun geht nicht.

In dem Korb mit den Vorräten lag obenauf ein Messer. Genauer gesagt ein Brotmesser, aber egal, der Mann hatte immerhin eine Waffe. Auch mit einer Axt würde sie nicht weit kommen, wenn er schießen würde. Aber kampflos würde sie nicht aufgeben. Sie drehte sich noch einmal um und sah, dass der Mann immer noch mit dem Rücken zu ihr stand. Schnell bückte sie sich und wollte das Messer gerade in ihren eigenen Hosenbund schieben, als eine große Hand ihr Handgelenk packte und sie vor Schreck das Messer fallen ließ.

Exzellente Überlebensstrategie, e-x-z-e-l-l-e-n-t, Anna.

Er zog beide Augenbrauen in der Mitte zusammen und musterte sie.

»Was sollte das werden?«, fragte er.

»Ein Überraschungsangriff.«

»Auf mich?«

»Auf wen denn sonst?«

»Ich bin nicht dein Problem. Das Problem ist da draußen.«

»Aber Sie haben eine Waffe«, sagte Anna.

»Nicht nur eine«, erwiderte der Mann und sagte es so ernst, dass Anna wusste, dass es kein Scherz war.

»Was ist hier los?«, fragte Anna und versuchte dabei, den verzweifelten Unterton in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Wer sind Sie?«

Sie war mitten im Nirgendwo. In einem Wald in Mecklenburg-Vorpommern rannten doch keine Rambos rum.

»Ich heiße Filip, und es tut mir leid, dass …«

Urplötzlich ließ er Annas Handgelenk los, das er bis dahin gehalten hatte, ging zum Fenster und war gleich darauf wieder bei ihr.

»Sie kommen. Zieh dein Oberteil aus und leg dich auf die Couch.«

»Aber …«

»Los! Es ist keine Zeit für Fragen. Ich erkläre dir gleich alles, aber jetzt musst du auf mich hören. Sie sind gleich da.«

Anna wollte protestieren, aber sein Blick verriet ihr, dass jetzt nicht der richtige Augenblick war, um Fragen zu stellen oder Widerworte zu geben. Immerhin hatte er ihr bis jetzt nichts getan. Er hatte sie geküsst, aber das konnte man nur schwer als Angriff werten. Zumal Anna mitgemacht hatte. Und wie. Sie wog ihre Möglichkeiten ab.

Der Mann war ein Psycho, dann war es wahrscheinlich besser, erst einmal mitzuspielen und ihn dann später zu überrumpeln. Oder so.

Der Mann war kein Psycho, und da draußen waren irgendwelche Psychos. Dann war es besser mitzuspielen und später dezent einen Abgang zu machen. Oder so.

Der Mann war ein Psycho, und die, die jetzt kamen, waren diejenigen, die sie retten könnten. Das wäre dann tatsächlich blöd.

Rational betrachtet lag ihre Chance, aus der Nummer rauszukommen, wenn sie sich das T-Shirt auszog, bei zwei zu eins.

»Los jetzt!«, zischte er sie an, und als Anna in seine Augen sah, schoss Adrenalin durch ihren Körper, weil sie sehen konnte, wie angespannt jede Faser seines Körpers war. So oder so, für ihn war das, was da draußen war, eine Gefahr. Sie zog sich ihr Shirt über den Kopf und schmiss es auf die Couch.

Der Mann zog ebenfalls sein Shirt aus, fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und ging zur Tür.

»Setz dich auf die Couch und tu so, als wären wir gestört worden«, sagte er noch, als es auch schon an der Tür hämmerte.

Er zog seine Waffe und richtete den Lauf auf die Tür. Eine Welle der Übelkeit ergriff Anna. Das konnte alles nicht wahr sein.

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Kapitel 3

Filip riss die Tür auf und blickte in drei Waffenläufe.

»Verdammte Scheiße. Ich hätte euch beinahe abgeknallt. Was macht ihr hier?«, fragte er und ließ seine Waffe sinken. Während er so tat, als wäre er überrascht, das italienische Trio zu sehen, betete er, dass die Frau mitspielte. Sie kam ihm nicht gerade …, nun ja, clever vor. Sie brauchte ewig, um seine Fragen zu beantworten. Außerdem hatte sie ihn mit einem Brotmesser angreifen wollen. Filip hätte mit so einem Messer eine Heerschar an Feinden auslöschen können, aber zu keinem Zeitpunkt seines Lebens hätte er davon auch nur einen Kratzer abbekommen. Und dann noch von einer Frau. Von einer Zivilistin.

»Was du hier machst, ist viel entscheidender«, sagte Tonio.

Filip öffnete die Tür noch ein Stück weiter, sodass die Italiener einen freien Blick auf die Frau hatten, die sich ihr Shirt vor die Brust hielt und die Augen weit aufgerissen hatte. Sie sah nicht überrascht aus, sie sah vielmehr so aus, als würde sie Todesängste ausstehen. Wenn Filip genauer über den Ablauf von ihrem Kennenlernen bis hin zu der Ankunft des Trios nachdachte, war das eine logische Reaktion. Anscheinend waren bei ihr Hopfen und Malz noch nicht ganz verloren. Vielleicht sollte er in Ruhe mit ihr reden, wenn die drei weg waren. Bis dahin hoffte er, dass das Trio den Unterschied zwischen Angst und Überraschung nicht erkennen konnte. Schließlich waren sie nicht so geschult wie Filip, der die kleinste Veränderung in Mimik und Gestik registrierte.

Tonio ließ ebenfalls seine Waffe sinken und grinste Filip an. Seine Augen jedoch funkelten zornig. Filip wusste, was in ihm vorging. Tonio hatte gehofft, ihn bei einer Lüge zu ertappen und ausschalten zu können. Wichser. So leicht würde er es ihm nicht machen.

»Verstehe.«