Panoptikum des Grauens - Thomas Riedel - E-Book

Panoptikum des Grauens E-Book

Thomas Riedel

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Beschreibung

Niemand kennt den geheimnisvollen Fremden, der neu hinzugezogen ist. Nur seine orientalisch gekleidete Dienerschaft verlässt von Zeit zu Zeit die Villa. Doch das soll nicht lange so bleiben. Denn eines nachts vernimmt Kayleen Coleman eine Stimme in ihrem Kopf, die ihr einen hypnotischen Befehl erteilt. Von ihr angezogen verschwindet die Urenkelin von Lord Coleman kurz darauf von der Bildfläche. Als am Tag darauf Roger Williams von einem Auslandsaufenthalt zurückkehrt und seiner Lordschaft seine Aufwartung macht, um seine Verlobte aufzusuchen, erklärt dieser als auch dessen Tochter nie von einer Kayleen gehört zu haben. Verwirrt und in Furcht um seine zukünftige Frau schaltet Williams Scotland Yard ein – worauf sich Blake und McGinnis der Sache annehmen, nicht ahnend, dass sie sich damit in eine tödliche Gefahr begeben, aus der ein Entrinnen unmöglich scheint …

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Panoptikum des Grauens

Panoptikum des Grauens

Mystery-Thriller

von

Susann Smith & Thomas Riedel

Bibliografische Information durch

die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.de abrufbar

1. Auflage

Covergestaltung:

© 2020 Susann Smith & Thomas Riedel

Coverfoto:

© 2020 depositphoto.com

ImpressumCopyright: © 2020 Susann Smith & Thomas RiedelDruck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.deISBN siehe letzte Seite des Buchblocks

Für Josephine Lessmann

Mit Büchern geht es uns wie mit den Menschen.

Wir machen zwar viele Bekanntschaften,

aber nur wenige erwählen wir zu unseren Freunden.

»Es leuchtet! seht! – Nun läßt sich wirklich hoffen,

dass, wenn wir aus viel hundert Stoffen

durch Mischung – denn auf Mischung kommt es an –

Den Menschenstoff gemächlich componiren,

in einen Kolben verlutiren

und ihn gehörig cohobiren,

so ist das Werk im Stillen abgethan.«

Johann Wolfgang. v.Goethe,

Faust II, 2.Akt, Laboratorium,1832

Kapitel 1

E

s war eine sternenklare Oktobernacht. Unruhig wälzte sich Kayleen Coleman in ihrem Bett hin und her. Eine unerklärliche, beklemmende Unruhe hatte sie erfasst und machte ihr das Atmen schwer. Wieder und wieder wälzte sie sich herum, im ständigen Kampf mit ihrem Kopfkissen. Doch kaum schien es richtig zu liegen, änderte sie erneut ihre Position. Sie lag auf dem Rücken, als sie schweißgebadet erwachte und sich plötzlich senkrecht aufsetzte.

Abgespannt schob sie ihre schlanken Beine über die Bettkante. Sie blieb kurz sitzen, erhob sich, schritt mit traumwandlerischer Sicherheit zum Fenster hinüber, zog die Gardine zur Seite und betrachtete den fast schwarzen Himmel. Rechts oben erkannte sie den Abendstern, die Venus, links davon die ersten echten Sterne, die sich zum großen Wagen formierten. Für sie war es die schönste aller Sternenkonstellationen. Sie erkannte ›Mizar‹, den mittleren von drei Sternen, die zusammen die Deichsel bildeten, und der in Wirklichkeit ein Doppelstern war. Regelmäßig gönnte sie sich den Spaß ihre Sehkraft zu testen, indem sie prüfte, ob sie ›Mizars‹ blassen Zwilling ›Alkor‹ noch mit bloßem Auge erkennen konnte. Aber heute wollte ihr das nicht gelingen. Da war etwas, das sie ablenkte.

Unbewusst starrte sie auf den Balkon der Villa, die neben der ihres Vaters im ›Westend‹ lag, der bevorzugten Wohnlage der höheren Gesellschaftsschicht. Über ein Jahr hatte die Nachbarvilla leer gestanden und erst vor kurzem einen neuen Mieter gefunden.

Natürlich wurde schnell die Gerüchteküche bemüht. Hinter vorgehaltener Hand wussten alle etwas über den Neuen zu berichten, aber letztlich hatte natürlich niemand einen blassen Schlimmer. Eines aber hatten alle Gerüchte gemeinsam, nämlich, dass es sich bei dem Mieter um einen jungen Inder handeln sollte. Genaues hatte jedoch bislang keiner herausgefunden, da der neue Nachbar seinen Einzug nahezu heimlich vollzogen hatte und sich seitdem im Haus verschanzte, als sei er vor irgendetwas auf der Flucht. Letztlich war auch nicht gesichert, ob es sich bei dem geheimnisvollen Mann aus dem fernen Orient tatsächlich um einen Inder handelte – schließlich konnte er auch aus Pakistan oder einem anderen Land dieser Region kommen. Nachschub bekam die Gerüchteküche mit jedem Tag, da der Mann weder irgendwelche Post erhielt, noch sich selbst bei den Nachbarn vorstellte, wie es in diesem noblen Viertel ungeschriebenes Gesetz war.

Wenn überhaupt jemand das Haus verließ, dann war es ein Mann aus Tibet, der als Diener fungierte. Er war offensichtlich nur der tibeto-birmanische Sprache mächtig und konnte neugierige Fragen weder verstehen noch beantworten. Bei seinen Einkäufen musste er sich deshalb mit Händen und Füßen verständlich machen.

Zu dieser Nachtstunde zeigte sich der dunkelhäutige Mann ohne Scheu auf dem Balkon. Er hatte beide Hände über seiner Brust verschränkt und sah unverblümt zu ihr herüber. Seine Augen waren eiskalt. Ein unerklärliches phosphoreszierendes grünliches Leuchten umspielte die stumme Gestalt. Es war ein unheimliches Bild, das sich ihr bot. Selbst der hell strahlende Mond versteckte sich für einen Augenblick hinter die über den Himmel segelnden Wolkenfetzen.

Ohne darüber nachzudenken ergriff sie ihr kleines leistungsstarkes Fernglas, mit dem sie sonst die Sterne beobachtete und schaute hindurch.

Jetzt konnte sie ihn gestochen scharf erkennen. Er hatte ein jugendliches frisches Gesicht, auf dem ein ernster Zug lag. Seine Augen erschienen ihr besonders auffallend. Sie waren groß, dunkel und wirkten wie schwarze Diamanten, in denen ein fanatisches Feuer glühte. Einen unbeugsamen Willen und Machthunger glaubte sie in ihnen zu erkennen. Unweigerlich musste sie an Mahatma Gandhi denken, der einmal gesagt hatte, dass wahre Stärke nicht aus körperlicher Kraft erwächst, sondern vielmehr aus einem unbeugsamen Willen.

Sie erschrak ein wenig, als ihr Blick auf die Stirn des Fremdländers fiel. Es war ihr zunächst gar nicht aufgefallen, aber dort fand sich ein blutrotes kryptisches Zeichen, das plötzlich ein Eigenleben entwickelte und zu kreisen begann. Wie gebannt starrte sie es an, unfähig sich davon zu lösen. Sie spürte den Blick des Orientalen, der sie fixierte und nicht mehr losließ, spürte wie er in ihren Kopf eindrang – wie ein Hirnchirurg mit seinem Bohrer bei einer Trepanation – ihr Bewusstsein beeinflusste und ihr seinen Willen aufzwang.

Es war ein Befehl!

Sie hatte ihn verstanden und folgte ihm stumm.

Wie eine Marionette setzte sie sich unter seinem Einfluss in Bewegung. Mit schlafwandlerischer Leichtigkeit verließ sie ihr Zimmer, schritt die Treppe hinunter in die Eingangshalle, öffnete die Haustür und trat in den Vorgarten hinaus. Es war eine kühle Nacht, aber obwohl sie nur mit einem weitschwingenden, hauchzarten und fast durchsichtigen Negligé bekleidet war fror sie nicht. Ihre langen wilden blonden Korkenzieherlocken flatterten engelsgleich im leichten Wind. Sie folgte dem, von gepflegten Blumenbeeten gesäumten, nach rechts verlaufenden Kiesweg, dessen Steine unter ihren bloßen Füßen knirschten.

Sie hörte es ebenso wenig, wie den lauten Revierschrei eines Waldkauzmännchens aus der Ferne. Auch ihre großen, ausdrucksvollen Augen reagierten nicht, als sie das hölzerne Tor, in der mit Moos bewachsenen Mauer, geräuschlos öffnete. Mit ihren nackten Füßen schritt sie langsam die kalten und glatten Marmorstufen der großzügig angelegten Freitreppe des Nachbarhauses hinauf.

Mit einer tiefen Verbeugung empfing sie der Mann aus dem Hochland Zentralasiens, aber sie nahm es nicht wahr. Sie sah durch ihn hindurch, als sei er gar nicht existent. Unter der mentalen Kontrolle des Orientalen entging ihr auch der Krummdolch in dessen Gürtel. Mit einem hämischen, diabolischen Grinsen betrachtete er sie aus seinen dunklen mandelförmigen Augen.

Mit schlafwandlerischer Sicherheit durchquerte sie die Vorhalle des Hauses, schritt über einen bunten indischen Teppich und wandte sich nach links, um die Galerie zu erreichen.

Gleich darauf stand sie, ohne anzuklopfen, im Zimmer des geheimnisvollen Mannes. Wortlos ließ sie sich in einen goldenen, reichlich bestickten Sessel fallen. Mit gespannter Aufmerksamkeit wartete sie, als willenlose Marionette, hoch aufgerichtet, auf seine neuen telepathischen Befehle.

Kapitel 2

G

eräuschlos hatte er das Zimmer betreten und musterte die junge Frau eine Weile. Er tat es in der Art und Weise eines wissbegierigen Forschers, der sein aktuelles Studienobjekt auf einem Glasträger durch das Okular seines Lichtmikroskops betrachtete.

»Mein Name ist Kianoush Timurcan Shabistari«, stellte er sich nach einiger Zeit des Schweigens vor. »Ich besitze zwar einen iranischen Pass und damit die iranische Nationalität, aber eigentlich bin ich Pakistani. Mein Geburtsort liegt in jenem Teil des Landes, der 1947 nach dem Abzug der britischen Kolonialtruppen an die Moslems fiel. Allerdings war der Vater meines Großvaters zu diesem Zeitpunkt bereits aus ganz bestimmten Gründen in den Iran geflohen. Ich bin mir sicher, dass Ihnen Ihr Urgroßvater, Sir Winston, davon erzählt haben wird, Miss Coleman.«

»Mein Urgroßvater spricht ständig über seine Zeit in Indien, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass er Sie oderIhren Vater jemals erwähnt hätte«, antwortete sie und hob vertrauensvoll ihr Engelsgesicht, das umrahmt war von einer Flut blonder Haare.

»Das mag schon möglich sein«, räumte Shabistari ein. »Er hat auch allen Grund dazu, diese Episode aus seinem Leben zu verschweigen ... Ich werde Sie also einweihen in das düstere Geheimnis, das Ihren so jovialen und beliebten Urgroßvater begleitet, … seit nahezu siebzig Jahren.« Er schwieg, um sich zu konzentrieren. Seine Nasenflügel bebten. Wie unter einer furchtbaren, seelischen Anspannung rang er seine schmalen Künstlerhände, ehe er fortfuhr: »Ihr Urgroßvater war zu jener Zeit sechsundzwanzig Jahre alt, Major und Kommandeur einer Gurkha-Einheit. Sein Auftrag war es, einen der vielen lokalen Aufstände mit aller Härte niederzuschlagen. Der Widerstand der Eingeborenen war ungewohnt heftig. Sie standen unter der Führung eines Gurus, nämlich meines Urgroßvaters, der den Engländern eine empfindliche Niederlage bereitet hatte. Lord Coleman nahm unser Dorf, das Zentrum des Widerstandes, ein und gab es prompt zur Plünderung frei. Mein Urgroßvater hatte noch rechtzeitig in die Berge fliehen können. Aber meine Urgroßmutter, … jung verheiratet, … wurde von den Gurkha-Soldaten aufgestöbert und als Frau des Anführers der Aufständischen erkannt. Man schleppte sie zu Major Winston Coleman, der daraufhin meinen Urgroßvater zu erpressen versuchte. Er ließ ihm die Nachricht zukommen, dass er meine Urgroßmutter dem zügellosen Soldatenhaufen überlassen würde, wenn er nicht innerhalb von zwei Tagen Nachricht bekäme, dass mein Urgroßvater sich aller agitatorischen Maßnahmen enthalten und seine Anhänger nach Hause schicken würde. Zusätzlich sollte mein Urgroßvater seine Heimat, sein Land verlassen. Nun, … mein Urgroßvater akzeptierte. Es blieb ihm ja auch keine Wahl, wenn er seine Frau retten wollte. Also gelobte er feierlich, alle Bedingungen des erzwungenen Vertrages zu erfüllen. Lord Coleman vertraute ihm. Die Gefangene wurde ausgetauscht. Beide Seiten hatten sich an die Vereinbarungen gehalten, sobald mein Urgroßvater die Landesgrenze hinter sich gebracht hatte.«

»Dann ist doch alles gut«, atmete Kayleen erleichtert auf.

»Gut? Keineswegs!«, zischte er. In seinen Augen loderte offener Hass. »Meine Urgroßmutter, … sie hat längst Selbstmord begangen, … war eine ausgesprochen schöne Frau. Ihr Urgroßvater, Miss Coleman, damals noch unverheiratet, konnte der Versuchung nicht widerstehen. Es geschah, kurz bevor meine Urgroßmutter freigelassen wurde. Niemand fand die Möglichkeit ihrem Mann die Nachricht überbringen zu können. Er war völlig ahnungslos, und … diese Vergewaltigung … sie hatte Folgen!«

»Dann wären Sie ja ...« In ihren Blick mischte sich Verwirrung und Entsetzen.

»Kein Wort mehr, Miss Coleman!«, fauchte Kianoush Shabistari. Sein Gesicht war jetzt eine einzige Fratze aus Wut und Verzweiflung, und er brauchte eine Weile, ehe er seine Fassung zurückgewann. »Mein Urgroßvater ist schon lange Tod, aber mein Großvater und mein Vater, sie starben vor acht Jahren bei einem Bombenanschlag in Pakistan, erzogen mich im Hass auf die Engländer im Allgemeinen und Lord Coleman im Besonderen«, berichtete er weiter. »Sie zogen sich mit mir in die Einsamkeit zurück. Wir widmeten uns der Vorbereitung einer Rache, wie sie die Welt noch nicht erlebt hatte. Sie wiesen mich in alle okkultistischen Geheimlehren des Fernen Ostens ein, unterrichteten mich in Hypnose und Telepathie, Meditation und Telekinese, ohne aber die modernen Fächer zu vernachlässigen, die zur Erziehung junger Menschen gehören. Ich wurde schnell das, was man in Ihrem Land einen ›Allroundman‹ nennen würde. Reichtum stellte sich ganz nebenbei ein. Er war die natürliche Folge der übernatürlichen Kräfte meines Großvaters und Vaters, die Kranke heilten, Dämonen vertrieben und Unbequeme verschwinden lassen konnten. Sie sammelten eine Schar von Anhängern um sich und residierten in einer Felshöhle wie der Schahanschah persönlich. Tatsächlich drang ihr Ruf bis Teheran. Aber sie schlugen keinen Nutzen daraus, lebten nur für den Tag der Rache, auf den sie mich konsequent vorbereiteten. Und jetzt, Miss Coleman, ist es soweit.«

»Was haben Sie vor?«, fragte sie. Die Ankündigung versetzte sie in Panik.

»Damit Sie begreifen, was Ihren Urgroßvater erwartet und seine ganze Familie, will ich Ihnen zeigen, was ich jenem Mann angetan habe, der meine Familie auf Befehl von Colonel Winston Coleman in Pakistan aufspürte und meinen Urgroßvater und Vater ermorden wollte«, erwiderte Shabistari mit einem diabolischen Grinsen. »Der gute Lord Coleman fühlte sich nämlich nach seinem Verbrechen nicht mehr allzu sicher. Er fürchtete um seinen guten Ruf bei Hofe. Leute vom Geheimdienst, Überläufer und Kollaborateure aus dem Grenzgebiet trugen ihm die Nachricht zu, die sein schlechtes Gewissen ständig wachhielt.«

Er winkte ihr auffordernd zu, worauf sie sich widerstrebend erhob.

Ihr Instinkt warnte sie, aber sie besaß weder den Mut noch die Kraft, sich gegen seinen Willen aufzulehnen. Sie war unfähig, eine eigene Entscheidung zu treffen, und in der Hand eines Mannes, dessen Ziel es war, ihren Urgroßvater und die ganze Familie mehr leiden zu lassen, als es das je ein Mensch zuvor musste.

Shabistari führte seine Gefangene in einen dunklen Raum. Er stand dicht neben ihr, sog den Duft ihres Haares ein und fühlte ihre Gestalt an seiner Seite. Ein Umstand, der seine Vorfreude auf das, was er ihr anzutun gedachte, noch verdoppelte.

Ihr blieb nichts anderes übrig, als stumm auf den Beginn der Demonstration zu warten. Sie ahnte nicht, dass er ihr genau die Rolle zugedacht hatte, in der sich seine unglückliche Urgroßmutter vor nahezu siebzig befand. Aber irgendeine Vorahnung, ein unfassbares Grauen ließen sie bis ins Mark erzittern, ohne dass sie die Kraft fand zu fliehen und sich in Sicherheit zu bringen.

Shabistari drückte auf einen verborgenen Knopf.

In dem weiten Saal flackerten bläuliche Lichtbogen auf, die eine unheimliche, ungewisse Helligkeit verbreiteten – aber völlig ausreichten, um jede Einzelheit wahrnehmen zu können.

Gleichzeitig sprang in der Mitte des Raumes ein entsetzlich schnurrender Mechanismus an – ein menschlicher Springbrunnen.

In einem spärlich behaarten Schädel, dessen Augen die Besucher traurig anglotzten, endete ein Kupferrohr und ließ aus dem weit aufgerissenen Mund Blut sprudeln. Es wurde von einem freigelegten Herz hochgepumpt und fiel in einem hohen Bogen in eine grüne Schale, von wo der ewige Kreislauf aufs Neue begann. Ein elektrischer Schrittmacher sorgte dafür, dass dem konservierten, lebenswichtigen Organ keine Panne unterlief. Die Plastikschale am Fuß des Brunnens barg in einer klaren Lösung die Lungenflügel des Homunkulus. Beide Teile pulsierten wie faserige Schwämme im Rhythmus der menschlichen Maschine.

»Kein Gefühl, nur Bewusstsein«, feixte Shabistari und deutete auf den Schädel. »Das Gehirn ist mit allen Funktionen erhalten geblieben«, versicherte er. »Der Mann begreift, was mit ihm geschieht. Sein Bewusstsein signalisiert ihm die hoffnungslose Lage, schlägt pausenlos Alarm und zwingt den Torso, ständig nach einem Ausweg aus der Verzweiflung zu suchen.«

Wie als Antwort füllten sich die Augen des Unglücklichen mit Tränen, die langsam über die rosigen Wangen liefen. Seine bläulich verfärbten Lippen zitterten in stummer Qual, bis der nächste Blutsturz erfolgte und die Kinnwinkel auseinanderriss, sodass seine Luftröhre und sein Rachenraum freigelegt wurden.

»Auf dieser Welt ist alles machbar«, dozierte Kayleen Colemans teuflischer Nachbar. »Im Guten wie im Bösen.«

Sie wollte antworten, war aber vor Entsetzen wie gelähmt. Ihr wurde schwindelig, und sie tastete hilfesuchend nach einem Halt.

Kianoush Shabistari fing ihren Sturz ab, hob ihre schlanke Gestalt wie eine Feder auf und trug sie in sein Schlafzimmer.

Der nahe Triumph sprengte ihm fast die Brust, denn ab heute würde der alte, greise Lord Coleman für alles zahlen, was er in der Vergangenheit angerichtet hatte. Seine Enkelin bedeutete für Shabistari nur die erste Rate.

Er warf die junge Frau auf das breite Bett unter dem seidenen Baldachin und fesselte sie mit dünnen Seilen an Händen und Füßen.

Als er sich über sie schob, bäumte sich Kayleen Coleman auf und schrie: »Aber sind wir nicht ...?«

»Da muss ich mich ungenau ausgedrückt haben«, korrigierte er zynisch. »Sicher blieb die Vergewaltigung meiner Urgroßmutter damals nicht ohne Folgen. Das ist richtig. Aber mein Urgroßvater hat das Problem beseitigt und den Bastard gar nicht auswachsen lassen. Er hat ihn ähnlich präpariert wie den Mann, der uns ermorden sollte. Vielleicht sehen wir uns den Abkömmling seiner tugendhaften Lordschaft gelegentlich einmal an. Ich kann mich gar nicht an ihm sattsehen. Es ist wirklich ein phänomenaler Erfolg meines Urgroßvaters, wie gut er den kleinen Burschen präpariert und für die staunende Nachwelt aufgehoben hat.«

»Sie sind ein Teufel«, schluchzte sie hilflos.

Kianoush Shabistari lachte leise. Er wusste, dass er sein Ziel fast ohne Gewalt erreichen und sich dazu sehr viel Zeit lassen würde. Es würde eine spielerische Foltermethode anwenden, bei der es nicht so sehr auf Kraft ankam, sondern mehr auf Nervenstärke und völlige Beherrschung. Und davon besaß er beides in außergewöhnlichem Maß.

Er bewies es innerhalb der nächsten zwölf Stunden und besiegte sie vollkommener als jemals ein Mann eine Frau zuvor besiegt hatte.

Obwohl er völlig passiv, bewegungslos dalag, verwandelte er das junge Mädchen in ein wimmerndes Nervenbündel – hysterisch, zerschlagen und aufgelöst. Nur ein grausames Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

Immer wieder lenkte er sich bewusst ab, dachte an etwas Anderes. Er malte sich bereits seinen nächsten Sieg über Lord Coleman aus, genoss im Voraus seine Rache, derweil er überlegte, wie er den alten Sir Winston in seine Gewalt bringen konnte.

Kapitel 3

R

oger Whitemoore hatte Kayleen Coleman in der vergangenen Ballsaison kennengelernt, und soweit es ihm sein Beruf erlaubte, die Verbindung zu ihr aufrecht erhalten. Er war leitender Mitarbeiter eines renommierten britischen Architekturbüros, das in zahlreiche ausländische Bauprojekte involviert war. Entsprechend selten verbrachte er seine wenigen freien Tage in London. Auch jetzt kam er gerade von einer Großbaustelle aus dem fernen Abu Dhabi zurück.

Sein erster Weg vom Flugplatz in ›Heathrow‹ führte ihn in der Regel direkt zu ihr, nachdem er sich zuvor per ›WhatsApp‹ anmeldete, um sie vorzuwarnen, wie er sich auszudrücken pflegte. Doch dieses Mal kreuzte er unangemeldet bei ihr auf.

Er ließ sein cremeweißes Jaguar Cabriolet vor dem Haus Nummer 7, ›Southwell Gardens‹, im Londoner Stadtteil ›Kensington‹, ausrollen, schnappte sich den Strauß gelber Teerosen, der auf dem schmalen Rücksitz lag, und eilte durch den Park zum Herrensitz im Tudorstil.

Whitemoore war ein breitschultriger, Fünfunddreißigjähriger, zu dessen zahlreichen Hobbys so ausgefallene Betätigungen wie Fallschirmspringen, Tiefseetauchen und Rallyefahren zählte. Er war der Typ des erfolgsverwöhnten, nüchternen Mannes, für den Hindernisse auf dem Weg nur einen zusätzlichen Ansporn bedeuteten. Als Architekt überließ er wenig dem Gefühl und fast alles dem Verstand.

Unter den Briten bedeutete er insofern eine Ausnahme, als dass er weder an irgendwelche Schlossgeister noch an das sagenumwobene Ungeheuer von ›Loch Ness‹ glaubte und all diese Dinge für wissenschaftlich erklärbar hielt.

Er wurde vom Butler in den Salon geführt, wo der inzwischen siebenundneunzigjährige Sir Winston über einer Partie Schach grübelte und seine Tochter, Lady Sarah Coleman, eine Patience legte.

Es war die Zeit kurz vor dem Mittagessen.

»Ah, wie nett von Ihnen, dass Sie uns wieder einmal besuchen, mein Junge«, rief ihm seine Lordschaft erfreut zu.

Unwillkürlich sandte Whitemoore ein stummes Gebet nach oben, der greise Knabe möge nicht wieder mit seinen endlosen, abenteuerlichen Geschichten über seine lang zurückliegende Militärzeit in Indien anfangen. »Meine Freude ist so groß, dass sie vom Kummer Tränen borgt, sich zu entladen«, zitierte er Shakespeare, gefolgt von der Frage: »Wo ist Kayleen? … Ich war in Abu Dhabi und habeihr ein entzückendes Collier mitgebracht. Es dürfte ihr sicher gefallen.«

»Von wem sprechen Sie, Roger?«, erkundigte sich Lady Sarah. Sie blickte von ihren Karten auf, lächelte milde.

Lady Sarah war eine kurzbeinige, dickliche, kleine Frau mit rastlosen Vogelaugen und einer immerwährenden streitsüchtigen Kopfhaltung. Ihre Kleidung war aus schwarzer Seide, die sie seit dem Tod ihres Mannes vor neun Jahren als Zeichen ihrer Trauer nicht mehr abgelegt hatte. Auf ihrem Haar, dass noch immer frei von jeglichem Grau war, trug sie ein kleines weißes Spitzenhäubchen, und dies, in Verbindung mit ihrem Alter, ihrer ganzen Erscheinung und ihrem Gebaren – besonders der kleinen Hängebacken, in die ihre Wangen ausliefen, trugen dazu bei, ihr eine merkwürdige Ähnlichkeit mit der alten Queen Victoria zu verleihen, dessen sie sich sehr wohl bewusst war und worauf sie sich insgeheim etwas einbildete.

Whitemoore schaute sie perplex an.

»Wer soll diese Kayleen denn sein, zum Donnerwetter?«, erkundigte sich seine Lordschaft. Er kniff ein Auge zu und starrte ihn fragend an. »Ist das Mädchen wenigstens hübsch?«

»Ich spreche von Ihrer Urenkelin, Sir Winston«, stellte Whitemoore klar, und sein Blick wanderte zwischen den beiden alten Leuten irritiert hin und her, während er zu ergründen suchte, was hier gerade vor sich ging.

Der greise Mann wusste mit dieser Erklärung offenbar nichts anzufangen, während seine Tochter eine sehr naheliegende, aber falsche Möglichkeit andeutete, als sie mit dem Finger drohte und sagte: »Ein Gentleman trinkt nicht vor acht Uhr abends, Roger.«

Whitemoore schaute völlig verwirrt zwischen den beiden hin und her. Dann nahm er unaufgefordert Platz. »Sie wollen also allen Ernstes behaupten, Sie hätten keine Enkelin Kayleen, einundzwanzig Jahre alt, etwa fünfeinhalb Fuß groß, blond, blauäugig, mit einem winzigen Muttermal hinter dem rechten Ohr?«, fragte er Sir Winstons Tochter, davon ausgehend, dass sie die beiden alten Herrschaften einen absurden Scherz mit ihm erlaubten.

»Verstehst du das, Sarah?« Seine Lordschaft zwirbelte seinen eisgrauen Walrossbart. Er warf seiner Tochter einen fragenden Blick zu.

»Sicher«, erwiderte sie, allerdings nicht mehr ganz so gnädig. In ihrer Stimme schwang ein kriegerischer Ton mit. Sie beachtete Whitemoore kaum noch, sondern bedachte ihn lediglich noch mit einem beiläufigen Kopfnicken. »Entweder hat er seine zahllosen Amouren durcheinandergebracht, oder der ständige Klimawechsel bekommt ihm nicht.« Erst jetzt wandte sie sich wieder Whitemoore zu. »Roger, Sie müssen mir versprechen, dass Sie umgehend einen Arzt aufsuchen.« Sie klopfte auf dem Platz neben sich. »Und jetzt seien Sie brav, setzen Sie sich zu mir, und erzählen Sie von Ihrer letzten Reise. Sie können das so ausgezeichnet. Sie dürfen nur nicht wieder so einen ausgefallenen Spaß mit uns treiben.« Sie zwinkerte ihm wohlwollend zu.»In meinem Alter lasse ich mir keine Enkelin mehr unterschieben, die es nicht gibt, Roger.«

Entweder träume ich, oder ich bin in einem Irrenhaus gelandet, dachte Whitemoore, während Lady Sarah nach dem Butler klingelte, um ihm einen Tee anzubieten.