Der alte weiße Mann - Norbert Bolz - E-Book

Der alte weiße Mann E-Book

Norbert Bolz

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Beschreibung

Für die Übel dieser Welt kennt die aktuelle Debatte vor allem einen Schuldigen: den alten weißen Mann. Er steht für Kolonialismus, Rassismus und Sexismus und auf sein Konto gehen sowohl die Armut in der Welt als auch die Zerstörung der Natur und natürlich der Klimawandel. Doch wie wurde er zum Sündenbock und was steckt hinter dieser kollektiven Schuldzuweisung? Norbert Bolz analysiert den Begriff und zeigt, dass Der alte weiße Mann zur zentralen Symbolfigur in einem kulturellen Bürgerkrieg geworden ist. "Alt" steht dabei für Tradition und Erfahrung, "weiß" für die europäische Rationalität und technische Naturbeherrschung und ,,männlich" für Mut, Risiko und Selbstbehauptung. Dabei wird deutlich: In diesem Konflikt, der immer unbarmherziger geführt wird, geht es nicht um die Beschimpften, sondern um die Grundlagen der westlichen Welt.

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Norbert Bolz

Der alteweißeMann

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© 2023 LMV, ein Imprint der Langen Müller Verlag GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Sabine Schröder

Umschlagmotiv: akg-images: Heinz Krimmer; Shutterstock: ArTono, ID1974, Tusumaru

Satz und E-Book Konvertierung: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-7844-8445-7

www.langenmueller.de

Inhalt

Vorbemerkung

Die Lage

Alt

Weiß

Männlich

Fazit

Personenregister

Literatur

Vorbemerkung

Für alle Übel und das Böse in unserer Welt haben die Kulturrevolutionäre der Politischen Korrektheit einen Sündenbock gefunden: den alten, weißen Mann. Er steht für Kolonialismus, Rassismus und Sexismus; er soll schuld sein an der Armut der Dritten Welt, an der Zerstörung der Natur und am menschengemachten Klimawandel. Wenn man den Sündenbock in die Wüste schicken könnte, gäbe es keine Diskriminierung mehr, die Welt wäre endlich friedlich, tolerant, divers, bunt, und die Menschen stünden wieder im Einklang mit der Natur.

Das ist der Kern einer Erzählung, die heute von den meisten Medien und Bildungsanstalten verbreitet wird. Wir müssen deshalb zunächst einmal darstellen, wie diese Erzählung vom alten, weißen Mann unsere Gegenwartskultur prägt. Wir schauen im Folgenden nur auf die westliche Welt und geben einen Lagebericht. Der Begriff der Lage ist hier durchaus im militärischen Sinne gebraucht. Wir halten nämlich die Erwartung Nietzsches für richtig, dass die künftigen Kriege im Namen philosophischer Grundlehren geführt werden. Und heute stehen wir in einem kulturellen Bürgerkrieg. Dabei ist der Bericht über die Feindeslage oft noch wichtiger als der Bericht über die eigene, nämlich die liberale.

Die These vom »kulturellen Bürgerkrieg« mag zunächst übertrieben klingen. Aber er ist nicht nur in den USA, sondern auch im pazifistischen Deutschland längst Realität. Wenn eine Gesellschaft nämlich glaubt, keine äußeren Feinde mehr zu haben, wird die Unterscheidung von Freund und Feind umso unbarmherziger auf die inneren Konflikte projiziert.

Man kann in diesem Bürgerkrieg eine geistig überlegene Position nur erreichen, wenn man ein theoretisches Interesse an den Ideen der Gegner entwickelt. Der alte, weiße Mann sollte sich also für die gedanklichen Voraussetzungen seiner Ankläger interessieren. Wir nehmen deshalb drei Tiefbohrungen vor, um besser zu verstehen, wogegen sich die Hetzjagd auf den Sündenbock eigentlich richtet. Dabei orientieren wir uns an den drei bekämpften Attributen: alt, weiß, männlich. Und wir werden sehen, dass »alt« für Tradition und Erfahrung, »weiß« für europäische Rationalität und technische Naturbeherrschung und »männlich« für Mut, Risiko und Selbstbehauptung steht.

All dem haben die Kulturrevolutionäre den Krieg erklärt: Der Sexismus ist männlich, der Rassismus ist weiß, und »alt« steht für den Kolonialismus, also die Geschichte des Bösen. Kurzum, der Teufel ist ein alter, weißer Mann. Und ihm bleibt zurzeit nur der Rückzug in Kulturschutzräume, in denen wenigstens noch geistiger Widerstand möglich ist. Sein Selbstverständnis hat Ernst Jünger in der Erzählung »Auf den Marmorklippen« formuliert: »allein durch reine Geistesmacht zu widerstehen.«

Die Lage

Geistesmacht setzt nach Hegel voraus, dass man vom Negativen nicht wegsieht und einfach sagt, es sei falsch, sondern ihm »ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt.« Und genau das tun wir auf den nächsten Seiten.

Zu unserem Thema »kultureller Bürgerkrieg« gibt es mittlerweile schon zahlreiche Bücher, die sich aber meistens auf Symptombeschreibungen und Beispiele beschränken. Wir wollen etwas tiefer ansetzen und zunächst einmal die wichtigsten Begriffe klären. Sie sind zwar in aller Munde, bleiben in den öffentlichen Kontroversen aber merkwürdig verschwommen. Was ist mit Politischer Korrektheit, »Wokeness« und »Cancel Culture« eigentlich gemeint? Dass hier so viel Unklarheit herrscht, hängt auch damit zusammen, dass es zu Diskussionen zwischen den verfeindeten Parteien kaum mehr kommt. Gefühle haben die Argumente verdrängt, und deshalb dominieren Hass und Wut. Das führt – gerade auch in Universitäten! – zu einer Zerstörung der Vernunft und – gerade auch bei Intellektuellen! – zu einer wachsenden Weltfremdheit. Wir werden sehen, wie diese unheilvollen Prozesse mit dem neuen Selbstverständnis vieler Journalisten und Wissenschaftler als Aktivisten zusammenhängen; mit ihrer Bereitschaft, einer bestimmten Politik gefällig zu sein und »Haltung« zu zeigen.

Dem entspricht eine Politik, die nicht mehr zwischen progressiv und konservativ, sondern zwischen Gut und Böse unterscheidet. Diese Polarisierung drückt sich dann einerseits in der Jagd auf den Sündenbock (der Titel dieses Buches nennt ihn beim Namen), andererseits in der Heuchelei von Bußritualen aus. Diesem politischen Infantilismus entspricht ein autoritärer Paternalismus: Vater Staat will uns von der Wiege bis zur Bahre an der Hand nehmen. Dass durch solche Entwicklungen die Demokratie in Gefahr gerät, ist keine rein akademische Sorge. Wir werden in diesem Kapitel zeigen, dass sich längst eine Tyrannei gut organisierter Minderheiten etabliert hat, die auf das Wohlwollen der politisch-medialen Elite rechnen können. Das ist eine Linke, die sich nicht mehr an Marx, sondern an Rousseau orientiert.

Hass, Lügen und die Grenzen der Aufklärung

Das 21. Jahrhundert hat als Zeitalter der emotionalen Inkontinenz begonnen: Die Wahrheit muss verletzten Gefühlen weichen. Die Welt dreht sich um winzige Minderheiten. Die Veganer bilden in unserer Gesellschaft eine Minderheit; die überempfindlichen »Schneeflocken« an den Universitäten sind eine sehr kleine Minderheit. Und diejenigen, die tatsächlich meinen, dass man unendlich viele Geschlechter anerkennen muss, weil sie sich weder als Mann noch als Frau fühlen, bilden eine verschwindend kleine Minderheit. Aber ihre Stärke liegt darin, dass sie lautstark, aggressiv und intolerant sind, während die Mehrheit ihre Ansprüche toleriert oder schweigt.

So hat Helge Braun, ehemaliger Chef des Bundeskanzleramts, während seiner Bewerbung um den Parteivorsitz der CDU ein Interview gegeben, in dem er sich nicht nur frauenquotenfreundlich und islamophil zeigte, sondern auch auf die Frage antwortete, wie viele Geschlechter es denn gebe – Antwort: »neben den klassischen auch das Diverse«, und da dieses eben vielfältig sei, seien die Geschlechter unzählbar. Das ist die Antwort, die man aus LGBTQ-Seminaren (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer), von den Grünen und Teilen der SPD kennt. Das heißt, es ist die »woke« Antwort.

Das führt dazu, dass unsere Gesellschaft zugleich permissiv und rigoristisch ist. So können sich LGBTQ-Bewegung, Antifa, Klimaaktivismus und Multikulti frei entfalten, während eine intolerante Minderheit im Namen der Politischen Korrektheit als Sprachpolizei streng darüber wacht, dass an ihrer Herrschaft keine Kritik geübt wird.

So wird das Pathologische normalisiert und das Normale als pathologisch stigmatisiert. Zur Normalisierung des Abnormalen gehört auch die Inflationierung der behandlungsbedürftigen Persönlichkeitsstörungen wie zum Beispiel die posttraumatische Störung oder das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom. Der Einzelne ist nicht nur getrieben von Neugier und unersättlichem Begehren, lustvoll geschüttelt von Skandalen, sondern auch gequält vom Unbehagen in der Kultur, ständig verletzt in seiner hoch gezüchteten Empfindsamkeit, aggressiv in der Umformung von persönlichen Problemen in Ansprüche an die Gesellschaft. Diese Dauererregung hat eine nervöse Gesellschaft hervorgebracht, die sich nicht mehr im Medium der allen Menschen gemeinsamen Vernunft über sich selbst verständigt, sondern sich einer Daueremotionalisierung durch die Massenmedien aussetzt.

Unsere Welt dröhnt von Alarmsignalen, Hilferufen und Wutschreien. Da ist der Terror des islamischen Fundamentalismus, den einige Zeitgeistexperten als die Rache Gottes an der atheistischen Wohlstandsgesellschaft deuten. Da ist die Klimakrise, die vom grünen Gaia-Kult als Rache der Natur am Kapitalismus interpretiert wird. Da ist die Massenmigration, bei der sich Asylsuchende und Wirtschaftsflüchtlinge nicht mehr unterscheiden lassen und die jetzt auch als politische Waffe genutzt wird. Da ist die Corona-Pandemie, die uns Tag für Tag deutlich gemacht hat, dass unser Nichtwissen unendlich viel größer ist als unser Wissen. Und da ist der Ukraine-Krieg, der unsere tätige Solidarität mit den Angegriffenen fordert und uns zugleich in Schockstarre aus Angst vor einem Atomkrieg versetzt.

Gleichzeitig tobt der Wahnsinn von innen. Unsere Gesellschaft ist toleranter, frauen- und minderheitenfreundlicher denn je, aber fanatische Aktivisten werfen ihr Sexismus und Rassismus vor. Das ist das von dem Philosophen Odo Marquard so schön beschriebene Prinzessin-auf-der-Erbse-Syndrom: Der »antifaschistische« Regenzauber beschwört Diskriminierungen und Phobien, weil wir in der tolerantesten und sozialsten Gesellschaft unserer Geschichte leben und umso mehr leiden, je weniger wir zu leiden haben. Das ist eine Art Leid-Erhaltungssatz: Wer unter immer weniger zu leiden hat, leidet unter immer weniger immer mehr.

Die Regierung und die Journalisten der Mainstream-Medien machen den Sozialen Medien den Vorwurf, sie seien schuld an der Explosion von Wut und Hass in der Öffentlichkeit. In der angelsächsischen Diskussion gebraucht man in diesem Zusammenhang gern den treffenden Begriff »disinhibition« – zu Deutsch: die Aufhebung aller Hemmungen. Und das ist nun wirklich charakteristisch für das soziale Klima unserer Zeit. Toleranz, Höflichkeit und Manieren sind Fremdwörter geworden.

Wer sich als guter Europäer versteht, sieht unsere Kultur in der stolzen Tradition der Aufklärung. Und deshalb muss er sich heute von zwei hässlichen Gestalten herausgefordert fühlen, die dem Wesen der Aufklärung, nämlich Wahrheitsliebe und Toleranz, den Kampf angesagt haben. Ich meine den Hasser und den Lügner. Hass und Lüge gehören zusammen. Die Produzenten von »Fake News« wollen unseren Glauben an die Wahrheit unterminieren. Die kleinen und großen Hassprediger wollen uns zur Intoleranz verführen. Längst nennt man sie auch hierzulande »Hater«.

Fälscher und Verleumder hat es schon immer gegeben. Aber die Sozialen Medien haben ihnen eine bisher unerhörte Wirkungschance eröffnet. Hass und Lüge sind online gegangen und profitieren nun von der Tatsache, dass man das Internet prinzipiell nicht kontrollieren kann. Hinzu kommt, dass die neuen Medien einen Enthemmungseffekt haben. Scham und Rücksichtnahme, Respekt und Manieren gehen dabei genauso über Bord wie die Sorgfalt im sprachlichen Ausdruck. Online kritisiert man nicht mehr, sondern man hasst. Man stellt sich nicht mehr dar, sondern aus. Exhibitionismus und eine Rhetorik der Vernichtung sind die deutlichsten Formen dieses Enthemmungseffekts.

Zu Recht ist das Internet dafür gefeiert worden, allen Menschen freien Zugang nicht nur zum Wissen der Welt, sondern auch zur Publizität zu ermöglichen. »Information at your fingertips« und »Bürgerreporter« sind dafür die bekanntesten Stichworte. Das war eine Kulturrevolution: die Ausschaltung aller Zwischeninstanzen, Experten, Redakteure und Zensoren. Aber heute sehen wir den Preis, den wir für diese Emanzipation bezahlen müssen. Es gibt keine Filter mehr. Es fehlen die Gatekeeper, die eine intellektuelle und moralische Kontrolle ausüben könnten.

Doch sollte man hier nicht in ein kulturkritisches Lamentieren verfallen. Kultur ist ein Nullsummenspiel: Gewaltige Gewinne halten ebenso gewaltigen Verlusten die Waage. Es ist schon großartig, welche neuen Kommunikationsmöglichkeiten das Internet eröffnet hat. Und die Medientechnik wird immer einfacher, schneller, besser. Aber wir haben es hier nicht mit optimierten Werkzeugen zu tun, sondern mit Medien einer Kulturrevolution, die uns in ein Zeitalter der neuen Mündlichkeit katapultiert hat. Deshalb dominiert heute das Rotzige, der unkontrollierte Affekt, der sich als »authentisch« präsentiert.

Es ist ein naiver Glaube der Aufklärung, dass man Menschen, die nach Orientierung suchen, mit sachlichen Informationen weiterhelfen könnte. Wer Angst hat, wütend ist oder sich benachteiligt fühlt, kann nicht durch Fakten aufgeklärt werden. Erregung schafft Vorurteile, die durch Aufklärung nicht aus der Welt zu schaffen sind. So entsteht eine dualistische Welt von Zuneigung und Ablehnung. Zum Like-Button gehört komplementär der Hass. Und es ist inkonsequent, dass Facebook und Twitter nicht auch einen Dislike-Button anbieten.

Dass die Welt zerfällt in Leute und Dinge, die man mag, und solche, die man nicht mag, ist eine archaische Welteinstellung, die für den einzelnen Menschen völlig unproblematisch ist. Es muss einfach erlaubt sein, bestimmte Leute nicht zu mögen. Die Sache verändert sich allerdings dramatisch, wenn sich die individuellen Zuneigungen und Ablehnungen weltweit rückkoppeln. Dann kommt es zu einem typischen Netzwerkeffekt, nämlich zur Eskalation. Die Zuneigung steigert sich zur bedingungslosen Anhängerschaft und die Abneigung zum Hass. Soziologen nennen das Abweichungsverstärkung. Es ist das Geheimnis des Fanatismus.

Um zu verstehen, wie es zu den Hasskaskaden im Internet kommt, ist es hilfreich, an den Gebrauch von Fernwaffen zu denken: Die Distanz und die Anonymität enthemmen. Der »Hater« erlebt die Folgen des Hasses nicht unmittelbar. Und je anonymer er bleiben kann, desto aggressiver wird er. Der »Hater« ist nämlich ein Feigling. Niemals würde er dem Gegner seine Hasstirade ins Gesicht sagen. Sein Verhalten lässt sich am besten mit einem amerikanische Ausdruck aus dem Gangstermilieu beschreiben: Hit and Run.

Niemand ist wohl so kaltblütig, dass ihn der Ausdruck blanken Hasses nicht ängstigen oder doch zumindest verletzen würde. Aber der »Hater« hat mit seinen feigen Aktionen einen noch viel durchschlagenderen Erfolg. Hass ist nämlich ansteckend. Der »Hater« vergiftet den Gehassten. Die Guten hassen dann die Bösen – und zwar mit gutem Gewissen. Politisch hat das fatale Konsequenzen. Wir können das sehr gut am öffentlichen Umgang mit Politikern der AfD oder mit Thilo Sarrazin beobachten. Politiker und Journalisten begegnen ihnen nicht mehr analytisch und mit Argumenten, sondern sie verschmelzen Themen mit Meinungen und Meinungen mit moralischen Bewertungen. Sie berufen sich dabei darauf, dass viele Meinungsäußerungen der sogenannten Rechtspopulisten Ehre, Scham und Anstand verletzen. Dass sie solchen Meinungen den Prozess machen wollen, klingt zunächst edel, ist aber bei Lichte betrachtet zutiefst illiberal. Denn auch die Immoralität einer Meinung darf kein Grund dafür sein, ihr Bekenntnis und ihre Diskussion zu beschneiden.

Zugegeben: Es ist nicht leicht, gelassen zu bleiben, wenn man angepöbelt und mit Lügen überzogen wird. Aber wer einmal erleben will, wie man mit diesem Problem souverän umgehen kann, muss sich nur bei »Promiflash« einmal Carmen Geiss anschauen. Nachdem sie in aller Ruhe erläutert hat, dass Hass-Attacken zum Leben eines Prominenten nun einmal dazu gehören, sagt sie den wunderbar entwaffnenden Satz: »Ich mag auch meine Hater.« Im selben Geist zeigt sich Leonardo di Caprio mit einem Glas Champagner in der Hand: Cheers to all my haters! Sehr klug war auch die Aktion der Grünen-Politikerin Renate Künast, die ihre Facebook-Hasser einfach persönlich besucht hat. Die Hater sind nämlich Scheinriesen. Je näher man ihnen kommt, desto mickriger werden sie. In Amerika hat man das buchstäblich schon zum Programm erhoben. So gibt es eine Talkshow, in der Prominente die gegen sie gerichteten Hasstweets vorlesen. Obama war schon zu Gast. Auch Donald Trump hätte wohl einschlägiges Material zu bieten. So kann man durchaus den Eindruck gewinnen, dass die Profis schon gelernt haben, gelassen mit dem Hass umzugehen. Ihr Mantra lautet: Haters Gonna Hate. Und das bedeutet im Grunde: nicht mal ignorieren!

Man muss kein Anhänger von Freud sein, um zu erkennen, dass Kultur das Resultat von Sublimierungen ist. Gemeint ist die Verschiebung primitiver Triebe auf sozial anerkannte Ziele – ein Prozess der Veredelung unserer Gefühle und Leidenschaften. So ist zum Beispiel Höflichkeit ein kultureller Mechanismus, mit dem man Distanz wahrt und die Empfindlichkeiten anderer pauschal abfängt. Wenn dieser Mechanismus nicht mehr funktioniert, rücken sich die Leute gegenseitig auf den Leib, werden aggressiv und fühlen sich ständig verletzt – me too!

Wir befinden uns also in einer Phase der Entsublimierung und müssen überlegen, wie wir den Rückweg zur Kultur finden. Den Weg heraus aus der Wutspirale, die sich immer mehr dem Extremwert Bürgerkrieg nähert, werden wir nur einschlagen können, wenn es uns gelingt, Hass und Wut wieder zu sublimieren. Das bedeutet wohlgemerkt nicht, dass aus persönlicher Feindschaft Liebe, sondern aus blindem Hass artikulierte Kritik wird. Dazu gehört, dass man nicht »ad hominem« argumentiert, das heißt niemanden in einer Diskussion persönlich angreift.

Kultiviert ist man nur, wenn man den anderen nicht als Feind, sondern als Konkurrenten oder Diskussionsgegner versteht. Deshalb geht es in unserer emotional überhitzten, hysterischen Gegenwart nicht um die Scheinalternative: spalten oder versöhnen. Stattdessen geht es darum, wieder das Streiten zu lernen. Denn das war eine der tiefsten Einsichten des Soziologen und Philosophen Georg Simmel: Nicht der Konsens, sondern der Streit hält die Gesellschaft zusammen. Dabei darf es durchaus polemisch zugehen, aber niemals unhöflich.

Freud meinte ja, dass wir an einem Unbehagen in der Kultur leiden, weil sie uns ein Übermaß an Triebverzicht abfordert. Aber dieses Unbehagen zu ertragen, ist der Preis, den wir für die Disziplin der Freiheit und für reale Friedlichkeit zahlen müssen. Früher gehörte das zu den selbstverständlichen Aufgaben der Erziehung und Bildung. Höflichkeit und eine habituelle Freundlichkeit kann man nämlich lernen. Das Haus Axel Springer prägte 1948 den Slogan: Seid nett zueinander. Darüber haben sich damals viele Intellektuelle lustig gemacht. Aber es ist der beste Rat, den man unserer Gesellschaft heute geben kann.

Weiße Lügen

Der Hass ist wie das Böse so alt wie die Menschheit. Es gibt also keinen Grund für Kulturpessimismus: Wir sind nicht schlimmer geworden. Aber der alte Hass hat durch die neuen Medien eine neue Sichtbarkeit gewonnen. Wie oft möchte man seiner Wut freien Lauf lassen, reißt sich dann aber doch zusammen. Eine interessante alltägliche Ausnahme davon bietet uns das Autofahren. Da kann man dem unfähigen anderen dann doch durch die Windschutzscheibe unhörbar zurufen: Penner, Idiot! Oder gar den berühmten Mittelfinger zeigen. Die Begegnung dauert ja nur eine Zehntelsekunde. Genau denselben Enthemmungseffekt haben die Sozialen Medien.

Der griechische Philosoph Platon meinte einmal: Wir sind alle Mörder – aber im Traum. Nur einige wenige tragen diesen Hass dann in die Wirklichkeit. Und offensichtlich versetzen uns die Medien in eine Traumzeit, die vor allem von Prominenz bestimmt wird. Seit es Massenmedien, aber vor allem seit es Soziale Medien gibt, fühlen sich viele Menschen mit den Berühmten, Erfolgreichen und Mächtigen auf Augenhöhe. Prominenz provoziert »Hater«. Denn der »Hater« ist ein Niemand, ein Verlierer, ja oft ein Wahnsinniger. Auch er ist so alt wie die Menschheit. Aber heute ist er nicht mehr allein. Das Internet hat den Verlierern dieser Welt zum ersten Mal die Chance eröffnet, sich zu organisieren. Ein Verrückter war früher ein Sonderling, ein Außenseiter der Gesellschaft. Heute findet er seinesgleichen massenhaft im Internet. Jeder Wahnsinn hat seine Website.

Wenn man sich das klar macht, wird auch deutlich, wie eng das Thema Hass mit dem Thema Lüge verzahnt ist. Und es wird auch klar, warum die Kräfte der Aufklärung hier vergeblich arbeiten. Wer heute gegen »Fake News« kämpft, muss an die Idee der Objektivität appellieren. Aber das ist problematischer denn je. In den goldenen Zeiten der Aufklärung war man sich noch sicher, dass man Ideologien entlarven und den betrügerischen Schein durch die Wahrheit ersetzen kann. Doch im Zeitalter der Informationsüberlastung fehlt uns die Zeit zur Prüfung. Was der Sozialphilosoph Jürgen Habermas einmal die neue Unübersichtlichkeit nannte, ist zum Normalfall geworden. Die Welt ist hochkomplex, hochgeschwind und unprognostizierbar. Wie soll man sich da eine eigene Meinung bilden?

An der Flüchtlingskrise können wir uns dieses Problem genauso gut klarmachen wie an den Corona-Maßnahmen oder der galoppierenden Inflation. Alles scheint ungewiss – sicher ist nur das Gefühl des Kontrollverlusts. Was soll in diesem Zusammenhang nun aber »objektive Berichterstattung« heißen? So tritt die Glaubwürdigkeit einer Informationsquelle an die Stelle des unmöglichen Realitätstests. Das gilt übrigens auch für die »Nachrichten aus aller Welt« – man denke nur an den Ukraine-Krieg. Immer häufiger haben die Medien gar keinen Reporter mehr vor Ort und müssen sich dann auf das Material der beteiligten Konfliktparteien verlassen. Im Fernsehbild sieht man dann zum Beispiel die Einblendung »Quelle: YouTube«. Damit gesteht man immerhin ein, dass man von Objektivität meilenweit entfernt ist.

Der Soziologe Niklas Luhmann bemerkte einmal, dass wir unser Wissen von der Welt den Massenmedien verdanken. Um dann aber sarkastisch hinzuzusetzen, dass es sich eigentlich um ein Nichtwissen handelt, das nur deshalb nicht als solches erkannt wird, weil wir immer wieder durch neue Informationen überflutet werden. Dass die Nachrichten mit ihren Fakten nicht Wissen, sondern Nichtwissen produzieren, ist zunächst einmal eine steile These, die provozieren will. Aber sie bekommt doch einen guten Sinn, wenn man bedenkt, was Informationen eben nicht liefern: Kontext. Nur freie Assoziation wäre in der Lage, in den fünfzehn Minuten »Tagesschau« einen Zusammenhang zu sehen. Aufklärung jedenfalls ist das nicht.

Deshalb kann es nicht erstaunen, dass die Menschen auf der Suche nach Orientierung nicht nach Fakten, sondern nach Fiktionen verlangen. Und hier wird eine zweite Naivität der Aufklärung deutlich, der Glaube nämlich, dass die Menschen die Wahrheit suchen und den Schein fliehen. Der Kulturhistoriker Johan Huizinga hat die extreme Gegenthese gewagt: Wir wollen betrogen werden. Das klingt in den Ohren eines Aufklärers natürlich ungeheuerlich. Aber man muss nur an die Werbung denken, um sofort zu verstehen, was gemeint ist. Kein halbwegs normaler Mensch glaubt wirklich, dass es Cremes gibt, die Falten und Orangenhaut beseitigen, oder dass es Tinkturen gibt, die Haarausfall stoppen. Aber es ist schön, sich eine Zeit lang der Illusion hinzugeben. Man will sich selbst täuschen und ist der Werbung dankbar dafür, dass sie dabei hilft.

Und genau das machen sich die Produzenten von »Fake News« zu nutze. Falschmeldungen wirken nämlich auch dann, wenn man weiß, dass sie falsch sind. Das markiert die Grenze jeder möglichen Aufklärung. Wenn jemand betrogen werden will, um bessere Empfindungsbedingungen zu haben, kann man ihm nicht mit besseren Argumenten kommen. Und gegenüber dem Chaos der Fakten aus aller Welt hat der Wahn den Vorteil, Ordnung zu schaffen.

Es bleibt immer etwas hängen, sagt man zu Recht. Gemeint ist, dass das Gerücht und die üble Nachrede auch dann wirken, wenn sie durch Fakten widerlegt sind. Wir haben Schwierigkeiten, das zu begreifen. Denn wir verstehen Kommunikation als Informationsübertragung. Doch das ist nur ein seltener Spezialfall. Normalerweise läuft Kommunikation über Gefühle. Wie jeder erfahrene Politiker weiß, wirken Mimik, Gesten und Stimmfall stärker als Argumente. Der Verhaltenswissenschaftler Konrad Lorenz spricht in diesem Zusammenhang sehr gut von »Nachrichtenübermittlung durch Stimmungsübertragung«.

Hinzu kommt, dass die neuen Medientechniken der Simulation, der Virtual Reality und des Remix’ unser Wirklichkeitsbewusstsein nachhaltig verunsichern. Symptome dieser Krise der Echtheit gab es ja schon früher. Man denke nur an Konrad Paul Kujaus »Hitlertagebücher«, an Tom Kummers gefälschte Interviews und den Relotius-Skandal des SPIEGEL. Sie wurden in der Stimmung aufgenommen: Wenn es schon nicht wahr ist – es hätte so sein können. Und derartiges lässt vermuten, dass es in der hitzigen Diskussion um »Fake News« und »Lügenpresse« nur um die Spitze des Eisbergs geht. Denn logischerweise kennen wir ja nur die misslungenen Fälschungen.

Die in den Feuilletons der sogenannten Qualitätspresse vorgetragene Polemik gegen das Post-Faktische führt da kaum weiter. Sie ist nämlich im Mythos von den unbezweifelbaren Fakten befangen. Fakten, Daten und Informationen gibt es aber nicht einfach – sie werden gemacht. Die Fakten der Presse und des Fernsehens sind immer das Produkt von Auswahlprozessen, die auch anders hätten ausfallen können. Und deshalb gibt es natürlich immer auch »alternative Fakten«. Dass dieser Begriff vielleicht nur geprägt wurde, um zu betrügen, ändert daran gar nichts.

Ähnlich steht es mit dem Begriff der Echokammer. Er bringt sehr gut zum Ausdruck, dass Menschen dazu neigen, sich nur noch den Informationen auszusetzen, die ihre Vorurteile bestätigen. In den Sozialen Medien können sich diese Treibhäuser der Weltfremdheit besonders leicht einrichten. Aber Echokammern gibt es nicht nur bei den sogenannten Rechtspopulisten, sondern auf beiden Seiten des politischen Spektrums. Und das ist die Signatur des 21. Jahrhunderts: Rechte und Linke vereint im Kampf gegen die Aufklärung.

Das böse Wort von der »Lügenpresse« ist sicher ein Ausdruck von Verfolgungswahn. Und doch verweist es auf ein objektives Problem. Schon Goebbels wusste, dass Lügen zu kurze Beine haben und dass man die Massen deshalb besser mit Informationen manipuliert. Propaganda heißt also nicht nur Gehirnwäsche und Zensur. Moderne, westliche Regierungen zensieren nicht nur im klassischen Stil, sondern sie kontern Fakten mit Fakten. Dazu gehören auch das Verschweigen und das Übertreiben. Und dazu gehören vor allem auch die sogenannten »weißen Lügen« derer, die es gut mit uns meinen. Sie sind das Medium, in dem die politische Klasse und die Medienklasse gemeinsam den Mainstream kanalisieren. Weiße Lügen sind gut gemeinte Übertreibungen, mit denen man die unmündigen Bürger in die richtige Richtung schubst, also die Propaganda der Gutmenschen.

Für dieses Problem gibt es eine Urszene. Im Rückblick auf die Überdramatisierung der AIDS-Gefahr durch die englische Regierung schrieb Mark Lawson am 24. Juni 1996 im Guardian: »the government has lied and I am glad«. Zu Deutsch: Die Regierung hat gelogen, und ich freue mich darüber. Deutlicher geht es nicht. Da die Menschen nicht wissen, was gut für sie ist, dürfen die paternalistisch Regierenden und die Volkspädagogen der Massenmedien hin und wieder auch eine kleine Notlüge anbringen, um uns den rechten Weg zu weisen. Und um eine solche weiße Lüge handelt es sich schon, wenn eine Redaktion sich entscheidet, bestimmte Nachrichten nicht zu bringen, weil sie vielleicht Fremdenfeindlichkeit, Europa-Skepsis oder Impfunwilligkeit auslösen könnten.

Haltungsjournalismus

Seit Jahrzehnten haben die deutschen Linksintellektuellen keine wirklich zündende politische Idee mehr gehabt. Und wenn man theoretisch nicht mehr weiterweiß, wird man moralisch aggressiv. Die Erben der Achtundsechziger, die der Berliner Philosoph Peter Furth »Wächtergeneration« genannt hat, ersetzen das Denken durch Moralismus und Sprachhygiene. Die daraus resultierende Politik der Heuchelei begünstigt die Moralbonzen und Oberlehrer. Vor allem die Steigbügelhalter des Philosophen der Re-Education, den die Wochenzeitung Die Zeit einmal die »Weltmacht Habermas« genannt hat, tun sich hier gerne hervor. Doch dessen »herrschaftsfreier Diskurs« ist längst in eine Sprachdiktatur der Politischen Korrektheit umgeschlagen. Politische Korrektheit ist die Macht des Konformismus, die andere zum Heucheln zwingt.

Die Linksintellektuellen besetzen die Stellen der sozialen Kontrolle dessen, was als diskutabel gilt. Diese Priester der Politischen Korrektheit erzeugen ein Klima allgemeiner Verunsicherung, indem sie ständig das akzeptable Vokabular verändern. Diese »Orgie des Umtaufens«, die der Anglist Dietrich Schwanitz schon vor Jahrzehnten beobachtet hat, lässt das Hamsterrad der Euphemismen immer schneller laufen: Aus dem Neger wird der Schwarze, der dann aber Afro-Amerikaner genannt werden muss. Und wer mit »Coloured People« glaubt, alles politisch korrekt gemacht zu haben, muss sich belehren lassen, dass es »People of Colour« heißt. Wer das Monopol der richtigen Wörter hat, entscheidet, was rassistisch, sexistisch und transphob ist. Damit koppelt sich die Moral vom gesunden Menschenverstand ab. Und beflissen helfen dabei die öffentlich-rechtlichen Massenmedien als Organe der Gesinnungskontrolle. Das ist eine geistige Klimakatastrophe, die viel schlimmer ist als die ökologische.

Die Meinungsfreiheit ist in Gefahr, wenn Journalisten damit beginnen, sich nach der politischen Opportunität bestimmter Nachrichten zu fragen. Das endet nämlich rasch in der Selbstzensur. Der Politischen Korrektheit geht es ja nicht darum, eine abweichende Meinung als falsch zu erweisen, sondern den abweichend Meinenden als unmoralisch zu verurteilen. Sie setzt sich zusammen aus Sprachhygiene und einem blasierten, selbstgerechten Moralismus, aus Heuchelei, Sozialkitsch und einer politisch gefährlichen Perversion der Toleranz. Der Ton wird übrigens immer schärfer. Man kritisiert abweichende Meinungen nicht mehr, sondern hasst sie einfach. Wer widerspricht, wird nicht widerlegt, sondern zum Schweigen gebracht. Auch die politisch Korrekten sind »Hater«.

Was also tun? Facebook kooperiert mit Correctiv einem schon mehrfach preisgekrönten gemeinnützigen Recherchezentrum, das sich als unabhängiger Fakten-Checker versteht. Eine nette Geste. Aber bei Lichte betrachtet, ist es natürlich nicht möglich, die Kommunikation der sozialen Netzwerke zu überwachen. Und selbst wenn es möglich wäre: Wer entscheidet darüber, wo eine Hassrede beginnt? Wer entscheidet darüber, welche der doch immer auch strittigen Tatsachenbehauptungen wahr oder falsch ist? Wie will man gerade in politischen Zusammenhängen Tatsachen und Meinungen auseinanderhalten? Und glaubt man ernsthaft, dass diejenigen, die gegen die »Lügenpresse« kämpfen, einem Faktencheck glauben?

Die Institutionalisierung eines Korrektivs scheint also keine Lösung des Problems zu sein. Aber ist es überhaupt ein Problem? Müssen wir tatsächlich befürchten, dass die Welt aus den Fugen geht, wenn die Leute nicht mehr die Süddeutsche und den SPIEGEL lesen, sondern ihre Informationen aus den Sozialen Medien beziehen? Vielleicht handelt es sich ja nur um den Schwanengesang der klassischen Leitmedien. Vielleicht haben die Leute ja recht, wenn sie vom Heute-Journal und den Tagesthemen nicht mehr die Wahrheit erwarten. Jedenfalls spricht nichts in unserer Gesellschaft dafür, dass der gesunde Menschenverstand und die Urteilskraft der Leute gelitten hätten.

Wenn die klassischen Massenmedien tatsächlich etwas zur Orientierung der Bürger beitragen wollen, dann sollten sie ihre Nachrichten und Berichte von regierungsnahen Meinungen und volkspädagogischen Intentionen befreien. Sie müssen einen Weg heraus aus der Sackgasse der Politischen Korrektheit und ihrer Verbalexorzismen finden. Die größte Gefahr für die Wahrheit ist nämlich nicht die Lüge, sondern der »Bullshit«. Und die größte Gefahr für die Demokratie ist nicht der Hass der radikalen Verlierer, sondern das Schweigen der vielen, die sich vom Paternalismus der politisch-medialen Elite bevormundet fühlen.

Was den klassischen Massenmedien wie den neuen Sozialen Medien heute am meisten fehlt, ist der Geist der Liberalität. Liberal ist ein Mensch, der nicht dem Impuls nachgibt, denjenigen, der eine andere Meinung hat, zu maßregeln oder zu bestrafen. Wenn es überhaupt noch ein Ethos des Journalismus gibt, dann müsste es durch genau diesen Geist der Liberalität definiert sein. Nur so werden die klassischen Massenmedien sich in der digitalen Welt behaupten können. Vor allem dürfen sie nicht weiterhin den Eindruck erwecken, ihr Kampf gegen Hassrhetorik und »Fake News« sei in Wahrheit aus einem Ressentiment gegen den enormen Erfolg der Sozialen Medien geboren. Das weckt nämlich leicht den Verdacht, dass die beschworene Gefahr durch »Fake News« selbst eine Fälschung ist. Und dass es sich um den verzweifelten Abwehrkampf eines zum Untergang verurteilten Journalismus handelt.

Belehren und Beschimpfen sind die heute vorherrschenden Kommunikationsformen in Medien und Politik. Immer mehr Journalisten missverstehen sich nämlich als politische Aktivisten und willige Helfer der Regierungspropaganda. Das kann man in der ganzen westlichen Welt beobachten. Aber vor allen Dingen deutsche Journalisten präsentieren sich gerne als Oberlehrer der Nation. Bei den großen Themen unserer Zeit wie Massenmigration, Klimawandel und Corona hat sich ja in dramatischer Weise gezeigt, dass sich Journalisten und leider auch Wissenschaftler auf das Feld der Parteipolitik verirrt haben. Und auf diesem Feld herrscht nicht der zwanglose Zwang des besseren Arguments, auf das der Philosoph Jürgen Habermas seine Hoffnung setzt, sondern der Kampf. Für den Journalismus ist das eine Sackgasse, für die Wissenschaft eine Katastrophe.

Die Politik hält sich »Haltungsjournalisten« und Gefälligkeitswissenschaftler, um sich gegen jeden echten Dissens zu immunisieren. Das hat der Fall Sarrazin deutlich gezeigt. Weil seine Bücher nicht auf Regierungslinie lagen und die Tabus der deutschen Migrationspolitik verletzten, wurden sie pauschal verurteilt, ohne dass sich einer der politischen oder journalistischen Meinungsführer die Mühe einer sachlichen Kritik gemacht hätte. Nichts fürchtet die Regierung einer modernen Massendemokratie nämlich mehr als einen selbständig denkenden Menschen. Weil echte Aufklärung durch Pro und Contra das Meinungsmonopol der politisch Korrekten gefährden würde, bekämpfen sie abweichende Meinungen mit dem Begriff »false balance«. Gemeint ist die Balance zwischen Pro und Contra. Die politisch-mediale Elite geht also davon aus, dass es eine falsche Vorstellung von Objektivität ist, die Gegenmeinung zu Wort kommen zu lassen, wenn die kompakte Majorität die »richtige« Meinung vertritt.

Das kann man gut in den Talkshows beobachten, in denen in der Regel drei, vier Gäste von der »guten« Seite dem Außenseiter, der eine andere Meinung hat, ständig ins Wort fallen, um zu verhindern, dass ein Argument entwickelt werden kann. Außer von der bürgerlichen Bedingung der Höflichkeit ist die Möglichkeit einer vernünftigen Diskussion nämlich auch von einer Zeitbedingung abhängig. Um ein Argument zu entwickeln, braucht man einen langen Atem, und das ist natürlich nicht möglich, wo die Kurzatmigkeit der »Soundbites« die Norm ist. Wer nur Sekunden hat, um seine Position zu vertreten, muss die Argumente durch Gefühle ersetzen. Zeitknappheit verführt zur Aggressivität; jeder Satz wird dann zum Präventivschlag.

Die Versklavung der eigenen Meinung

In der politischen Topographie der Mainstream-Medien sind die Linken die neue Mitte und alles, was rechts davon liegt, gilt als rechtsextrem. Verschärfend kommt hinzu, dass das politische »links« und »rechts« durch das moralische »gut« und »böse« überformt wird. Dem entspricht genau, dass wir es heute auch mit einer modernen Variante des antiken Zensors zu tun haben. Das hat uns die »Cancel Culture« beschert. Sie herrscht in den Bildungsinstitutionen genauso unumschränkt wie in den öffentlich-rechtlichen Medien. Das hat für jeden Bürger zur Folge, dass nein zu sagen immer teurer wird. Es geht deshalb vor allem auch um Mut und Angst. Früher fürchteten sich die Menschen, das Unwahre zu sagen. Heute fürchten sie sich nur noch davor, mit ihrer Meinung allein zu bleiben.

Für einen guten Europäer gibt es eigentlich nichts Wertvolleres als die Meinungsfreiheit. Das Recht auf Meinungsfreiheit und Redefreiheit stellt aber gerade die abweichende Meinung, den Dissens, ins Zentrum der Freiheitsidee. Freiheit ist das Recht des anderen, zu sagen und zu tun, was mir missfällt. Von dieser Einsicht ist die politisch-mediale Elite unendlich weit entfernt. Abweichende Meinungen werden heute schärfer sanktioniert als abweichendes Verhalten. Diese Sanktionen laufen zumeist nicht über Diskussionen, sondern über Ausschluss.

In der massendemokratischen Öffentlichkeit können sich die Meinungen der Einzelnen kaum zur Geltung bringen. Umso stärker ist der Druck der öffentlichen Meinung auf den Einzelnen. Und öffentlich heißt eben genau die Meinung, die man ohne Isolationsangst aussprechen kann. All das schüchtert ein. Aus Angst davor, sich mit der eigenen Meinung zu isolieren, beobachtet man ständig die öffentliche – was »man« so sagt und meint. Doch das, was man so sagt, ist zumeist die Meinung gut artikulierter Minderheiten. Wir fürchten also nicht, eine falsche Meinung zu haben, sondern mit ihr allein zu stehen. Die Isolationsangst regiert die Welt.

Dass die Menschen sich ihres eigenen Verstandes ohne Anleitung anderer bedienen würden, wenn man sie erst einmal von den Dogmen der Religion und den Vorurteilen der Tradition befreit hat, war der Trugschluss der Aufklärung. Gerade der moderne Konformismus des Denkens ist eine Konsequenz der Entmythologisierung, der Entzauberung der Welt – also eine Nebenwirkung der Aufklärung. Wir sagen, was man sagt, weil wir uns nicht mehr vom Gesetz, der Sitte und der Tradition getragen fühlen. Diese modernitätsspezifische Anomie führt also geradewegs zum Konformismus: Die Emanzipation der Vernunft hat uns der öffentlichen Meinung versklavt. Und es ist vor allem die Emanzipation der Vernunft von der Tradition, die ein Orientierungsvakuum geschaffen hat, das die Gewalt der öffentlichen Meinung unwiderstehlich macht. Alle reden von Individualität, Diversität und Selbstverwirklichung – und alle denken dasselbe. So entsteht der Konformismus des Andersseins. Sie alle sind Schauspieler des Nonkonformismus auf der Bühne des Konformismus.

Modern entsteht Konformismus durch Informationskaskaden, also durch soziale Mimesis. Wenn man nicht weiß, was man tun soll, ist es durchaus lebensklug, sich an dem zu orientieren, was die anderen tun. Die Menschen verlassen sich dann nicht auf ihre privaten Meinungen und Informationen, sondern schließen sich anderen an. Das geschieht umso schneller, je enger die Gruppenbindungen sind. Diese Informationskaskaden nehmen leicht die Gestalt von sozialen Kaskaden an – wenn etwa Menschen Angst vor XY bekommen, weil andere Menschen Angst vor XY zeigen.