Der Akkordeonspieler - Marie-Luise Scherer - E-Book

Der Akkordeonspieler E-Book

Marie-Luise Scherer

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Beschreibung

" Marie-Luise Scherer kann alles." (Gustav Seibt). In dieser literarischen Reportage zeigt sich Scherer auf dem Höhepunkt ihres Schaffens. Sie heftet sich darin an die Fersen eines in der Berliner U-Bahn spielenden Musikers aus der Ukraine, der mit dem wenigen Geld, das ihm die Passanten zuwerfen, seine Frau und die drei gemeinsamen Kinder in der fernen Heimat ernährt. Die 2004 erstmals veröffentlichte Geschichte – das Bravourstück von Scherers hochverdichteter, einzigartiger Prosa – entfaltet ein "detailreiches Panorama von Globalisierung, Ost-West-Beziehungen, Berliner Schnauze, postsowjetischem Eisenbahnwesen und reichlich Tolstoj" ( Ulrich Stock, Die Zeit). Der Akkordeonspieler bietet damit eine intime Innenansicht der Migration und ist heute aktueller denn je.

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Marie-Luise Scherer

Der Akkordeonspieler

Wladimir Alexandrowitsch Kolenko aus der kaukasischen Stadt Jessentuki im Stawropoler Gebiet war geblendet von der Sauberkeit des Berliner Flughafens und dessen Toiletten. Ja, er war regelrecht erschüttert nach dem Schmutz und der Kälte Moskaus, wo er einen Monat in der Warteschlange der Deutschen Botschaft hatte zubringen müssen. Es war im Dezember. Über das ganze davorliegende Jahr hatte er die Einladung einer Frau Gertrud aus Potsdam am Leib getragen. Und dann, als die Reihe an ihn kam, er den Brief in den Schalter der Botschaft reichte, war das Papier schon so dünn und die Schrift so verwischt, dass man einen Fachmann zum Entziffern rufen musste.

Der Akkordeonspieler Kolenko war verheiratet mit Galina Alexandrowna, einer Jakutin, mit der er drei Söhne hatte. Vor seinem Aufbruch nach Berlin wirkte er in den musikalischen Kollektiven von Sanatorien mit, begleitete und leitete die hauseigenen Chöre. Er hetzte von Heilbad zu Heilbad, von Jessentuki nach Kislowodsk und Pjatigorsk, von der Kuranstalt Russland für die Veteranen der Arbeit und des Großen Vaterländischen Krieges zur Kuranstalt 50 Jahre Oktoberrevolution für die Atomtschiki; er spielte in den Kuranstalten der Chemiker, der Miliz, des Militärs, der Kolchosenmitglieder des Stawropoler Gebiets, des ZK der Ukraine und des Ministeriums für Innere Angelegenheiten.

Allen voran aber fühlte er sich dem Sanatorium Kasachstan verbunden, einem Haus, das sich dem hohen Harnsäurespiegel kasachischer Moslems verschrieben hatte, einer Folge übermäßigen Pferdefleischgenusses. Seine Verbundenheit galt weniger dem kasachischen Publikum, dessen Männer bestickte Hinterkopfkappen aus Seide trugen, als vielmehr einem mit roter Perlmuttimitation verkleideten Akkordeon der Marke »Barkola«. Es war Eigentum der Republik Kasachstan und von allen Akkordeons, auf denen Kolenko Kurmusik machte, ihm das liebste.

Sogar in der entlegenen südrussischen Stadt Jessentuki bemühte man sich damals, auf berufsfremden Wegen an Geld zu kommen. Das Ende der Sowjetunion war herangerückt und die Preise freigegeben, das heißt, sie stiegen unaufhaltsam. Und Kolenko mit seinen 140 Rubel im Monat zählte sich und die Seinen den Armen zu. Er sah voraus, dass seine musikalische Begleitertätigkeit sich bald erübrigen würde. Denn die Chöre fingen an, kläglich zu werden. Es fanden sich kaum noch Sängerinnen, selbst unter den machtvoll summenden Küchenfrauen nicht. Das unbezahlte Singen war jetzt verlorene Zeit.

Die Einladung der Frau Gertrud aus Potsdam kostete Kolenko 300 Rubel. Sie kam über die Geschäftstüchtigkeit dreier Schwestern zustande. Zwei gehörten dem Heilpersonal des Sanatoriums 50 Jahre Oktoberrevolution an und sangen dort im Chor, wenn auch mit jenem erlahmenden Schwung, den man bei solchen gesellschaftlichen Einsätzen nun allgemein antraf.

Beide waren ansehnlich und von Trinkern geschieden. Dem in Russland herrschenden Frauenüberschuss begegneten sie mit der unverhohlenen Darbietung ihrer Reize. Sie trugen auch dienstlich keine Haube, sondern das Haar getürmt und den Kittel im oberen Drittel ungeknöpft.

Aus einer lebensvollen Unruhe heraus hatten die zwei Schwestern sich zu einer Reise nach Deutschland entschlossen, wo die dritte Schwester lebte, Offiziersfrau in der russischen Garnison Potsdam. Reisebeschützer sollte ihr Chorleiter Wladimir Alexandrowitsch sein, ein Mann von asketischer Attraktivität, Mitte vierzig, zudem von der in Russland raren Sorte, die nur dann Wodka trinkt, wenn die Höflichkeit es unumgänglich macht.

Die Schwestern lobten Deutschland, das sie selber gar nicht kannten, die Freigebigkeit seiner Menschen, den stabilen Klang ihrer Münzen, die nur so auf Kolenko regnen würden, wenn er spielte. Sie saßen im Geiste schon im Zug und fuhren die viertausend Kilometer von Jessentuki über Moskau nach Berlin. Natürlich würden sie singen, das Akkordeon gäbe die Lieder vor, und die Abteiltür bliebe offen, weil im Waggon es alle wünschten.

Die Einladung aus Potsdam erreichte Kolenko in Jessentuki über jenes komplizierte Kuriersystem, mit dem man die zeitvergessene russische Post unterlief. Zuvor aber hatte Frau Gertrud, die unweit des sowjetischen Villenghettos zwischen Cecilienhof und Pfingstberg Serviererin in einem Kaffeegarten war, für die Sache gewonnen werden müssen.

Sie hatte die Willkommenszeilen zu schreiben. Dann mussten Kolenkos persönliche Daten auf ihrer Meldestelle beglaubigt werden. Und bis sie schließlich das Dokument in Händen hielt, das ihr im Krankheitsfalle des fremden Gastes alle Kosten auferlegte, hatte sie, die mit der russischen Bittstellerin kaum mehr verband als eine Grußbekanntschaft über die Tische hinweg, drei Stunden mit Warten zugebracht.

Die Offiziersfrau adressierte das Kuvert in kyrillischen Buchstaben und fuhr damit zum Bahnhof Berlin-Lichtenberg, wo der Nachtzug nach Moskau stand. Sie ging die Reihe der vor den Schlafwagen postierten Schaffnern ab und steckte dem ihr vertrauenswürdigsten zwanzig Mark und den Brief zu.

In der Frühe des übernächsten Tages dann, auf dem Belorussischen Bahnhof in Moskau, übernahm ein Vetter Kolenkos den Brief. Er hatte ihn gegen Abend zum Bahnhof Kurski zu bringen, einem atmosphärisch ziemlich rauen Ort, wo die Züge in Richtung Kaukasus abfahren und an den es so gut wie nie einen Reisenden aus dem Westen verschlägt. Hier konnten Gefälligkeiten noch in Landeswährung abgegolten werden: Fünf Rubel kostete damals das Entgegennehmen des Briefes und sein Aushändigen sechsunddreißig Stunden später noch einmal die gleiche Summe.

Was den Vermittlungspreis von dreihundert Rubel betraf, so könnte ihn die Enttäuschung der Schwestern in diese Höhe getrieben haben, denn die gemeinsame Reise kam nie zustande. Die Einflüsterungen der beiden hatten sich für Kolenko aus einer Verlockung zu etwas Bedrohlichem verkehrt. Er sah sich mit den tatendurstigen Sängerinnen über Tage und Nächte in der überheizten Enge des Coupés, unterwegs zu einer dritten Schwester, hinter der wiederum Frau Gertrud stünde, die ihm, einem ihr gänzlich Unbekannten, ein Bett bereitet hätte. Und zurückbleibend in Jessentuki seine schöne Frau Galina Alexandrowna, die ihren Argwohn verbergen müsste. Dies alles nur im Hinblick auf das zukünftige Geld, das Wladimir Alexandrowitsch in Deutschland zu erspielen hoffte.

Im Herbst 1990 fuhr Kolenko von Jessentuki nach Moskau, um für das Sanatorium 50 Jahre Oktoberrevolution ein neues Akkordeon zu kaufen. Zuerst wandte er sich an die für die Atomtschiki zuständige Verwaltung, wo man ihm 13.000 Rubel für das Instrument aushändigte. Dann suchte er die Akkordeonfabrik »Jupiter« auf. Und gerade als er ihren Hof überquerte, wollte es der Zufall, dass jemand zum Entladen eines Lieferwagens fehlte und Kolenko einsprang. Es handelte sich um eine Fuhre Puppen vom Typ »Sonja«, jede mit blauen Haaren und in starrem Cocktailkleid hinter dem Cellophanfenster eines Kartons. Kolenko kaufte dreißig Stück davon, nahm sie aus Platzgründen aus ihren Gehäusen und trat mit immensem Gepäck gegen Abend die Heimreise an.

Galina Alexandrowna war von den Puppen angetan. Sie hatte beschlossen, sich im Handel zu versuchen, was inzwischen ja halb Russland tat. Als Kassiererin der Stadtkantine von Jessentuki verdiente sie achtzig Rubel. Und die zählten bald weniger als die Krauteintöpfe, von denen sie manchen Kellenschlag in eine Plastiktüte gleiten ließ und nach Hause brachte.

Sie borgte sich Geld, um Ware zu kaufen. Die Puppen sollten der Blickfang ihres ansonsten unauffälligen Sortimentes sein, alle möglichen Werkzeuge, insbesondere Stromindikatoren, Feilen und Scheren. Alles musste in Taschen passen und ohne hilfeheischende Mühe von ihr getragen werden können. Eine Schönheit wie sie durfte keine zusätzlichen Anlässe schaffen, sich ihr zu nähern.

Galina Alexandrowna fuhr in die türkische Stadt Trabzon am Schwarzen Meer, wo die neue russische Händlerschaft schon in Heerscharen auftrat, wenn auch im Schatten der Handelstalente aus Armenien. Ihre Mitreisenden schienen das gleiche Ziel zu haben. Alle hatten Unmengen massiger Behältnisse in die Waggontüren hinaufgereicht, auch die Zusteigenden auf den späteren Bahnhöfen. Beim Einfahren erkannte Galina Alexandrowna auch die Wartenden als ihresgleichen, da jeder in einem Wall aus Taschen stand.

Der kürzeste Weg war zugleich ein Umweg, weil die mächtigsten Bergketten des Großen Kaukasus umfahren werden mussten. Statt südlich durch Tscherkessien und Abchasien ans Schwarze Meer zu gelangen, musste man zuerst westlich durch Krasnodarer Gebiet, wo die Berge flacher wurden. Galina Alexandrowna hatte sich bald in die Obhut eines Ehepaares begeben, das auch mit Stromindikatoren sein Glück zu machen hoffte. Der Mann sprach etwas Türkisch und war mit der Statur eines Leibwächters gesegnet. Er musste sich nur von seinem Platz erheben, und jede Unstimmigkeit im Abteil verflog.

Sie fuhren über die Seebäder Sotschi und Sochumi, entfernten sich dann aber vom Wasser, um tief im georgischen Osten Tiflis zu erreichen, die Endstation des Zuges. Jetzt musste man wieder entgegengesetzt, also westwärts fahren. Es war ein ständiges Hakenschlagen, und jedes Mal stiegen sie um, wobei das Händlergepäck in endlosen Kaskaden aus den Zugfenstern und Türen hinabgelassen wurde, als habe es sich unterwegs vermehrt.

Schließlich musste Galina Alexandrowna mit dem Ehepaar und fünf weiteren Russen, die sich ihnen zugesellt hatten, in einem Lasttaxi noch den Kleinen Kaukasus überqueren, in einem Fußmarsch die türkische Grenze passieren, dann die Reise in einem Bus fortsetzen, bis nach dreißig Stunden Beschwerlichkeit das Händlergewimmel von Trabzon sie endlich aufnahm.

Wladimir Kolenko war mit der »Barkola«, dem von ihm überaus geschätzten Akkordeon des Kurhauses Kasachstan, in Berlin angekommen. Ludmilla Sergejewna, die im Sanatorium mit den Bunten Abenden befasst gewesen war, hatte ihm das Instrument leihweise überlassen. Da keiner im Fundus danach suchen würde, weil es keinen mehr gab, der darauf spielte, blieb ihre eigenmächtige Handlung ohne Risiko. Denn auch über die kurenden Kasachen und das von ihrer Heimatrepublik bestellte Haus war der Mangel hereingebrochen. Zahlungen von Löhnen und Betriebskosten standen aus, und nur die diätetisch gebotene Buchweizengrütze blieb weiterhin reichlich bemessen.

Kolenko trug das Akkordeon in einer Stoffhülle wie einen Rucksack auf dem Rücken, während er im Akkordeonkoffer drei Flaschen Wodka und sowjetische Jubiläumsmünzen transportierte. Der Wodka sollte seine Gegengabe für Gefälligkeiten sein, und die Münzen gedachte er an Sammler zu verkaufen. Sein Gepäck hatte also irreführende Konturen, da er mit zwei Instrumenten beladen schien. Genauso hätte auch in keinem der Behältnisse ein Instrument stecken müssen.

So sah er sich bald polizeilich aufgefordert, den Koffer zu öffnen, was ihm jedoch durch nervösen Übereifer misslang. Er hantierte vergeblich an den Schlössern, und da mit jeder Sekunde seines Hantierens seine Verdächtigkeit wuchs, bat er den Polizisten um ein Messer. Es endete aber alles gut, und Kolenko, der den Koffer unversehrt in die Durchleuchtungsröhre hatte schieben dürfen, nahm den gnädigen Polizisten für ein Omen des Willkommens.

Er tauschte zehn Dollar ein. Das Geld stammte aus dem Erlös seiner Frau als wagemutiger Händlerin. In seiner Vorstellung musste ihre Reise voller kränkender Momente gewesen sein, dazu brauchte er nur die beredten Männer des kaukasischen Südens vor sich Revue passieren zu lassen. Galina Alexandrowna hatte alle Schulden tilgen können, hatte den Schwestern die Vermittlungssumme gezahlt und ihm den Fortgang nach Berlin.

Anfangs ängstigte ihn der Gedanke, einzutauchen in das unbekannte Berlin, so dass er den Flughafen kaum zu verlassen wagte. Er fürchtete, sich zu verirren. Jeder falsche Schritt hätte eine unwägbare Ausgabe bedeutet, etwas von dem Geld kosten können, das ihm heilig war und das er nur vermehren wollte. Zur Einübung in die Fremde setzte er sich in die S-Bahn und fuhr, einer Eingebung folgend, zwölf Stationen. Er befand sich nun an der Jannowitzbrücke. Und für einen Ort, den er nach einem inneren Lotteriesystem sich selber zugewiesen hatte, war es ein Treffer, der ihm nach fünf Stunden Spiel schon siebzig Mark einbringen sollte.

Am Abend fand sich Kolenko wieder in der Wartehalle des Flughafens ein, wo er sich gegen Mitternacht, das Akkordeon unter dem Kopf, ausstreckte und bis sieben Uhr schlief. Danach ließ ihn die Morgentoilette das unbequeme Nachtlager vergessen. Sie war ein Ereignis unter vollstrahligen Wasserhähnen, die unerschöpflich flossen in allen gewünschten Temperaturnuancen, so dass er neben der körperlichen auch eine technische Erquickung empfand.

Genauso verfuhr er am nächsten und übernächsten Tag, unbehelligt von den Ordnungskräften, da er ein Rückflugticket vorweisen konnte. Erst nach dem vierten Tag blieb er abends in der Stadt. Er hatte unweit der Jannowitzbrücke einen Platz im Vierbettzimmer einer Pension gefunden. Die dreißig Mark vergällten ihm jedoch den minimalen Schlafkomfort, denn er stellte sich das Geld in einer Rubelsumme vor. Und die übertraf den Monatslohn von Galina Alexandrowna, seiner Frau, die den Unterhalt der Familie in Jessentuki bestritt. Dieses Umrechnen sollte ihn fortan begleiten. Es stellte sich selbst bei geringsten Einkäufen ein. Schon ein Brötchen löste den Reflex in ihm aus, den Groschenpreis in seine Heimatwährung umzudenken.

In diesem Sinne gestand er sich nur drei Nächte zu in der Pension. Er hatte sich, wenn er spielte, ein Pappschild »Suche Wohnung für zehn Tage« zu Füßen gelegt, was ihm das Schlafangebot eines kleinen Mannes namens Lutz einbrachte. Und da jener einen Pudel an der Leine führte, hielt Kolenko ihn für einen Anwohner der Jannowitzbrücke beim abendlichen Hundeausgang.

Sie trafen eine Verabredung für neun Uhr, die Zeit, zu der Kolenko mit dem Versiegen der Menschenmenge gewöhnlich auch zu spielen aufhörte. Er war guter Dinge. Einmal, weil Lutz, wie der kleine Mann umstandslos von ihm genannt sein wollte, nur zehn Mark für das Bett verlangte. Und weil er dessen Wohnung in der Nähe wähnte, den täglichen Hin- und Rückweg vor Augen mit zwanzig Kilo Musikgepäck.

Stattdessen ging es mit der S-Bahn neun Stationen bis nach Kaulsdorf, danach in einem Fußmarsch noch einen Kilometer durch die Finsternis, wie sie Kolenko nur aus Jessentuki kannte, wenn der Bahnhof hinter einem lag. Und als er endlich die Tür des ihm zugeteilten Zimmers hinter sich geschlossen hatte, stellten sich Bilder aus seiner dörflichen Kindheit ein, denn unter dem Bett blinkte ein Nachttopf.

Immerhin verbrachte Kolenko zwanzig Nächte bei diesem Lutz, obwohl es, vor allem geographisch, keine günstige Fügung war und er bereits nach wenigen Tagen das Pappschild wieder vor sich liegen hatte. Die Februarkälte hatte ihn von der Jannowitzbrücke vertrieben, und er spielte in einem Fußgängertunnel am Alexanderplatz. Der Tunnel führte von der Karl-Liebknecht- zur Memhardstraße, in der Margot Machate wohnte, eine im Unglück bewanderte, rau erscheinende Frau Ende sechzig, die gegen die Lustlosigkeit und das Grübeln sich hin und wieder selbst einen aktiven Tag verordnete. Und solch einen Tag wollte sie gerade meistern, als sie den unterirdischen Akkordeonklängen entgegenging.

Kaum hatte die Musik sie in den Tunnel hineingezogen, verwandelte sich ihr therapeutischer Tatendrang in einen Zustand der Beflügelung. Sie traf auf einen entrückten Mann und sagte: »Prima, wie du spielst.« Tatsächlich spielte Kolenko ohne jede mimische Ermunterung, die seinem Fach ja gewöhnlich das Publikum schafft. Er lächelte ohne Blickkontakt, auch wenn eine Münze fiel. Frau Machate erfasste gleich, als sie das Pappschild las, den Grund für dieses abgekehrte Musizieren. Der Mann wollte vermeiden, dass man seine Kunst verquickte mit seiner bettlerhaften Wohnungssuche.

Margot Machates Entschluss, den Russen aufzunehmen, resultierte aus familiärer Verdrossenheit. Ohne die Gabe, ihrem zurückliegenden Leben auch nur geringste Vorzüge einzuräumen, einen gnädigen Schimmer über die Jahre zu legen, begriff sie sich als Tochter eines Triebtäters, bei der sich das Schicksal der Mutter wiederholen sollte, zudem mit einem Mann, der trank. Dabei galten ihr seine Rauschzustände als das kleinere Übel, weil sie ihn dann überlisten konnte und eingeknöpft in einem Bettbezug seiner Begattung entging.

Auch nach der Scheidung wurde sie nicht froh. Vier große Söhne, schon bei den Geburten zwölfpfündige, sie zerreißende Riesen, wetteiferten in desolaten Existenzen. Und ihr fehlt jene trostreiche Verblendung, die Müttern zu Gebote steht. Zwar spricht sie, während einer sonntäglichen Kaffeestunde etwa, deren Stimmung sie erhalten will, von ihren Strolchen und deren Faxen, die sie manchmal dicke habe, um bald darauf die Korrektur zu setzen: »Ohne Kinder hätte ich wie ein Mensch gelebt.«

Natürlich genoss Margot Machate ihre Güte und die feierliche Dankbarkeit des Russen. Abends kippte er seine Einnahmen über der Mitte ihres Tisches aus, und sie half, das Geld in kleine Haufen zu sortieren. Danach stapelten sie die Groschen, Fünfziger und Markstücke und zählten jeweils fünfzig Münzen ab, um sie zu strammen Kolonnen in Rollpapier zu wickeln. Diese banküblichen Rollen waren Frau Machates Idee. Sie zahlte sie bei ihrer Sparkasse ein und brachte deren Gegenwert in Scheinen zurück.

All das ersparte Kolenko nun die Bittgänge zu den Kiosken und kleinen Läden, wo er bisher sein Kleingeld lassen durfte. Wobei nur die wenigsten und diese auch nur ausnahmsweise ihm gewährten, den prallen Stoffsack in ihrem Wechselteller auszuleeren und, als Taktmaß für sein Zählen, auch noch Türmchen zu errichten.

Kolenko schlief auf einer Campingliege in Frau Machates sieben Quadratmeter großer Küche, welche sich unmittelbar der Wohnstube anschloss, in der ihr zur Nacht umzurüstendes Ecksofa stand. Beide Schlafstätten trennte eine lamellendünne, schon durch ein lautes Wort zu erschütternde Schiebetür. Frau Machate hörte den Russen, wenn er die Seiten seines Wörterbuches blätterte, während er, geübt im russischen Zusammenrücken, für sich das Glück weiträumiger Verhältnisse genoss.

Das Hochhaus mit seinen Einraumwohnungen und vorrangig weiblicher Mieterschaft war ein Relikt der späten DDR. Und diesem Umstand wurden die baulichen Mängel angelastet, wobei manche von ihnen, die blasenwerfenden Tapeten auf der Wetterseite etwa, gemeinschaftsstiftend waren. Das Ärgernis schuf Einigkeit. Nichts als Konflikte schürte hingegen das nicht isolierte Rohrsystem. Einmal gab es die Benutzer in ihren Gewohnheiten preis, profilierte sie über das Rauschen, Gurgeln und Tröpfeln, über den strammen Guss oder ein zögerliches Fließen. Dann verriet es davon abweichende, zusätzliche Geräusche, die auf Besuch, eine Liebschaft oder einen unerwünschten Untermieter schließen ließen, auf einen Schlafburschen also in Frau Machates überkommener Diktion. Und nun mischte sich unter die vielgestaltigen Wassergeräusche des Hauses noch Kolenkos Variante, der sich ein Bad einließ, das nur seine ausgestreckten Beine bedeckte, um dann mit den Händen Wasser gegen die Brust zu schlagen.

Das tat er aus Sparsamkeit, aber mehr noch aus einer alten Gehetztheit heraus, herrührend aus Kommunalka-Zeiten, als er mit vier Parteien eine Wohnung teilte und die Muße eines Wannenbades den Egoisten vorbehalten war. Hier aber, in einem Hochhaus voller autonomer Einzelwesen mit eigenen Zählern, Herden, Wannen und Toiletten, waren Kolenkos rücksichtsvolle Waschungen nichts als irritierend. Kaum, dass die Hausverwalterin den Fuß ins fünfte Stockwerk setzte, dachte Frau Machate, der Kontrollgang gelte nur dem Plätschern ihres Russen.

Mittwochs gegen 6.30 Uhr steht Kolenko auf dem Zwischendeck des U-Bahnhofes Kleiststraße für eine Musikgenehmigung an. Die Mehrzahl der Wartenden bilden die Gitarristen. Ihnen folgen die Akkordeonisten und Geiger und diesen wiederum die Xylophon- und Keyboardspieler. Die absolute Minderheit teilt sich eine Harfenistin mit einem Vertreter fernöstlicher Streichmusik, in dessen Futteral ein Brett mit einer einzigen aufgespannten Saite steckt. Nicht erlaubte Instrumente sind Trompeten, Hörner sowie Klangverstärker.

Die vorherrschende Sprache ist Russisch. Und unter jenen, die sie sprechen, sind es die Harfenistin und die Geiger, denen man anzusehen glaubt, dass sie ihr Fach nicht für die hallenden Gänge der Berliner Verkehrsbetriebe studiert hatten. Die frühe Stunde, vielmehr die jedem abverlangte kurze Nacht, verbindet die Wartenden, den Asiaten ausgenommen, in einer klammen Munterkeit. Dazu fördert die Kälte den Gemeinschaftsgeist. Sie ist das eigentliche Übel dieses Aufenthaltes. Sie nötigt jeden, sie irgendwie zu kommentieren, so wie ein Schlauchguss jedem abverlangt, sich schreiend oder wimmernd mitzuteilen.

Fast alle stampfen, als tanzten sie, und behauchen ihre Fingerspitzen. Und manche schlagen die gekreuzten Arme auf den Rücken, wobei sie einen scharfen Atemstoß entlassen. Selbst die Harfenistin löst sich aus ihrer Petersburger Adelsattitüde und gerät ins Hüpfen. Da ihr brettgerader, bodenlanger Fohlenmantel die Füße schluckt und ihr kleiner Kopf unter einem Mützenwulst verschwindet, bietet sie den Anblick einer Schachfigur auf einer Sprungfeder.

Um fünf vor sieben strebt U-Bahner Hofer dann flott und schlafgesättigt seinem Schalter zu. Und Sekunden später dringt Licht durch die Ritzen der Eisenjalousie, und man hört Hofer drinnen noch kleine Wege machen. Im letzten Bruchteil seiner Zeitreserve rückt er sich den Stuhl zurecht, und sogleich zeigt sich seine gediegenes Gesicht in der Neonhelligkeit des Schalters.

Seine Wirkungsstätte ist über und über mit Postkarten, Widmungen und scherzhaften Botschaften besteckt, dazwischen auf Nadeln gespießte Inflationsdevisen, pelzige Papiergeldläppchen der Ukraine oder Belorusslands, die selbst ein Hohn im Bettelhut des Allerärmsten wären. Hier zeugen sie nun von ihrer Verzichtbarkeit, wie es an wunderwirkenden Orten die Krankenstöcke der Geheilten tun.