Der Alte vom Berge - Thomas Riedel - E-Book

Der Alte vom Berge E-Book

Thomas Riedel

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Beschreibung

Osmanische Provinz ›Mossul‹, 1902 Professor John B. Atkins, Archäologe an der Fakultät Cambridge, möchte sein wissenschaftliches Lebenswerk mit einem lang ersehnten, aufregenden Fund in Assyrien krönen. Schon seit vielen Jahren ist er auf der Spur von König Assurbanipals Schatz. Als es zu einem Mordanschlag auf ihn kommt, kann Jacob Hemsworth, der zusammen mit seiner Zwillingsschwester Salvinia nach Assyrien gekommen ist, um mit ihr das noch wenig erforschte Land zu bereisen, gerade noch das Schlimmste verhindern. Aus Dankbarkeit bietet er dem geschichtlich interessierten Pärchen an, ihn auf seiner archäologischen Expedition zu begleiten. Schon bald kommt es zu ersten Sabotageakten und weiteren Anschlägen auf das Ausgrabungslager, die Leib und Leben aller gefährden ...

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Der Alte vom Berge

Abenteuerroman

von

Susann Smith & Thomas Riedel

Bibliografische Information durch

die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.de abrufbar

1. Auflage

Design:

© 2019 Susann Smith & Thomas Riedel

ImpressumCopyright: © 2019 Susann Smith & Thomas Riedel

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

»Ich sehe wundervolle Dinge –

Gold, wohin das Auge blickt.«

Howard Carter (1874 - 1939)

Kapitel 1

Mossul,

Hotel ›Lion of Niniveh‹

I

n der exklusiven Hotelbar ›Lion of Niniveh‹ war an diesem frühen Nachmittag der Teufel los. Zwei Männer wälzten sich vor der Theke auf dem staubigen Boden.

Mit aufgerissenen Augen verfolgten die wenigen Gäste wie gelähmt den ungleichen Kampf.

Ein blonder, athletisch gebauter Weißer lag schräg über einem dunkelhäutigen Kurden und drehte ihm den Arm herum.

In der Faust des Eingeborenen blitzte ein Dolch. Stöhnend vor Schmerz öffnete er die Finger. Der reichhaltig verzierte und nadelspitze Krummdolch fiel klirrend zu Boden.

Dann holte der Blonde aus und schlug zu. Blut lief über das cremefarbene Jackett des Mannes, der eben noch an der Bar gesessen und als harmloser Gast seinen Cocktail getrunken hatte.

Ist er wirklich so harmlos? Sein Auftraggeber Abu Barca würde bald wissen, dass er hier kläglich versagt hatte – und dann würde er nicht mehr lange zu leben haben.

Der Weiße beugte sich über seinen besinnungslosen Gegner und zog ihm das linke Augenlid auf. »Haschisch«, knurrte er nur. »Hat sich mit Haschisch aufgeputscht. Man sieht es an seinen Pupillen. Solche Menschen befinden sich in einem rauschähnlichen Zustand und haben keine Hemmungen mehr, keinen eigenen Willen.« Er nahm das zweischneidige ›Jambiya‹ an sich, dass hier so ziemlich jeder arabische Mann als kulturelles Symbol und Schmuckgegenstand am Gürtel trug, ging zur Theke und zündete sich eine Zigarette an. Unsere Reise nach Mossul fängt ja gut an, dachte der Blonde und rieb sich etwas verlegen die rechte Hand. Verdammt! Viel später hätte ich nicht eingreifen dürfen, dann wäre der Anschlag geglückt.

Während der Kurde hinausgeschleppt und draußen vor der großen Freitreppe des Hotels einigen Polizisten übergeben wurde, wandte sich ein untersetzter Mann an den Blonden.

»Herzlichen Dank, mein Freund«, sagte er, während er seine Hornbrille zurechtrückte. »Sie haben mir das Leben gerettet, Mister …«

»Hemsworth. Jacob Edward Hemsworth. Meine Schwester und ich kamen vor vierundzwanzig Stunden in Mossul an. Wir sind auf Expeditionsreise.«

»Darf ich fragen, ob ich einen Landsmann vor mir habe?«

»Wenn Sie Engländer sind, dann stimmt‘s«, erwiderte der junge Mann lächelnd. »Gute Freunde nennen mich übrigens Jack.«

»Dann möchte ich Sie auch so nennen, Jack. Schließlich wäre ich ohne Sie jetzt ein toter Mann gewesen und hätte meine Arbeit hier auf ziemlich unrühmliche Weise beenden müssen. Ich bin John B. Atkins aus Edinburgh.«

»Donnerwetter!«, entfuhr es Hemsworth überrascht.

»So hätte ich mir einen unserer bekanntesten Archäologieprofessoren nicht vorgestellt«, meldete sich eine Frauenstimme aus dem Hintergrund.

Eine schlanke, sportliche Frau, mit langen blonden Haaren und strahlend blauen Augen, war, in einem eleganten Kleid, welches in seiner Farbe der ihrer Iris glich, die Treppe heruntergekommen und schritt auf die beiden Männer zu.

»Dass Sie mich überhaupt dem Namen nach kennen, ist schon allerhand«, staunte der Professor. Er erkannte sofort die Ähnlichkeit zwischen den beiden jungen Gästen. »Menschen in ihrem Alter kennen meistens nur die besten Kricket-Mannschaften und Theaterschauspieler.« Der im ganzen Empire berühmte Forscher zwinkerte den beiden zu. »Aber auch das eine solch junge Dame der feineren Gesellschafft offensichtlich mehr über mich weiß, erstaunt mich.«

»Zur Ehrenrettung der jüngeren Generation muss ich widersprechen, Professor. Mein Bruder und ich wissen zum Beispiel, dass Sie vor einigen Wochen einen aufsehenerregenden Artikel für die Universität Cambridge veröffentlicht haben«, sagte Jacks Schwester. Dabei umspielte ein süffisantes Lächeln ihre Mundwinkel.

»Jetzt sagen Sie nur noch, Miss, Sie hätten ihn gelesen?«, schmunzelte der Professor überrascht.

»Aber sicher. Mein Bruder und ich haben Archäologie in Oxford studiert«, gab sie das Geheimnis um ihr Wissen preis. »Natürlich interessieren wir uns sehr für Ihre Forschungen. Morgen wollen wir mit einer Karawane über den Tigris setzen und uns die Ausgrabungen in ›Niniveh‹ ansehen. In Ihrem Artikel ging es doch um verschollene Keilschrifttafeln, die Sie aus dem Oberlauf des Flusses bergen und entziffern konnten. Und er war gespickt mit geheimnisvollen Andeutungen über einen wertvollen Schatz, dem Sie auf die Spur gekommen sind. Liege ich richtig?«

»Alle Achtung!«, entfuhr es Professor Atkins an Jack gerichtet. »Ihre Schwester ist bestens informiert.« Er musterte die attraktive Blondine. »Mein Kompliment, Miss.«

»Ich darf vorstellen … Meine Schwester, ... genauer gesagt meine Zwillingsschwester, Salvinia. Sally, Professor John Atkins.«

»Wir sollten nach der ganzen Aufregung einen Schluck trinken«, schlug Sally freudig vor. Sie fühlte sich geschmeichelt, dass der angesehene Akademiker sie lobte.

»Stimmt«, entgegnete der Professor. »Außerdem bin ich Ihrem Bruder noch meinen Dank schuldig für sein energisches Eingreifen vorhin.«

Sally und Jack sahen den Forscher von der Seite an, der umständlich seine Brille abnahm und sie mit seinem Rockzipfel putzte.

»Sie scheinen gefährlich zu leben, Professor«, bemerkte Sally. »Haben Sie bei Ihren Ausgrabungen möglicherweise ein Tabu gebrochen?«

»Das wüsste ich auch gern.« Jack Hemsworth drückte seine abgebrannte Zigarette in einem Messingaschenbecher aus. »Weshalb wollte man Sie töten?«

»Das ist nicht so wichtig«, wehrte Atkins ausweichend und gelassen ab. »Unsereiner lebt in diesem Land und bei diesem Geschäft immer gefährlich. Ich habe schon zahlreiche Drohbriefe bekommen. Der Mann mit dem Dolch«, er warf einen Blick auf die Waffe vor ihm, »wollte mich vermutlich aus dem Weg räumen.«

Sally und Jack Hemsworth nickten dem Professor zustimmend zu.

Jack zog die Augenbrauen hoch und betrachtete den Gelehrten etwas genauer. Er schätzte den massigen, aber geschmeidigen Mann auf Mitte vierzig. Er hatte eher das Aussehen eines Globetrotters als das eines international bekannten Forschers.

Während der Barmixer die Drinks zubereitete, sah Jack am anderen Ende der Theke eine aparte, schwarzhaarige, junge Frau.

Sie saß neben einem älteren Herrn und blickte ihn unverwandt an.

Nicht schlecht, die Kleine, dachte Jack und blinzelte zu ihr hinüber.

Seiner Schwester war der Blickkontakt nicht entgangen. Ein verschmitztes Lächeln umspielte ihre Lippen.

Sie wussten beide, dass es sich um Mabel Wrightley und ihren Vater handelte, ein Landsmann und reicher Industrieller. Die beiden hatten sich am Morgen zu ihnen an den Frühstückstisch gesellt. So hatten sie erfahren, dass er mit seiner Tochter schon seit Wochen den Orient bereiste und sie Appartements auf demselben Flur im ersten Stock bewohnten.

Mabel warf energisch ihren Kopf in den Nacken und schien auf einmal nur Augen für ein großes, farbenprächtiges Mosaik zu haben, das neben der kleinen Varietébühne der Bar in die Wand eingelassen war.

Es stellte die geschickte Nachbildung des Reliefs ›Assurnasirpal II. auf der Jagd‹ dar. Das Original des Kunstwerkes war vor einigen Jahren in ›Niniveh‹ ausgegraben worden und stammte aus dem 9. Jahrhundert vor der Zeitwende. Der königliche Schütze hatte seinen Bogen auf einen Löwen angelegt.

Als der Professor seinem Lebensretter zutrinken wollte, stieß Mabel Wrightley plötzlich einen gellenden Schrei aus.

Sally, Jack und Atkins erstarrten in ihrer Bewegung.

Sie sahen, wie die junge Frau mit weit aufgerissenen Augen entsetzt und mit ausgestrecktem Arm auf den Bogenschützen zeigte.

Blitzschnell folgte Jack der angezeigten Richtung. Er erfasste als erster, dass das überlebensgroße Auge des Bogenschützen lebte, und dass sich durch dessen Mund ein Gegenstand schob. Er schimmerte metallen im flirrenden Licht der kristallenen Kerzenleuchter. Es war die kreisrunde Mündung eines Revolvers.

Mit einem harten Ruck riss Jack den Professor und seine Schwester mit sich. Sie kippten von den Barhockern und stürzten zu Boden und die Gläser zersprangen.

In der fallenden Bewegung konnte man erkennen, wie aus der Mündung eine Kugel auf ihre tödliche Bahn geschickt wurde. Die Gäste hörten den Schuss kaum. Lediglich eine Flasche auf der Theke unmittelbar neben dem Barmann sprang entzwei. In ihrer verlängerten Richtung hatte noch Sekunden zuvor Professor Atkins gesessen.

Jack war blitzschnell aufgesprungen. In der Hand hielt er seinen Webley-Revolver. Er zielte über den Thekenrand und schoss zweimal kurz hintereinander auf die Lücke in dem Mosaikbildnis.

Misstönend verstummte die Gruppe der Musiker auf der Varietébühne. Einige anwesende Gäste schrien in panischer Angst auf. Der Barmixer stand da wie gelähmt. Schlagartig verschwand das Auge des Bogenschützens und sein Mund gähnte leer.

Wie von einem Katapult abgeschossen, raste Jack zur Bühne. Mit ein paar Sätzen war er oben. Die Bauchtänzerinnen stoben kreischend auseinander.

Durch eine Seitentür sprang der junge Hemsworth die Treppenstufen empor und stand gleich darauf in einem dunklen Raum. Nur durch zwei kleine Öffnungen, das Auge und den Mund des Bogenschützens, fielen schwache Lichtstreifen schräg in die Kammer.

Eine Faust, vom einfallenden Licht erfasst, tauchte schemenhaft aus der Dämmerung auf. Die Faust zielte mit einem Revolver auf den jungen Engländer.

Instinktiv warf sich Jack zur Seite. Ein greller Flammenstrahl stach durch die Finsternis und zeigte ihm, wo sich der heimtückische Schütze befand.

Noch das Dröhnen im Ohr, kroch Jack schlangengleich seitlich auf den Gegner zu. Er vernahm ein Stöhnen. Dann sah er die Umrisse seines Gegners, der unter dem offenen Auge von den Bogenschützen am Boden hockte.

Jacks tastende Hände stießen gegen einen Stuhl. Verworren vernahm er das Geschrei aus der Bar und die schrillen Rufe der verängstigten Tänzerinnen von der Bühne her. Er griff in die Tasche seiner Jacke, fand eine Revolver-Patrone und warf sie in die gegenüberliegende Ecke des Raumes.

Mit dem Aufprall des Geschosses schnellte sein Gegner in diese Richtung herum und feuerte.

Gleichzeitig mit dem Mündungsfeuer sprang Jack auf. Den Stuhl im Hochschnellen mit einer Handbewegung zur Seite fegend, landete er krachend auf dem Rücken des unheimlichen Angreifers. Gleichzeitig landete seine mit dem Webley-Revolver bewaffnete Faust auf dessen Arm. Der Mann heulte vor Schmerz auf und die Waffe des hinterhältigen Schützen fiel polternd zu Boden. Ein Schlag gegen den Schädel ließ ihn endgültig zusammensacken.

Schnaufend kam jemand die Treppe herauf, gefolgt von weiteren Schritten.

»Jack, wo stecken Sie?«, vernahm er die Stimme des Professors.

»Um Himmels Willen, Jack!«, rief Sally bestürzt.

»Ich bin hier! … Kein Anlass zur Besorgnis.«

Im Licht der Kerzen, das vom Gang in den Raum fiel, erblickte Jack ein Fenster, dessen Läden geschlossen waren. Als er sie aufriss lag eine gleißende Helligkeit im Raum.

Professor Atkins ließ die Flasche sinken, die er schlagbereit in der erhobenen Rechten hielt, als er Jack in der Tür stehen sah. Befreit atmete er aus.

»Mann Gottes! Ich dachte erst, Sie wollten mit mir ringen, als sie mich so unvermittelt zu Boden zogen«, entfuhr es Atkins.

»Galt der Schuss wieder ihm?«, meldete sich Sally, die hinter dem Professor stand.

Jack nickte ernst.

»Und diesmal wäre es fast zu spät gewesen, Professor. Wenn Miss Wrightleys Schrei mich nicht darauf aufmerksam gemacht hätte …«

»Da scheint Sie jemand nicht zu mögen, Professor«, spöttelte Sally und beseitigte eine Strähne ihres blonden Haares, die ihr ins Gesicht gefallen war.

»Es sieht wohl ganz danach aus, Sally«, grinste Atkins.

»Aber meine Dame, meine Herren! … Was soll denn dieser Lärm? … Waren Sie es, der geschossen hat?« Der Geschäftsführer des Hotels erschien mit erhobenen Händen im Gang.

Jack trat zur Seite und forderte ihn mit einer Handbewegung zum Eintreten auf.

»Kennen Sie diesen Mann?« Jack deutete auf den am Boden liegenden Bewusstlosen.

Der Geschäftsführer fluchte grimmig. Er sprang mit einer Behändigkeit nach vorn, die ihm keiner zugetraut hätte und riss den eben wieder zu sich Kommenden in die Höhe. »Verbrecher!«, schrie er empört. Seine Hand klatschte dem Benommenen ins Gesicht. Der Kopf des Mannes zuckte zur Seite. Und nun sah auch der Geschäftsführer, dass die linke Gesichtshälfte des Mannes blutüberströmt war. Aus einer Platzwunde über dem linken Auge sickerte Blut.

»Lassen Sie das!«, meinte Jack. Er stand schon bei dem Verletzten. Mit kundigem Blick erkannte er, dass die Kugel aus seiner Waffe diesen heimtückischen Schützen nur gestreift hatte. Von unten aus der Bar schräg nach oben abgefeuert, hatte sie den Mann nicht lebensgefährlich verletzt.

Der Verwundete öffnete die Augen und starrte den Geschäftsführer, der mit geballten Fäusten vor ihm stand, mit glasigen, fanatisierten Augen an.

»›Haschaschinen‹1!«, stammelte er entsetzt. Der Geschäftsführer wäre in die Knie gegangen, hätte Aktins nicht umgehend zugegriffen.

»Was wird das denn schon wieder?«, wandte sich Jack an den Professor.

»Sieh Dir seine Augen an!«, kam Sally dem alten Archäologen zuvor.

Jack hob ein Augenlid des Mannes an, und da erkannte er, dass auch dieser Mann durch Haschisch aufgeputscht worden war.

»Platz da!«, überschrie plötzlich ein Befehl das Stimmengewirr. Die Menge, die sich am Aufgang zu den Garderoben zusammengeballt hatte, wich zögernd zurück. Zwei Polizeibeamte in Zivil kamen die Treppe herauf, gefolgt von zwei uniformierten Riesen.

»Wer sind die Herren hier? Was geht hier vor?«, wandte sich einer der Beamten in Zivil an den Manager. Der Geschäftsführer nannte die Namen seiner Gäste.

»Ein bedauerlicher Zwischenfall, Herr Kommissar«, legte er dann los. »Eine Einmaligkeit in der ruhmreichen Geschichte des Hotels.«

»Machen Sie es kurz, Herr Sa‘im«, winkte der Kommissar ab.

Mit gestenreichen Ausschmückungen begann der Geschäftsführer zu berichten.

Als er geendet hatte, wandte sich der Kommissar an die beiden Uniformierten: »Bringt den Mann zum Präsidium und verständigt Doktor Sonnir.«

Während der Verletzte von den beiden Polizisten abgeführt wurde, wandte sich der Kommissar Sally, Jack und dem Professor zu.

Der zweite Zivilist begann, den Raum zu untersuchen.

»Ich bin Kommissar Dschiluwi vom politischen Sonderdezernat Mossul. Darf ich Sie bitten, mir zum Präsidium zu folgen? … Nur eine Formsache, meine Herren … Wenn Sie mir dort eine umfassende Darstellung der Geschehnisse gegeben haben, werden Sie wieder ins Hotel zurückkehren können.« Der Kommissar wandte sich Jack zu. Er sprach nur indirekt mit Sally, weil das seinem Kulturkreis entsprach. »Vielleicht würden Sie kurz erzählen, was sich zugetragen hat, damit mein Mitarbeiter eventuelle Spuren sichern kann.«

Jack berichtete. Als er an dem Punkt ankam, dass der in diesem Raum gestellte Schütze von hier aus in die Bar geschossen hatte, runzelte der Geschäftsführer die Stirn.

Der zweite Beamte hob den umgefallenen Stuhl auf und kletterte hinauf. Als er hinunterstieg, nickte er. »Tatsächlich! Die ganze Bar ist von hier oben zu überblicken.«

»Verraten Sie mir, warum das so angelegt ist?«, wandte sich Dschiluwi an den Geschäftsführer, dem es inzwischen gelungen war, die Bauchtänzerinnen zu beruhigen.

»Das war doch das Auge ›Assurnasirpals‹, Herr Kommissar. Wie Sie wissen, zählt das Hotel nur hochgestellte Persönlichkeiten zu seinen Gästen, die von der Regierung in Mossul die Erlaubnis erhalten haben, ›Niniveh‹ und seine Altertümer kennenlernen zu dürfen. Durch diesen Trick des Architekten hatte unsere Bar einen großen Zulauf.«

»Erklären Sie sich bitte deutlicher, Herr Sa’im!?«

»Also, das ist so! Achmed, unser Laufjunge, muss während der Vorstellung, wenn der Schleiertanz der Nymphen beginnt, hier das Licht nach bestimmten Trommelschlägen verändern. Dann lebt das Auge ›Assurnasirpals‹. Wir hatten stets einen großen Erfolg damit. Alle Gäste warteten nur darauf … Aha, dachte ich es mir doch!« Triumphierend hob der Geschäftsführer einen Gegenstand auf und zeigte ihn dem Kommissar. »Hier ist das Auge. Der Kerl hat es herausgenommen, fallen lassen und so von hier aus …«

»… freies Schussfeld«, ergänzte Jack. Er nahm den großen, genau wie ein Auge geschliffenen Aquamarin entgegen und betrachtete ihn. »Nicht schlecht gemacht! Sehr gut sogar! Muss bei dem Dämmerlicht während des Tanzes verblüffend ausgesehen haben.«

»Nun, wir werden alles überprüfen … Bitte, folgen Sie mir, meine Herren! Nur um der Form Genüge zu tun. In spätestens einer halben Stunde ist alles erledigt … Wir müssen diese Routineuntersuchungen durchführen, seitdem die politischen Banden überhandnehmen und sogar schon das Haus des Polizeichefs beschossen haben.«

»Ich las darüber«, fiel Professor Atkins ein. »Die Tochter des Polizeichefs soll bei diesem Attentat schwer verletzt worden sein.«

»Leider, Herr Professor. Und so sehr ich Ihre Arbeit schätze, die nach diesem Zwischenfall verschärften Bestimmungen lassen keine Ausnahme zu. Selbst da wir ganz sicher sind, dass Sie, Herr Professor, alles andere sind als ein Attentäter.«

»Also, Sally … Jack! Folgen wir dem Kommissar. Hoffentlich sind Sie nicht vom Geheimen Nachrichtendienst«, ulkte Atkins. »Alles deutet ja darauf hin.«

»Keine Angst! Meine Schwester und ich sind absolut harmlos«, entgegnete Jack.

Sie folgten dem Kommissar, der seinem Gehilfen die Anweisung gegeben hatte, hierzubleiben.

Als sie die Bar durchquerten, sah Jack Mabel, die den Vorhang nicht aus den Augen gelassen hatte. Er hob grüßend die Hand. Und diesmal nickte die junge Frau ihm errötend zu, was Jack durchaus als Fortschritt auffasste.

Kapitel 2

Mossul,

Polizeistation

A

ls die drei Engländer in Begleitung des Leiters des Sonderdezernates, Kommissar Dschiluwi, in sein Büro eintraten, erhob sich ein junger Mann hinter dem Schreibtisch und kam ihnen ein paar Schritte entgegen.

Dschiluwi wandte sich seinen Begleitern zu. »Herr Professor, dies ist mein engster Mitarbeiter, Oberleutnant Silmin Sin … Herr Oberleutnant, dies ist Professor Atkins. Die junge Dame dort heißt Salvinia Hemsworth. Neben ihr steht ihr Bruder Jacob.«

Die hochgewachsene Gestalt des Offiziers straffte sich. Über sein kantiges Gesicht huschte ein Lächeln, das aber sofort wieder verschwand.

»Ich freue mich, einen so berühmten Gast kennenzulernen«, sagte er. Als der Oberleutnant die Hand des Professors drückte, verzog er sein Gesicht, als habe er auf ein Pfefferkorn gebissen.

»Sorgen Sie bitte dafür, dass wir in den nächsten zwanzig Minuten nicht gestört werden, Silmin Sin!«

»Jawohl, Herr Kommissar!«

Während die drei ›Gäste‹ Dschiluwis in das sich anschließende Zimmer komplimentiert wurden, ging der Oberleutnant zu seinem Schreibtisch zurück. Er nahm ein Schild und brachte es von außen am Türgriff an: ›Nicht eintreten. Sitzung!‹ Dann drehte er den Schlüssel der Doppeltür herum. Sally, Jack und Atkins waren nun eingeschlossen, ohne davon zu wissen.

Dann wandte sich Silmin Sin der Tür des Vorzimmers zu. Auch sie wurde verschlossen. Mit schnellen Schritten begab sich der Oberleutnant zu einem Rollschrank. Er ließ die Verblendung herunter und zog die auf einem Holzboden montierte Schreibmaschine heraus. Sie vom Bodenbrett lösend, griff er in die sich zeigende Vertiefung hinein und holte ein Stethoskop hervor. Danach rückte er die Maschine an ihren Platz und wieder in den Schrank.

Mit dem Stethoskop ging er zu der Wand hinüber, die das Vorzimmer vom Büro des Kommissars trennte. Er steckte sich die Oliven in die Ohren und drückte die Membran des medizinischen Gerätes gegen die dünne Zwischenwand. In diesem Augenblick drückte das Gesicht des Oberleutnants höhnischen Triumph aus. Er hörte jedes Wort, das der Kommissar und die drei Ausländer von sich gaben. Jedes Wort prägte er sich unauslöschlich ein.

Kommissar Dschiluwi hatte keine Ahnung davon, dass die Widersacher des Regimes auf diese Weise über alle Aktionen informiert waren, die gegen sie unternommen wurden.

Als der Kommissar seine Besucher abschließend bat, über die Besprechung und über die Vorfälle im ›Lion of Niniveh‹ mit keinem Menschen zu sprechen, nahm Silmin Sin die Membran von der Wand. Geschickt ließ er das Stethoskop wieder verschwinden und öffnete die Tür zum Zimmer des Kommissars. Dann drehte sich auch der Schlüssel im Schloss der Vorzimmertür, und der Oberleutnant eilte auf seinen Platz hinter dem Schreibtisch zurück. Höflich erhob er sich, als Sally, Jack, Atkins und Dschiluwi wiedererschienen.

Kapitel 3

Mossul,

Hotel, Zimmer von Professor Atkins

P

rofessor Atkins hob sein Glas gegen Jack, der halb im Sessel lag. »Verehrte Sally, lieber Jack … zunächst ein Glas auf die zweifache Lebensrettung und den kühnen Retter!«

»Hören Sie um Himmels willen damit auf, Professor«, wehrte Jack mit einer wegwerfende Handbewegung ab, als sie getrunken hatten. »Ich kann Weihrauch auf den Tod nicht ausstehen. Außerdem war es halb so schlimm. Viel gefährlicher sah es im Polizeipräsidium aus.«

»Sie sagten bei der Vernehmung, dass Sie und Ihre Schwester zu Ihrem Vergnügen hier sind«, lächelte Atkins, der sich von Jacks Gefühlsausbruch nicht beirren ließ. »Als ehemalige Studenten der Archäologie wenig glaubhaft. Wenn Sie mögen, können Sie mich begleiten. Ich werde mit einigen Leuten bei ›Dur Scharrukin‹, der ›Sargonsburg‹2 graben. Von denen ist ständig die Hälfte krank, da kann ich jede helfende Hand brauchen.« Er sah die beiden auffordernd an. »Schlagen Sie ein, Sally? … Jack?«

Sally warf ihrem Bruder einen fragenden Blick zu.

»Wir wollten hier doch etwas sehen und … erleben.«

Atkins lachte. »Sind Sie in Ihrer kurzen Zeit mit mir nicht schon auf Ihre Kosten gekommen?«

»Besteht denn begründete Hoffnung, dass sich diese Anschläge wiederholen werden?«, grinste Jack und richtete sich ein wenig auf.

»Den Warnungen nach zu urteilen, die mir in den letzten vier Tagen zugeschickt wurden, steht mir noch allerhand bevor, wenn ich die Grabungen nicht einstelle.«

»Bei der Vernehmung haben Sie nichts davon erwähnt, Professor«, warf Sally Hemsworth augenzwinkernd ein.

»Ich kann mich hüten, Sally«, wehrte Aktins ab. »Die hätten mir doch gleich das Graben verboten, aus Angst, dass mir etwas passieren könnte. Mit pfundschweren Touristen wollen sie auf keinen Fall Scherereien haben.«

»Sie sollten diese Todesdrohungen nicht auf die leichte Schulter nehmen, Professor«, bemerkte Jack.

»Aber mein Bruder hat ja recht«, gab Sally zu bedenken. In ihrer Stimme schwang ein nachdenklicher Unterton mit. »Die Ereignisse heute Nachmittag haben doch deutlich genug gezeigt, dass diese Bande ernst macht.«

»Nachdem ich weiß, wo ich zu graben habe, werde ich doch nicht diese einmalige Chance fahren lassen, nur weil ein paar Verrückte glauben, mich mit ihrem Schmus davon abhalten zu können. ›Wächter der alten Schätze und Wahrer der Religion der assyrischen Könige‹. Wenn ich das schon höre! Da steckt doch etwas anderes dahinter.«

»Vielleicht wollen sie nur Geld?«, meinte Sally.

»Das glaube ich weniger«, erwiderte Atkins, seinen Kopf ungläubig wiegend. »Danach klingen mir die Warnung wirklich nicht.«

»Können Sie mir die Briefe einmal zeigen, Professor?«, meldete sich Jack wieder zu Wort.

John B. Atkins ging zum Schreibtisch und suchte etwas in einem Seitenfach und nahm es heraus. Als er zu seinen beiden jungen Leuten zurückkam, hielt er einige Papiere in der Linken. Doch bevor er sie dem Geschwisterpaar überreichte, schenkte er beiden einen Fingerbreit Whisky nach. »Cheers!«, lächelte er. »Hier in meinem Appartement werden wir wenigstens nicht gestört.« Er drückte ihm die Warnungen in die Hand.

Jack Hemsworth nahm die Zettel, die offenbar aus einem Notizbuch gerissen worden waren. Sich dem Licht einer Kerze zuwendend, begann er zu lesen:

›Warnung für Professor Atkins!

Gehen Sie nicht nach ›Niniveh‹! Wer die ›Sargonsburg‹

entweiht, ist gerichtet. ›Niniveh‹ wird Ihr Tod sein.

Ungläubige sterben durch die Hand der Götter.

Der Alte vom Berge,

Oberhaupt der Assassinen.3‹

Als Jacks Blick auf das oben rechts eingetragene Datum fiel, sah er überrascht auf und reichte das Papier an seine Schwester weiter.3

»Das wurde ja in Damaskus geschrieben, Professor.«

»Ja, gleich nach meiner Ankunft vor drei Wochen. Ich habe dort vor einem kleinen Kreis die Bedeutung des von mir gefundenen Keilschrifttextes erklärt und auch gesagt, wo ich graben würde … Ich hatte nach langwierigen Verhandlungen allein die Erlaubnis der Regierung Mossul dafür erhalten.«

Jack las die zweite Nachricht, die vor einer Woche geschrieben war. Sie enthielt den gleichen Text. Dann nahm er sich die dritte vor, die auf den Vortag datiert war:

›Morgen, um fünf Uhr am Nachmittag, wird mein Beauftragter Sie im ›Lion of Niniveh‹ aufsuchen. Falls Sie ihm nicht verbindlich bestätigen, dass Sie aus gesundheitlichen Gründen das Land verlassen müssen, sind Sie innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden ein toter Mann.‹

Jack pfiff durch die Zähne.

»Verdammt, Professor! Davon haben Sie der Polizei nichts gesagt. Sie müssen doch einsehen, dass es die Bande ernst meint.«

»Sie und Ihre Schwester sind noch nicht lange hier, Jack. Die Polizei in Mossul ist den politischen und religiösen Banden gegenüber völlig machtlos. Allein in der Umgebung von Mossul hat eine Bande über einhundertneunzig Morde gegen Bezahlung begangen. Es ist die gleiche Bande, die das Attentat auf den Polizeichef verübte.«

»Da sehe ich für Sie augenblicklich nur zwei Möglichkeiten, Professor«, stellte Sally fest. »Entweder lassen Sie alles im Stich, wofür Sie jahrelang gekämpft haben, oder … Sie bleiben hier!«

»Ich habe mich für das Letztere entschieden, Sally!«

»Unter Umständen ist das eine tödliche Entscheidung.« Jack runzelte die Stirn.

Der Professor nickte ernst und räusperte sich. »Vielleicht. Ja, vielleicht ist sie das wirklich. Aber ich habe mich entschieden … und werde in den nächsten Wochen ganz sicher keinen Kriminalroman mehr als Schlummerlektüre brauchen.«

Sally machte mit ihren Händen eine fragende Geste.

»Dort in dem Koffer sind meine Krimis. Wissen Sie, ich kann einfach nicht einschlafen, wenn ich nicht zuvor etwas Aufregendes gelesen habe.«

»Dann haben Sie sich aber für heute diese Form der Lektüre gespart«, meinte Sally lächelnd und gab Jack ein Zeichen. »Wir werden jetzt auch verschwinden, Professor.«

Jack erhob sich und machte einen Schritt auf seine Schwester zu, um mit ihr das Zimmer zu verlassen.

»Moment mal!«, hielt sie Atkins zurück. »Was halten Sie von der Einladung, die uns Mister Wrightley zukommen ließ, als wir aus dem Präsidium kamen?«

»Da morgen Sonntag ist und Sie erst am Montag nach ›Niniveh‹ wollen, werden wir annehmen«, entschied Sally. »Einverstanden, Jack?«

»Wir verdanken es Wrightleys Tochter, dass wir mit heiler Haut davongekommen sind«, stimmte Jack indirekt zu. »Und ein guter Whisky ist nicht zu verachten. Wo soll das ganze denn stattfinden?«

»Im Garten des ›Lion of Niniveh‹«, antwortete Atkins.

»Also gut, Professor! Wir sind dabei. Schließlich kommt es ja nicht darauf an, ob wir schon morgen oder erst am Montag nach ›Niniveh‹ aufbrechen.«

»Dann sind Sie beide am Montag auch in meiner Näher, falls ich Hilfe oder einen Beschützer brauche. Denn die von ›Sargon dem Jüngeren‹ gegründete ›Sargonsburg‹, in der ich mit der Arbeit beginne, liegt am nordöstlichen Rand von ›Niniveh‹.«

»Wollten Sie nicht in ›Imgur-Enlil‹4 graben, Professor?«, fragte Sally erstaunt. »Ich erinnere mich genau, dass Sie über die Sommerresidenz ›Assurbanipals‹5 geschrieben haben.«

Professor Atkins grinste spitzbübisch, was ihm im Verein mit der Brille ein etwas eulenhaftes Aussehen verlieh.

»Das habe ich zur Tarnung ausgestreut«, räumte er ein. »In Damaskus aber musste ich die Katze aus dem Sack lassen.«

»Ich habe zwar viel über Assyrien gelesen, aber diese Fülle von Namen sind bei mir inzwischen ein wenig durcheinander geraten«, lachte Jack.

»Dann wird es Zeit wieder Ordnung zu schaffen«, schallt ihn Sally mit einem Augenzwinkern.

»Vielleicht kann ich Morgenabend, wenn ich von einer kleinen Erkundung zurück bin, die Kenntnisse Ihres Bruders ein wenig auffrischen?«, scherzte Atkins in Sallys Richtung.

»Machen Sie das, Professor!«

»Dann … also … Gute Nacht!«, endete Jack.

Sally und Jack durchquerten den Flur bis zum Treppenhaus. Ihre Zimmer lagen eine Etage höher. Sie waren längst nicht so luxuriös wie das Appartement des Professors, das ihm vom ›Archäologischen Institut‹ der Universität Oxford bestellt worden war, in dessen Auftrag er diese Ausgrabungen durchführte.

Mit einer Umarmung entließ er seine Schwester in das Zimmer neben seinem. Als er sein Appartement betrat schloss er zunächst die Fensterläden, um Nachtfalter auszusperren, ehe er die Petroleumlampe entzündete.

»Sieht ja toll aus!«, sagte er in einer Art von Selbstgespräch. »Schon drei Tage hier, und noch immer nicht alles verpackt.«

Die Jacke auf das Bett werfend, zog sich Jack schnell aus und huschte in das, was man hier unter einem Bad verstand. Er stellte sich mit den Füßen in die Metallwanne, die zugleich auch als Waschbecken diente, und übergoss sich aus einem Krug mit zimmerwarmem Wasser.

War das eine Hitze hier in Mossul zu Beginn des Sommers! Das ›Lion of Niniveh‹ schien die Hitze des Tages förmlich aus allen Fugen wieder auszuschwitzen, die der glühend über der Stadt stehende Sonnenball während der Tagesstunden auf die Stadt hinuntergeschleudert hatte.

Er frottierte sich ab und begann seine gymnastischen Übungen. Spielerisch boxte er gegen seinen Schatten, der an der Wand des Badezimmers herumgeisterte.

Es war immer gut, wenn man körperlich auf der Höhe blieb, dachte er bei sich. Das hatte der heutige Tag wieder einwandfrei bewiesen. Als Schwergewichtsmeister im Boxen habe ich an der Universität schließlich auch meinen Mann gestanden.

Seine Gedanken wanderten zu Professor Atkins. Er warf sich den Morgenmantel über, verließ das Bad, löschte die Petroleumlampe, öffnete die Fensterläden wieder und trat hinaus auf den Balkon.

Er stand jetzt hoch über der Stadt. Licht schimmerte in der Finsternis. In westlicher Richtung standen ein paar Bohrtürme. Dort waren die Ölfelder von William Knox D‘Arcys ›AngloPersian Oil Company‹. Und der Mond stand wie ein arabisches Krummschwert im Osten über dem fernen ›Zāgros‹-Gebirge6.

Kapitel 4

Mossul,

Hotel, Zimmer von Jacob Hemsworth

J

ack erwachte von einem Geräusch, von dem er zunächst nicht wusste, woher es kam. Dennoch war er sofort hellwach. Darum bemüht, keine hastige Bewegung zu machen, glitt seine Rechte empor und griff unter das Kopfkissen, unter dem sein Webley-Revolver lag. Sein Finger spürte die Kühle des Metalls. Stück um Stück zog er die Waffe vorsichtig unter dem Kissen hervor.

Die Augen zu schmalen Schlitzen geschlossen, versuchte er, die Dämmerung zu durchdringen. Aber nichts war zu sehen. Und dennoch spürte er wieder das Kribbeln im Nacken, das ihn immer schon gewarnt hatte.

In der linken Hälfte des Raumes befand sich niemand. Wenn Jack auch nach rechts forschen wollte, musste er sich umdrehen. Unruhig, wie ein Träumender, warf er sich auf die rechte Seite. Tief durchatmend, täuschte er einen Schlafenden vor.

Abermals öffnete er die Augen einen Spaltbreit. Das Mondlicht fiel durch die geöffnete Tür zum Balkon ins Zimmer. Nichts war zu sehen. Dann erkannte Jack plötzlich, dass sich einer der zurückgezogenen und in der Ecke zusammengerafften Vorhängte bewegte.

Jacks Blick konzentrierte sich auf diese Stelle. Eine kleine Gestalt schlüpfte mit behänden Bewegungen hinter dem Vorhang hervor und kam vollkommen lautlos quer durch den Raum auf ihn zu. Vor dem Bett blieb der nächtliche Eindringling stehen. Als er den Arm hob erkannte Jack an der Reflexion des Lichtes die Klinge eines Dolches.

Die Rechte zum Stoß erhoben, griff der kleine Mann mit der Linken ans Ende des Moskitonetzes, das seitlich unter der Matratze festgesteckt war.

Weiter kam der Mann nicht …

Jacks hundertachtzig Pfund Lebendgewicht hinderten ihn daran. In einer schnellen, fließenden Bewegung war Jack hochgeschnellt und hatte den Eindringling beim Aufprall zu Boden geschleudert.

Jacks Hände verstrickten sich im Moskitonetz. Er spürte einen stechenden Schmerz im Oberarm. Dann endlich bekamen seine Finger den Hals des Gegners zu fassen.

Mit beiden Beinen um sich tretend, versuchte der Überrumpelte, sich zu befreien. Doch vergebens. Als seine Bewegungen ermatteten, ließ Jacks Rechte los und stieß wie ein Rammpfahl in das Netzgewirr hinein, in dem er schemenhaft das Gesicht seines Gegners erkannte.

Jack hatte den Schlag mit aller Kraft ausgeführt. Er traf den ungebetenen Besucher am Kinn und setzte ihn augenblicklich außer Gefecht.

Kaum war Jack auf die Füße gekommen, befreite er sich vom Moskitonetz. Dann legte er die Fensterläden vor und machte Licht. Mit der Vorhangschnur fesselte er dem unbekannten Eindringling die Hände auf den Rücken. Erst danach kam er dazu, die Stichwunde an seinem linken Oberarm in Augenschein zu nehmen. Zum Glück war es nur ein Kratzer, den er mit etwas Jod einpinselte und mit einer Mullbinde umwickelte.

Er wollte gerade einen Knoten in die Enden machen, als ihn ein Geräusch veranlasste, sich blitzschnell zu seinem Gefangenen umzudrehen.

»Na? … Was verschafft mir die Ehre deines nächtlichen Besuches?«

Der Gefangene antwortete nicht. Stattdessen riss er an seinen Fesseln. Als er erkannte, dass seine Hände zu gut verschnürt waren, ergab er sich endlich in sein Schicksal.

»Geh zur Hölle, du ›Kafir‹7! Ungläubiger!«, presste er in gutturalem Englisch heraus.

»Falls ich dort sein werde, wenn du des Weges kommst, werde ich dir dort den wärmsten Platz reservieren«, erwiderte Jack, böse lächelnd. »Und jetzt los! Heraus mit der Sprache! Was wolltest du von mir? … Geld?«

Verächtlich schnaubte der Gefangene durch die Nase. Erst jetzt bemerkte Jack, dass sich auch dieser Mann in einem Drogenrausch befand. Seine Erkenntnis wurde auch sofort bestätigt.

»›Der Alte vom Berge‹ will deinen Tod. Mir hat er den Ausblick ins Paradies gezeigt.«

»Du bist also ein ›Opferbereiter‹, ein ›Fedajin‹8«, stellte Jack immer noch lächelnd fest. »Falls du erwartest, dass ich dich töte, jetzt, wo du versagt hast …«

»Der Tod ist für mich keine Drohung, ungläubiger Engländer! Ich werde die Brücke ›as-Sirāt‹9 überqueren und bei den ›Huris‹10 im ›Dschanna‹11 sein.«

Die Stimme des Mannes überschlug sich vor Entzücken. Mit einem Anflug von Entsetzen erkannte Jack Hemsworth, was die für dunkle Geschäfte missbrauchten Menschen alles zu tun imstande waren, wenn sie derart mit Drogen vollgepumpt und von gewissenlosen Verbrechern auf menschliche Ziele ›angesetzt‹ wurden. Auch wenn dieser Eindringling ihm nach dem Leben getrachtet hatte, empfand er Mitleid mit diesem Mann.

»Was hat Professor Atkins dem ›Alten vom Berge‹ denn getan?«, fragte plötzlich eine weibliche Stimme aus dem Hintergrund.

Sally Hemsworth hatte schon immer einen leichten Schlaf und die Geräusche im Zimmer ihres Bruders vernommen. Durch die Verbindungstür hatte sie das Zimmer betreten.

Der ›Fedajin‹ hielt die Augen geschlossen und antworte nicht mehr.

»Was willst du mit ihm machen, Jack?«

Ihr Bruder blieb ein paar Sekunden grübelnd im Zimmer stehen, ehe er ihr antwortete:

»Du verwahrst doch unsere Reisemedikamente. Ich gebe ihm eine ordentliche Dosis Schlafmittel. Dann wird er nur länger schlafen als sonst, und dass, ohne gleich im Paradies aufzuwachen.«

Sally nickte und verschwand, nur um eine Minute später mit der gewünschten Ledertasche zurückzukehren.

»Nimm bitte nicht Zuviel davon«, mahnte sie ihn. »Denk an Celestes Worte, als sie uns die Tasche gepackt hat.«

Jack nickte ihr zu und löste ein wenig ›Barbital‹-Pulver12 in einem Glas auf. Dann kniete er sich neben dem Eindringling nieder. Mit der linken hielt er ihm die Nase zu und zwang ihn auf diese Weise zu trinken.

Schon wenig später tat das starke Schlafmittel seine Wirkung.

»So, mein Freund! Jetzt haben wir die nächsten zwölf Stunden Ruhe vor dir!« Er wandte sich an seine Schwester. »Ich will vorsichtshalber nachsehen, ob wir noch anderen Besuch zu erwarten haben ... Du wartest hier!«

Jack öffnete die Fensterläden ein wenig und gab sich Mühe, möglichst vollkommen geräuschlos zu sein. Nachdem er nichts Ungewöhnliches ausmachen konnte, begab er sich zum Balkon. Auch hier war nichts zu sehen. Mit schussbereiter Waffe überstieg er das Eisengitter, das seinen Balkon von dem des Nebenzimmers trennte. Nur über den zu seiner Rechten konnte der Eindringling in sein Zimmer gelangt sein – das andere zur Linken gehörte Sally.

Die Tür des Nebenraumes stand halb offen. Der leichte Nachtwind, der ein wenig Kühle vom Tigris mitbrachte, spielte mit dem Vorhang. Entschlossen schnellte Jack in den unbekannten Raum hinein und ließ sich zu Boden gleiten …

… nichts geschah!

Regungslos blieb er liegen und erwartete den Feuerstrahl eines Schusses. Dieser Schuss blieb aus. Eine Minute später kroch er zum Bett hinüber und von dort zum Bad. Diese Tür stand ebenfalls einen Spalt auf. Aber auch hier befand sich niemand.

Erst als Jack sicher war, dass er sich allein in dem Appartement befand, schloss er geräuschlos die Fensterläden, zog die Vorhänge vor und entzündete den Docht einer Petroleumlampe.

Systematisch ging er dazu über den Schrank auszuräumen. Er durchwühlte die gesamte Kleidung. Dann kamen die Koffer an die Reihe. Doch auch hier war nichts zu finden, das ihm weitergeholfen hätte.

Unschlüssig wog er das Reisenessecaire in der Hand. Rein zufällig nahm er das Rasiermesser aus dem Etui. Als er die Klinge herausklappen ließ, fiel ein kleiner Zettel heraus, der mit winzigen arabischen Zeichen bedeckt war. Mit einem grimmigen Lächeln begann er, die Zeichen zu kopieren. Dann steckte er die Vorlage wieder in den Apparat zurück, klappte die Klinge ein und legte das Etui an den alten Platz zurück.

Er öffnete die Tür zum Flur, lehnte sie leicht an und kehrte über das Geländer des Balkons wieder in sein Zimmer zurück.

»Komm! … Hilf mir, Sally«, sagte er zu seiner Schwester, während er mit seinen Armen unter die Achseln seines Angreifers packte. »Nimm die Füße … Er hat sein Zimmer nebenan. Wir legen ihn auf sein Bett.«

Seine Schwester nickte ihm stumm zu.

Zehn Minuten später hatten sie den schlafenden Eindringling unbemerkt in sein Zimmer zurückgebracht und auf das Bett gelegt. Jack hatte ihm die Fessel gelöst und ihn dann zusammen mit seiner Schwester schlafend verlassen.

»Der wird sich noch wundern und denken, alles geträumt zu haben«, schmunzelte Jack.

»Hoffen wir es, Bruderherz!«, murmelte sie. »Wir sollten noch alle Anzeichen eines Kampfes beseitigen. Es sei denn, Du hast danach Verlangen, auf dem Präsidium wieder peinlichst befragt zu werden.«

»Womöglich werde ich sogar in Schutzhaft genommen«, meinte Jack. »Ich habe nicht vor, lange hier zu bleiben. Schließlich haben wir nur zwei oder drei Tage für ›Niniveh‹ vorgesehen, ehe wir nach Babylon zurückkehren wollten. Ich werde uns schon zu schützen wissen, Sally.«

Nachdem sie alle Spuren beseitigt hatten, holte er die Kopie der Notiz hervor, die er gefunden hatte.

»Was hast du da?«, wollte seine Schwester wissen.

»Schau es dir an.«

Gemeinsam begannen sie am Sekretär, die arabischen Schriftzeichen zu entziffern. Dabei gratulierten sie sich zu ihrem ›heldenhaften‹ Studium der arabischen Sprache und der verteufelt krausen Schrift.

Als sie am Ende ihrer Übersetzung waren, verdüsterten sich ihre Gesichter.

»Wenn der Professor morgen seinen Ausflug zur ›Sargonsburg‹macht, wird es ihm das Genick brechen«, sagte Sally erschrocken und Jack las:

›Nach Erledigung Auftrag Jack Hemsworth, sofort neuer Einsatz ›Sargonsburg‹. Punkt Steinerner Löwe, über Wildstier und Abu.‹

»Wir sollten jetzt etwas schlafen, Schwesterherz«, suchte er Sally aufzumuntern. »Morgen werden wir weitersehen. Wir werden uns dort umschauen. Vielleicht entdecken wir den Professor und dann sollen diese komischen Vögel ruhig kommen.«

Er begleitete sie in ihr Zimmer und blieb, bis sie sich hingelegt hatte. Dann huschte er in sein Appartement, kontrollierte noch einmal die Fensterläden und prüfte die Tür. Anschließend warf auch er sich aufs Bett und schlief gleich darauf ein.

Kapitel 5

Mossul,

Hotel, Gartenhaus

A

uf der Terrasse bewegten sich Bauchtänzerinnen zur Musik des kleinen Orchesters, das verborgen hinter einer Hibiskushecke saß.

Jacob Hemsworth betrachtete mit offensichtlicher Bewunderung die junge Frau, die soeben über die Terrasse des Gartenhauses herunterkam. »Da sind Sie, Miss Mabel!«

Ein paar Stufen über ihm blieb Mabel Wrightley stehen. Sie sah bezaubernd aus. Ihr Kleid war aus einem hellen Baumwollstoff. Ihre makellosen Schultern hoben sich gebräunt aus dem Dekolleté, und das dunkle Haar glänzte im Licht der zahlreichen Lampen, die die Terrasse und einen Teil des Parks erhellten.

»Hallo, Jack! Sie langweilen sich wohl?« Sie musterte ihn, dem sie gerade einmal bis zur Nasenspitze reichte.

»Jetzt nicht mehr«, sagte er lächelnd und bekam dafür von seiner Schwester, die gerade auf sie zugekommen war und seine Bemerkung vernommen hatte, einen leichten Knuff in die Seite.

»Hallo, Mabel!«, grüßte Sally die junge Frau.

»Hallo, Sally!«, gab sie zurück, wandte sich aber direkt wieder Jack zu. »Ich habe schon gestern gewusst, dass Sie frech werden würden … Aber mein Vater bestand darauf, Sie, ihre Schwester und den Professor einzuladen.«

»Umgekehrt wird ein Schuh daraus, Mabel«, korrigierte sie William Wrightley, der unbemerkt zu ihnen getreten war.

Sally schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Sein hageres Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen und durch den langen Aufenthalt im Orient von der Sonne verbrannt. Es strahlte etwas Sympathisches aus.

Wrightley deutete mit einer Geste seiner Rechten auf die Terrasse. »Nun, Mister Hemsworth, was sagen Sie zu den Tänzerinnen? Oder ist dieses Schütteln und Zucken nichts für Sie?«

»Wenn das keinen Regen gibt, dann weiß ich nicht, welche Zaubermittel noch helfen sollen«, entgegnete er und machte deutlich, dass er dem Bauchtanz nichts abzugewinnen vermochte.

»Ich finde es himmlisch!«, gab sich Mabel backfischhaft und brachte damit Sally unweigerlich zum Schmunzeln.

»Seien Sie ein Gentleman, Mister Hemsworth und achten ein wenig auf meine Tochter, während Sie dem Bauchtanz zuschaut«, bat Wrightley. »Ich muss zum Professor, damit die lieben Gäste nicht denken, ich sei ein Banause, der nichts von Kunst im Allgemeinen und von Archäologie im Besonderen hält.« Er bot Sally seinen Arm an. »Wenn Sie mich begleiten mögen, Miss Hemsworth.«

Mit diesen Worten zog er sie mit sich.

»Wie ich sehe, haben Sie sogar den Herrn Konsul und den ›Mutasarrif‹13 als Prominenz gewinnen können, Miss Mabel«, stellte Jack nach einem Rundblick anerkennend fest.

»Sie haben sich selbst, Ihre Schwester und den Herrn Professor vergessen, Jack. Sie sind doch sonst nicht so bescheiden.«

»Sind Sie immer so frech?«, schmunzelte Jack, der nicht verhehlen konnte, dass die junge Frau sehr anziehend war.

»Das kommt auf mein Gegenüber an, Jack«, erklärte sie und sah ihm mit einem verführerischen Lächeln in die Augen.

Verwirrt nickte Jack, strich eine Falte seines weißen Abendanzugs glatt und blickte hinüber zum Springbrunnen, der gut zehn Yards hinter der Terrasse, sein Wasserspiel wie einen silbernen Strahl in die Höhe schleuderte.

»Der arme Professor«, setzte Jack jetzt das Gespräch fort. »Ich weiß nicht, was ich mehr bedauern soll: Dass er einmal seinen lässigen offenen Hemdkragen zu Hause lassen und mit einem anständigen Anzug vertauschen musste, oder dass er dauernd von wissbegierigen Damen in Anspruch genommen wird.«

Jetzt blickten sie beide gleichzeitig zu der Gruppe hinüber, die am Kalten Büfett den Professor einkreiste. Ein weißgekleideter Diener brachte eben Cocktails. Auch Atkins nahm ein Glas und stellte es neben sich auf den Tisch, auf dem Sandwiches unter Glasstürzen aufgehäuft waren.

»Wollen wir uns ein bisschen an die Tanzfläche setzen?«

In dem Augenblick, als sich Jack Mabel zuwenden und mit ihr die Treppe hinaufgehen wollte, sah er eine Bewegung, die ihn unwillkürlich an seinen Platz fesselte.

Einer der Gäste, die den Professor umstanden, trat hinter den Dozierenden. Jack bemerkte, wie er etwas in das unbeaufsichtigte Cocktailglas des Archäologen hineingab. Kurz darauf griff Atkins zum Glas. Für Jack stand fest, dass jede Warnung zu spät kommen würde. Vom Fuß der Terrasse aus waren es immerhin fünfzehn Yards zu der Gruppe.

Jack handelte sofort. Ohne jedes Zögern griff er unter das halb geöffnete Jackett. Seine Hand glitt zum Webley-Revolver, den er in einem Achselhalfter mit sich führte. In der Sekunde, die der Professor brauchte um das Glas zu heben, erfasste Jack bereits das Ziel. Der Schuss ging im Wirbel der eben einsetzenden ›Bendir‹14 unter, und mit einem verblüfften Grinsen starrte Atkins auf das zersplitterte Glas.

Jack sah, wie der Mann, der sich am Cocktail vergangen hatte, hastig hinter einer Gebüschgruppe verschwand. Er steckte den Revolver ein und setzte dem Fliehenden nach.

Kaum einer der Anwesenden ahnte, was in ihrer allernächsten Umgebung vor sich gegangen war. Nur Kommissar Dschiluwi, der auch zu den Gästen zählte, erriet sofort den Zusammenhang und gab einem der in Zivil steckenden Geheimpolizisten, die den ›Mutasarrif‹ bewachten, einen Wink, die Reste des Glases sicherzustellen. Dann rannte er – gefolgt vom Professor – hinter Jack Hemsworth her.

Jack lief trotz seiner Größe mit verblüffender Leichtigkeit. Nach zweihundert Yards durch den Park erreichte er eine Hibiskushecke und brach rücksichtslos hindurch. Das Laternenlicht aus dem Gartenrestaurant des ›Lion of Niniveh‹ reichte nicht mehr bis hierher.

Vor sich erkannte Jack die Umrisse des verwilderten Busches, der sich bis zum Tigris erstreckte. Als er kurz stehenblieb, vernahm er fünfzig Yards vor sich das Brechen von Ästen. Dort musste sich der Fliehende einen Weg durch das Gebüsch bahnen. Links in dem Bambusdickicht quakten Frösche. Der Mann lief nach Süden. Jack wusste, dass er früher oder später zum Fluss einschwenken würde. Es gab für ihn keine bessere Möglichkeit, um zu entkommen.

Jack lief am Rand des Bambusdickichts entlang weiter. Jetzt war er bemüht, keinerlei Geräusche mehr zu verursachen, die seinen Gegner warnen konnten. Nach dreihundert Yards – von seinem Gegenspieler war nichts mehr zu hören – erreichte er eine Bucht, die weit ins Land hineinragte. Von der Bucht aus lief ein Trampelpfad landeinwärts. Jack erkannte den Schatten eines Bootes an einem Landungssteg.

Ein Gedanke durchzuckte ihn. Wenn er zuerst den Fliehenden unschädlich machte, dann konnte er hierher zurückkehren und auch versuchen das Boot aufzuhalten. Er bog in den Pfad ein.

Weit brauchte er nicht mehr zu laufen. Plötzlich konnte er klar und deutlich den keuchenden Atem seines Gegners hören, der geglaubt hatte, ihn durch diesen Trick in die Irre führen zu können. Sofort tauchte Jack in dem Gebüsch unter – keine Sekunde zu früh.

Am Ende des Pfades tauchte der Verfolgte auf. Das Mondlicht, das in schrägem Fall durch das Geäst stäubte, ließ das Gesicht des Mannes grünsilbern aufleuchten. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Jack das Funkeln in den Augen seines Gegners.

Jack duckte sich, verteilte sein Körpergewicht leicht auf die Fußballen und spannte sich zum entscheidenden Sprung. Als der Mann nur noch zwei Yards von ihm entfernt war, schnellte Jack nach vorn.

Der Aufprall seiner hundertachtzig Pfund riss seinen laufenden Gegner von den Beinen. Prasselnd brachen die beiden in das Gebüsch ein. Der Fremde versuchte, sich herumzuwälzen, blieb aber an dem Wurzelgestrüpp hängen. Er stieß einen unartikulierten Fluch aus, als Jacks Rechte sein Gesicht mit voller Wucht traf.

Mit einem harten Ruck schnellte er in die Höhe. Sein massiger Schädel traf Jacks Kinn. Für eine Sekunde schien alles um Jack herum zu kreisen. Blitzende Sterne platzten in seinem Kopf auseinander.

Diese Zeit genügte seinem cleveren Gegner, sich herumzuwerfen und freizukommen. Er landete halb auf Jack, und wie ein Schmiedehammer sauste seine Rechte herunter.

Im letzten Augenblick sah Jack den Schlag kommen. Sein Kopf ruckte zur Seite, und die Rechte verfehlte ihr Ziel. Gleichzeitig stieß Jack sein rechtes Knie in die Höhe. Vor Schmerz aufheulend, löste sich die Linke des Gegners von seinem Hals. Jack bekam wieder Luft. Sofort stieß er seine aneinandergepressten Fäuste in die Höhe und schmetterte sie dem halb auf ihm liegenden Mann unter das Kinn.

Die Wucht des Schlages hob den Kerl etwas in die Höhe, und als er zurückfiel, war er schon bewusstlos.

»Hey! Olim?!«, vernahm Jack jetzt eine Stimme aus Richtung der Bucht.

Sofort tauchte er im Gebüsch unter. Gerade rechtzeitig, denn im gleichen Augenblick wurde die Nacht vor ihm vom grellem Mündungsfeuer zweier Gewehre zerrissen. Mit peitschenden Schlägen hieben die Geschosse in das Gebüsch um ihn ein.

Er presste sich dicht an den Boden. Als die beiden mehrschüssigen Gewehre verstummten, hob er den Arm mit seinem Webley-Revolver. Und in dem Moment, als eines der Gewehre abermals zu bellen begann, zog er den Abzug durch. Abrupt schwieg der Schütze. Ein Körper brach knackend in das Gebüsch, und das zweite Gewehr eröffnete das Feuer. Die Kugeln trafen in den Busch, hinter dem Jack noch kurz zuvor gelegen hatte. Er hatte sich sofort, nachdem er seinen Schuss abgegeben hatte, zur Seite weggerollt.

Als Jack jetzt wieder seinen Revolver anhob, um auch den zweiten Schützen außer Gefecht zu setzen, vernahm er unmittelbar hinter sich ein sausendes Geräusch. Er wollte sich noch herumwerfen, um der von hinten kommenden Gefahr zu entgehen – doch es blieb beim Ansatz eines Reflexes, denn in diesem Augenblick schmetterte der Kolben eines Revolvers auf seinen Kopf herunter.

»Ich habe ihn!«, hörte er noch, bevor er tiefer und tiefer in den dunklen Schacht der Bewusstlosigkeit fiel. »Hierher!«

Die Stimme des Verfolgten klang wie eine triumphierende Fanfare. Doch als der zweite Gewehrschütze über den Pfad angelaufen kam, vernahmen beide gleichzeitig die Geräusche, mit denen ein paar Männer durch das Gebüsch brachen und sich dem Schauplatz des nächtlichen Kampfes näherten.

»Schnell! Beeil dich! … Zum Boot!«

Ohne sich weiter um Jack zu kümmern, rasten sie auch schon über den Pfad zur Bucht hinunter.

Kapitel 6

Mossul,

eine Bucht am Tigres

A

ls Kommissar Dschiluwi die beiden zur Bucht laufenden Männer im Licht des Mondes auf einer kleinen Lichtung erkannte, schrie er: »Da vorn!« Er hob seinen britischen Armeerevolver und feuerte im Laufen – doch die beiden Fliehenden waren schon am Ufer der Bucht angelangt.

Ein Dieselmotor begann zu tuckern, und gleich darauf legte das kleine Boot ab.

Der Kommissar sah zwar noch den Körper eines Mannes im Gebüsch liegen, aber für ihn gab es nur noch das eine Ziel: die beiden Männer im Boot zu erreichen. Als er in der Bucht ankam, hatte das Boot bereits gedreht und befand sich fast hundert Yards vor ihm. Dennoch versuchte er, den Gegner mit seinem Revolver zu erwischen. Die Armeewaffe zuckte in seiner Faust, als sich sein Finger um den Abzug krümmte.

Als die dritte Kugel den Lauf verließ, flammte es am Heck des Dieselbootes auf. Immer wieder zuckte Mündungsfeuer auf. Kugeln zischten über den Kopf des Kommissars hinweg. Die nächsten kamen bereits deutlich tiefer.

Dschiluwi machte einen wilden Satz und landete bäuchlings im Schilf.

Allmählich verklang das Tuckern des Dieselmotors. Das Gewehrfeuer war schon verstummt. Kommissar Dschiluwi rappelte sich wieder auf. Sein langes, weißes Gewand, das traditionelle ›Dischdascha‹, das hier alle stolzen Männer trugen, troff vor Schlamm.

»Hierher, Herr Kommissar!«, rief einer. »Hier liegt Mister Hemsworth!«

Dschiluwi rannte zurück und wäre fast über den Körper eines Mannes gestürzt, der neben dem Pfad lag und den er vorhin, als er zur Bucht gelaufen war, gesehen hatte. Der Mann lag in seltsam verkrümmter Haltung auf dem Boden. Ein Blick zeigte ihm, dass der Bursche tot war.

»Was ist mit Mister Hemsworth?«

»Nur bewusstlos, Kommissar! Da hat einer offenbar seinen Schädel mit einem Hauklotz verwechselt.«

Professor Atkins richtete sich auf. Abermals klang der Lärm durch den dichten Busch brechender Männer auf. Wenig später erschienen zwei Geheimpolizisten. Mit knappen Worten gab Kommissar Dschiluwi seine Anweisungen. Die Männer verschwanden, um nach wenigen Minuten mit einer Trage zurückzukommen, auf der sie den noch immer Bewusstlosen ohne Aufsehen ins Hotel schafften, wo sich Sally Hemsworth und Mabel Wrightley um ihn kümmerten.

Kapitel 7

Mossul,

Hotel, Zimmer von Jacob Hemsworth

S

ally sah ihren Bruder besorgt an. »Wie fühlst du dich, Jack?«

Jacob Hemsworth stützte sich mit den Ellenbogen hoch. In seinem Kopf brummte es gewaltig und die Anstrengung tat ein Übriges dazu. Sein Gesicht verzog sich zu einem schiefen Grinsen.

»Ich versuche gerade herauszufinden, wo es nicht weh tut, Sally«, murmelte er. Als sein Blick durch das Zimmer schweifte, bemerkte er auch Mabel Wrightley, die ihn besorgt anblickte. »Aber ich glaube …«, fuhr er an sie gewandt fort, »dass ich am Leben bleiben werde … vorausgesetzt, dass Sie mir einen Whisky bringen.«

Sally nickte ihr zu, und Mabel erhob sich von dem Stuhl, den sie dicht an Jacks Bett gerückt hatte. Als sie zurückkam, hielt sie ein Glas in der Hand. »Hier«, sagte sie, reichte es ihm und fügte lächelnd hinzu: »Aber lassen Sie sich nicht vom Professor erwischen, der hat das nämlich verboten.«

»Seit wann ist der Professor mein Arzt?«, schmunzelte Jack und trank. Ihm waren die Schmerzen anzusehen, die das Schlucken verursachte. Als er mit der Linken an seinen Kopf griff, spürte er den Verband. »Komisch«, bemerkte er. »Ich weiß nicht einmal, wie ich hierhergekommen bin.«

»Du wurdest getragen, Jack«, korrigierte ihn seine Schwester. »Und das ist nicht aus Liebe geschehen.« Sie zwinkerte ihm zu und machte eine leicht nickende Kopfbewegung in Richtung Mabel Wrightley.

Jack nahm noch einen Schluck und konnte ein leichtes Stöhnen nicht unterdrücken. Mit einem Mal wusste er wieder, was geschehen war. »Ich verdammter Esel!«, entfuhr es ihm zerknirscht. »Ich habe mich wie ein blutiger Anfänger benommen und dem Gegner den Rücken gekehrt ...«

»Dann hast du eben einmal eine Runde verloren«, bremste ihn Sally. Sie wusste genau, wie ungern ihr Bruder sich geschlagen gab. »Du wirst schon eine Chance zur Revanche bekommen. Vermutlich schneller als du ahnst, denn ich befürchte, dass es nicht lange dauern wird, bis sie wieder zuschlagen.«

»Wem sagst du das? Verdammt! Ich glaube fast, dass man mir diese Binsenweisheit mit dem nötigen Nachdruck eingehämmert hat.«

Die Tür öffnete sich einen Spalt breit, und das Gesicht des Professors erschien. »Hallo, Jack! Wie geht es Ihnen, mein Junge?« Atkins trat ein. Als er das Whiskyglas sah, kam er mit schnellen Schritten auf das Bett zu.

Doch Jack erriet seine Absicht und war schneller. Er griff zum Glas und stürzte den goldbraunen Inhalt mit einem Schluck hinunter.

»Zum Teufel aber auch! Können Sie nicht einmal jetzt das Zeug aus dem Körper lassen?«, entrüstete sich der Professor. »Übrigens, der Kommissar möchte Sie sprechen. Wegen des Erschossenen.«

»Mir bleibt aber auch nichts erspart«, knurrte Jack resignierend.

»Doch«, konterte Atkins, »das Gift, das man mir einzutrichtern versuchte. Es dürfte wohl Strychnin gewesen sein. Als ob ich eine verfluchte Ratte wäre!« Der Professor gab sich bewusst schnodderig.

Doch Jack bemerkte, wie besorgt der Ausdruck von Atkins Gesicht war. Und dazu schien er auch allen Anlass zu haben.

»Dann holen Sie den Kommissar meinetwegen herein!«

Kapitel 8

Mossul,

Brücke über den Tigris nach ›Niniveh‹

A

bu Mubarak saß aufrecht in Sattel seines Reitkamels. Er war ein eigentümlicher Kerl. Er war so klein, dass er Jack nur bis knapp zur Schulter reichte, und war dabei so hager und dürr, dass man hätte behaupten können, er habe jahrelang zwischen den Löschpapierblättern eines ›Herbariums‹15 in fortwährender Pressung gelegen. Auf seinem stolz erhobenen Kopf trug er die ›Kuffi yeh‹, ein rot-weiß-kariertes Tuch, das von einer schwarzen Kordel gehalten und von den Einheimischen ›Agal‹ genannt wurde. »Das ist der Tigris an historischer Stelle unserer Ahnen, ›Sidi‹16! Hier sind unzählige Schlachten geschlagen worden.«, erklärte der Araber in seinem sauberen weißen ›Dischdascha‹, der unmittelbar neben Jack Hemsworth ritt. Er vermied es sich direkt mit Sally zu unterhalten, die ihm zur linken Seite, leicht nach hinten versetzt, folgte. Die junge attraktive blonde Engländerin verunsicherte ihn, zumal sie immer wieder seinen Blick einzufangen suchte. Was sie vermutlich unter Ignoranz seinerseits verbuchte, war für Abu aus traditioneller Erziehung ein Ding der Unmöglichkeit. Ein Blickkontakt seitens einer Frau hatte kurz zu sein. Seinetwegen konnte sie danach seinen Bart fixieren, aber auf keinen Fall war es ihr erlaubt, ihm wieder direkt in die Augen zu sehen. Zumindest trug sie ein ›Hidschab‹17, was er ihr zugutehielt, wenngleich es ihr Gesicht freiließ.

Sie erreichten die neue Brücke, über die sie ihre Kamele dem Ostufer des alten Flusses entgegensteuerten. Das betriebsame Leben von Mossul blieb hinter ihnen zurück.

Weit vor ihnen stieg die Sonne hinter den Bergen empor und blendete ihre Augen.

»Das wird ein schöner Tag, Abu«, meinte Jack. »Hoffentlich bekommen wir einiges von der ›Sargonsburg‹ zu sehen.«

»Mir wäre es schon recht, wenn es ruhig bliebe«, meldete sich Sally von hinten.

»Allah schickt uns die Sonne, ›Sidi‹. Aber wir haben zu wenig Besucher. Schlecht für uns! Da müssen wir den wenigen anderen, die kommen, mehr Geld abnehmen«, grinste Abu Mubarak unverhohlen.

»Um Himmels willen«, wehrte Jack ab.

»Alle Ausländer haben Geld, ›Sidi‹. Alle wollen für arme Führer Geld ausgeben und für Altertümer, die …«

»… ihr zu Hause in Heimarbeit herstellt, wie?«, spottete Sally.

»Wir haben auch echte, Miss«, entgegnete Abu lächelnd. »Teuer. Viel zu teuer für Sie.«

Plötzlich tönte hinter ihnen lautstark die Signalhupe eines Peugeot Typ 33, und sie mussten ihre Tiere leicht nach rechts zum Wegesrand führen. In schneller Geschwindigkeit schoss das Vehikel haarscharf an ihnen vorbei. Jack erkannte ein vertrautes Gesicht: Mabel Wrightley!

»Wie rücksichtslos. Sieht die Ungläubige nicht, dass sie unsere Kamele verschreckt?!« Bei diesen Worten legte sich seine Stirn in drohende Falten.

Jack winkte der Fahrerin zu. Sie drohte wütend zurück, was ihn aber nicht davon abhielt, ihr abermals zuzuwinken.

»Sieht aus, als werden wir nicht allein sein, Abu«, stellte er fest.

»Wir nehmen eine Abkürzung, ›Sidi‹«, erwiderte der Araber gelassen. »Ist ein direkter Weg zur Burg. Da kommen die mit dem Automobil nicht durch. Aber mit unseren Kamelen geht das spielend.«

»Meinetwegen! Ich würde mich freuen, wenn wir ihnen diese Nase drehen könnten, denn eigentlich sollte ich heute noch im Bett liegen.«

»Sie wird verärgert sein«, lachte Sally, »wo Sie doch vom Arzt den Auftrag hat, darauf zu achten, dass du nicht aufstehst.«

Nach Anweisungen ihres arabischen Führers, der ihnen von Professor Atkins empfohlen worden waren, lenkten sie die Kamele nach rechts und kamen auf einen wenig benutzten Pfad. Staubwolken waberten in die Höhe. Schon jetzt brannte die Sonne.

»Das wird ein heißer Tag werden«, meldete sich Sally zu Wort. Sie nestelte an ihrem Kopftuch, um den Mund vor dem herumfliegenden Sand zu schützen.

»Wir müssen vor allem darauf achten, ausreichend zu trinken.« Abu deutete auf die mit Wasser gefüllten Fellschläuche, die an den Satteln angebracht waren.

»Erzähl uns mal, was du über ›Sargon‹ und seine Burg weißt«, forderte ihn Sally auf. »Professor Atkins sagte, du wüsstest alles darüber.«

»›Sargon der Jüngere‹«, begann Abu salbungsvoll, »war General in ›Assur‹, der damaligen Hauptstadt Assyriens. Er stellte sich an die Spitze einer Verschwörung, die sich 722 vor Christus gegen König ›Samanassar V.‹18 richtete. Keilschrifttexte belegen das einwandfrei19«

Jack spürte, wie die Beule am Hinterkopf zu pochen begann.

»Du hörst ja nicht zu, ›Sidi‹!«, vernahm er die Stimme ihres Begleiters.

»Ist dir nicht gut?«, erkundigte sich Sally, die jetzt auf Höhe ihres Bruders ritt und dessen schmerzhafter Gesichtsausdruck ihr nicht entgangen war.

»Mach dir keine Sorgen, Sally«, wiegelte er ab, und an den Araber gerichtet: »Erzähl‘ schon weiter. Ich brenne darauf, mehr zu hören!«

»Die Stadtanlage«, fuhr Abu fort, »wurde von einer Doppelmauer eingefasst und bildete ein Rechteck von 1760 mal 1685 Yards. Wir werden um den Burghügel herumreiten und von Osten her durch das große Siegesportal kommen.«

»Kann man nicht auch von Südwesten in die Burg kommen?«, erkundigte sich Sally.

»Natürlich«, nickte ihr Führer. »Aber dann müssen wir die Tiere zurücklassen und über eine Doppeltreppe emporklettern.«

»Dann wohl doch lieber reiten, oder Jack?«

Jack nickte und Abu grinste zustimmend.

Der Weg wurde schwieriger. Sie mussten alle Aufmerksamkeit aufbieten, um die Kamele sicher zu lenken. Dicht gedrängt standen die unzähligen Kameldornbüsche. Nach einer knappen Stunde hatten sie den Ostteil des Hügels erreicht und hielten auf einem rechteckigen Platz. Links von ihnen türmten sich hohe Schuttberge auf.

»Wir sind da, ›Sidi‹!«, erklärte Abu.

Jack und Abu ließen ihre Kamele niederknien und glitten aus den Sätteln. Abu kümmerte sich um Sallys Kamel und Jack übernahm es, seiner Schwester aus dem Sattel zu helfen.

»Wie ich sehe«, stellte er nach einem Blick auf den Boden des Platzes fest, »sind hier keine frischen Reifenspuren. Der Professor kann also noch nicht da sein.«

»Kommt«, forderte Abu die Geschwister auf.

Sally und Jack folgten ihm eine Treppe hinunter.

Sie zählte sechsundzwanzig Stufen, bis sie eine Art ausgeworfenen Laufgraben erreichten, dem sie folgten.

Unvermittelt erweiterte sich der Graben. Drei gewaltige von Stierkolossen eingefasste Eingänge führten am anderen Ende des Platzes in die Burg ›Sargons‹.

Sally und Jack erblickten die Spuren einer großen Vergangenheit. Was musste Botta20 empfunden haben, als er dies hier sah, nachdem er im Jahre 1844 die ›Sargonsburg‹ ausgrub?

Sally und Jack mussten sich förmlich dazu zwingen, den imposanten Anblick nicht weiter zu bestaunen, und Abu zu folgen, der vorangegangen und bereits in den Ruinen verschwunden war.

»Hier ist die Haupthalle. Um diesen Hof herum lagen die Gemächer ›Sargons‹«, erklärte der Araber lächelnd und mit einem gewissen Stolz. »Hier links die privaten Gemächer, rechts davon mehrere Prunksäle für offizielle Anlässe.«

»Wohin führt diese Treppe«, erkundigte sich Sally interessiert und deutete auf die nur teilweise erhaltenen Stufen, die tiefer in den Hügel hinunterführten.

»Dort geht es in die Wirtschaftsräume und die Kellergewölbe. Dann weiter zur Richtstätte.«

»Hier! Die haben wir extra mitgebracht. Nimm eine Laterne«, wehrte Jack ab, als Abu eine der Fackeln aus den Eisenringen nehmen wollte.

Jack verharrte plötzlich und Sally tat es ihm nach. Sie hatten ein dumpfes, von rechts herüberschallendes Rauschen vernommen.

»Die antike Wasserspülung«, grinste Abu.

In einer Felsennische fanden sie eine in den Boden eingelassene riesige Steinplatte. Jack beugte sich hinunter. Der Schein der Laterne fiel auf den vielleicht fünfzehn Yards tiefer liegenden Wasserspiegel eines unterirdischen Kanals und wurde von diesem reflektiert.

Durch einen schmalen Gang, dessen Seitenwände durch Alabasterplatten abgeschirmt waren, erreichten sie einen rechteckigen hohen Raum. Die Wände bestanden aus glasierten Ziegeln. Mosaiken tauchten im Licht der Petroleumlaternen auf – prächtige Reliefs und phantastische Skulpturen.

Abu wandte sich einem schmalen Durchlass zu, der tiefer in den Hügel hineinführte.

Der Laternenschein fiel auf einen weißen Zettel, der neben dem Durchlass an der Wand klebte. Jack zwängte sich an ihrem stehen gebliebenen Führer vorbei. Die Nachricht war auf Arabisch. Wortlos reichte er die Notiz seiner Schwester.

»Wer immer versucht, diese Stätte zu entweihen …«, las sie laut vor, »… der soll verdammt sein. Unten wartet der Tod auf ihn. ›Der Alte vom Berge‹«

Abu Mubarak spreizte abwehrend beide Hände aus.