Der Atem einer anderen Welt - Seanan McGuire - E-Book

Der Atem einer anderen Welt E-Book

Seanan McGuire

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ausgezeichnet mit dem Hugo Award, dem Nebula Award und dem Locus Award. Für alle, die ihr Herz an eine andere Welt verloren haben – die mehrfach preisgekrönte Fantasy-Novelle von Seanan McGuire »Every Heart a Doorway« zusammen mit den beiden Folgebänden »Down Among the Sticks and Bones« und »Beneath a Sugar Sky« endlich auf Deutsch. Kinder und Jugendliche sind zu allen Zeiten in Kaninchenlöcher gefallen, durch alte Kleiderschränke ins Zauberland vorgestoßen oder auf einer Dampflok in magische Welten gereist. Aber … was geschieht eigentlich mit denen, die zurückkommen? Mit Nancy, die die Hallen der Toten besucht hat und den Rest ihres Lebens am liebsten still wie eine Statue verbringen würde. Und mit Christopher, den Jungen mit der Knochenflöte, der die Toten für sich tanzen lassen kann. Sumi, die das Chaos braucht wie die Luft zum Atmen, weil sie aus einer Unsinnswelt kommt. Oder Jack & Jill, die mit Vampiren und Wissenschaftlern unter einem blutig-roten Mond aufgewachsen sind. Als sie sich in »Eleanor Wests Haus für Kinder auf Abwegen« treffen, ahnen sie nicht, dass ihnen ihr größtes Abenteuer noch bevorsteht ... Ein Buch für alle Fans von Ransom Riggs, C.S. Lewis und Philip Pullman. »So unfassbar gut, dass es weh tut.« Charlie Jane Anders, io9 »Eine der außergewöhnlichsten Geschichten, die ich je gelesen habe.« V.E. Schwab »Seanan McGuire ist eine der klügsten Autorinnen weit und breit. Mit ›Der Atem einer anderen Welt‹ beweist sie, dass ihr Herz genauso groß ist wie ihr Verstand scharf.« Charlaine Harris

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 561

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Seanan McGuire

Der Atem einer anderen Welt

Roman

Aus dem Amerikanischen von Ilse Layer

FISCHER E-Books

Für die Unartigen

Der Atem einer anderen Welt

Teil einsDie goldenen Nachmittage

Auf Abwegen

Die Mädchen waren bei den Aufnahmegesprächen nie anwesend, sondern nur ihre Eltern, Erziehungsberechtigten und verwirrten Geschwister, die ihnen so gern helfen wollten, aber nicht wussten wie. Den zukünftigen Schülerinnen sollte es erspart bleiben, dazusitzen und zuzuhören, wie die Menschen, die sie auf der ganzen Welt – zumindest dieser ganzen Welt – am meisten liebten, ihre Erinnerungen als Einbildung abtaten, ihre Erfahrungen als Hirngespinste bezeichneten, ihr Leben als hartnäckige Krankheit begriffen.

Außerdem hätten sie schwerlich Vertrauen zu der Schule gefasst, wenn sie Eleanor bei der ersten Begegnung in seriöses Grau und Zartlila gekleidet samt dazu passender Frisur gesehen hätten, wie eine dieser dickfelligen älteren Tanten, die es nur in Kindergeschichten wirklich gab. Die wahre Eleanor war ganz und gar nicht so. Es hätte alles nur noch schlimmer gemacht, sie da sitzen zu sehen und ernsthaft sagen zu hören, ihre Schule würde das, was in den Köpfen all der verlorenen Lämmchen durcheinandergeraten war, wieder in Ordnung bringen. Dass sie die beschädigten Kinder zu sich nehmen und wieder heil machen könne.

Natürlich log Eleanor, aber woher hätten ihre angehenden Schülerinnen das wissen sollen? Deshalb verlangte sie ein vertrauliches Gespräch mit deren Erziehungsberechtigten und verkaufte ihre Dienstleistungen mit der Gezieltheit und dem Geschick einer begnadeten Trickbetrügerin. Hätten sich diese Erziehungsberechtigten jemals zum Erfahrungsaustausch zusammengefunden, wäre ihnen aufgegangen, dass Eleanor Wests Auftreten bestens einstudiert und scharf geschliffen war wie eine Klinge.

»Das ist eine seltene, aber nicht ganz ungewöhnliche Störung, die bei jungen Mädchen auf der Schwelle zum Frausein auftreten kann«, sagte sie immer und suchte behutsamen Augenkontakt mit den verzweifelten, überforderten Eltern ihres neuesten weltenreisenden Mädchens. Wenn es um einen Jungen ging – was selten vorkam –, wandelte sie ihre Worte ab, aber nur so weit, wie es die Situation verlangte. Sie hatte an dieser Nummer lange gefeilt und wusste sich die Ängste und Wünsche der Erwachsenen zunutze zu machen. Sie wollten das Beste für ihre Schützlinge, genau wie Eleanor West selbst, nur waren ihre Vorstellungen davon, was »das Beste« bedeutete, sehr unterschiedlich.

Zu den Eltern sagte sie: »Das sind Trugbilder, und einige Zeit außer Haus ist oft sehr heilsam.«

Zu den Onkeln und Tanten sagte sie: »Es ist nicht Ihre Schuld, und ich kann die Lösung sein.«

Zu den Großeltern sagte sie: »Lassen Sie mich helfen. Bitte lassen Sie mich Ihnen helfen.«

Nicht jede Familie stimmte ihr zu, dass ein Internat die beste Lösung sei. Etwa eine von drei potentiellen Schülerinnen ging ihr durch die Lappen, und Eleanor trauerte um sie, denn ihr Leben würde unnötig schwer werden. Groß war ihre Freude deshalb über diejenigen, die ihrer Obhut anvertraut wurden. Solange sie bei ihr waren, hatten sie wenigstens jemanden um sich, der Bescheid wusste. Selbst wenn sie nie Gelegenheit bekämen, nach Hause zurückzukehren, waren sie in Gesellschaft von jemandem, der sich auskannte, sowie von Gleichaltrigen mit ähnlichen Erfahrungen, was von unschätzbarem Wert war.

Eleanor West verbrachte ihre Tage damit, ihnen allen zu geben, was sie selbst nie bekommen hatte. Dies, so hoffte sie, würde ihr irgendwann die Rückkehr an den Ort ermöglichen, an den sie gehörte.

1Ein neues Zuhause

Die Angewohnheit zu erzählen, aus dem Gewöhnlichen etwas Wundersames zu formen war schwer abzulegen. Nach einer Zeit in Gesellschaft von sprechenden Vogelscheuchen oder verschwindenden Katzen kam das Erzählen wie von selbst; es war eine Methode, in dieser Welt verankert zu bleiben und den feinen Faden der Kontinuität zu bewahren, der sich noch durch die sonderbarsten Lebensläufe zog. Indem man das Unmögliche erzählte, es in eine Geschichte verwandelte, konnte man es beherrschen. Also:

Das Herrenhaus stand in der Mitte eines weitläufigen Anwesens. Der Rasen war makellos grün, die Bäume, die das Gebäude umgaben, vorbildlich gestutzt, und der Garten konnte mit einer Fülle an Farben aufwarten, die alle zusammen normalerweise nur in einem Regenbogen oder in der Spielzeugkiste eines Kindes vorkommen. Das schmale schwarze Band der Zufahrt beschrieb vom weit entfernten Tor zahllose Windungen, um vor dem Herrenhaus selbst eine Schleife zu bilden, die am Fuß der Veranda elegant in einen etwas breiteren Wartebereich mündete. Dort fuhr ein einzelner Wagen vor, der mit seinem stillosen Gelb in dieser sorgsam arrangierten Szenerie irgendwie schäbig wirkte. Die hintere Fahrgasttür wurde zugeschlagen, dann fuhr der Wagen wieder davon und ließ ein Mädchen im Teenageralter zurück.

Sie war groß und gertenschlank und konnte nicht älter als siebzehn sein; um Augen und Mund war immer noch ein Rest Unausgeformtes, das sie zu einem Work in progress machte, dazu bestimmt, von der Zeit vollendet zu werden. Sie trug Schwarz – schwarze Jeans, schwarze Stiefeletten mit winzigen schwarzen Knöpfen, die wie Soldaten von den Zehen bis zu den Waden aufgereiht waren. Und sie trug Weiß – ein weites Trägershirt, falsche Perlenketten um die Handgelenke. Um den Ansatz ihres Pferdeschwanzes hatte sie ein Band in der Farbe von Granatapfelkernen geschlungen. Ihre Haare waren knochenweiß, mit schwarzen Schlieren durchzogen, wie von auf Marmorboden vergossenem Öl, und ihre Augen fahl wie Eis. Sie blinzelte im hellen Tageslicht. Allem Anschein nach war es eine ganze Weile her, seit sie das letzte Mal an der Sonne gewesen war. Ihr kleiner Rollkoffer war hellrosa und mit Gänseblümchen gemustert. Sie hatte ihn höchstwahrscheinlich nicht selbst gekauft.

Das Mädchen hob die Hand, um ihre Augen abzuschirmen, und betrachtete das Herrenhaus, stutzte, als sie das Schild am Dachvorsprung entdeckte. Da stand in großen Lettern: ELEANOR WESTS HAUS FÜR KINDER AUF ABWEGEN. Darunter, etwas kleiner: KEINE HAUSTÜRGESCHÄFTE, KEINE BESUCHER, KEINE ABENTEUER.

Das Mädchen blinzelte überrascht, ließ die Hand sinken und ging langsam auf die Stufen zu.

 

Im zweiten Stock des Herrenhauses ließ Eleanor West die Gardine los und wandte sich zur Tür, während der Stoff wieder in seine Ausgangsposition zurückkehrte. Sie wirkte wie eine gut gealterte Frau Ende sechzig, dabei ging sie in Wahrheit auf die hundert zu: Reisen durch die Länder, die sie früher mehrfach besucht hatte, brachten gern die innere Uhr durcheinander, so dass die Zeit nur schwer wieder richtig Zugriff auf den Körper bekam. An manchen Tagen war sie dankbar für ihr langes Leben, für die Möglichkeit, so vielen Kindern zu helfen, die sie nie hätte heranwachsen sehen, wenn sie nicht jene Türen geöffnet hätte; wenn sie sich nicht selbst dafür entschieden hätte, vom Weg abzuweichen. An anderen Tagen fragte sie sich, ob diese Welt jemals herausfinden würde, dass die kleine Ely West, das Mädchen, das vor so langer Zeit auf Abwege geraten war, noch lebte – und was dann mit ihr geschehen würde.

Doch noch war ihr Rücken stark und ihre Augen so klar wie an dem Tag, an dem sie als Siebenjährige auf dem Anwesen ihres Vaters zwischen zwei Baumwurzeln eine Öffnung entdeckt hatte. Wenn ihre Haare jetzt weiß und ihre Haut weich vor Falten und Erinnerungen waren, machte das gar nichts. Um ihre Augen herum war noch immer etwas Unfertiges; sie war noch nicht vollendet. Sie war eine Geschichte, kein Epilog. Und wenn sie sich – während sie die Treppe hinunterstieg, um ihrem neu eingetroffenen Schützling entgegenzugehen – dafür entschied, es auf ein weiteres Kapitel ankommen zu lassen, tat das niemandem weh. Schließlich war die Angewohnheit zu erzählen schwer abzulegen.

Manchmal war es alles, was ein Körper hatte.

 

Nancy stand wie angewurzelt in der Mitte des Empfangsraums, die Hand um den Griff ihres Koffers geschlossen, während sie sich umblickte und zu orientieren versuchte. Sie war nicht sicher, was sie von der »besonderen Schule«, auf die ihre Eltern sie schickten, erwartet hatte, aber ganz gewiss nicht so ein … elegantes Landhaus. Die Wände waren mit einem altmodischen Muster aus Rosen und verschlungenen Klematisranken tapeziert, und die wenigen Möbelstücke in diesem bewusst sparsam eingerichteten Entree waren allesamt Antiquitäten – edles, poliertes Holz mit Messingbeschlägen, das mit dem geschwungenen Treppengeländer harmonierte. Das Parkett schimmerte rötlich, und als sie zur Decke hochsah – nur mit einer Bewegung der Augen, ohne das Kinn zu heben –, entdeckte sie einen kunstvollen Kronleuchter, der einer blühenden Blume nachempfunden war.

»Den hat eine ehemalige Schülerin angefertigt«, erklang eine Stimme. Nancy riss sich vom Anblick des Kronleuchters los und sah zur Treppe.

Die Frau, die heruntergestiegen kam, war mager, so wie es ältere Frauen manchmal waren, aber ihr Rücken war gerade, und die Hand auf dem Geländer schien dieses nur als Führung zu benutzen, nicht als Stütze. Ihre Haare waren so weiß wie Nancys eigene, jedoch ohne die Schlieren von trotzigem Schwarz, und mittels Dauerwelle zu einem Pilzkopf frisiert, wie eine Pusteblume mit weißen Schirmchen. Sie hätte durch und durch seriös ausgesehen, hätte sie nicht eine neonorangefarbene Hose und einen handgestrickten Pullover aus Regenbogenwolle getragen, dazu eine Halskette aus Halbedelsteinen in einem Dutzend sich beißender Farben. Nancy registrierte, wie sich ihren größten Bemühungen zum Trotz ihre Augen weiteten, und hasste sich dafür. Ihre Reglosigkeit kam ihr mit jedem Tag mehr abhanden. Bald würde sie genauso hibbelig und haltlos sein wie alle anderen Lebenden, und dann würde sie nie wieder nach Hause zurückfinden.

»Er ist fast ganz aus Glas, natürlich bis auf die Teile, die nicht aus Glas sind«, sprach die Frau weiter, ohne sich an Nancys unverhohlenem Starren zu stören. »Ich weiß gar nicht genau, wie man so etwas herstellt. Wahrscheinlich indem man Sand zum Schmelzen bringt, oder? Die großen tränenförmigen Prismen in der Mitte habe allerdings ich beigesteuert. Ich habe sie alle zwölf selbst angefertigt. Darauf bin ich ziemlich stolz.« Die Frau machte eine Pause, offensichtlich in der Erwartung, dass Nancy etwas sagte.

Nancy schluckte. Ihre Kehle war in letzter Zeit so trocken, und nichts schien das staubige Gefühl vertreiben zu können. »Wenn Sie nicht wissen, wie man Glas herstellt, wie haben Sie dann die Prismen gemacht?«

Die Frau lächelte. »Aus meinen Tränen natürlich. Du kannst hier immer davon ausgehen, dass die einfachste Antwort auch die richtige ist, denn in den meisten Fällen wird das so sein. Ich bin Eleanor West. Willkommen in meinem Haus. Du musst Nancy sein.«

»Ja«, erwiderte Nancy zögernd. »Woher wissen Sie …?«

»Du bist die einzige Schülerin, die wir heute erwarten. Es gibt nicht mehr so viele von uns wie früher. Entweder werden die Türen rarer, oder es gelingt euch allen besser, nicht zurückzukommen. Und jetzt sei einen Moment still, damit ich dich anschauen kann.« Eleanor stieg die letzten drei Stufen herab und blieb vor Nancy stehen, musterte sie aufmerksam, bevor sie langsam im Kreis um sie herumging. »Hmm. Groß, dünn und sehr blass. Du musst an irgendeinem Ort ohne Sonne gewesen sein – aber auch ohne Vampire, nach deinem Hals zu urteilen. Jack und Jill werden sich schrecklich freuen, dich kennenzulernen. Sie haben die Nase voll von den süßen, sonnigen Welten der anderen Schüler.«

»Vampire?«, fragte Nancy verständnislos. »Die gibt’s doch gar nicht wirklich.«

»Nichts hiervon ist wirklich, Liebes. Nicht dieses Haus, nicht diese Unterhaltung, nicht wir beide, nicht einmal deine Schuhe – die sind, nebenbei bemerkt, schon seit mehreren Jahren aus der Mode, und falls du dich äußerlich wieder an deine Altersgruppe anzupassen versuchst oder deiner Trauer Ausdruck verleihen möchtest, sind sie kaum die beste Wahl. ›Wirklich‹ ist ein Schimpfwort, und ich wäre dir dankbar, wenn du es so wenig wie möglich benutzen würdest, während du unter meinem Dach wohnst.« Eleanor blieb wieder vor Nancy stehen. »Es sind die Haare, die dich verraten. Warst du in einer Unterwelt oder in einem Totenreich? In der Zukunft kannst du nicht gewesen sein. Von dort kommt niemand zurück.«

Nancy starrte sie nur entgeistert an, und ihr Mund bewegte sich lautlos, während sie die Sprache wiederzufinden versuchte. Die alte Frau sagte diese Dinge – diese grausamerweise unmöglichen Dinge – so beiläufig, als würde sie nach Nancys Impfpass fragen.

Eleanors Gesichtsausdruck verwandelte sich, wurde weich und bedauernd. »Oh, ich sehe, dass ich dich verärgert habe. Das passiert mir leider sehr schnell. Ich war sechsmal in einer Unsinnswelt, bevor ich sechzehn wurde, verstehst du? Irgendwann musste ich meine Besuche dort zwar einstellen, aber ich habe nie richtig gelernt, meine Zunge im Zaum zu halten. Du bist bestimmt müde von der Reise und gespannt, was hier passieren soll. Ist das so? Ich kann dir dein Zimmer zeigen, sobald ich weiß, wie ich dich einordnen soll. Das spielt bei Dingen wie der Unterbringung leider tatsächlich eine Rolle; man kann einen Unsinnsreisenden nicht mit jemandem zusammenstecken, der die Logik erkundet hat, außer man möchte gern der örtlichen Polizei erklären, warum sich unsere Schüler gegenseitig an die Kehle gehen. Sie behält uns durchaus im Auge, auch wenn wir sie normalerweise dazu bringen können, nicht so genau hinzusehen. Schließlich wollen wir unsere amtliche Zulassung als Schule behalten – wobei wir wahrscheinlich eher eine Art Sanatorium sind. Ich mag dieses Wort, du auch? ›Sanatorium‹. Es klingt so offiziell, ohne auch nur das Geringste zu bedeuten.«

»Ich verstehe kein Wort von dem, was Sie gerade gesagt haben.« Nancy schämte sich, dass sich ihre Stimme wie ein blechernes Piepsen anhörte, dabei war sie eigentlich stolz, dass sie überhaupt etwas über die Lippen gebracht hatte.

Eleanors Züge wurden noch weicher. »Du musst dich nicht länger verstellen. Ich weiß, was du durchgemacht hast – wo du gewesen bist. Mir ist es vor langer Zeit genauso ergangen, als ich von meinen eigenen Reisen zurückgekommen bin. Das hier ist kein Ort, an dem du lügen oder so tun musst, als wäre alles in Ordnung. Wir wissen, dass nicht alles in Ordnung ist. Sonst wärst du nicht hier. Also, wo bist du gewesen?«

»Ich verstehe nicht …«

»Vergiss Worte wie ›Unsinn‹ oder ›Logik‹. Solche Details können wir später klären. Antworte einfach. Wo bist du gewesen?«

»In den Hallen der Toten.« Es laut auszusprechen bedeutete eine fast schmerzhafte Erleichterung. Nancy erstarrte wieder, stierte in die Luft, als könnte sie ihre Stimme da schweben sehen, granatrot und makellos leuchtend. Dann schluckte sie, auch diesmal ohne die Trockenheit loszuwerden, und sprach weiter: »Es war … Ich suchte im Keller unseres Hauses nach einem Eimer und fand eine Tür, die ich noch nie gesehen hatte. Als ich hindurchging, stand ich in einem Wäldchen aus Granatapfelbäumen. Ich dachte, ich wäre hingefallen und hätte mich am Kopf gestoßen. Ich ging weiter, weil … weil …«

Weil die Luft so süß geduftet hatte und der Himmel samtig schwarz gewesen war, übersät mit Punkten aus funkelndem Licht, das überhaupt nicht flackerte, sondern nur stetig und kalt brannte. Weil das Gras taunass war und die Bäume voller Früchte hingen. Weil sie wissen wollte, was sich am Ende des langen Weges zwischen den Bäumen befand, und weil sie nicht umkehren wollte, bevor sie alles verstand. Weil sie zum ersten Mal überhaupt das Gefühl verspürte, nach Hause zu kommen, und dieses Gefühl genügte, um ihre Füße in Bewegung zu setzen, zuerst langsam, dann schneller, immer schneller, bis sie durch die klare Nachtluft rannte und nichts anderes mehr eine Rolle spielte oder je wieder eine Rolle spielen würde …

»Wie lange warst du fort?«

Die Frage war ohne Bedeutung. Nancy schüttelte den Kopf. »Ewig. Jahre … Ich war jahrelang dort. Ich wollte nicht zurückkommen. Nie mehr.«

»Ich weiß, Liebes.« Eleanors Hand lag sanft auf Nancys Ellbogen und lenkte sie zur Tür hinter der Treppe. Das Parfüm der alten Frau roch nach Löwenzahn und Ingwerkeksen, eine genauso unsinnige Kombination wie alles andere an ihr. »Komm mit. Ich habe das ideale Zimmer für dich.«

 

Eleanors »ideales Zimmer« lag im Erdgeschoss, im Schatten einer großen, alten Ulme, die das Licht, das sonst durch das einzige Fenster eingefallen wäre, fast komplett fernhielt. In diesem Raum herrschte ewiger Dämmer, und als Nancy ihn betrat und sich umsah, fiel ihr ein Stein vom Herzen. Die eine Hälfte – die Hälfte mit dem Fenster – war ein Chaos aus Kleidern, Büchern und Krimskrams. Eine Geige war achtlos aufs Bett geworfen worden, während der dazugehörige Bogen auf dem Rand des Bücherregals balancierte und aussah, als würde er beim leisesten Lufthauch herunterfallen. Es roch nach Minze und Morast.

Die andere Hälfte des Zimmers war so unpersönlich wie in einem Hotel. Da stand ein Bett, eine kleine Kommode, ein Bücherregal und ein Schreibtisch, alles aus hellem, unlackiertem Holz. Die Wände waren leer. Nancy sah Eleanor fragend an, bis diese zustimmend nickte, dann ging sie hin und stellte ihren Koffer haargenau in die Mitte ihres zukünftigen Bettes.

»Danke«, sagte sie. »Hier werde ich mich bestimmt wohl fühlen.«

»Offen gestanden bin ich mir da nicht so sicher«, erwiderte Eleanor mit einem irritierten Blick auf Nancys Koffer. Er war so exakt platziert worden … »Ein Ort namens ›Hallen der Toten‹ muss eine Unterwelt gewesen sein, und die meisten davon fallen eher in die Kategorie Unsinn als Logik. Es scheint allerdings, als wäre deine Welt vielleicht reglementierter gewesen. Aber das macht nichts. Wir können dich jederzeit verlegen, wenn sich herausstellt, dass Sumi und du nicht zusammenpasst. Wer weiß? Möglicherweise kannst du ihr etwas von der Stabilität geben, die ihr zurzeit fehlt. Und wenn nicht – nun, dann werdet ihr euch hoffentlich nicht gegenseitig umbringen.«

»Sumi?«

»Deine Mitbewohnerin.« Eleanor bahnte sich vorsichtig einen Weg durch das Chaos auf dem Boden, bis sie das Fenster erreicht hatte. Sie schob es auf, beugte sich hinaus und suchte die Äste der Ulme ab, bis sie fand, was sie suchte. »Eins und zwei und drei, Sumi, mach dich frei. Komm rein und lern deine neue Mitbewohnerin kennen.«

»Mitbewohnerin?« Die Stimme war weiblich, jung und verärgert.

»Ich habe dich gewarnt«, versetzte Eleanor, während sie den Kopf wieder nach drinnen zog und in die Mitte des Raumes zurückkehrte. Sie bewegte sich auffallend sicher, besonders angesichts der Unordnung auf dem Boden; Nancy rechnete damit, dass sie jeden Moment stolperte, aber irgendwie tat sie das nicht. »Ich habe dir mitgeteilt, dass diese Woche eine neue Schülerin eintrifft und dass sie das freie Bett bekommt, falls es ein Mädchen mit passendem Hintergrund ist. Erinnerst du dich an irgendetwas davon?«

»Ich dachte, Sie würden nur so daherreden. Sie tun das manchmal. Jeder tut das.« Im Fenster erschien ein umgedrehter Kopf, dessen Besitzerin offensichtlich in der Ulme hing. Sie schien etwa so alt zu sein wie Nancy, japanischer Abstammung, mit langen schwarzen Haaren, die über den Ohren zu zwei kindlichen Zöpfen geflochten waren. Sie sah Nancy mit unverhohlenem Argwohn an, bevor sie fragte: »Bist du eine Dienerin der Kuchenkönigin und hier, um mich für meine Vergehen gegen die Gräfin von Zuckerwatte zu bestrafen? Ich habe nämlich grade keine Lust auf Krieg.«

»Nein«, antwortete Nancy verständnislos. »Ich bin Nancy.«

»Das ist ein langweiliger Name. Wie kannst du mit so einem langweiligen Namen bloß hier sein?« Sumi ließ sich mit einem Überschlag aus dem Baum fallen und war kurz verschwunden, ehe sie nun von unten im Fensterrahmen erschien, sich auf den Sims stützte und fragte: »Eleanor-Ely, sind Sie sicher? Ich meine richtig sicher? Sie sieht nicht so aus, als sollte sie überhaupt hier sein. Vielleicht haben Sie in ihren Unterlagen etwas gesehen, das gar nicht da stand, und sie sollte besser in eine Schule für jugendliche Opfer von missglückter Haarfärbung gehen.«

»Ich färbe mir die Haare nicht!« Nancys Protest war hitzig. Sumi verstummte und starrte sie an. Eleanors Blick richtete sich ebenfalls auf sie. Nancys Wangen wurden heiß, als ihr das Blut ins Gesicht stieg, aber sie blieb standhaft, schaffte es irgendwie, nicht die Hand zu heben und sich über die Haare zu streichen, während sie hinzufügte: »Früher waren sie komplett schwarz, so wie die Haare meiner Mutter. Als ich das erste Mal mit dem Herrn der Toten getanzt habe, sagte er, sie wären wunderschön, und ließ die Hand hindurchgleiten. Da wurden alle anderen Haare vor Eifersucht weiß. Deswegen habe ich nur noch fünf schwarze Strähnen. Das sind die Stellen, die er berührt hat.«

Mit kundigem Blick erkannte Eleanor in diesen fünf Strähnen den unsichtbaren Umriss einer Hand, eine Stelle, wo die blasse junge Frau vor ihr ein Mal und nie wieder berührt worden war. »Verstehe.«

»Ich färbe sie mir nicht«, wiederholte Nancy nach wie vor aufgebracht. »Ich würde sie nie färben. Das wäre respektlos.«

Sumi machte immer noch große Augen. Nun grinste sie. »Oh, ich mag dich. Du bist die verrückteste Spielkarte im Stapel, stimmt’s?«

»Das Wort benutzen wir hier nicht«, rügte Eleanor.

»Aber es ist wahr«, protestierte Sumi. »Sie denkt, sie würde zurückgehen. Oder etwa nicht, Nancy? Du denkst, irgendwann machst du die richtige falsche Tür auf und siehst dahinter deine Treppe ins Paradies, und dann ist es eine Stufe, noch eine Stufe, und schwupps bist du wieder in deiner Geschichte. Verrücktes Mädchen. Dummes Mädchen. Du kannst nicht zurück. Wenn sie dich einmal rausgeschmissen haben, kannst du nicht zurück.«

Nancy kam es vor, als versuchte ihr Herz, ihre Kehle hochzuklettern und sie zu ersticken. Sie schluckte es wieder hinunter und flüsterte: »Da täuschst du dich.«

Sumis Augen strahlten. »Wirklich?«

Eleanor klatschte in die Hände, um die Aufmerksamkeit der beiden Mädchen wieder auf sich zu lenken. »Nancy, warum packst du nicht aus und richtest dich ein? Abendessen ist um halb sieben, und danach ist Gruppentherapie um acht. Sumi, bitte bring sie nicht dazu, dich zu ermorden, bevor sie einen vollen Tag hier ist.«

»Jeder von uns versucht auf seine eigene Weise, nach Hause zu gelangen.« Sumi verschwand aus dem Fensterrahmen und kehrte zu dem zurück, was sie vor der Unterbrechung getan hatte. Eleanor warf Nancy einen schnellen, entschuldigenden Blick zu, dann war sie ebenfalls fort und schloss die Tür hinter sich. Von einer Sekunde auf die andere war Nancy allein.

Sie blieb, wo sie war, zählte bis zehn und genoss das Stillhalten. In den Hallen der Toten hatte man von ihr erwartet, dass sie ihre Haltung manchmal ganze Tage beibehielt und sich zwischen die anderen lebenden Statuen einfügte. Dienstmädchen, die weniger begabt waren im Stillhalten, waren mit in Granatapfelsaft und Zucker getränkten Schwämmen vorbeigekommen und hatten sie den reglos Dastehenden auf die Lippen gepresst. Nancy hatte gelernt, den Saft in ihre Kehle hinabrinnen zu lassen, ohne zu schlucken, ihn passiv aufzunehmen, so wie ein Stein das Mondlicht aufnimmt. Sie hatte Monate, wenn nicht Jahre gebraucht, um so vollkommen reglos zu werden, aber sie hatte es geschafft: O ja, sie hatte es geschafft, und die Herrin der Schatten hatte sie für über die Maßen schön erklärt, das kleine sterbliche Mädchen, das nicht das Bedürfnis hatte, hektisch, heiß oder hibbelig zu sein.

Aber diese Welt hier war für hektische, heiße, hibbelige Wesen gemacht; nicht wie die stillen Hallen der Toten. Mit einem Seufzer gab Nancy ihr Stillhalten auf und wandte sich ihrem Koffer zu. Kaum hatte sie ihn geöffnet, erstarrte sie wieder, diesmal vor Schreck und Empörung. Ihre durchscheinenden Kleider und hauchdünnen schwarzen Blusen, die sie so sorgfältig eingepackt hatte, waren verschwunden, und stattdessen wartete da ein Kleiderberg, der so farbenfroh war wie die Sachen, die auf Sumis Seite des Zimmers verstreut lagen. Obenauf entdeckte Nancy einen Umschlag. Sie griff mit zittrigen Fingern danach und öffnete ihn.

Nancy –

Es tut uns leid, dass wir dir das antun müssen, Liebling, aber du hast uns keine Wahl gelassen. Wir schicken dich ins Internat, damit es dir wieder bessergeht, nicht damit du weiter in Erinnerungen an deine Kidnapper schwelgst. Wir wollen unsere richtige Tochter zurück. Das hier waren deine Lieblingskleider, bevor du verschwunden bist. Du warst unser kleiner Regenbogen! Weißt du noch?

Du hast so viel vergessen.

Wir lieben dich. Dein Vater und ich lieben dich über alles, und wir glauben, dass du zu uns zurückkommen kannst. Bitte verzeih uns, dass wir eine passendere Garderobe für dich eingepackt haben, und glaub uns, dass wir es nur getan haben, weil wir das Beste für dich wollen. Wir wollen dich zurück.

Wir wünschen dir eine wundervolle Zeit in der Schule, und wenn du so weit bist, wieder ganz nach Hause zu kommen, werden wir dich mit offenen Armen empfangen.

Der Brief war mit der schlingernden, unsteten Handschrift ihrer Mutter unterschrieben. Nancy sah sie kaum. Ihre Augen füllten sich mit heißen, hasserfüllten Tränen, ihre Hände zitterten, und ihre Finger verkrampften sich, bis sie das Papier zu einem unleserlichen Labyrinth aus Knicken und Falten zerknüllt hatten. Sie sank zu Boden, saß da, die Knie an die Brust gedrückt und die Augen auf den offenen Koffer gerichtet. Wie sollte sie irgendetwas davon tragen? Das da waren Tageslicht-Farben, gedacht für Leute, die sich in der Sonne bewegten, die heiß und hektisch waren und nicht willkommen in den Hallen der Toten.

»Was machst du da?« Die Stimme gehörte Sumi.

Nancy drehte sich nicht um. Ihr Körper verriet sie sowieso schon, indem er sich ohne ihre Erlaubnis bewegte. Dann durfte sie ihn wenigstens nicht auch noch freiwillig bewegen.

»Es sieht aus, als würdest du auf dem Boden sitzen und weinen, dabei weiß jeder, dass das gefährlich ist, schlimm gefährlich, das-darf-man-nicht-gefährlich«, sprach Sumi weiter. »Es wirkt, als würdest du alles nicht zusammenhalten und könntest komplett auseinanderfallen.« Sie beugte sich so dicht über sie, dass Nancy einen ihrer Zöpfe an der Schulter spürte. »Warum weinst du, Geistermädchen? Ist jemand über dein Grab getrampelt?«

»Ich bin nie gestorben, ich habe nur eine Weile dem Herrn der Toten gedient, das ist alles, und eigentlich sollte ich für immer bleiben, aber irgendwann sagte er, ich müsste hierher zurück, bis ich mir sicher bin. Dabei war ich mir schon sicher, bevor ich fortging, und ich verstehe einfach nicht, warum meine Tür nicht da ist.« Die Tränen, die an ihrer Wange klebten, waren zu heiß, fühlten sich an, als würden sie ihr die Haut verbrennen. Nancy gestattete sich eine Bewegung, hob die Hand und wischte sie energisch weg. »Ich weine, weil ich wütend bin und weil ich traurig bin und weil ich nach Hause will.«

»Dummes Mädchen.« Sumi legte Nancy mitfühlend die Hand auf den Kopf, bevor sie ihr eine klebte – leicht, aber trotzdem eine Ohrfeige –, dann einen Sprung auf Nancys Bett machte und sich neben den offenen Koffer hockte. »Mit zu Hause meinst du nicht das, wo deine Eltern sind, oder? Die Schule und die Klasse und die Jungs und das Blabla, nein nein nein, das ist nichts mehr für dich, all diese Dinge sind für andere Leute, welche, die nicht so besonders sind wie du. Du meinst das Zuhause, wo der Mann lebt, der deine Haare weiß gemacht hat. Oder auch nicht lebt, weil du ja ein Geistermädchen bist. Ein dummes Geistermädchen. Du kannst nicht zurück. Das solltest du mittlerweile wissen.«

Nancy hob den Kopf und sah Sumi finster an. »Warum denn nicht? Bevor ich damals durch diese Tür ging, wusste ich, dass es so was wie ein Portal in eine andere Welt nicht gibt. Jetzt weiß ich: Wenn man zur richtigen Zeit die richtige Tür öffnet, findet man vielleicht endlich einen Ort, an den man gehört. Warum bedeutet das, ich kann nicht zurück? Vielleicht bin ich einfach nur noch nicht ganz sicher.«

Der Herr der Toten hätte sie nicht angelogen, niemals. Er liebte sie.

Wirklich.

»Weil die Hoffnung ein Messer ist, das die Fundamente der Welt zerschneiden kann.« Sumis Stimme war plötzlich glasklar, ohne jede Spur ihrer vorherigen Überspanntheit. Sie sah Nancy mit ruhigem, festem Blick an. »Hoffnung tut weh. Das musst du lernen, und zwar schnell, wenn du nicht willst, dass sie dich von innen heraus zerstört. Hoffnung ist schlecht. Hoffnung bedeutet, dass du an Dingen festhältst, die nie wieder so sein werden wie früher, und dann verblutest du in Zeitlupe, bis nichts mehr da ist. Ely-Eleanor sagt immer: ›Sag dieses Wort nicht‹ und ›Sag jenes Wort nicht‹, aber die wirklich schlimmen verbietet sie nicht. Sie verbietet nicht das Wort ›Hoffnung‹.«

»Ich will nur nach Hause«, flüsterte Nancy.

»Albernes Geistermädchen. Das wollen wir doch alle. Deswegen sind wir hier.« Sumi wandte sich Nancys Koffer zu und begann, in den Kleidern zu stöbern. »Die sind hübsch. Aber zu klein für mich. Warum musst du auch so schmal sein? Ich kann keine Sachen klauen, die mir nicht passen, das wäre Quatsch, und ich werde hier nicht schlanker. Niemand nimmt in dieser Welt ab. Höhere Logik ist überhaupt kein Spaß.«

»Ich hasse diese Kleider«, sagte Nancy. »Nimm sie alle. Schneid sie von mir aus in Stücke und mach ein paar Luftschlangen für deinen Baum daraus, Hauptsache, ich muss sie nicht mehr sehen.«

»Weil es die falschen Farben sind, stimmt’s? Der Regenbogen von jemand anderem.« Sumi sprang vom Bett, schlug den Koffer zu und schleifte ihn hinter sich her. »Steh auf, komm mit. Wir besuchen jemanden.«

»Was?« Nancy sah Sumi verwirrt und bedrückt nach. »Tut mir leid. Ich habe dich grade erst kennengelernt und will nirgendwo mit dir hingehen.«

»Dann ist es eine gute Sache, wenn es mir egal ist, richtig?« Sumi strahlte für eine Sekunde so hell wie die verhasste, verhasste Sonne, und dann war sie weg, aus der Tür gestürmt mit Nancys Koffer und ihren sämtlichen Kleidern.

Nancy wollte diese Kleider nicht haben, und einen verlockenden Moment lang erwog sie zu bleiben, wo sie war. Doch dann stand sie mit einem Seufzer auf und folgte Sumi. Diese Welt war auch so schon unerträglich genug. Und irgendwann würde sie saubere Slips brauchen.

2Bildschöne Jungen und bezaubernde Mädchen

Sumi war hibbelig, so wie die Lebenden nun mal waren, aber selbst für eine Lebende war sie schnell. Als Nancy aus dem Zimmer trat, war sie bereits halb durch den Flur. Beim Geräusch von Nancys Schritten drehte sie sich um und warf dem größeren Mädchen einen mürrischen Blick zu.

»Los, los, los«, trieb sie ihre neue Mitbewohnerin an. »Wenn uns das Abendessen überrascht, bevor wir das hier erledigt haben, verpassen wir die Scones mit Marmelade.«

»Es gibt Scones mit Marmelade zum Abendessen?«, fragte Nancy verblüfft.

»Normalerweise nicht«, gab Sumi zu. »Nicht oft. Okay, noch nie. Aber wenn es irgendwann passiert, möchte ich es nicht verpassen! Meistens gibt es nur fades, grässliches Zeug. Fleisch und Kartoffeln und Sachen, die gesund für Geist und Körper sind. Langweilig. Deine Abendessen mit den Toten waren bestimmt aufregender.«

»Manchmal«, stimmte Nancy zu. Ja, es hatte Bankette gegeben, die Wochen dauerten und bei denen sich die Tische bogen unter dem Gewicht von Früchten und Wein und dunklen, schweren Nachspeisen. Bei einem dieser Festessen hatte sie Einhorn probiert, und selbst als sie Stunden später im Bett lag, hatte ihr Mund vom köstlichen Gift des süßlichen Fleisches noch geprickelt. Doch vor allem waren da die Silberbecher voller Granatapfelsaft gewesen und das Gefühl eines leeren Magens, der ihrem Stillhalten noch mehr Gewicht verlieh. Der Hunger hatte sich in der Unterwelt bald verabschiedet. Er war überflüssig und ein geringer Preis für die Stille und den Frieden und die Tänze; für alles, was sie so leidenschaftlich geliebt hatte.

»Siehst du? Dann verstehst du, wie wichtig ein gutes Abendessen ist.« Sumi setzte sich wieder in Bewegung, nahm aber Rücksicht auf Nancys langsameres Tempo. »Kade macht alles wieder richtig, richtig wie Regen, richtig wie Raben. Kade weiß, wo das Beste zu holen ist.«

»Wer ist Kade? Und kannst du bitte langsamer gehen?« Nancy hatte das Gefühl, um ihr Leben zu rennen, während sie mit Sumi Schritt zu halten versuchte. Die Bewegungen des kleineren Mädchens waren zu schnell und unvorhersehbar, als dass Nancys an die Unterwelt angepasste Augen sie richtig hätten wahrnehmen können. Es war, als würde man einem großen Kolibri an ein unbekanntes Ziel folgen, und sie war bereits erschöpft.

»Kade ist schon ganz ganz lange hier. Seine Eltern wollen ihn nicht zurück.« Sumi sah über die Schulter und blinkte Nancy an. Es gab kein treffendes Wort, um ihren Gesichtsausdruck zu beschreiben, eine seltsame Kombination aus Nasekräuseln und Straffen der Haut um ihre Augen, ohne dabei zu lächeln. »Meine Eltern wollten mich auch nur zurück, wenn ich wieder ihr braves kleines Mädchen gewesen wäre und den ganzen Unsinn hätte bleiben lassen. Sie haben mich hierhergeschickt, und dann sind sie gestorben, und jetzt werden sie mich überhaupt nie mehr wollen. Ich werde für immer hier wohnen, bis Ely-Eleanor mir irgendwann den Dachboden überlässt. Dann ziehe ich Toffee aus den Dachsparren und gebe allen neuen Mädchen Rätsel auf.«

Sie hatten eine Treppe erreicht. Sumi begann, sie hinaufzuhüpfen. Nancy folgte in ruhigerem Tempo.

»Würden dann nicht Spinnen und Splitter und anderer Schwachsinn in den Toffee geraten?«, fragte sie.

Sumi belohnte sie mit lautem Gelächter und einem echten Lächeln. »Spinnen und Splitter und Schwachsinn!«, frohlockte sie. »Du bildest schon Stabreime! Oh, vielleicht werden wir doch noch Freundinnen, Geistermädchen, und die ganze Chose wird nicht nur grässlich. Jetzt komm aber. Wir haben viel zu tun, und die Zeit verläuft hier linear wie ein Lineal, weil sie garstig ist.«

Sie gelangten zu einem Absatz, doch die Treppe ging noch weiter, und Sumi stieg sie prompt hinauf, was Nancy keine Wahl ließ, als ihr zu folgen. Die vielen Tage des Stillhaltens hatten ihre Muskeln gestählt und sie daran gewöhnt, über Stunden ihr Gewicht zu tragen. Manche Leute dachten, nur Bewegung würde stark machen. Aber sie irrten sich. Der Berg war genauso kraftvoll wie die Gezeiten, nur … auf andere Weise. Nancy fühlte sich jedenfalls schwer wie ein Berg, während sie sich hinter Sumi die Treppe hinaufschleppte, bis ihr Herz in der Brust trommelte und ihr der Atem in der Kehle stecken blieb, bis sie fürchtete, gleich zu ersticken.

Endlich blieb Sumi vor einer unscheinbaren weißen Tür stehen, lediglich versehen mit einem kleinen, fast höflichen Schild mit der Aufschrift: ZUTRITTVERBOTEN. Grinsend erklärte sie: »Wenn er das so meinen würde, hätte er es nicht da hingeschrieben. Er weiß, dass er für jeden, der auch nur eine Minute in Unsinn verbracht hat, in Wirklichkeit eine Einladung ausspricht.«

»Warum wird dieses Wort hier benutzt, als wäre es ein Ort?« Nancy kam sich allmählich vor, als hätte sie eine unerlässliche Einführungsveranstaltung über die Schule verpasst, die alle ihre Fragen beantwortet hätte.

»Weil es so ist, und zugleich auch nicht, und weil es keine Rolle spielt.« Sumi klopfte an die Dachbodentür, bevor sie brüllte: »Wir kommen rein!« und sie aufstieß. Drinnen sah es aus, als hätte jemand ein Antiquariat mit einer Änderungsschneiderei gekreuzt. Jeder Zentimeter war mit Bücherstapeln bedeckt. Die wenigen Möbel – ein Bett, ein Schreibpult, ein Tisch – wirkten, als wären sie aus den Bücherstapeln gebaut, mit Ausnahme der Bücherregale an den Wänden, die aus Holz waren, wahrscheinlich der Stabilität wegen. Auf den Büchern türmten sich Stoffballen, von Baumwolle und Musselin bis hin zu Samt und den feinsten schimmernden Seidenstoffen. Mittendrin saß mit übergeschlagenen Beinen auf einem Podest aus Taschenbüchern der schönste Junge, den Nancy je gesehen hatte.

Sein Teint war goldbraun, und als er – eindeutig verärgert – von dem Buch aufsah, das er las, entdeckte sie, dass seine Augen ebenfalls braun und seine Züge vollkommen waren. Es war etwas Zeitloses an ihm; als wäre er aus einem Gemälde in die materielle Welt getreten. Dann begann er zu sprechen.

»Verdammte Scheiße, Sumi, was machst du denn schon wieder hier?«, herrschte er sie im breitesten Südstaatenakzent an. »Ich hab dir doch gesagt, dass du hier nicht mehr willkommen bist.«

»Du bist doch bloß sauer, weil ich mir ein besseres Ordnungssystem für deine Bücher ausgedacht habe als du«, gab Sumi gelassen zurück. »Egal, du hast es nicht so gemeint. Ich bin der Sonnenschein an deinem Himmel, und du würdest mich vermissen, wenn ich nicht mehr da wäre.«

»Du hast sie nach Farben sortiert, und ich habe Wochen gebraucht, um mich wieder zurechtzufinden. Ich mache hier oben wichtige Forschungsarbeiten.« Kade entknotete die Beine und glitt von seinem Bücherpodest. Dabei stieß er ein Taschenbuch herunter und fing es geschickt auf, bevor es den Boden berührte. Dann richtete er den Blick auf Nancy. »Du bist neu. Ich hoffe, Sumi hat dich nicht schon in den Wahnsinn getrieben.«

»Bis jetzt hat sie mich nur auf den Dachboden getrieben«, erwiderte Nancy töricht. Ihre Wangen wurden rot, und sie verbesserte sich: »Ich meine, nein. Normalerweise lasse ich mich nicht so leicht irgendwohin treiben.«

»Sie ist mehr der Typ Mädchen, das ganz still dasteht und hofft, dass sie nicht gefressen wird.« Sumi schob Kade den Koffer hin. »Sieh mal, was ihre Eltern gemacht haben.«

Kades Augenbrauen hoben sich, als er das schreiende Rosa des Koffers zur Kenntnis nahm. »Eine kräftige Farbe«, sagte er dann. »Man könnte sie überstreichen.«

»Klar, aber die Slips drinnen kannst du nicht übermalen. Na ja, das geht schon, aber dann werden sie bretthart, und alle denken, man hätte reingemacht.« Sumis Gesichtsausdruck wurde für einen Moment nüchtern. Dann sagte sie mit einer fast nervtötenden Klarheit: »Ihre Eltern haben ihre Sachen ausgetauscht, bevor sie sie hierhergeschickt haben. Sie wussten, dass sie sie nicht mögen würde, und haben es trotzdem getan. Es war ein Zettel dabei.«

»Oh«, sagte Kade, der plötzlich begriff. »Okay. Geht es dann um einen kompletten Austausch?«

»Tut mir leid, ich verstehe kein Wort«, meldete sich Nancy. »Sumi hat meinen Koffer geschnappt und ist damit losgerannt. Ich will niemanden belästigen …«

»Du belästigst mich nicht.« Kade nahm Sumi den Koffer ab, bevor er sich Nancy zuwandte. »Eltern neigen dazu, nicht zur Kenntnis zu nehmen, wenn sich Dinge verändern. Sie wollen, dass alles noch genauso ist, wie es war, bevor ihre Kinder auf die Reise gegangen sind. Also versuchen sie, uns in Schubladen zu zwängen. Ich bin übrigens Kade. Märchenland.«

»Ich bin Nancy, und es tut mir leid, ich verstehe immer noch nicht.«

»Ich war im Märchenland. Ich habe dort drei Jahre damit zugebracht, Regenbogen nachzujagen, anstatt zu wachsen. Ich habe einen Koboldkönig mit seinem eigenen Schwert getötet, und er hat mich mit seinem letzten Atemzug zu seinem Thronerben ernannt, zum Koboldprinzen.« Kade betrat das Labyrinth aus Büchern, noch immer Nancys Koffer in der Hand. Seine widerhallende Stimme verriet, welchen Weg er nahm. »Der König war mein Feind, aber er war der erste Erwachsene in meinem ganzen Leben, der mich so gesehen hat, wie ich bin. Der Hof der Regenbogenprinzessin war schockiert, und man hat mich in den nächsten Wunschbrunnen gestoßen, an dem wir vorbeikamen. Ich bin auf einem Feld mitten in Nebraska aufgewacht, wieder in meinem Zehnjährigen-Körper, und trug das Kleid, das ich angehabt hatte, als ich nach Prisma kam.« Die Art, wie er Prisma sagte, ließ keinen Zweifel aufkommen: Es war ein Eigenname, die Bezeichnung für eine Welt, und seine Stimme schmiegte sich schmerzend um diese beiden Silben wie Fleisch, das sich schmerzend um ein Messer schmiegt.

»Ich verstehe immer noch nicht«, sagte Nancy.

Sumi seufzte übertrieben. »Er sagt, dass er in ein Märchenland geraten ist, was so ähnlich ist, wie in einen Spiegel hineinzugehen, nur gehört es in Wirklichkeit zu Höherer Logik, tut aber so, als wäre es Höherer Unsinn, das ist ziemlich unfair, es gibt Regeln ohne Ende, und wenn man eine bricht … woam.« Sie fuhr sich in einer schneidenden Bewegung über die Kehle. »Dann fliegt man raus, so wie der Müll vom letzten Jahr. Sie dachten, sie hätten ein kleines Mädchen ergattert – Feen holen sich liebend gern kleine Mädchen, sie sind richtig süchtig nach ihnen –, und als sie herausfanden, dass sie einen kleinen Jungen erwischt hatten, der nur wie ein kleines Mädchen aussah, oh, oh, aus die Maus. Da haben sie ihn schnurstracks zurückgeworfen.«

»Oh«, sagte Nancy.

»Genau.« Kade tauchte aus dem Bücherlabyrinth auf. Statt Nancys Koffer trug er nun einen Weidenkorb mit Kleidern in beruhigenden Schwarz-, Weiß- und Grautönen. »Vor ein paar Jahren hatten wir hier ein Mädchen, das hatte zehn Jahre in einem Hammer-Film verbracht, du weißt schon, einen dieser alten Horrorfilme. Alles schwarz und weiß, fließend, mit Spitzen, super viktorianisch. Offenbar auch dein Stil. Ich glaube, ich habe deine Größe richtig geschätzt, aber falls nicht, kannst du jederzeit herkommen und mir sagen, wenn du etwas größer oder kleiner brauchst. Ich halte dich nicht für den Korsetttyp. Oder täusche ich mich?«

»Was? Hm.« Nancy riss sich vom Anblick des Korbs los. »Nein. Eher nicht. Nach einem Tag oder zwei drücken die Stäbe unangenehm. Wo ich war, waren wir mehr … hm … griechisch, glaube ich. Oder präraffaelitisch.« Das war natürlich gelogen: Sie wusste genau, welche Stile in ihrer Unterwelt getragen wurden, in diesen lieblichen, stillen Hallen. Als sie das Internet durchforstet hatte auf der Suche nach Hinweisen auf eine weitere Tür, war sie auf das Werk eines Malers namens Waterhouse gestoßen, und vor lauter Erleichterung, Leute in Kleidern zu sehen, die ihr Auge nicht beleidigten, waren ihr die Tränen gekommen.

Kade nickte mit verständnisvoller Miene. »Ich bin zuständig für den Tausch von Kleidern und halte unseren gesamten Bestand in Ordnung, aber ich fertige auch Maßgeschneidertes«, erklärte er. »Allerdings gegen Bezahlung, denn das ist für mich deutlich mehr Arbeit. Ich nehme sowohl Information als auch Bargeld. Du könntest mir von deiner Tür und der Welt erzählen, in der du warst, und ich könnte ein paar Sachen schneidern, die dir besser passen.«

Nancys Wangen röteten sich. »Das wäre schön.«

»Gern. Und jetzt raus hier, alle beide. Gleich gibt’s Abendessen, und ich will mein Buch fertiglesen.« Kades Lächeln verflüchtigte sich. »Ich hasse es, wenn eine Geschichte unvollendet bleibt.«

 

Sumi beobachtete Nancy, während sie die Treppe hinunterstiegen. Das größere Mädchen presste ihren Korb mit schwarzen und weißen Kleidern an sich, die Wangen immer noch ein wenig gerötet. Die Farbe sah fast obszön an ihr aus, als wäre sie völlig fehl am Platz.

»Würdest du gern mit ihm vögeln?«

Nancy wäre fast die Treppe hinuntergefallen.

Nachdem sie sich am Geländer gefangen hatte, wandte sie sich schamrot Sumi zu. »Nein!«

»Bist du sicher? Du hast nämlich so ausgesehen, und dann wirktest du irgendwie verstimmt, als hättest du gemerkt, dass du im Grunde doch nicht willst. Jill – die lernst du gleich beim Abendessen kennen – wollte mit ihm vögeln, bis sie herausfand, dass er früher ein Mädchen war, und dann sagte sie ›sie‹ zu ihm, bis Miss Ely verkündete, dass wir hier die Ich-Identität jedes Einzelnen respektieren, und dann mussten wir uns alle die merkwürdige Geschichte über ein Mädchen anhören, das früher auf dem Dachboden wohnte und in Wahrheit ein Regenbogen war, der es geschafft hatte, den Himmelskönig in einem der Märchenländer zu beleidigen und rausgeworfen zu werden.« Sumi holte kurz Luft und fügte hinzu: »Das war irgendwie gruselig. Man denkt nie daran, dass Leute von dort auch hier landen können, nicht nur umgekehrt. Vielleicht sind die Grenzen doch nicht so undurchlässig, wie wir meinen.«

»Ja.« Nancy hatte sich mittlerweile gefangen und setzte sich wieder in Bewegung. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich … keine sexuellen Beziehungen zu ihm haben möchte, und ich glaube nicht, dass es mich irgendwas angeht, wie er seine Geschlechtlichkeit auslebt.« Sie war halbwegs sicher, dass das die richtigen Bezeichnungen waren. Die Worte hatte sie einmal gelernt, bevor sie diese Welt und ihre Probleme hinter sich gelassen hatte. »Das ist eine Sache zwischen ihm und der Person, mit der er sich einlassen will oder auch nicht.«

»Wenn du also nicht auf Kade scharf bist, sollte ich dir vermutlich erzählen, dass ich vergeben bin«, meinte Sumi leichthin. »Er ist ein Candy-Corn-Farmer vom anderen Ende des Königreichs und meine einzig wahre Liebe, und irgendwann werden wir heiraten. Oder wir hätten geheiratet, wenn ich nicht verbannt worden wäre. Jetzt muss er seine Felder alleine bestellen, und ich werde irgendwann erwachsen, und dann beschließe ich, dass er nur ein Traum war, und vielleicht wird eines Tages die Tochter meiner Tochter sein Grab besuchen und Süßholzblüten mitnehmen und ein Gebet für den Verstorbenen murmeln.«

Ihre Stimme bebte keine Sekunde, nicht einmal als sie vom Tod von jemandem sprach, den sie ihre einzig wahre Liebe nannte. Nancy sah sie von der Seite an und versuchte zu ermessen, wie ernst es ihr war. Bei Sumi war das schwer zu sagen.

Als sie die Tür zu ihrem gemeinsamen Zimmer erreichten, traf Nancy eine Entscheidung. »Es spielt keine Rolle, ob du vergeben bist oder nicht.« Sie ging zu ihrem Bett und stellte den Korb mit den Kleidern ab. Sie würde sich die Schnitte und Stoffe in Ruhe ansehen müssen, aber verglichen mit dem, was sie bei Kade gelassen hatte, war das hier schon mal ein Fortschritt. »Ich tue so etwas nicht. Mit niemandem.«

»Du bist sexuell enthaltsam?«

»Nein. Sexuelle Enthaltsamkeit ist eine freie Entscheidung. Ich bin asexuell. Ich habe solche Gefühle nicht.« Früher hatte sie gedacht, ebendieser Mangel an sexuellem Verlangen hätte sie in die Unterwelt gezogen – schließlich war sie damals, als sie eine gewöhnliche Highschool mit gewöhnlichen Teenagern besucht hatte, von so vielen als »kalter Fisch« und »innerlich tot« bezeichnet worden –, doch keiner von denen, die sie in diesen herrlich verwunschenen Hallen kennenlernte, hatte ihre Orientierung geteilt. Sie begehrten andere genauso heiß, wie die Lebenden es taten. Der Herr der Toten und die Herrin der Schatten hatten ihre Leidenschaft im ganzen Schloss verbreitet, und alles war in ihr warmes Licht getaucht gewesen. Bei der Erinnerung daran lächelte Nancy ein wenig, bis sie merkte, dass Sumi sie noch immer beobachtete. Sie schüttelte den Kopf. »Ich … ich tue es einfach nicht. Ich habe einen Sinn dafür, wie schön jemand ist, und kann romantische Gefühle für so jemanden entwickeln, aber weiter geht es bei mir nicht.«

»Huh.« Sumi ging zu ihrer eigenen Seite des Raums. Und dann sagte sie: »Gut, okay. Stört es dich, wenn ich masturbiere?«

»Was, jetzt?« Nancy schaffte es nicht, das Entsetzen aus ihrer Stimme zu tilgen. Nicht beim Gedanken an Selbstbefriedigung – bei der Vorstellung, das Mädchen, das sie noch keine zwei Stunden kannte, würde gleich die Hose herunterlassen und Hand anlegen.

»Ähm.« Sumi zog die Nase kraus. »Nein … ich meinte ganz generell. Tief in der Nacht, wenn das Licht gedämpft ist und die Mantas ihre Mondflügel am Himmel ausbreiten und die Finger eines Mädchens vielleicht das Bedürfnis verspüren, die Felder zu pflügen.«

»Bitte hör auf«, bat Nancy schwach. »Nein, es stört mich nicht, wenn du masturbierst. Nachts. Im Dunkeln. Ohne mir davon zu erzählen. Ich habe nichts gegen Selbstbefriedigung. Ich will bloß nicht zusehen.«

»Wollte meine letzte Mitbewohnerin auch nicht.« Damit schien die Sache für Sumi erledigt; sie kletterte aus dem Fenster und überließ Nancy ihren Gedanken, dem Zimmer und ihrer neuen Garderobe.

Nancy betrachtete fast eine Minute lang das leere Fenster, bevor sie aufs Bett sank und den Kopf in die Hände fallen ließ. Sie hatte erwartet, diese Schule wäre voller Leute wie sie selbst, still und ernst und darauf aus, in die Welt zurückzukehren, die sie verlassen hatten. Nicht … so etwas. Nicht jemanden wie Sumi und Leute, die mit Bezeichnungen für Dinge um sich warfen, die sie nicht verstand.

Sie kam sich vor, als würde sie versuchen, ohne Landkarte nach Hause zu finden. Man hatte sie in die Welt ihrer Geburt zurückgeschickt, bis sie sich sicher war … dabei war sie sich in ihrem ganzen Leben noch nie weniger sicher gewesen.

 

Das Abendessen wurde im Festsaal eingenommen, einem riesigen Raum im Erdgeschoss, der durch den polierten Marmorboden und die Gewölbedecke sogar noch größer wirkte, als er tatsächlich war. Nancy blieb in der Tür stehen, eingeschüchtert von der Weitläufigkeit sowie vom Anblick ihrer Mitschüler, die über sämtliche Tische verstreut waren. Es gab hundert Plätze, vielleicht sogar mehr, aber nur etwa vierzig waren besetzt. Die Schüler waren so klein, und der Raum war so groß.

»Das Essen blockieren zeugt nicht von Manieren!«, rief Sumi und schubste sie zur Seite. Nancy geriet aus dem Gleichgewicht und taumelte über die Schwelle in den Saal. Alle drehten sich nach ihr um, und im selben Moment trat Schweigen ein. Nancy erstarrte. Das war der einzige Verteidigungsmechanismus, den sie in ihrer Zeit bei den Toten gelernt hatte. Wenn sie sich nicht rührte, konnten die Geister sie nicht sehen und ihr das Leben stehlen. Stillhalten war der vollendete Schutz.

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. »Ah, Nancy, gut«, sagte Eleanor. »Ich hatte gehofft, dich zu treffen, bevor du dich an einen Tisch setzt. Sei ein gutes Mädchen und begleite eine alte Frau zu ihrem Platz.«

Nancy drehte den Kopf. Eleanor hatte sich zum Abendessen umgezogen und die neonorangefarbene Hose und den Pullover in Regenbogenfarben gegen ein entzückendes Etuikleid aus gebatiktem Musselin getauscht. Es war so grell, dass es ihr fast wie die Sonne in die Augen stach. Dennoch hielt sie der Älteren den Arm hin, ein offenbar unumgänglicher Akt der Höflichkeit.

»Wie kommst du mit Sumi zurecht?«, fragte Eleanor, während sie auf die Tische zugingen.

»Sie ist sehr … hektisch«, antwortete Nancy.

»Sie hat fast zehn Jahre in Höherem Unsinn gelebt, und so wie du gelernt hast, stillzuhalten, hat sie gelernt, nie stillzustehen«, erwiderte Eleanor. »Da, wo sie war, wurden die Leute getötet, sobald sie stillstanden. Ich war selbst an einem ähnlichen Ort, deshalb verstehe ich sie besser als die meisten anderen. Sie ist ein gutes Mädchen. Sie wird dich nicht in die falsche Richtung lenken.«

»Sie hat mich zu einem Jungen namens Kade mitgenommen«, gab Nancy zurück.

»Oh! Es ist sonst gar nicht ihre Art, jemanden so schnell anderen vorzustellen – außer … Hattest du Probleme mit deinen Kleidern? War das, was du gepackt hattest, nicht in deinem Koffer?«

Nancy erwiderte nichts. Ihre errötenden Wangen und abgewandten Augen sagten alles. Eleanor seufzte.

»Ich werde deinen Eltern schreiben und sie an ihre Einwilligung erinnern, deine Therapie mir zu überlassen. Alles, was sie aus deinem Koffer genommen haben, soll möglichst rasch per Post hergeschickt werden. In der Zwischenzeit kannst du zu Kade gehen, wann immer du etwas brauchst. Der gute Junge vollbringt mit Nadel und Faden wahre Wunder. Ich weiß wirklich nicht, wie wir früher ohne ihn zurechtgekommen sind.«

»Sumi sagte, er wäre in einer Welt namens ›Höhere Logik‹ gewesen. Ich verstehe immer noch nicht, was diese ganzen Bezeichnungen bedeuten. Alle hier werfen damit um sich, als müsste man sie kennen, aber für mich sind sie neu.«

»Ich weiß, Liebes. Heute Abend hast du Therapie, und morgen bekommst du eine richtige Einführung mit Lundy, sie wird dir alles erklären.« Als sie die Tische erreichten, machte Eleanor sich kerzengerade, nahm die Hand von Nancys Arm und klatschte zweimal. Sämtliche Unterhaltungen verstummten. Die Schüler, die an den Tischen saßen – die meisten mit Abstand zu ihren Nachbarn, nur einige wenige in dichten, abgeschotteten Grüppchen –, drehten ihr erwartungsvoll den Kopf zu.

»Guten Abend allerseits«, sagte Eleanor. »Einige von euch haben zweifellos schon gehört, dass wir eine neue Schülerin bei uns haben. Das hier ist Nancy. Sie wird sich das Zimmer mit Sumi teilen, bis eine von beiden der anderen an die Gurgel springt. Wenn ihr eine Wette abschließen wollt, wer wen umbringt, wendet euch bitte an Kade.«

Gelächter von den Mädchen – und es waren mit überwältigender Mehrheit Mädchen, wie Nancy bemerkte. Abgesehen von Kade, der allein saß und die Nase in ein Buch gesteckt hatte, gab es im gesamten Saal nur noch drei weitere Jungen. Dieses Ungleichgewicht wirkte für eine gemischte Schule befremdlich. Sie sagte nichts. Eleanor hatte ihr eine Einführung versprochen, und vielleicht würde dort alles erklärt werden, so dass sich ihre Fragen von selbst erledigten.

»Nancy muss sich nach ihrer Reise erst wieder an diese Welt gewöhnen, deshalb seid in den ersten Tagen bitte nett zu ihr, so wie wir alle einmal nett zu euch gewesen sind.« Durch Eleanors Worte zog sich ein schmales Band aus Stahl. »Wenn sie so weit ist, bei dem ganzen Trubel und den boshaften Späßen mitzumachen, wird sie es euch wissen lassen. Jetzt esst alle euren Teller leer, selbst wenn ihr vielleicht keine Lust dazu habt. Wir sind hier in einer materiellen Welt. In euren Adern fließt Blut. Versucht es, dort zu behalten.« Sie kehrte Nancy den Rücken und ließ sie allein stehen, während sie davonging.

Das Abendessen war als Büfett entlang einer Wand aufgebaut. Nancy schlenderte hin, zuckte jedoch vor dem Fleisch und dem gebratenen Gemüse zurück. Sie würden ihr schwer im Magen liegen. Schließlich füllte sie einen Teller mit Weintrauben, Melonenscheiben und einem Löffel Hüttenkäse. Nachdem sie sich auch noch ein Glas Cranberrysaft genommen hatte, wandte sie sich dem Saal zu und überlegte, an welchen Tisch sie sich setzen sollte.

Früher hatte sie solche Dinge gut hinbekommen. In ihrer Highschool war sie nie eines der beliebtesten Mädchen gewesen, hatte es jedoch verstanden, das Spiel zu spielen: die Atmosphäre in einem Raum zu sondieren und die sicheren seichten Stellen zu finden, wo die starken Gemeine-Mädchen-Strömungen sie nicht fortspülen würden, wo sie jedoch auch nicht das Risiko einging, in den brackigen Gezeitentümpeln der Ausgestoßenen und Unerwünschten zu ertrinken. Sie erinnerte sich an eine Zeit, als das wirklich wichtig gewesen war. Manchmal wünschte sie sich, wieder zu dem Mädchen zu werden, das sich um solche Dinge gekümmert hatte. Dann wieder war sie unendlich dankbar, dass das ausgeschlossen war.

Die Jungen saßen mit Ausnahme von Kade alle zusammen, bliesen mit Strohhalmen in ihre Milch und lachten. Nein, zu denen nicht. Eine andere Gruppe hatte sich um ein Mädchen gebildet, das so betörend schön war, dass Nancys Augen sich ihrem Anblick verweigerten; eine weitere hatte sich um eine Bowleschüssel mit einer bonbonrosa Flüssigkeit gebildet, an der alle verstohlen nippten. Keine von beiden sah einladend aus. Nancy blickte sich um, bis sie den einzigen sicheren Hafen entdeckte, den sie wahrscheinlich finden würde, und steuerte in diese Richtung.

Gegenüber von zwei Mädchen, die nicht ähnlicher und zugleich unterschiedlicher hätten aussehen können, saß Sumi vor einem turmhoch beladenen Teller, auf dem es kunterbunt durcheinanderging. Mit Bratensoße bekleckerte Melonenstücke waren auf ein Stück Roastbeef voller Marmelade herabgestürzt. Bei dem Anblick zog sich Nancys Magen zwar zusammen, dennoch platzierte sie ihren Teller neben dem von Sumi, räusperte sich und stellte die übliche Frage:

»Ist der Platz hier noch frei?«

»Sumi hat gerade erklärt«, sagte eines der fremden Mädchen an sie gewandt, »dass du die langweiligste, miserabelste Parodie eines Mädchens bist, das jemals auf dieser Welt oder irgendeiner anderen herumgelaufen ist, und dass wir alle Mitleid mit dir haben sollten.« Sie rückte die Brille zurecht. »Das klingt, als würde ich dich mögen. Bitte setz dich und befreie uns ein wenig von dem Stumpfsinn an unserem Tisch.«

»Danke«, sagte Nancy und nahm Platz.

Die beiden unbekannten Mädchen hatten das gleiche Gesicht, das allerdings völlig unterschiedlich wirkte. Es war verblüffend, wie ein wenig Lidstrich und eine bedrückte Miene beziehungsweise eine Drahtgestellbrille und ein stählerner Blick das eigentlich Identische in etwas Individuelles verwandeln konnten. Beide hatten lange blonde Haare, Sommersprossen auf der Nase und schmale Schultern. Die eine trug ein weißes Hemd mit verdeckter Knopfleiste sowie eine schwarze Weste und vollbrachte damit das Kunststück, zugleich altmodisch und trendy zu wirken; ihre Haare waren ohne irgendwelchen Schnickschnack im Nacken zusammengebunden. Ihr einziges Accessoire war eine Fliege mit winzigen Biohazard-Symbolen. Das andere Mädchen trug ein wallendes rosarotes Kleid mit tief ausgeschnittenem, figurbetontem Oberteil und einer wirklich verblüffenden Anzahl von Spitzenverzierungen. Ihre Haare bildeten Korkenzieherlocken mit dem Durchmesser von Suppendosen und wurden auf dem Rücken von einer einzelnen rosaroten Schleife zusammengehalten. Um ihren Hals lag ein farblich dazu passendes Band. Beide sahen wie achtzehn oder neunzehn aus, auch wenn ihre Augen viel älter wirkten.

»Ich bin Jack, Abkürzung für Jacqueline«, sagte die mit der Brille. Sie deutete auf die in Rosa. »Das da ist Jill, Abkürzung für Jillian. Unsere Eltern hätten nie die Erlaubnis haben dürfen, die Namen für ihre Kinder auszusuchen. Du bist Nancy.«

»Ja«, sagte Nancy, unsicher, was sonst noch als Antwort von ihr erwartet wurde. »Schön, euch beide kennenzulernen.«

Jill, die sich weder bewegt noch gesprochen hatte, seit Nancy an den Tisch getreten war, richtete den Blick auf Nancys Teller. »Du isst nicht viel. Machst du eine Diät?«

»Nein, eigentlich nicht. Es ist nur …« Nancy zögerte, bevor sie den Kopf schüttelte und hinzufügte: »Mein Magen ist verstimmt von der Fahrt und dem Stress und allem.«

»Bin ich der Stress, oder bin ich alles?«, fragte Sumi, spießte ein mit Marmelade verklebtes Stück Fleisch auf und steckte es rasch in den Mund. Noch bevor sie es geschluckt hatte, sprach sie weiter: »Ich glaube, ich könnte beides sein. Ich bin flexibel.«

»Ich bin auf Diät«, erklärte Jill stolz. Auf ihrem Teller lagen ausschließlich Roastbeefstreifen, teilweise so rot und blutig, dass sie praktisch roh waren. »Jeden zweiten Tag esse ich Fleisch und die restliche Zeit Spinat. Mein Blut ist so reich an Eisen, dass man einen Kompass danach ausrichten könnte.«

»Das ist ja … ähm … sehr interessant«, sagte Nancy und sah Sumi hilfesuchend an. Sie hatte Mädchen kennengelernt, die ständig auf Diät waren. Eisenreiches Blut war dabei nie ihr Ziel gewesen. Den meisten war es auf eine schmalere Taille, einen klareren Teint und einen reicheren Freund angekommen, angestachelt von einem tiefsitzenden Selbsthass, der ihnen eingetrichtert worden war, bevor sie begreifen konnten, in welcher Art Treibsand sie da versanken.

Sumi begann, leise zu singen. »Jack and Jill went up the hill, to watch a bit of slaughter, Jack fell down and broke her crown, and Jill came tumbling after.«

Jack blickte leidgeprüft drein. »Ich hasse dieses Kinderlied.«

»Und so war es überhaupt nicht.« Jill strahlte Nancy an. »Wir sind an einen sehr hübschen Ort gegangen, wo wir sehr nette Leute getroffen haben, die uns sehr liebgehabt haben. Es gab ein kleines Problem mit der örtlichen Polizei, und wir mussten zu unserer eigenen Sicherheit eine Weile in diese Welt zurückkehren.«

»Was habe ich dir zum Thema Übertreibungen gesagt?«, fragte Jack. Sie klang müde.

»Jack und Jill sind genauso dumm wie du.« Sumi spießte ein Stück Melone auf ihre Gabel und spritzte dabei Bratensoße über den Tisch. »Sie denken, sie würden irgendwann zurückgehen, aber diese Tür ist ihnen jetzt verschlossen. Man gelangt nicht in Höhere Logik oder Höhere Bosheit, wenn man nicht unschuldig ist. Bosheit will niemanden, den es nicht verderben kann.«

»Ich verstehe kein Wort«, sagte Nancy. »Logik? Unsinn? Bosheit? Was sollen diese Dinge denn bedeuten?«

»Das sind Richtungen oder so was Ähnliches.« Jack beugte sich vor, zog den Zeigefinger durch den nassen Kreis, den ein Trinkglas hinterlassen hatte, und malte mit der Feuchtigkeit ein Kreuz auf den Tisch. »Hier in der sogenannten realen Welt haben wir Norden, Süden, Osten und Westen, richtig? Diese Bezeichnungen eignen sich nicht für die meisten Portalwelten, die wir katalogisieren konnten. Deshalb benutzen wir andere Wörter: Unsinn, Logik, Bosheit und Tugend. Es gibt Nebenrichtungen, kleinere Abzweigungen, die irgendwohin führen oder auch nicht, aber diese vier sind die großen. Die meisten Welten sind entweder Höherer Unsinn oder Höhere Logik, und dann kommt noch ein gewisser Grad an Bosheit oder Tugend dazu. Eine überraschend hohe Zahl von Unsinnswelten ist tugendhaft. Es ist, als könnten sie nicht die nötige Aufmerksamkeitsspanne für etwas Gemeineres als eine kleine harmlose Ungezogenheit aufbringen.«

Jill warf Nancy einen Seitenblick zu. »Hilft dir das überhaupt weiter?«

»Nicht wirklich«, erwiderte Nancy. »Ich hätte nie gedacht, dass … Also, ich habe als Kind Alice im Wunderland gelesen, aber nie überlegt, wie es Alice nach ihrer Rückkehr gegangen ist. Ich nahm an, sie würde einfach mit den Achseln zucken und die Sache abhaken. Aber ich kann das nicht. Jedes Mal, wenn ich die Augen zumache, liege ich wieder in meinem richtigen Bett, in meinem richtigen Zimmer, und das Ganze hier ist der Traum.«

»Du fühlst dich hier nicht mehr zu Hause, oder?«, fragte Jill sanft. Nancy schüttelte den Kopf und blinzelte die Tränen weg. Jill tätschelte ihr die Hand. »Es wird besser. Es wird nie leicht, aber irgendwann tut es nicht mehr so weh. Wie lange ist es bei dir her?«

»Knapp zwei Monate.« Es war genau sieben Wochen und vier Tage her, seit der Herr der Toten ihr gesagt hatte, sie müsse sicher sein. Sieben Wochen und vier Tage, seit die Tür zu ihren Gemächern in den Keller zurückführte, den sie vor so langer Zeit verlassen hatte, in dem Haus, das sie nie wieder hatte betreten wollen. Sieben Wochen und vier Tage, seit ihre Eltern, alarmiert von ihren Schreien, die Treppe heruntergepoltert waren, nur um ihr eine Umarmung aufzudrängen und über ihre Bestürzung nach ihrem Verschwinden zu klagen.

Aus der Sicht ihrer Eltern war sie sechs Monate fort gewesen. Einen Monat für jeden Granatapfelkern, den Persephone gegessen hatte, damals, als alles angefangen hatte. Jahre für sie selbst und Monate für ihre Eltern. Sie glaubten immer noch, ihre Tochter würde ihnen irgendwann erzählen, wo sie wirklich gewesen war. Sie glaubten, sie würde sich die Haare färben.

Sie glaubten eine Menge Dinge.

»Es wird besser«, sagte Jill noch einmal. »Bei uns ist es anderthalb Jahre her. Aber wir geben die Hoffnung nicht auf. Ich halte mein Eisenlevel hoch. Jack macht ihre Experimente …«

Jack blieb stumm. Sie stand auf und ging davon, ohne ihren halb leergegessenen Teller mitzunehmen.

»Wir räumen nicht hinter dir her!«, rief Sumi mit vollem Mund.

Am Ende taten sie es natürlich doch. Sie hatten gar keine andere Wahl.

3Im selben Boot

Nancys Eltern zufolge war die obligatorische Gruppentherapie eines der Hauptargumente für die Schule gewesen. Wie konnte man ihre heranwachsende Tochter besser aus dem sonderbaren Loch, in das sie gekrochen war, herausholen, als sie mit anderen, auf ähnliche Weise Traumatisierten zusammenzubringen und zum Reden zu ermuntern, und zwar unter dem wachsamen Auge einer geschulten Expertin? Als Nancy sich einem dick gepolsterten Sessel anvertraute, umringt von Teenagern, die Zuckungen hatten, auf den Haaren kauten oder stumpfsinnig Löcher in die Luft starrten, fragte sie sich unwillkürlich, was ihre Eltern wohl bei diesem Anblick gedacht hätten.

Dann betrat die Achtjährige den Raum.